wiederzugeben. Der neugeschaffene Name hatte außerdem
noch eine weitere, sehr ehrenvolle Bedeutung, denn er
enthielt die beiden griechischen Wörter theös und doron; von denen das erste die Bezeichnung für »Gott« ist, während das zweite soviel heißt wie »Geschenk«. Der Name, der
ursprünglich nur mit »Herrscher des Volkes« zu übersetzen war, bedeutete nun also gleichzeitig noch
»Gottesgeschenk«. Zweifellos war der Name außerdem
auch eine Analogiebildung zu Theodosius, dem Namen des früheren, sehr fähigen und äußerst beliebten Herrschers des Ostreiches, an den man mit Ehrfurcht zurückdachte. Alles in allem, dachte ich, war selten einem Monarchen ein Name verliehen worden, mit dem so viele positive Assoziationen verknüpft waren.
»Dann werde ich dich also Theoderich nennen«, sagte ich zu ihm. »Das ist ein sehr verheißungsvoller Name; aber warum nanntest du dich einen armen Teufel?«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte Theoderich
niedergeschlagen: »Sieht diese ärmliche,
heruntergekommene Hütte für dich etwa wie ein
Königspalast aus?«
Das staubwischende Mädchen blickte plötzlich ganz
traurig und zerknirscht drein, wohl weil sie ihm kein
vornehmeres Quartier anbieten konnte.
»Ich sitze hier«, fuhr Theoderich fort, »und habe den
Befehl über sechstausend hungrige und kampflustige
Männer, deren Bedürfnisse ich kaum stillen kann. Auch dem Rest meines Volkes in den Gebieten südlich und östlich von hier geht es nicht viel besser. Ich kann mich nicht wirklich als ein König fühlen, bevor ich mich nicht als einer erwiesen habe.«
»Indem du Singidunum für das römische Reich
zurückeroberst?«
»Nun ja, ich darf auf meinem ersten Feldzug, den ich als König führe, nicht versagen, aber ich führe ihn nicht
unbedingt für das römische Reich und auch nicht nur, um mich zu beweisen.«
»Weshalb dann?«
Daraufhin erklärte er mir einiges, was ich früher schon einmal vom alten Wyrd andeutungsweise gehört hatte.
Theoderich führte aus daß sein Zweig des gotischen Volkes
- die Ostgoten der amalischen Linie - beinahe hundert Jahre lang Nomaden ohne Wurzeln und ohne Land gewesen
seien, die von Plünderungen und Überfällen gelebt hatten.
Dann hätten jedoch sein Vater und sein Onkel, die
königlichen Brüder Thiudamer und Walamer, Bündnisse mit Kaiser Leo, dem Herrscher des oströmischen Reiches,
geschlossen.
»Aus diesem Grund wurde ich als Kind nach
Konstantinopel geschickt«, sagte er. »Ich war durchaus kein Gefangener Leos, denn er erzog mich recht königlich, aber ich war sein Unterpfand, damit mein Volk diese Verträge nicht brach.«
Teil dieses Bündnisses war auch, daß Leo den beiden
Königen regelmäßig hohe Beträge zukommen ließ. Er hatte jedes Jahr eine große Summe Goldes dafür bezahlt, daß die Krieger der Ostgoten die nördlichen Grenzen des römischen Reiches bewachten und verteidigten. Leo hatte den
Ostgoten außerdem neues Land in der zweiten mösischen
Provinz zugeteilt, wo sie in Sicherheit gelebt und sich als Bauern, Viehzüchter, Handwerker und Händler
niedergelassen hatten. Sie waren auch bestrebt gewesen, all die Verbesserungen und Erkenntnisse, die ihnen die moderne Zivilisation beschert hatte, in Ehren zu halten und sich als römische Bürger würdig zu erweisen. Kaiser Leo war kürzlich verstorben, und mit seinem Tod schwand die Sicherheit der Goten dahin, da sein Enkel und Nachfolger Leo II, oder wer auch immer in seinem Namen regierte,
Verträge mit fremden Stämmen nicht anerkannte.
Theoderich seufzte und sagte: »Die Goten der balthischen Linie - also unsere Vettern, die Westgoten - haben sich schon seit langem in der im äußersten Westen liegenden Provinz Aquitanien fest niedergelassen und leben dort im Wohlstand. Aber seit dem Tod des alten Kaisers Leo haben wir Ostgoten nirgendwo mehr ein Stück Land, das uns
gehört. Ich will Singidunum erobern weil die Stadt mein Unterpfand werden soll, so wie auch ich einst ein Unterpfand war. Ich bin sicher, daß ich damit den jungen Leo zwingen kann, die Verpflichtungen seines Großvaters zu erfüllen denn von der Stadt aus kann man den gesamten
Handelsverkehr auf dem Flußabschnitt zwischen der oberen und der unteren Donau überblicken und kontrollieren, und sowohl für Rom wie auch für Konstantinopel wäre es ein guter Tausch, unser Recht auf die Ländereien in der zweiten mösischen Provinz anzuerkennen und uns wieder mit Gold für den Schutz der Donaugrenze zu bezahlen, wenn dafür Singidunum wieder unter die Herrschaft des Reiches
zurückfiele.«
»Das würde ich auch meinen«, sagte ich.
»Das kann jedoch nur geschehen, wenn es mir tatsächlich gelingt, die Stadt der Herrschaft König Babais zu entreißen.
Mein Versorgungszug kann Wochen brauchen, bis er mit
den schweren Belagerungsmaschinen hier eintrifft, und nur der liebe Gott weiß, ob wir bis dahin durchhalten können.
Wir leben zur Zeit buchstäblich von Pferdefleisch und
Pferdefutter. Da die Sarmaten ihre Pferde nicht mehr
brauchten, als sie erst einmal in der Stadt waren, haben sie auch nicht daran gedacht, die in den Außenbezirken der Stadt lagernden Vorräte an Hafer, Heu und Kleie hinter die Mauer zu schleppen; und von diesem schmackhaften
Proviant ernähren wir uns im Augenblick. Das einzige
nahrhafte Fleisch, das wir zu essen bekommen, schneiden wir aus den Pferden heraus, die während eines
Erkundungsritts getötet werden.«
Plötzlich begann uns beiden der Magen laut zu knurren, als ob er durch diese letzten Worte dazu angeregt worden wäre. Das Mädchen hörte es, errötete und eilte aus dem Raum.
Theoderich fuhr mit seiner Erzählung fort: »Ich könnte meinen Männern befehlen, die massiveren Hütten
niederzureißen und aus dem Holz Belagerungstürme zu
bauen, aber nach einer solchen Anstrengung wären sie zu schwach, um die Türme zu besteigen oder gar von ihnen
aus zu entern und zu kämpfen. Ich habe noch weitere
Möglichkeiten in Erwägung gezogen.« Er zeigte auf die
beschriebenen Dokumente auf dem Tisch. »Ich habe mir
überlegt, daß wir die Mauern an der Westseite der Stadt unterhöhlen könnn und zwar an der Stelle, wo sie auf diese Klippe gebaut sind; aber es handelt sich tatsächlich um eine schroff abfallende Klippe und nicht um einen Felsvorsprung, auf dem noch viel Platz zum Stehen wäre. Es besteht also keine Möglichkeit, die grabenden Männer zu schützen, und sicher halten die Sarmaten auch Fässer mit kochendem
Wasser, Öl oder Teer bereit, um einen derartigen Versuch abzuwehren.«
»Apropos Vorsprung«, sagte ich, »mir fiel auf, daß das Tor zur Innenstadt tief in einen Gewölbebogen in der Mauer eingelassen ist und daß der Zugang aus irgendeinem
unerfindlichen Grund nicht durch ein Fallgitter blockiert werden kann. Es existiert auch keine anderweitige
Gittervorrichtung, die Belagerer der Stadt daran hindern könnte, direkt bis zum Tor vorzudringen. Ein paar Krieger hätten unter dem Mauerbogen vor dem Tor Platz, wo die
Sarmaten sie weder mit heißem Öl noch mit Geschossen
erreichen können.«
»Und was dann? Sollen sie sich mit ihren Schultern gegen das Tor stemmen?« Theoderich verzog skeptisch das
Gesicht. »Es muß dir doch auch aufgefallen sein, wie massiv es gebaut ist. Kein frisch gefällter, nicht abgelagerter Baumstamm wäre stabil genug, um es zum Splittern zu
bringen, sonst hätte ich das schon versucht. Auch ist das Tor so alt und hart, daß es ein halbes Leben brauchen
würde, bis ein Feuer sich hindurchgefressen hätte. Um es einzubrechen, benötigt man einen eisenbeschlagenen und mit Ketten versehenen Rammbock mit einer Spitze aus
massivem Eisen. Mein Versorgungszug wird uns einen
solchen Rammbock mitbringen. Aber wann?«
Das Mädchen kam wieder in den Raum zurück und setzte
zwei dampfende Schüsseln auf den Tisch. Theoderich warf ihr einen dankbaren Blick zu, der sie erneut erröten ließ, und bedeutete mir, ich solle auf der Bank ihm gegenüber Platz nehmen. Er begann sofort, heißhungrig aus seiner Schüssel zu essen, ich dagegen schaute zuerst in meine hinein, um zu sehen, was uns da serviert worden war. Es war ein
klebriger, mit Wasser gekochter Haferschleim, der, wie ich beim Probieren feststellte, nicht einmal gesalzen war. Ich bedauerte zutiefst, den Rest der guten Lebensmittel aus Vindobona, die Amalrich auf Oppas' Kahn geladen hatte, nicht mit hierher gebracht zu haben. Theoderich hörte einen Moment lang auf zu schlürfen und sagte zu mir: »Rümpf
nicht deine Nase über diese Mahlzeit; die niedrigeren Ränge erhalten nur Kleiehülsen.«
Also löffelte ich den Brei in mich hinein und versuchte, dankbar zu sein, unter den gegebenen Umständen
überhaupt irgend etwas zu essen zu haben. Plötzlich rief mir der klebrige Brei einen lange zurückliegenden Vorfall wieder ins Gedächtnis, der mich auf eine Idee brachte; ich beschloß jedoch, Theoderich noch nichts davon zu erzählen, bevor ich nicht genauer darüber nachgedacht hatte.
Ich sagte jedoch zu ihm: »Ich möchte dir gerne helfen, soweit ich nur kann - bei der Belagerung, auf den
Erkundungsstreifzügen, wo immer du es wünschst.«
Er wischte sich den Mund ab und grinste. »Ich glaube, du hast uns schon etwas geholfen«, sagte er, »mindestens die Hälfte der Krieger aus meiner Truppe, die dich aus dem Galopp heraus Pfeile abschießen sahen, sind inzwischen eifrig damit beschäftigt, Fußseile für ihre Pferde zu
konstruieren. Sie scheinen deine Erfindung für brillant zu halten.«
Ich sagte bescheiden: »Ach, es ist eine Erfindung, die sich aus einem Spiel meiner Kinderzeit heraus entwickelt hat.
Deine Männer werden eine Zeitlang das Bogenschießen aus jeder Gangart des Pferdes heraus üben müssen, bevor sie diese Technik wirkungsvoll einsetzen können. Ich könnte es ihnen zeigen und beibringen, wenn du es wünschst.«
»Väi, Thorn. Ich kann dir gar nichts befehlen, bevor du nicht einer der unseren bist, also mein Untertan und ein Krieger meiner Truppe.«
Ich sagte gequält: »Ich dachte, daß ich mir meine
Qualifikation allein schon dadurch erworben hätte, daß ich mit dir zusammen euer schreckliches Mahl aus
Pferdefutterbrei einnahm.«
»Nein, du mußt erst die Eide leisten.«
»Die Eide?«
»Du mußt in Gegenwart eines verantwortlichen Zeugen
schwören, daß du dich von nun an als Ostgote mit deinen Stammesgenossen verbünden und mir ein treuer Untertan
sein willst.«
»Sehr gut. Ruf deinen Adjutanten oder wen immer man
dafür braucht.«
»Nein, nein. Die Frau tut's auch. Stell dich hier neben uns, Mädchen. Versuch, deines Amtes würdig auszusehen, und
werde nicht wieder rot.« Daraufhin wurde sie natürlich erst recht rot.
»Wie lautet der Schwur?« fragte ich.
»Der Wortlaut ist nicht festgelegt. Benutze deine eigenen Worte.«
Ich streckte also meinen Arm zum Salut aus und sagte so feierlich ich konnte: »Ich, Thorn, ein freier Mann und bisher ohne Nationalität, erkläre hiermit, daß ich vom heutigen Tage an ein Ostgote und ein Untertan von König
Theoderich, dem Amaler, bin dem ich für mein ganzes
Leben Treue gelobe... Reicht das?«
»Großartig«, sagte er und erwiderte meinen Gruß.
»Mädchen, bezeuge den Schwur!«
»Ich bezeuge den Schwur«, flüsterte sie schüchtern und wurde so rot wie Falernerwein.
Theoderich griff nach meinem rechten Handgelenk und ich umfaßte seines. Er sagte mit warmer Stimme: »Willkommen, Stammesbruder, Freund, Krieger, guter und treuer
Untertan.«
»Thags izwis, und mit ganzem Herzen. Nun habe ich
endlich ein Volk, zu dem ich gehöre. Aber ist die Zeremonie denn damit schon beendet?«
»Nun, ich könnte dich von unserem Priester noch zum
Arier taufen lassen, das ist jedoch nicht Bedingung.«
»Dann werde ich dich, mit deiner Erlaubnis, jetzt
verlassen. Der Waffenschmied bat mich, später nochmals in seine Werkstatt zurückzukommen, damit er mir den Helm
anpassen kann.«
»Ja, geh nur, Thorn. Ich werde mich von neuem an das
wenig aussichtsreiche Studium meiner Skizzen machen.
Vielleicht kommt mir dabei doch noch eine neue Idee.
Vielleicht lege ich mich auch eine Weile nieder« - er schaute auf das Mädchen, das noch röter anlief - »und meditiere ein Weilchen. Vielleicht läßt sich dann mein Genius oder sogar die Muse einer schönen Dienerin dazu herbei, mich zu
inspirieren.«
Ich hatte das Zimmer und das Haus bereits verlassen, als mir bewußt wurde, daß ich in gewisser Weise nicht die volle Wahrheit gesagt hatte, als ich dem König und meinem
neuen Volk die Treue schwor. Ich hatte die Eide als »Thorn, ein freier Mann« abgelegt und fragte mich, ob es je von Bedeutung sein würde und könnte, daß ich es versäumt
hatte - wenn auch nur insgeheim -, Theoderich auch die lebenslängliche Treue Veledas, einer freien Frau, zu
geloben.
Bevor ich mich zur Werkstatt des Waffenschmieds begab, ging ich zur Mauer, um mir das Tor zur Innenstadt genau anzusehen. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, und die Ostgoten standen nicht mehr um die Mauer herum, um Geschosse in die Innenstadt zu schleudern. Die gepflasterte Fläche vor dem Tor war daher menschenleer. In der
Dunkelheit konnte ich schnell über den freien Platz huschen, ohne von den sarmatischen Wachen bemerkt zu werden
oder zumindest, ohne ihren Pfeilen ausweichen zu müssen, und als ich mich erst unter dem Torbogen befand, war ich für sie völlig unsichtbar.
Der Eingang war so breit, daß jeder noch so ausladende Wagen hindurchfahren konnte, und so hoch, daß er selbst für ein noch so hoch beladenes Gefährt kein Hindernis
darstellte. Natürlich war es unter dem Torbogen noch
dunkler als davor, so daß ich zur Überprüfung des Tores hauptsächlich meinen Tastsinn benutzen mußte. Soweit ich mit meinen Händen reichen konnte, tastete ich das ganze Tor von einer Seite zur anderen ab - sowohl die beiden Torflügel wie auch die in einen davon eingelassene Halbtür.
Dabei fand ich heraus, daß die Balken und Bohlen, aus
denen man das Tor gefertigt hatte, tatsächlich so massiv waren, wie sie von weitem ausgesehen hatten. Ich konnte fühlen, daß die Bohlen kreuzweise verliefen. Auf der
Rückseite wurden sie zweifellos durch weitere, vertikal angebrachte Bretter verstärkt, und dahinter befand sich möglicherweise noch eine weitere Lage diagonal verlegter Bohlen. Die Hinterfront der Torflügel war sicherlich durch enorme Querbalken gesichert, die von einer Seite zur
anderen verliefen und in der Steinmauer verankert werden konnten. Das Tor hatte keine Scharniere, die man hätte lockern können; stattdessen war jedes Portal oben und
unten in Türangeln eingehängt, so daß es sich gut
schwingen ließ.
Auch wenn das Tor noch so unzerstörbar aussah und
seine zwei Torflügel auf so hervorragende Weise mit
Eisenbossen und Eisenbeschlägen verstärkt waren, so
bestand es doch überwiegend aus Holz. Außerdem war es
sehr alt, und Holz zieht sich mit den Jahren zusammen. Bald stieß ich mit meinen tastenden Fingern auf eine Lücke an der Stelle, wo die beiden Torflügel in der Mitte
aufeinandertrafen; zwischen ihrer unteren Kante und dem Pflaster der Zufahrtsstraße befand sich ebenso ein Spalt wie zwischen den Torflügeln und ihrer hölzernen Einfassung auf beiden Seiten des steinernen Torbogens. Die Kanten der eingelassenen Halbtür hatten auf allen Seiten ebenfalls kleinere Risse. Der Spalt zwischen der Unterkante der
Torflügel und dem Straßenpflaster war am größten. Er war ungefähr zwei Finger breit; alle anderen waren dagegen nicht breiter als ein Finger. Das hieß mit anderen Worten, daß keiner von ihnen groß genug war, um eine Brechstange anzusetzen, die dick genug gewesen wäre, um dem Tor
wirkungsvoll zuzusetzen, auch wenn sich noch so viele
Männer mit vereinter Kraft dagegengestemmt hätten. Es
waren jedoch immerhin Spalten und Risse vorhanden; es
mußte einfach irgend etwas geben, was man in sie einführen konnte, um das Tor zu zerstören, und ich glaubte auch zu wissen, was.
Also teilte ich meine Idee zumindest andeutungsweise
dem Waffenschmied und seinem ostgotischen Aufseher,
dem Wachmann Ansila, mit. Der Handwerker hatte die
Metallteile meines Helms bereits zugeschnitten und
zusammengefügt. Jetzt legte er ein Polster aus Stoff auf meinen Kopf, da, wie er sagte, der Helm innen noch mit Leder ausgekleidet würde. Dann stülpte er die fertige Form über das Stoffpolster und markierte das Metall an den
Stellen, wo die Wangenlappen und das Metallstück zum
Schutz der Nase angebracht werden sollten. Während der Schmied noch bei der Arbeit war, sagte ich zu ihm:
»Mir fiel auf, daß einige Teile des Helms mit Nieten
verbunden sind. Ein paar der Metallplatten wurden dagegen auf irgendeine Weise zusammengeschmiedet.«
»Zusammengelötet«, verbesserte mich Ansila.
»Ja«, sagte der Handwerker. »Um zwei Metallteile
zusammenzulöten, versehe ich sie mit vielen flachen Kerben und gebe als Lötmetall Bronzepulver dazwischen. Dann
klammere ich die Teile zusammen, erhitze sie, bis das Metall rot glüht, und hämmere sie so lange, bis sie untrennbar miteinander verbunden sind.«
»Könntet Ihr auf diese Weise auch von mir erfundene,
neuartige Waffen herstellen?«
»Ich konnte bisher noch jeden Auftrag ausführen, den man mir erteilte, solange es sich um ein Werkstück aus Metall handelte«, sagte er hochmütig.
»Dann gebt mir Euren Stift und etwas, worauf ich zeichnen kann.«
Der Schmied und der Wachmann schauten neugierig zu,
als ich den Gegenstand, der mir vorschwebte, auf eine
Holzschindel malte.
»Väi! Was für eine Art von Waffe ist denn das?« fragte Ansila. »Sie sieht ungefähr so aus wie eine übergroße
Erbsenschote; eine Erbsenschote, die so lang ist wie mein Unterarm.«
»Mit dieser Waffe sollen nicht Menschen getötet, sondern Dinge auseinandergesprengt werden. Stellt sie Euch vor wie die Trompete, die die Mauern von Jericho zum Einsturz
brachte«, sagte ich.
»Aber du könntest dieses Ding ebensogut selbst
herstellen, junger Mann«, sagte der Handwerker mit einem Blick auf meine Zeichnung. »Es läßt sich mit dem
einfachsten Werkzeug aus einem übriggebliebenen Stück
Metall zurechtbiegen.«
»Nein«, sagte ich. »Ich muß es sozusagen mit dem Schall der Trompete füllen, und dann muß es so fest verschlossen werden wie eine Weinflasche, deren Inhalt nicht verderben soll. Es muß so dicht sein, daß der Schall der Trompete nicht entweichen kann.«
»Ach so, deshalb möchtest du es gelötet haben. Ja, das läßt sich machen.«
»Gut. Ich brauche mindestens zwanzig von den Dingern;
und zwar so bald wie möglich.«
»Ich habe dir bereits gesagt, daß ich es machen kann, aber warum sollte ich?«
»Ja, warum sollte er?« sagte Ansila gereizt. »Ich
überwache hier die Herstellung aller Rüstungen und Waffen, und ich bin es auch, der die Befehle gibt.«
»Dann gebt den Befehl zur Anfertigung meiner Waffen am besten jetzt gleich, Wachmann Ansila, dann kann der
Schmied mit Eurer Hilfe schon die Nacht über an den
Waffen arbeiten, bevor Theoderich ihm morgen erst den
Befehl dazu geben muß; und ich kann Euch versichern, daß er das tun wird.«
»Hafer!« rief Theoderich ungläubig aus, als ich ihn am nächsten Morgen, während er noch beim Ankleiden war, auf meine Idee ansprach. »Du willst das Tor mit Hafer
einschlagen? Hat der Hunger dir den Verstand verwirrt, Thorn?«
»Nun, ich kann dir nicht garantieren, daß es klappt«, sagte ich. »Ich hatte jedoch schon einmal die Gelegenheit, zu beobachten, wie diese Methode auf geradezu magische
Weise funktionierte allerdings in einem kleineren Rahmen.«
»Wie funktionierte sie?«
Er besah sich das Werkstück, das ich mitgebracht hatte.
Ansila und der Schmied hatten über Nacht kunstfertig aus dünnem Eisenblech einige davon hergestellt. Sie sahen nun zwar weniger wie eine Schote aus als auf meiner Zeichnung, aber natürlich auch nicht wie eine Trompete. Sie ähnelten eher einer dicken, einschneidigen Schwertklinge, die an beiden Enden vierkantig war. Zudem waren die Behälter
noch nicht ganz fertig, da ich den Schmied gebeten hatte, eines der Enden offen zu lassen.
»Durch diese Öffnung stopfen wir es mit Haferkörnern
voll«, erklärte ich, »und zwar so dicht gepreßt, wie es nur geht. Dann füllen wir Wasser hinein. Zum Schluß setzt der Schmied die Verschlußkappe obendrauf und lötet sie fest an. Dann bringe ich mit ein paar Männern die
verschlossenen Dinger sofort zum Tor, denn es muß schnell gehen. Wir schieben sie mit dem schmalen Ende nach vorn in die Risse und Spalten um das Tor, und zwar so viele wie nur möglich; immer eines neben das andere. Dann hämmern wir sie wie Keile so tief und fest in die Risse, wie wir nur können.«
Ich machte eine Atempause. Theoderich betrachtete mich nachdenklich und mit dem Anflug eines Lächelns. »Und
dann?« fragte er.
»Dann ziehen wir uns zurück und warten. So dicht gepreßt und eingeschlossen müßten die quellenden Körner ihre
Behältnisse mit immenser Kraft sprengen; auch wenn
dadurch vielleicht nicht das ganze Tor niedergeschmettert wird, so hoffe ich doch, daß die Kraft dazu ausreichen wird, die Torflügel so zu verziehen, daß diese die hinteren
Querbalken zum Zerbersten bringen, so daß das Tor, so
Gott will, schließlich nicht mehr standhalten kann, wenn deine kräftigsten Männer es mit einem rohen Baumstamm
als Rammbock angreifen.«
Theoderich blickte mich immer noch prüfend an, als er
sagte: »Ich besitze keinen Plan von den
Befestigungsanlagen Singidunums, aber ich weiß, daß die Mauer schrecklich dick ist. Wahrscheinlich befindet sich im rückwärtigen Teil des Mauerbogens sogar noch ein weiteres Tor.«
»Dann müssen wir einfach dieselbe Prozedur nochmals
wiederholen. Die Sarmaten haben keine Möglichkeit, uns davon abzuhalten. Allerdings müssen wir natürlich auch bedenken, daß unsere sechstausend Krieger auf
neuntausend Sarmaten stoßen werden, wenn es uns
tatsächlich gelingt, in die Stadt vorzudringen.«
Theoderich machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Du selbst hast drei kampfgewohnte sarmatische Krieger außer Gefecht gesetzt. Wenn jeder meiner wesentlich
erfahreneren Männer nur das gleiche Maß an Mut und
Geschicklichkeit an den Tag legt wie du, dann könnten wir es ohne Bedenken mit achtzehntausend Mann aufnehmen.«
»Wenn wir überhaupt hineinkommen«, sagte ich, »aber wir riskieren ja nichts, wenn wir die von mir vorgeschlagene Methode anwenden, und mir persönlich ist es lieber, den Hafer auf diese Weise zur Anwendung zu bringen als
weiterhin diesen klebrigen Haferbrei essen zu müssen.«
»Mir auch«, sagte Theoderich lachend. »Natürlich werde ich es mit deinem Plan versuchen. Oder hast du daran etwa gezweifelt? Ich werde sofort Männer losschicken, um einen Baum zu fällen, der uns als Rammbock dienen wird. Lauf du inzwischen zu Ansila und sage ihm, er soll sich einige Männer suchen, die ihm dabei helfen können, noch mehr
von diesen Dingern herzustellen. Der Schmied hingegen soll zuerst deine Rüstung fertigstellen, denn du wirst sicher unter den ersten sein wollen, die die Stadt betreten, wenn deine raffinierte Erfindung funktioniert. In diesem Fall wirst du Helm, Harnisch und Schild brauchen. Habäi ita swe!«
Das war der erste direkte Befehl, den Theoderich mir als König und Oberbefehlshaber gab, jedoch sollte ich den
gebieterischen Schlußsatz »So sei es!«, mit dem er auch jeden Befehl und jede Verordnung unterschrieb, noch oft aus seinem Munde hören.
3
Als ich wieder in der Schmiede eintraf, war der Wachmann Ansila bereits dabei, die Anweisungen Theoderichs
pflichtbewußt auszuführen. Er überwachte mehrere Gehilfen des Schmieds beim Zuschneiden, Zurechtbiegen und Löten der Haferkornbehälter. Während der Schmiedemeister sich wieder an die mehr Sorgfalt erfordernde Arbeit an meinem Helm machte, sagte Ansila zu mir: »Laß uns sehen, was du sonst noch brauchst. Zeig mir dein Schwert.« Ich zog es aus der Scheide, und der Waffenmeister schniefte verächtlich, als er sah, daß es sich um ein ganz gewöhnliches römisches Schwert handelte. »Hast du jemals mit dem Ding da
gekämpft oder getötet?« fragte er.
»Ja, ein einziges Mal, und ich war dabei sehr erfolgreich.«
Ich erzählte ihm nicht, daß der einzige Mensch, der meinem Schwert bis jetzt zum Opfer gefallen war, eine alte,
unbewaffnete Hunnenfrau gewesen war.
Er grunzte. »Am besten, du behältst es noch für diesen Kampf. Natürlich wirst du bald eines der gotischen Krumm-Schwerter haben wollen, aber das Gewicht, die Länge und der Griff eines solchen Schwertes müssen genau auf dein eigenes Gewicht, deine Armlänge, deine Handgröße und
deinen Kampfstil abgestimmt werden. Benutze also vorerst noch einmal das Schwert, das du gewohnt bist, auch wenn es minderwertig ist. Und nimm einen dieser Schilde. Sie werden nicht nach Maß gefertigt, sondern sind alle gleich.«
An einem Dachbalken waren mehrere Schilde eng
übereinander in einer Reihe aufgehängt. Einen davon nahm ich herunter. Es war kein großer, schwerer, rechteckiger, römischer Langschild, der den ganzen Körper des Kriegers hinter sich verbergen und schützen sollte, sondern er war rund und bestand, abgesehen vom mittleren Schildbuckel und der eisernen Einfassung, aus dichtem
Weidenflechtwerk. Er war auch nicht größer als ein
Korbdeckel, da er nur dazu bestimmt war, die Hiebe des Feindes abzuwehren oder seine Geschosse abzufangen. Ich umfaßte den Handgriff hinter der von dem Eisenbuckel
gebildeten Mulde und fuchtelte ein wenig mit dem Schild herum, um ein Gefühl dafür zu bekommen.
»Nun«, fuhr der Wachmann fort, »du wirst auch eine
ganze Weile warten müssen, bis du deinen eigenen,
maßgefertigten Harnisch bekommst, da seine Herstellung sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Das schwere Leder wird zuerst gekocht, dann wird es sorgfältig nach der Form
deines Rumpfes modelliert, solange es noch weich ist;
anschließend wird es in seine endgültige Form geklopft, und zum Schluß wird es dann heiß getrocknet, bis es fast so hart ist wie Eisen. Für die bevorstehende Schlacht brauchst du jedoch irgendeinen Harnisch. Dort in der Ecke liegen ein paar Ersatzharnische. Such dir den aus, der dir am besten paßt.«
Ich sah sofort, warum er sie nur als Ersatzharnische
bezeichnete. Alle waren stark abgenutzt; viele von ihnen waren zerschnitten, mit Löchern durchbohrt oder vom Feuer versengt, und einige waren immer noch mit dem Blut ihrer ehemaligen Träger befleckt. Ich bemerkte auch, daß die Harnische nicht nur dem Körper des jeweiligen Kriegers angepaßt worden waren, sondern daß man zusätzlich noch die Schulterbreite, den Brustkorb sowie die Bauchund
Rückenmuskulatur auf kunstvolle Weise herausgearbeitet hatte. Es war sehr leicht, aus dem Haufen weggeworfener Harnische den passendsten heauszusuchen. Ich war noch
viel kleiner und schmäler als selbst der kleinste aller erwachsenen Goten, die ich bis jetzt gesehen hatte, daher nahm ich mir einfach den allerkleinsten Harnisch - der so klein gar nicht war - und Ansila half mir dabei, die Vorder-und Rückenteile hochzuhalten, während ich die
Lederriemen, mit denen sie zusammengehalten wurden, auf beiden Seiten zuschnürte.
Dann trat er einen Schritt zurück, musterte mich ziemlich skeptisch von Kopf bis Fuß und murmelte: »Eine Haselnuß in der Schale einer Walnuß.«
Ich kam mir in dem Harnisch etwas lächerlich vor. Mein schmaler Nacken ragte aus einem Ledertorso heraus, den man der muskulösen Figur eines Herkules nachgebildet
hatte, und die daran befestigten gesteppten Lederröcke reichten mir bis unter die Knie. Es war jedoch die einzige Rüstung, die mir im Augenblick zur Verfügung stand, daher sagte ich:
»Ja, sie ist sehr geräumig, aber sie behindert mich nicht, wenn ich mich darin bewege. Sie wird ihren Zweck erfüllen.«
Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Dann fehlen dir jetzt nur noch die schweren Gamaschen, und die kannst du dir selber machen. Schau her, der Schmied hat deinen Helm fertig. Probiere ihn auf! Vielleicht müssen noch ein paar Änderungen vorgenommen werden.«
Es waren keine Änderungen nötig; der Helm kam mir zwar schwer vor, als ich ihn in den Händen hielt, auf dem Kopf war er es jedoch nicht. Das weiche Innenpolster aus Leder schmiegte sich eng an meinen Kopf, und die Kinnriemen
saßen weder zu fest noch zu locker. Der Nasenschutz
deckte meine Nase genau ab, berührte sie jedoch nicht. Die vor den Ohren angebrachten Seitenlappen hingen ganz
exakt über meine Wangenknochen bis zum Kinn hinunter.
Der Nackenschutz war lang genug, um diese Körperpartie vor Verletzungen zu schützen, und kurz genug, um nicht gegen das Rückenteil meines Harnischs zu scheuern. Ich malte mir aus, daß ich jetzt so großartig aussehen mußte wie Theoderich, als er über das Feld auf mich zugeritten kam. Ich hatte gerade begonnen, mich wie ein echter,
ostgotischer Krieger zu fühlen, als der Schmied schroff zu mir sagte:
»Ich rate dir, junger Mann, dir einen guten, gotischen Bart wachsen zu lassen. Er wird deinen nackten, schmalen Hals schützen. «
Ich ließ seinen Vorschlag unbeantwortet und machte
stattdessen eine Bemerkung über den Helm: »Er hat oben keine Nut zum Anbringen eines Federbuschs.«
»Väi, Goten veranstalten keine Paraden wie die
herausgeputzten Römer!« dröhnte Ansila. »Ein Gote bewegt seine Füße nur dazu, auf einen Feind loszumarschieren! Ein Gote setzt auch nur dann einen Helm auf, wenn er in die Schlacht zieht, und nicht, um während einer feierlichen Parade an irgendeinem verweichlichten römischen Konsul vorbeizudefilieren!«
»Ich habe den Helm auch nicht anderweitig verziert, also weder gehämmerte noch eingravierte Ornamente
angebracht«, sagte der Schmied. »Erstens hatte ich dazu keine Zeit, und zweitens konnte ich nicht ahnen, welche Verzierungen passend gewesen wären, da ich ja nicht
wußte, welchen Rang Theoderich dir verliehen hat.«
»Keinen von dem ich wüßte«, sagte ich fröhlich. »Aber ich danke euch, meine beiden Kameraden, und auch euren
Gehilfen für all die gute Arbeit. Thags izei. Ich werde zur rechten Zeit zurückkehren, um die Verschlußkappen auf
unsere Trompeten von Jericho zu setzen.«
Damit die Sarmaten das Fällen des Baumes nicht hören
konnten schickte Theoderich seine Männer ein gutes Stück flußaufwärts. Die Männer entschieden sich für eine hohe, kräftige, gerade gewachsene Zypresse, denn diese Baumart hat viele, dafür aber nicht allzu dicke Äste, die vom Stamm aus horizontal zur Seite wachsen. Als der Baum gefällt am Boden lag, hackten die Männer einige der Äste vollständig ab; manche kürzten sie jedoch nur, so daß den ganzen
Stamm entlang Aststümpfe stehen blieben, die als
Tragegriffe für die Soldaten fungieren sollten, die den Rammbock später einsetzen würden. Dann hackten sie ein Ende des Baumes zu einer stumpfen Spitze zurecht und
härteten diese im Feuer. Anschließend flößten sie den
mächtigen Stamm die Sawe hinunter, zerrten ihn ans Ufer, schleppten ihn in der Dunkelheit den Berg hinauf und ließen ihn an einer Stelle fallen, die zwar verborgen, aber als Ausgangspunkt für einen Angriff gut geeignet war.
»Sehr gut, Thorn«, sagte Theoderich. »Jetzt bist du dran.«
»Ich habe noch nie zuvor eine Stadt gestürmt«, sagte ich.
»Wann greift man denn am besten an? Am Tage oder in der Nacht?«
»In diesem Fall bei Tage; dann können wir die
Stadtbewohner von den Sarmaten unterscheiden, denn ich möchte nicht, daß allzu viele Unbeteiligte getötet werden.«
»Dann schlage ich vor, daß wir die Haferbehälter kurz vor der Morgendämmerung vorbereiten und sie anschließend so schnell wie möglich im Tor anbringen«, sagte ich zögernd.
»Ich kann nicht genau vorhersagen, wie lange es dauern wird, bis sie platzen, nehme jedoch an, daß es im Verlaufe des Tages geschehen wird; vielleicht aber auch nicht.«
»Falls sie während der Nacht platzen, dann müssen die
Stadtbewohner eben selbst sehen, wo sie bleiben«, sagte Theoderich gleichmütig. »Sobald das Tor fällt - ob am Mittag oder um Mitternacht - dringen wir in die Stadt ein. Beginne also, wie du voreschlagen hast, kurz vor der
Morgendämmerung mit den Vorbereitungen.«
Er gab mir sechs Männer mit, denn in der Schmiede waren inzwischen achtundzwanzig von den Dingern fertiggestellt worden die nun als »Trompeten von Jericho« in aller Munde waren, und ich hatte ausgerechnet, daß ein Mann vier davon sowie einen Holzhammer gut tragen und trotzdem noch
schnell laufen konnte. Zu siebt brauchten wir nicht lange, um die Trompeten mit Hafer zu füllen. Alle mußten möglichst gleichzeitig versiegelt werden, daher legten die Gehilfen des Schmieds alle achtundzwanzig Eisenkappen auf einmal ins Feuer und erhitzten sie, bis sie rot glühten. Dann füllte ich zusammen mit meinen sechs Begleitern Wasser in die
Behälter. Anschließend wandte der Schmied sofort seine Lötmethode mit dem Bronzepulver an, klammerte eine
Kappe nach der anderen auf die Trompeten, und Ansila und seine Gehilfen hämmerten wie wild auf sie ein, um sie zu versiegeln.
Als die Trompeten soweit erkaltet waren, daß man sie
anfassen konnte, klemmten meine Männer und ich jeweils vier davon unter den Arm und schnappten uns jeder einen Holzhammer. Wir eilten den Berg hinauf und hielten an der letzten Häuserreihe an, die an den freien Platz vor dem Tor angrenzte. Dort hielt sich Theoderich mit einem Heer von Bogenschützen versteckt und wartete.
»Fertig?« fragte Theoderich, der sich keinerlei
Gefühlsregung anmerken ließ, und deutete nach Osten.
»Der Himmel rötet sich schon in der Morgendämmerung -
fast wie mein Dienstmädchen. Ich glaube, ich werde es ab jetzt Aurora nennen.«
Ich spürte, daß er sich bewußt um Gelassenheit bemühte, damit seine Männer die Ruhe bewahrten - oder vielleicht auch ich, denn dieser Sonnenaufgang kündigte meinen
ersten Tag als ostgotischer Krieger an.
»Wenn ich das Zeichen dazu gebe, werden meine Männer
einen Hagel von Pfeilen über den Festungswall schießen«, sagte er, »auf diese Weise geben wir dir und deinen
Trompetenträgern Deckung, damit ihr ungefährdet über den Platz laufen könnt. Laßt uns also beginnen. So sei es! Stellt euch auf, Krieger!« Er selbst führte die Bogenschützen an, die nun auf die freie Fläche und in die Straßen
hinausströmten. »Begebt euch in Stellung, legt an und laßt die Pfeile fliegen!«
Es hörte sich an wie ein plötzlich aufkommender Sturm, als all die Pfeile gleichzeitig lossirrten. Theoderich und seine Schützen legten sofort neue Pfeile an und schössen sie fast so schnell ab wie der alte Wyrd es immer getan hatte.
»Folgt mir, meine Männer!« schrie ich, und wir stürmten auf das Tor zu. Die sarmatischen Wachen auf der Mauer
schienen von Theoderichs Pfeilhagel so überrascht worden zu sein, daß sie uns im Morgennebel überhaupt nicht
wahrnahmen. Keiner der zurückgeschossenen Pfeile flog in unsere Richtung, so daß wir alle sieben den Torbogen ohne einen einzigen Kratzer erreichten. Ich hatte den Männern bereits gezeigt, was zu tun war, daher verloren wir keine Zeit. Mit einem der anderen zusammen begann ich, unsere Haferbehälter einen neben den anderen in die Lücke
zwischen dem unteren Ende der Torflügel und dem
Straßenpflaster zu stecken und sie von der Seite und von unten so tief wie nur möglich hineinzuhämmern. Ein paar der anderen machten sich an die Risse in der seitlichen
Toreinfassung, an den Spalt, der sich in der Mitte zwischen den beiden Torflügeln auftat, und an die Risse um die
Halbtür. Ein Mann stellte sich auf die Schultern eines anderen und konnte auf diese Weise die Behälter viel höher die Längsrisse hinauf verkeilen, als ich mit meinen Händen hatte reichen können.
Die Sarmaten in der Stadt hörten sicherlich unsere
Klopfgeräusche, und ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie verwirrt sie sein mußten. Sie hatten vielleicht befürchtet, irgendwann die dumpfen Aufschläge eines Rammbocks zu
vernehmen; im Vergleich dazu hörte sich unser Hämmern
jedoch wohl eher so an, als ob wir freundlich anklopften, um eingelassen zu werden. Als meine sechs Männer und ich
fertig waren, hatte einer von ihnen noch einen einzigen Behälter übrig und suchte besorgt das Tor nach einer Stelle ab, wo er ihn noch unterbringen könnte. Da sagte ich zu ihm:
»Behalte es und nimm es mit zurück. Wenn wir es
beobachten, dann werden wir bald wissen, wie die anderen funktionieren. An ihm können wir sehen, ob und wann sie anschwellen und platzen und ob sie so viel Wucht haben, wie wir hoffen. Auf, laßt uns nun alle zusammen
zurücklaufen und in Deckung gehen. Los!«
Wieder kamen wir unverletzt am anderen Ende des
Platzes an und Theoderich befahl seinen Männern, das
Pfeileschießen einzuteilen und sich hinter die schützende Häuserreihe zurückzuziehen. Gemeinsam mit Theoderich
überlegte ich, wie wir die Zeit, die die Trompeten von Jericho brauchen würden, um ihren Zweck zu erfüllen., sinnvoll nutzen konnten; wir kamen jedoch beide zu dem Schluß,
daß es nicht allzuviel zu tun gab. Selbst wenn wir die Sarmaten weiterhin unter Beschuß gesetzt hätten, so hätten wir sie dadurch doch nicht daran hindern können,
nachzusehen, was mit ihrem Tor geschehen war. Wir hätten nur sinnlos Pfeile und Kraft vergeudet. Außerdem würden sie von innen aus nicht erkennen können, was wir getan hatten, und sie würden das Tor ganz bestimmt nicht öffnen, um es sich von außen anzusehen.
Also rief Theoderich lediglich seine Zenturionen und
Dekurionen zusammen und erklärte ihnen, was ihre Truppen zu tun hätten, wenn das Tor tatsächlich brüchig wurde.
Zuerst würden natürlich die größten, schwersten und
stärksten Männer sofort mit unserem behelfsmäßigen, von Hand getragenen Rammbock aus der Deckung heraus auf
das Tor losstürmen. Falls man nach der Zerstörung des Tors dahinter ein weiteres entdeckte, würden die Männer mit dem Sturmbock sich zurückziehen, und alle anderen würden sich nicht von ihrem Platz entfernen. Inzwischen würden wir weitere Jerichotrompeten vorbereiten und anbringen, und sobald auch diese Wirkung zeigten, würde der Rammbock
erneut eingesetzt werden. Erst wenn dieser auch das zweite Tor niedergebrochen hatte und der Weg in die Stadt frei war, würde eine von Theoderich selbst angeführte berittene
Schwadron mit Wurfspeeren hineingaloppieren und alle
innen vor dem Tor konzentrierten sarmatischen Truppen
niedermähen. Danach würden vier Abteilungen von
Bogenschützen hineinstürmen, um die Feinde, die sich oben auf der Mauer oder vielleicht auch auf den Hausdächern postiert hatten, herunterzuschießen. Schließlich würde dann der Rest unserer sechstausend Mann - mich eingeschlossen
- zu Fuß, und nur mit Schwert und Schild bewaffnet, in die Stadt hineinmarschieren.
Theoderich gab seinen Anführern mit ausdrucksloser
Stimme die folgenden Anweisungen: »Die Männer sollen die Feinde niederschlachten und jeden töten, der sich uns in den Weg stellt, flieht oder sich zu verstecken versucht. Es sollen keine Gefangenen gemacht werden. Verwundete
können nicht versorgt werden. Es soll lediglich soweit wie möglich vermieden werden, die armen Stadtbewohner zu
töten. Ein Krieger sollte zumindest erkennen können wann er Frauen oder Kinder vor sich hat, und diese dann
verschonen. Habai ita swe!«
Wortlos schnellten die Zenturionen und Dekurionen ihre Arme zum ostgotischen Salut hoch, und Theoderich fuhr fort:
»Hört gut zu, was ich euch jetzt noch zu sagen habe, und schärft es auch jedem Mann eurer Truppe ein: Falls jemand unter den Feinden König Babai oder den Legaten
Camundus zu erkennen glaubt, dann soll er sich nicht auf einen Kampf einlassen. Diese beiden gehören mir. Falls ich sie aus irgendeinem Grund nicht finden und töten kann, so sollen sie trotzdem am Leben gelassen werden, bis die Stadt eingenommen ist. Ich werde dann anschließend für ihre
Hinrichtung sorgen. Also denkt daran: wenn ich Babai und Camundus nicht während der Schlacht töte, dann soll es auch kein anderer tun. So sei es!«
Die Anführer schnellten erneut ihren Arm zum Salut hoch und diesmal erwiderte Theoderich ihren Gruß. Dann traten die Zenturionen und Dekurionen ab, um ihre Truppen in die Straßen seitlich des Hügels zu führen, wo die sarmatischen Wachen sie nicht sehen konnten. Dort wurden die
verschiedenen Truppenteile dann in der Reihenfolge
aufgestellt, in der sie die Stadt stürmen sollten. Ich verabschiedete mich ebenfalls von Theoderich und machte mich mit meinem Haferbehälter auf den Weg zu der
Seitenstraße, in der meine Schwadron wartete.
Jeder der Männer hatte seine volle Rüstung angelegt und auch den Helm aufgesetzt. Der Tag wurde sehr heiß, und wir schwitzten und quälten uns in unseren Panzern aus
Metall und Leder. Die einzige Mahlzeit, die uns ungefähr um die Mittagszeit zugeteilt wurde, bestand aus Kleiekeksen und lauwarmem Wasser. Wir waren dazu angehalten
worden, mit unseren Waffen keinen Lärm zu machen, nur
mit leiser Stimme zu reden und auch nicht zu lachen oder zu singen - falls es überhaupt Grund zum Lachen oder Singen gab.
Die Abenddämmerung brachte Erleichterung, denn mit
dem Untergang der Sonne schwand die drückende Hitze,
und es wurde merklich kühler. Meine Trompete gab
allerdings immer noch keinen Laut von sich und veränderte auch nicht ihre Form. Uns blieb also nichts anderes übrig, als weiterhin zu warten und zu hoffen. Langsam begannen die Krieger zu murren, und als die Nacht hereinbrach,
bereiteten sie sich resigniert darauf vor, auf dem harten Straßenpflaster übernachten zu müssen. Der Optio einer jeden Schwadron ernannte Männer, die sich beim
Wachehalten ablösen sollten. Da ich mich nicht unter denen befand, die zum Wacheschieben eingeteilt worden waren, überreichte ich meinen Haferbehälter unserem Optio, einem grauhaarigen Krieger namens Daila und bat ihn, den
wachhabenden Kriegern zu befehlen, ihn zu beobachten.
Ich schlief ungestört die ganze Nacht hindurch und wachte erst auf, als der Morgen sich schon rötete. Ich eilte zur Wache hinüber, die mir gähnend den Haferbehälter
entgegenschleuderte und »Nichts zu berichten« grunzte. Ich fing das Ding auf und betrachtete es mit beinahe
genausoviel Verachtung wie die Wache. Mitten durch ein Gewirr von Kriegern, die langsam wach wurden und ihre
Glieder streckten, bahnte ich mir den Weg zu unserem Optio Daila. Ich bat ihn um die Erlaubnis, zu Theoderich gehen zu dürfen.
»Nun, das war es dann wohl«, seufzte Theoderich, als ich ihm die schlechte Nachricht überbrachte. »Es war einen Versuch wert. Aber ich will dich zumindest für den Versuch belohnen, Thorn. Es ist noch etwas von diesem
Pferdefleisch übrig.« Er rief Aurora zu, sie solle das Essen bringen. Als sie es auftrug, überreichte er ihr die stumme Trompete und sagte: »Hier, entferne dieses Ding aus
unseren Augen.«
Es herrschte eine bedrückende Stille, während Theoderich und ich in unseren vergeblich angelegten Rüstungen die Mahlzeit einnahmen. Er hatte offensichtlich keine neuen Ideen zur Eroberung der Stadt zu unterbreiten. Ich auch nicht, und selbst wenn mir etwas eingefallen wäre, dann hätte ich es jetzt nicht gewagt, davon zu sprechen. Nur die Geräusche, die wir beim Kauen des zähen Heisches und
beim Nippen an unseren Wasserbechern machten,
unterbrachen die Stille, als plötzlich von der Küche her ein kurzer, kläglicher Schrei an unsere Ohren drang:
»Huch!«
Theoderich und ich blickten uns über den Tisch hinweg an, dann sprangen wir beide gleichzeitig auf und rannten durch die Tür. Den Rücken gegen eine Wand der winzigen Küche gepreßt starrte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen auf den Holzherd - diesmal nicht mit geröteten Wangen, sondern kreidebleich. Sie hatte offensichtlich die Trompete auf der einen Seite des Herdes abgestellt und später, ohne es zu bemerken, eine langstielige Schöpfkelle
darübergelegt; und nun starrte sie auf die Kelle, weil diese anscheinend von selbst auf geradezu unheimliche Weise
seitlich den Herd entlangkroch. Während unsere drei
Augenpaare auf die Schöpfkelle gerichtet waren, glitt diese nun sogar noch etwas schneller über den Herd, bis sie
schließlich über dessen Rand hinunterkippte und auf dem Fußboden aus Erde landete.
»Die Trompete erklingt!« jubelte Theoderich. »Sie ist
angeschwollen!«
»Aber nur sehr wenig«, murrte ich.
»Vielleicht reicht es aus. Sei gepriesen, Aurora!« Er
drückte einen Kuß auf ihre bleiche Wange und gab mir durch eindringliche Handzeichen zu verstehen, daß wir es sehr eilig hatten. »Komm jetzt, Thorn!«
Er stülpte seinen Helm über, griff nach dem Wurfspeer, den er vor dem Essen beiseite gelegt hatte, und rannte hinaus. Ich setzte meinen Helm auf und folgte ihm. In dem Augenblick, als wir das Haus verließen, setzte plötzlich ein ganz neues Geräusch ein. Es klang wie eine Art dumpfes Trommeln, das die ganze Luft um uns herum erzittern ließ.
Theoderich rannte auf die Straße zu, die direkt auf das Tor zuführte, und ich lief hinter ihm her. Während wir rannten, ging der Ton langsam in die Höhe; aus dem tiefen Trommeln wurde zunächst eine Art wortloser Gesang, der dann in
einen schrillen, durchdringenden Klagelaut überging. Die Ostgoten, an denen wir vorbeiliefen, standen etwas
unschlüssig herum, schauten verdutzt drein und hielten ihre Waffen eng an sich gepreßt. Viele ihrer Offiziere streckten neugierig die Köpfe hinter den Ecken der schützenden
Häuser hervor und blickten zum Tor hinüber. Theoderich ging nicht in Deckung, um von dort aus das Tor zu
beobachten. Er ließ stattdessen alle Vorsicht außer Acht und rannte geradewegs zum Rand des freien Platzes vor dem
Tor. Es flogen jedoch keine Pfeile von den Zinnen herab. Die Sarmaten waren sicherlich ebenso überrascht und verwirrt wie unsere eigenen Männer.
Als ich Theoderich einholte, zeigte er auf das Tor, lachte und vollführte eine Art Freudentanz. Das unwirkliche
Geräusch, das die ganze Luft erzittern ließ, wurde vom Tor selbst verursacht. Überall, wo die Männer und ich die
Haferbehälter in die Ritzen hineingehämmert hatten, wurde das Holz nun gedehnt und auf noch nicht sichtbare Weise verformt, und es schien sich lauthals über diese Marter zu beklagen. In sein Wehklagen mischten sich bald weitere Geräusche: das Ächzen von altem, erstarrtem Holz, das
gebogen wurde, das Splittern von überdehntem Holz, das dem Druck nicht mehr standhalten konnte, sowie das
Quietschen von Eisenstiften und Bolzen, die langsam
herausgepreßt wurden. Ich konnte sehen und hören, wie
sich an einigen Stellen die Eisenbeschläge und Eisenbossen entweder langsam mit einem schabenden Geräusch oder
ruckartig mit einem Knall von der Vorderseite der Balken lösten.
Die schwächste Stelle des Tores war die in den rechten Torflügel eingelassene Halbtür. Sie wölbte sich plötzlich und barst. Diese Tür war so konstruiert worden, daß jeweils nur eine Person hindurchpaßte. Als sie zersplittert war, konnten wir erkennen, daß der obere Teil der Türöffnung von innen durch einen Querbalken versperrt wurde. Von der Tür war inzwischen nur noch ein Haufen zerborstenes Holz übrig, der beiseite geschafft werden konnte, um eine Öffnung
freizulegen, die so breit wie ein Mann und ungefähr halb so hoch sein würde.
Theoderich drehte sich um und rief der nächststehenden Schwadron einfacher Krieger zu: »Zehn Schwertkämpfer
zum Tor! Brecht diese Tür auf, klettert hinein und hievt alle Querbalken hoch!«
Die ersten zehn Männer der Truppe rannten ohne zu
zögern nach vorn und quer über den Platz. Die sarmatischen Wachen oben auf der Mauer hatten inzwischen ihre Fassung wiedererlangt und schössen einen Hagel von Pfeilen
hinunter, so daß nur neun der zehn Männer das Tor
erreichten, während Theoderich und ich schnell hinter einem nahegelegenen Haus in Deckung gingen. Die ersten Krieger, die bei der zerborstenen Halbtür eintrafen, hackten mit ihren Schwertern auf sie ein und zerrten die Holzstücke mit den Händen heraus. Ein Mann nach dem ändern bückte sich und sprang so flink durch die zerklüftete Öffnung, als ob er nur auf diesen Moment gewartet hatte, dabei wußte jeder von ihnen genau, daß dies einem Selbstmord gleichkam, falls innen vor dem Tor Sarmaten auf sie warteten.
Nun rief Theoderich: »Bringt den Sturmbock herauf!«
Die stumpfe Spitze des Sturmbocks, der hinter einer
Hauserreihe verborgen gelegen hatte, schob sich hervor.
Die Trager mußten den langen Stamm zunächst langsam
um die Straßenecke manövrieren; als er sich jedoch kurz darauf auf der Hauptstraße befand und mit der Spitze in unsere Richtung zeigte, schrie der Anfuhrer der Trager:
»Links! Rechts! Doppelte Geschwindigkeit! Links-rechtslos!« und der große Sturmbock näherte sich so schnell die vielen Manner, die ihn trugen, nur laufen konnten.
Die anderen neun Männer waren gerade erst durch das
Tor gestiegen, und keiner von uns wußte, was sie dort
drinnen gerade taten oder was ihnen vielleicht inzwischen schon zugestoßen war; dennoch winkte Theoderich bereits mit seiner Lanze die Träger mit dem Sturmbock herauf.
Dann deutete er mit der Spitze seiner Lanze auf das Tor, was bedeutete, daß sie gar nicht erst anhalten und auf Befehle warten sollten, sondern, um noch mehr Schwung zu bekommen, zielstrebig weiterlaufen und sofort das Tor
angreifen sollten, ohne sich darum zu kummern, ob es sich öffnete, brüchig wurde oder womöglich noch genauso stabil war wie zuvor.
In genau diesem Augenblick öffnete sich das Tor jedoch ein wenig nach innen; durch den Spalt, der nur ungefähr drei Hand breit war, konnte ich sehen, daß hinter dem Tor ein reges Treiben herrschte. Wir sollten tatsächlich bald
begreifen, daß dort in diesem Moment mehrere Dinge
gleichzeitig vor sich gingen. Nachdem unsere neun Manner durch das Tor gesprungen waren, fanden sie sich
tatsächlich, wie Theodench vermutet hatte, zwischen zwei Toren wieder, von denen das hintere fest verschlossen war; dennoch machten sie sich wie befohlen daran, die zwei
riesigen Querbalken hinter dem vorderen Tor aus ihren
Verankerungen in der Steinmauer sowie aus ihren
Halterungen auf den Torflügeln zu hieven. Die Manner
hatten gerade begonnen, die Torflügel aufzustoßen, als sich das innere Tor auf wundersame Weise ebenfalls öffnete. Die sarmatischen Wachen hatten sich ausgerechnet in diesem ungunstigen Augenblick dazu entschlossen, das innere Tor zu öffnen um den fremdartigen Geräuschen auf den Grund zu gehen, daß sie dahinter vernommen hatten.
Genau zu dieser Zeit traf unser Sturmbock den Spalt, der sich wischen den Torflügeln des äußeren Tors geöffnet
hatte. Die Torflügel flogen nach innen und prallten gegen die Seitenwände des Torbogens. Die Wucht des angreifenden
Sturmbocks war so groß, daß das innere Tor ebenfalls
aufgebrochen wurde. Durch den vorwärtsschießenden
Sturmbock und die auffliegenden, schweren Torflügel
entstand drinnen ein Tumult von zur Seite geschleuderten, zerquetschten, stürzenden und um sich schlagenden
Menschen. Die Menge schrie, fluchte und kreischte laut durcheinander. Was mir jedoch am meisten ins Auge stach, war etwas, das wie ein plötzlich aufkommender kleiner
Schneesturm aus glitzerndem Metall aussah - alle meine Trompeten von Jericho wurden in die Höhe, zur Seite und in alle Richtungen geschleudert.
»Lanzenreiter, schließt euch mir an!« schrie Theoderich und stürmte, ohne auf sie zu warten, sofort auf das Tor los.
Er kümmerte sich nicht um die Pfeile, die von der Mauer herunterflogen, und ließ sein Pferd mit einem Satz über die Körper der beiden Sturmbockträger hinwegsetzen, die von diesen Pfeilen zu Fall gebracht worden waren.
Sein Kampfeseifer hätte mich beinahe dazu verleitet, ihm nachzulaufen. Ich hielt mich jedoch zurück und wartete, bis zuerst die Lanzenreiter, dann die Bogenschützen und
danach zwei oder drei Schwadronen unberittener
Schwertkämpfer an mir vorbei gestürmt waren. Die
Fußtruppen hielten ihre Schilde über den Kopf um sich
gegen die Flut von Pfeilen zu schützen. Ich wartete, bis meine eigene Schwadron anrückte, und als ich mich ihr
anschloß, grinste ich unseren Optio Daila breit,
triumphierend und strahlend an.
4
Es ist mir nicht möglich, die ganze Schlacht um
Singidunum zu schildern. Wie jeder andere an ihr beteiligte Krieger erinnerte ich mich lediglich an das, was mir selbst in ihrem Verlauf zugestoßen war.
Als unsere Schwadron in Viererkolonnen mit über den
Kopf gehaltenen Schilden auf das zerstörte Tor zurannte, flogen bereits viel weniger Pfeile von der Mauer herab. Wir mußten dafür über viele Menschenkörper hinwegsteigen, die leblos oder verletzt auf dem freien gepflasterten Platz vor dem Tor und unter dem tunnelähnlichen Torbogen lagen,
durch den man in die Stadt gelangte. Sobald wir hinter der Mauer waren, löste sich unsere Schwadron auf, und jeder von uns war nun auf sich selbst gestellt.
Während wir in die Stadt vordrangen, stießen wir auf
keinerlei organisierte Gegenwehr. Falls dort zuvor eine geschlossene, schwerbewaffnete Schlachtreihe aufgestellt worden war, um unseren Einmarsch aufzuhalten, so hatten Theoderich und seine Lanzenreiter diese erfolgreich
auseinandergesprengt. Darüber hinaus hatten seine
Bogenschützen mit Leichtigkeit die meisten der Sarmaten auf dem Mauerabschnitt über dem Tor heruntergeschossen, da diese dort oben nur auf einem Holzgerüst gestanden
hatten, an dessen Rückseite keine Schutzverkleidung
angebracht war. In der Nähe des Eingangs und am Fuße der Mauer lagen noch mehr Menschenkörper herum. Unter
ihnen waren jedoch mindestens doppelt so viele Sarmaten wie Ostgoten.
Bald kamen wir an einen der größeren Plätze der Stadt, auf dem sich einige Krieger einen erbitterten Kampf lieferten.
Mit den Ellbogen kämpfte sich Daila in die Mitte des
Kampfgetümmels, und ich folgte ihm nach. Sechs oder
sieben Ostgoten duellierten sich mit ungefähr ebenso vielen Sarmaten, die einen schützenden Ring um einen weiteren Mann gebildet hatten. Er war älter, unbewaffnet, sehr
verängstigt und für die augenblickliche Situation recht unpassend gekleidet, da er eine kostbare, goldgesäumte, grüne Toga trug. Trotz des Waffengeklirrs konnte man
deutlich hören, wie er in allen möglichen Sprachen laut um Gnade schrie: »Clementia! Eleeo! Armahairtei!«
Nachdem der Optio und ich uns dem Kampf
angeschlossen hatten, waren die Sarmaten bald überwältigt.
Ich muß jedoch zugeben, daß ich nicht viel zu diesem
kleinen Sieg beitrug. Ich schlug zwar mehrmals mit dem Schwert zu, stellte dabei jedoch fest, daß mein römisches Schwert an den sarmatischen Schuppenpanzern abprallte, während die krummen, ostgotischen Klingen sich
geradewegs durch die Rüstungen der Sarmaten
hindurchschnitten. Drei der Sarmaten fielen, die anderen machten sich davon. Plötzlich sprang einer der Ostgoten mit seinem Schwert auf den alten Mann in der Toga los, aber Daila war schneller. Zu meiner großen Überraschung ließ er sein Schwert jedoch nicht auf den alten Mann niedersausen, sondern bohrte es in den Ostgoten, der sofort umfiel wie ein gefällter Baum. Die anderen ostgotischen Krieger waren darüber nicht im mindesten überrascht, geschweige denn bestürzt, sondern jagten sofort den fliehenden Feinden hinterher. Ich jedoch rief dem Optio entgegen: »Du hast einen deiner eigenen Männer getötet!«
»Ja«, grunzte er. »Der Mann hat sich einem Befehl
widersetzt, und Unfolgsamkeit muß sofort bestraft werden.
Diese Kreatur, die er soeben töten wollte, kann nur der Legat Camundus sein.«
Die Kreatur bedankte sich mit einem unterwürfigen
Stammeln für ihre Rettung -
auch dieses Mal in
verschiedenen Sprachen und war drauf und dran, uns voller Dank in die Arme zu fallen, als Dalai sich hinter ihm bückte und mit einem blitzartigen, flachen Hieb seines Schwertes die Kniesehnen des alten Mannes durchtrennte. Camundus stieß einen schrillen Schrei aus und kippte um, als ob man ihm beide Beine abgeschlagen hätte.
»So kann er sich nicht von der Stelle bewegen, und wir wissen später, wo wir ihn finden können«, knurrte der Optio,
»und du, kleiner Käfer, bleibst hier und sorgst dafür, daß er unbehelligt bleibt, bis Theoderich soweit ist... Paß auf!«
Daila hatte den hinter einem Hausgiebel versteckten
Bogenschützen entdeckt und sprang beiseite, während er mir diese Warnung zurief. Für mich kam sie allerdings zu spät. Wie ein Hammerschlag traf mich ein Pfeil auf der rechten Seite meines Rückens. Durch die Wucht des Pfeiles wurde ich nach vorn und zur Seite geschleudert und fiel kopfüber auf das Straßenpflaster, wo mein Helm mit einem so harten Schlag auftraf, daß ich beinahe bewußtlos wurde.
Benommen hörte ich Daila noch sagen: »So ein Pech,
kleiner Käfer, aber ich werde ihm das heimzahlen.« Ich registrierte auch noch verschwommen das Geräusch seiner sich entfernenden Stierel. Er hielt sich eben nur an die Befehle und Theoderich hatte angeordnet: »Verwundete
können nicht versorgt werden.« ich konnte auch den
Legaten mit den durchschnittenen Kniekehlen irgendwo in meiner Nähe wimmern und schluchzen hören aber ich war
zu benommen und hatte zu heftige Kopfschmerzen um
meine Augen zu öffnen und nachzusehen, wo er lag. Der
Schock, niedergestreckt worden zu sein, hatte ein Gefühl totaler Erschöpfung und Schwäche hinterlassen, aber ich hielt mein Schwert immer noch fest umklammert und
versuchte nun, mich mit seiner Hilfe auf den Rücken zu drehen. Wegen des aus meinem Rücken ragenden
Pfeilschafts konnte ich mich jedoch nur auf die Seite rollen.
Ich hätte mich krümmen und winden können, um den Pfeil abzubrechen, aber ich blieb regungslos liegen, um zu mir zu kommen und neue Kräfte zu schöpfen, da ich das Geräusch von sich nähernden Stiefeln vernahm. Der verletzte Legat begann laut und inständig zu flehen - diesmal nicht um Gnade, sondern um Hilfe - und zwar nur auf Griechisch:
»Boe! Boetheos!«
Eine rauhe Stimme antwortete ihm mit starkem Akzent auf Griechisch: »Beruhige Dich, Camundus. Zuerst muß ich
sicherstellen, daß dein Angreifer auch wirklich tot ist.«
Ich öffnete meine Augen gerade so weit, daß ich einen
Krieger in einem Schuppenpanzer und mit einem
kegelförmigen Helm auf dem Kopf auf mich zukommen sah.
Es war offensichtlich einer von denen, die den Legaten vorhin bewacht hatten und dann in die Flucht geschlagen worden waren. Er starrte wütend auf meinen reglosen
Körper in seiner übergroßen, von einem Pfeil durchbohrten Rüstung hinunter und sagte: »Beim Ares! Schicken die
Goten nun schon ihre Kinder in den Krieg?« Dann erhob er mit beiden Händen sein Schwert, um mir den Todesstoß zu versetzen.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und stieß von
unten mein Schwert zwischen seine Beine und unter die
Röcke seiner Rüstung bis es tief in seinem Körper steckte.
Noch nie hatte ich einen so lauten und markerschütternden Schrei gehört wie den, mit dem dieser Mann nun zur Erde stürzte. Das Blut schoß aus seinem Unterleib, und er
rutschte und scharrte so wild auf dem Pflaster herum wie eine rasend gewordene Krabbe. Er versuchte nicht,
aufzustehen oder auf mich loszugehen, sondern wollte nur seinem Schmerz entrinnen, der unerträglich gewesen sein muß.
Langsam und wie zerschlagen erhob ich mich und mußte
einen Moment lang ruhig stehen bleiben, um das Gefühl der Übelkeit zu bekämpfen und zu warten, bis mein Kopf sich nicht mehr drehte. Dann ging ich zu dem am Boden
liegenden Mann und kniete mich auf seine Brust, damit er nicht mehr so panisch um sich schlagen konnte. Da es mir nicht gelang, seine Rüstung zu durchstoßen, drückte ich mit Gewalt seinen Kopf nach hinten und legte so seinen Hals frei. Um seiner Qual so bald wie nur möglich ein Ende zu setzen, schnitt ich so schnell ich konnte mit meinem Schwert seinen Hals durch, bis ich auf den hinteren Knochen stieß.
Während der ganzen Schlacht um Singidunum war dies
mein einziger Kampf von Mann zu Mann, und ich trug nicht die kleinste Narbe davon, die mich an diese Schlacht hätte erinnern können. Ich war zwar von oben bis unten mit Blut beschmiert, doch handelte es sich ausschließlich um
sarmatisches Blut. Sowohl dieser Krieger wie auch Daila hatten geglaubt, ich wäre von dem Pfeil, der mich
umgeworfen hatte, durchbohrt worden. Ich dagegen dankte Mars, Ares, Tiw und allen anderen Kriegsgöttern, die es sonst noch geben mochte, daß ich in dieser Schlacht nur eine »Haselnuß in der Schale einer Walnuß« gewesen war.
Der Pfeil hatte nur meinen schlecht sitzenden Harnisch durchstoßen und war dann neben meinem Brustkorb
vorbeigeglitten, ohne auch nur den kleinsten Kratzer zu hinterlassen.
Nach einigen Verrenkungen gelang es mir, den hinten aus meinem Harnisch herausragenden Pfeilschaft zu erreichen und zu entfernen. Dann ging ich hinüber zu dem Legaten, der voller Angst vor meinem blutbefleckten Schwert
zurückwich und »Armahairtei! Clementia!« plärrte.
»Ach, slaväith!« fauchte ich ihn an, und er hielt seinen Mund, während ich den goldenen Saum seiner Toga dazu
benutzte, mein Schwert abzuwischen. Ich packte Camundus unter den Armen und zerrte ihn vom Schlachtfeld in einen tieferliegenden Türeingang auf der anderen Seite des
Platzes.
In seinem Schutz verbrachten wir den Rest des Tages und konnten beobachten, wie immer wieder Gruppen von
Kriegern über den Platz liefen - entweder von den Ostgoten gejagte Sarmaten oder von den Sarmaten gejagte Ostgoten.
Manchmal blieben die verfolgten Krieger auch stehen und drehten sich um, um zu kämpfen. Am Nachmittag waren die Krieger, die über den Platz liefen, bereits nicht mehr damit beschäftigt, dem Feind nachzustellen, zu fliehen oder zu kämpfen, denn es handelte sich nur noch um Ostgoten.
Nachdem sie die Stadt nun endgültig von den Sarmaten
gesäubert hatten, mußten nur noch die nach einer solchen Schlacht notwendigen letzten Maßnahmen durchgeführt
werden.
Als die Sonne unterging, sah ich zwei Männer gemächlich auf den Platz zuschlendern, den ich von meinem Türeingang aus überblicken konnte. Beide trugen noch ihre inzwischen zerschundene und blutbefleckte Rüstung, hatten den Helm jedoch bereits abgesetzt. Einer von ihnen schien allerdings in einem Lederbeutel etwas bei sich zu tragen, was einem Helm ähnelte. Es waren Theoderich und Daila. Der Optio wollte seinen König zu der Stelle führen, an der er den zur Sicherheit bewegungsunfähig gemachten Legaten
zurückgelassen hatte. Offensichtlich hatte er ihm auch die Leiche seines Freundes Thorn zeigen wollen, denn beide stießen einen Schrei der Überraschung aus, als sie sahen, daß ich noch lebte und nach wie vor pflichtbewußt
Camundus bewachte.
»Ich hätte wissen müssen, daß Daila sich geirrt hat!«
sagte Theoderich erleichtert und klopfte mir auf die Schulter, statt meinen Gruß zu erwidern. »Der Thorn, der so brillant einen Clarissimus spielte, konnte sich ebenso überzeugend tot stellen.«
»Beim Hammer Thors, kleiner Käfer«, sagte Daila mit
etwas derbem Humor, »du solltest immer eine viel zu große Rüstung tragen! Vielleicht sollten wir das alle.«
»Es wäre sehr schade gewesen«, fuhr Theoderich fort,
»wenn du nicht mehr miterlebt hättest, wie wir die ganze Stadt eroberten, wo du doch so entscheidend dazu
beigetragen hast, daß wir überhaupt hineingelangten. Ich freue mich, dir berichten zu können, daß alle neuntausend Sarmaten bis auf den letzten Mann ausgerottet wurden.«
»Und ihr König Babai?« fragte ich.
»Er hat sich richtig verhalten. Er wartete auf mich und kämpfte dann so mutig und feurig wie jeder seiner Krieger.
Wenn er jünger gewesen wäre, hätte er mich vielleicht sogar besiegt. Ich zollte ihm also den angemessenen Respekt und gewährte ihm einen schnellen, sauberen Tod.« Er gab Daila, der den Lederbeutel trug, ein Zeichen. »Thorn, darf ich dir den verstorbenen König Babai vorstellen?«
Der Optio öffnete grinsend den Beutel und hielt den
abgeschlagenen Kopf Babais an den Haaren hoch. Blut und andere Sekrete sickerten aus seinem Hals heraus, aber sein Gesicht mit den weit offenen, glotzenden Augen und dem weit aufgerissenen Mund war zu einer wütenden Grimasse erstarrt. Es hätte der Kopf eines ganz gewöhnlichen
sarmatischen Kriegers sein können, wäre er nicht mit
diesem Goldreif geschmückt gewesen.
Der hinter uns liegende Camundus, der die ganze Zeit
über wimmernd versucht hatte, zu Wort zu kommen, war bei diesem Anblick plötzlich vor Schreck verstummt. Als wir uns nach ihm umdrehten, klappte er mehrmals den Mund auf
und zu, bevor er ein Wort herausbrachte.
»Babai«, sagte er mit heiserer Stimme, »Babai hat mich durch eine List dazu gebracht, ihm die Stadt zu überlassen.«
»Diese Kreatur spricht schlecht über einen Toten, der sich nicht mehr wehren kann«, sagte Daila. »Außerdem lügt er.
Als wir ihn fanden, hatte er eine sarmatische Leibwache um sich, die bereit war, für ihn zu töten.«
»Natürlich lügt er«, sagte Theoderich. »Wenn es sich
wirklich so zugetragen hätte, dann wäre er schon längst auf anständige Art gestorben. Nach dem Verlust der Stadt hätte er sich als guter Römer in sein eigenes Schwert gestürzt.
Stattdessen muß er sich jetzt des meinigen bedienen.«
Theoderich zog sein Schwert und schlitzte ohne viel
Aufhebens mit einem einzigen Hieb Camundus die feine
Toga und den Bauch auf. Der Legat gab keinen Laut von
sich; der Schnitt war offenbar zu schnell und zu scharf gewesen, um einen sofortigen Schmerz zu verursachen.
Camundus schnappte jedoch nach Luft und preßte seine
Hände auf die klaffende Wunde, um seine Eingeweide
festzuhalten.
»Du hast ihn nicht geköpft«, sagte Daila beiläufig.
»Ein Verräter verdient nicht denselben Tod wie ein
ehrenhafter Feind«, sagte Theoderich. »Diese
Bauchverletzung wird ihm ein paar Stunden lang
unerträgliche Schmerzen bereiten, bis er schließlich an ihr stirbt. Stell eine Wache bei ihm auf! Sie soll warten, bis er tot ist, und mir erst dann seinen Kopf bringen. So sei es!«
»Ja, Theoderich«, sagte Daila mit einem forschen Gruß.
»Thorn, du bist sicher hungrig und durstig. Komm mit. Wir feiern auf dem Hauptplatz ein Freudenfest.«
Allen Frauen und Mädchen der inneren Stadt war befohlen worden, die gehorteten Nahrungsmittel aus den
Vorratskammern zu holen, sie zuzubereiten und sie dann sowohl den ausgehungerten ostgotischen Truppen wie auch den ebenso hungrigen Leuten aus den Außenbezirken der
Stadt zu servieren. Auf dem Hauptplatz waren mehrere
Feuer angezündet worden, auf denen gekocht wurde, und
aus den Essen der umliegenden Häuser stieg der Rauch
vieler Herdfeuer auf. Die Frauen liefen mit ihren hoch mit Käse und Brot beladenen Tabletts und Tellern hin und her und schleppten Humpen, Steinkrüge und Kannen herbei.
Der Platz und die auf ihn zuführenden Seitenstraßen waren mit unseren Kriegern und den Bewohnern der unteren
Stadtbezirke überfüllt. In der Menge erkannte ich auch Aurora mit ihrer Familie. Alle waren damit beschäftigt, sich eine Portion Essen zu ergattern, ihre vollgeladenen, edlen Teller oder Schüsseln eng an sich gepreßt an einen
ungestörten Platz zu tragen oder gierig und ohne Besteck das Essen in sich hineinzustopfen.
Die Menge wich respektvoll auseinander, um Theoderich
durchzulassen, und ich hielt mich dicht bei ihm. Als wir uns mit Fleisch, Brot und Wein bedient hatten, fanden wir einen freien Platz auf dem Straßenpflaster. Dort ließ Theoderich sich nieder und aß ebenso unköniglich und heißhungrig wie ich oder jeder andere einfache Krieger oder Strolch, der an diesem Fest teilnahm.
Als wir unseren Hunger und unseren Durst einigermaßen
gestillt hatten, fragte ich Theoderich: »Und was geschieht jetzt?«
»Nichts, hoffe ich; zumindest nicht hier und jetzt. Die Bewohner des oberen Stadtteils von Singidunum freuen sich über unsere Anwesenheit auch nicht mehr als über die der Sarmaten. Im großen und ganzen hatten sie jedoch keine allzu großen Unannehmlichkeiten zu erdulden. Die
Sarmaten hatten keine Gelegenheit, irgendwelche Beute
wegzuschleppen, und ich habe meinen eigenen Männern
verboten, zu plündern oder über Frauen herzufallen. Sie sollen, wenn sie können, ihre eigenen Auroras finden. Ich möchte, daß die Stadt unversehrt bleibt, denn sonst ist sie als Unterpfand in meinem Handel mit dem Reich wertlos.«
»Du mußt die Stadt also eine Zeitlang besetzt halten.«
»Ja, und zwar mit nur ungefähr dreitausend voll
einsatzfähigen Kriegern. In Altdakien nördlich der Donau befinden sich noch weitere Truppen Babais; und außer den Sarmaten halten sich dort auch noch deren Verbündete, die Skiren, auf. Da jedoch die sarmatischen Truppen, die
Singidunum eroberten, von Babai selbst angeführt wurden und der Sarmatenkönig anschließend in der Stadt blieb, sind seine dortigen Truppen ohne Anführer und wissen nicht was sie tun sollen. Solange kein Spion ihnen meldet, daß die Stadt gefallen und Babai tot ist, werden sie kaum einen massiven Gegenangriff starten.«
»Aber sie warten doch sicherlich darauf, daß ihnen Babai von hier aus irgendwelche Befehle gibt«, sagte ich. »Es war ja schließlich kein Geheimnis, daß die Stadt, in der sich der Sarmatenkönig niedergelassen hatte, belagert wurde.«
»Das ist richtig. Ich habe deshalb bereits Wachen
aufgestellt, die verhindern sollen, daß irgendwelche
verräterischen oder verärgerten Stadtbewohner sich über die Donau zu den Sarmaten schleichen, um ihnen Bericht zu
erstatten. Die Hälfte meiner Männer wird als Garnison in der Stadt bleiben, die Verwundeten versorgen und die Tore
wieder reparieren. Währenddessen werde ich mit dem Rest meiner Krieger wieder Spähtrupps bilden und zu Pferd die Umgebung erkunden, denn wir müssen alle Sarmaten vor
der Stadt abfangen, damit sie den Fall Singidunums nicht an ihre Leute weitermelden können. Ich habe auch schon
Botschafter nach Südosten losgeschickt. Sie sollen meine Versorgungskolonne zur Eile antreiben und noch mehr
Verstärkung holen.«
»Und was für einen Posten hast du mir zugedacht?« fragte ich. »Soll ich Wache stehen, bei der Garnison bleiben, oder würdest du mich lieber als Botschafter oder Späher
losschicken?«
»Du bist wohl ganz versessen darauf zu kämpfen, wie?
Betrachte dich weiterhin einfach nur als einen Krieger meines Volkes. Einverstanden?«
»Was heißt hier›nur ein Krieger!‹protestierte ich. »Ich bin durch halb Europa gereist und habe hart an mir gearbeitet, um genau das zu werden. Nur darauf habe ich mich so
lange vorbereitet. Und du warst es, der mich bereits in Vindobona dazu aufforderte, hierher zu kommen und ein
Krieger der Ostgoten zu werden. Bist denn nicht auch du ein Krieger?«
»Nun, ich bin außerdem auch noch der Feldherr aller
ostgotischen Krieger sowie der König meines Volkes. Ich muß entscheiden, wie diese Krieger zum besten Nutzen
meines Volkes eingesetzt werden.«
»Eben deshalb bat ich dich, mir einen Posten
zuzuweisen.«
»Jesus, Thorn! Ich habe dir schon vor längerer Zeit
gesagt, daß du nicht so ergeben sein sollst. Und wenn du den Bescheidenen nur spielst, dann werde ich dich so
behandeln, wie so ein elender Heuchler es verdient. Ich werde dich dem Koch eines Küchenzeltes als Küchenjunge zuteilen. Dort bist du dann so weit weg von den kämpfenden Truppen, daß du gar nicht erst auf irgendeinen Kampf zu hoffen brauchst.«
»Gudisks Himins, bloß das nicht!« sagte ich, obwohl ich wußte, daß er nur scherzte. »Ich habe zwar vor ein paar Jahren als Küchenjunge angefangen, aber ich will doch
hoffen, daß sich mein Schicksal inzwischen zum Besseren gewendet hat.«
»Väi, jeder Bauer kann lernen, wie man ein Schwert, eine Lanze oder einen Bogen handhabt. Jeder einigermaßen
intelligente und geschickte Bauer kann irgendwann ein
Dekurio, ein Signifer, ein Optio oder was auch immer
werden.«
»Gut«, sagte ich, »ich werde weder ergeben noch
bescheiden sein. Ich hätte absolut nichts dagegen, mit der Zeit befördert zu werden.«
»Balgsdaddja!« sagte er ungeduldig. »Du verfügst nicht nur über Intelligenz und Geschicklichkeit, sondern du hast außerdem auch Phantasie und Unternehmungsgeist. Ich
habe dich ausgelacht, als du dieses Seil um dein Pferd gebunden hast, dabei scheint es eine sehr nützliche
Erfindung zu sein. Ich habe auch über deine mit Hafer
gefüllten Trompeten von Jericho gelacht, dabei stellten sie sich als außerordentlich nützlich heraus. Ich habe dich als einen einfachen Krieger am Kampf um die Stadt teilnehmen lassen, damit du eine Ahnung davon bekommst, wie es ist, Mann gegen Mann zu kämpfen; denn das wolltest du doch
so unbedingt. Auch dabei hast du dich bewährt, und ich bin sehr froh, daß du den Kampf überlebt hast. Aber erwartest du jetzt etwa von mir, daß ich stets aufs neue das Leben eines wertvollen Mannes aufs Spiel setze, als sei er einer meiner gröbsten Rekruten?«
Ich breitete meine Hände aus. »Ich habe keine weiteren Erfindungen mehr anzubieten. Befiehl mir, was immer du willst.«
Er sprach eher mit sich selbst als mit mir, als er sagte:
»Ein Historiker hat einmal bemerkt, daß der mazedonische General Parmenio viele seiner Siege ohne Alexander den Großen errang; Alexander der Große hingegen siegte nicht ein einziges Mal ohne Parmenio.« Dann sagte er zu mir:
»Ich habe im Augenblick nur einen einzigen Marschall; den Saio Soas, der dieses Amt schon unter meinem Vater
innehatte. Ich hätte gerne, daß du mein zweiter Marschall wirst.«
»Theoderich, ich weiß nicht einmal, was ein Marschall zu tun hat.«
»Der Marschall eines Königs war ursprünglich der
Betreuer der königlichen Pferde. Heutzutage hat er ganz andere und weit wichtigere Aufgaben. Er ist der Gesandte eines Königs und überbringt dessen abwesenden Armeen
oder hohen Offizieren die Befehle und Botschaften seines Monarchen. Er ist mehr als ein bloßer Kurier, denn ein Marschall spricht im Namen des Königs und daher auch mit dessen Autorität. Es ist ein sehr verantwortungsvolles Amt, da der Marschall sozusagen der verlängerte Arm des Königs selbst ist.«
Ich starrte ihn ungläubig an. Was ich soeben gehört hatte, war schwindelerregend und auch etwas beängstigend. Bei Tagesanbruch war ich noch ein gewöhnlicher Krieger
gewesen. Selbst wenn ich an diesem Tag Veleda, mein
anderes Selbst, verkörpert hätte, wäre eine
Soldatenlaufbahn nichts allzu Ungewöhnliches gewesen.
Nicht nur die Amazonen, sondern auch andere Heldinnen
der Geschichte haben ja bekanntlich wie Männer gekämpft und sogar hohe militärische Titel erworben. Doch mir wurde nun am Ende dieses Tages nicht nur eine Beförderung,
sondern beinahe schon eine Art Krönung angeboten: meine Ernennung zum Höfling eines Königs. Theoderich ging
davon aus, daß ich wie er ein Mann sei. Ich war mir ziemlich sicher, daß noch nie ein Mannamawi zum Marschall eines Königs ernannt worden war, und ich bezweifelte auch, daß jemals eine Frau ein solches Amt bekleidet hatte.
Theoderich schien mein Zögern als ein Zeichen der
Ablehnung auszulegen und fügte daher noch hinzu: »Als
Marschall ist man gleichzeitig auch Herzog. Das ist ein sehr edler Titel.«
Sein letzter Satz versetzte mich in noch größere
Aufregung. Ein gotischer Herzog hatte den gleichen Rang wie ein römischer Herzog, der in der Hierarchie Roms an fünfzehnter Stelle stand. Nur der Kaiser, ein König, ein Fürst und ein Comes waren ranghöher als ein Dux. Ich wußte
genau, daß es noch nie eine Frau dieses Ranges gegeben hatte. Selbst wenn ein Dux heiratete, ging sein Titel nicht auf seine Ehefrau über. Natürlich wurde ich durch Theoderichs Angebot kein römischer Dux, doch war es alles andere als eine Kleinigkeit, zu einem gotischen Herzog und zum
Marschall König Theoderichs ernannt zu werden.
Ich überlegte kurz, ob ich Theoderich offen gestehen
sollte, daß ich Mannamawi war, bevor wir dieses neue
Bündnis schlössen, entschied mich dann aber doch
dagegen. Ich hatte bis jetzt als Waldmann, als Clarissimus, als Bogenschütze und als Schwertkämpfer glaubwürdige, ja sogar löbliche Arbeit geleistet und würde mich als Marschall und Herzog bemühen, das gleiche zu tun. Vorausgesetzt, daß ich diesen Posten nicht verlor, weil ich ihm nicht gewachsen war, und daß es nicht herauskam, daß ich
Mannamawi war, dann konnte ich dieses Amt bis an mein
Lebensende ausüben, und mein Grabstein würde später
eine eindrucksvolle Inschrift tragen. Das wäre ein herrlicher Witz der Geschichte: ein Herzog und Marschall dieser
Epoche, der in Wirklichkeit gar kein richtiger Mann war, ohne daß irgendein Historiker davon Kenntnis gehabt hätte.
Theoderich, der immer noch auf eine Antwort wartete,
redete mir erneut gut zu: »Jeder würde dich voller Respekt Saio Thorn nennen.«
»Ach, du brauchst mich nicht zu überreden«, sagte ich.
»Ich fühle mich geschmeichelt und geehrt und bin ganz
überwältigt. Mir ging nur die Frage durch den Kopf, ob ein Marschall wohl noch kämpft oder nicht.«
»Das hängt davon ab, wohin deine königliche Mission dich führt. Es ist möglich, daß du auf dem Weg zu deinem Ziel Kämpfe zu bestehen hast. Du wirst das vielleicht jetzt nicht glauben wollen, aber es gibt tatsächlich Dinge, die genauso spannend sind wie ein offener Kampf: Intrigen,
Verschwörungen, diplomatische Verwicklungen,
Bereicherung und Macht. All das lernt ein königlicher
Marschall nicht nur kennen, sondern er wird sogar in solche Machenschaften hineinverwickelt und hat seine Freude
daran, in diesem Spiel sein Geschick und seinen Einfluß einzusetzen.«
»Ich hoffe nur, daß es trotz alledem auch noch Kämpfe zu bestehen gibt; und Abenteuer.«
»Das heißt also, daß du das Amt annimmst? Gut! So sei
es! Hails Saio Thorn! Und nun such dir ein paar weiche Pflastersteine und schau zu, daß du heute nacht gut
schläfst. Melde dich morgen früh in meinem Quartier, dann erkläre ich dir, wie deine erste Mission als Marschall aussehen wird. Ich verspreche dir, daß es eine Mission ist, die du sowohl spannend als auch vergnüglich finden wirst.«
5
Als Theoderich mir am nächsten Morgen meine erste
Mission erläuterte, schnappte ich nach Luft und sagte:
»Unmöglich! Ich soll mit einem Kaiser sprechen? Ich würde kein Wort herausbringen und wäre so stumm wie ein Fisch!«
»Das bezweifle ich«, sagte Theoderich zuversichtlich.
»Zwar bin ich nur ein unbedeutender König, dennoch hat es dir in meiner Gegenwart bis jetzt noch nie die Sprache verschlagen. Oft widersprichst du mir sogar. Wie viele meiner Untertanen würden das wohl wagen?«
»Das ist etwas ganz anderes. Du sagtest ja selbst, daß du noch kein König warst, als wir uns das erste Mal trafen; außerdem sind wir ungefähr im gleichen Alter. Bedenke
doch, Theoderich, ich bin nur ein Balg, das im Kloster aufwuchs, ein Bauer ohne Manieren. Ich habe mich noch nie in der Nähe einer Stadt oder eines Hofes aufgehalten...«
Theoderich fegte meine Einwände mit einem
»balgsdaddja« beiseite, was mich nicht besonders
ermutigte. Seit meinen Tagen im Kloster hatte man meine Argumente immer wieder für »Unsinn« erklärt.
Er lehnte sich über den Tisch und fuhr fort: »Dieser neue Leo ist selbst nur ein Balg. Du hast mir vor langer Zeit erzählt, Thorn, wie du dem Abt deines Klosters geholfen hast, seine Korrespondenz mit hochgestellten
Persönlichkeiten zu erledigen. Das Vokabular, der
Umgangston und die Schliche dieser hohen Herrschaften
sind dir also nicht völlig unbekannt. Du hast damit geprahlt, wie erfolgreich du bei den vornehmen Leuten in Wien den noblen Thorn gespielt hast. Die Umgangsformen am Hof
eines Kaisers unterscheiden sich nicht wesentlich von
denen, die du unter diesen Würdenträgern aus der Provinz kennengelernt hast. Außerdem brauchst du diesmal nicht mehr nur vorzutäuschen, eine Person von hohem Rang und Namen zu sein, denn eine solche bist du ja inzwischen
wirklich. Als ein Marschall des ostgotischen Königs wirst du unanfechtbare Referenzen vorweisen können. Außerdem
sprichst du gut genug Griechisch, um mit dem kleinen Kaiser Leo II. oder mit irgendwelchen Beratern, die für ihn die Amtsgeschäfte führen, verhandeln zu können.«
Die nun folgenden Worte waren nicht nur an mich,
sondern auch an den ebenfalls anwesenden Saio Soas
gerichtet: »Ich sende also meinen Saio Soas, der nur
Gotisch und Lateinisch spricht, zu Kaiser Julius Nepos nach Ravenna und meinen Sao Thorn zum Kaiser des Ostreiches.
So sei es!«
Meine Theoderich gegenüber geäußerten Befürchtungen,
dieser Mission nicht gewachsen zu sein, waren aufrichtig.
Gleichzeitig sah ich meinem Auftrag jedoch auch mit
Spannung entgegen. Nie im Leben hätte ich gedacht, daß ich jemals das in Konstantinopel gegründete Neue Rom
besuchen würde; geschweige denn, daß ich dort zum
kaiserlichen Hof Zutritt haben würde, um vom Kaiser des Ostreiches höchstpersönlich empfangen zu werden. Ich
fühlte mich so ähnlich wie damals, als ich aus dem
Mönchskloster geworfen und ins Nonnenkloster geschickt wurde: Teils ängstlich und teils voller Vorfreude auf die mir bevorstehenden neuen Abenteuer.
»Ich bin nicht im mindesten daran interessiert, diese Stadt noch sehr lange besetzt zu halten«, fuhr Theoderich fort.
»Wie jeder andere frei geborene und frei lebende Gote habe ich für eine Stadt, die von einer Mauer umgeben ist, nichts übrig. In unserer amalischen Hauptstadt Novae, von der aus man direkt auf die Donau und auf das an sie angrenzende Flachland blicken kann, fühle ich mich wesentlich wohler.
Ihr, meine beiden Marschälle, werdet den Kaisern die Lage jedoch ganz anders darstellen. Ihr müßt den beiden
Regenten den Eindruck vermitteln, daß mir so viel an der Stadt gelegen ist, daß ich am liebsten für immer hier bleiben und Singidunum zu meiner neuen Hauptstadt erklären
würde. Ich gebe die Stadt erst auf, wenn ich bekommen
habe, was ich im Tausch für sie verlange. Realistischer gesprochen heißt das, daß ich die Stadt so lange halten werde, wie ich kann. Ihr beide müßt also den Kaisern in Ravenna und Konstantinopel meine Forderungen
unterbreiten, bevor die Sarmaten mir bei einem Gegenangriff die Stadt vielleicht wieder entreißen.«
Über den Tisch hinweg überreichte er jedem von uns ein Pergament, auf dem viele Zeilen in Theoderichs Handschrift standen und das mit seinem in purpurfarbenes Wachs
gepreßten Monogramm versiegelt war.
»Ich habe fast die ganze Nacht gebraucht, um diese
Schriftstücke aufzusetzen«, erklärte er uns. »Eures ist in lateinischer Sprache verfaßt, Saio Soas, und deines, Saio Thorn, auf Griechisch.«
»Ich spreche zwar ein wenig Griechisch, kann jedoch die Schriftzeichen nicht lesen«, murmelte ich entschuldigend.
»Das ist auch nicht nötig. Am Hof von Konstantinopel kann das jeder; außerdem kennt ihr ja beide den Inhalt meines Schreibens. Die beiden Kaiser sollen ihren Dank für die Rettung Singidunums aus den Händen der Sarmaten zum
Ausdruck bringen, indem sie mir eine Bürgschaft zukommen lassen; mit anderen Worten, sie sollen mir einen Vertrag schicken, der die zwischen dem Reich und meinem
verstorbenen Vater geschlossenen Abkommen erneuert und bestätigt. Darin soll uns Ostgoten auf unbefristete Zeit das Eigentumsrecht an den Ländereien in Moesia Secunda
zugesichert werden, die Leo I. uns damals überließ.
Außerdem sollen uns wie zuvor für die Bewachung der
Reichsgrenze jedes Jahr dreihundert Pfund in Gold gezahlt werden. Sobald ich diesen Vertrag in meinen Händen halte, werde ich die Stadt jeder beliebigen Truppe übergeben, die das Reich als neue Garnison nach Singidunum schickt. Das wird jedoch, wie gesagt, erst dann geschehen, wenn ich im Besitz eines Vertrages bin, von dessen Gültigkeit und
Aufrichtigkeit ich überzeugt bin, und der so formuliert ist, daß auch die Nachfolger von Julius Nepos und diesem neuen
Leo ihn nicht verkürzen, verwerfen oder umschreiben
können.«
»Und wie können der Saio Soas und ich unseren
jeweiligen Kaisern beweisen, daß Singidunum tatsächlich in deiner Hand ist?« fragte ich.
Bei dieser weiteren Spitzfindigkeit blickten mich die beiden Männer verärgert an, dann jedoch sagte Theoderich: »Das Wort eines Königs muß genügen; aber wenn selbst du
schon diese unverschämte Frage stellst, dann könnten
andere das auch tun; daher werde ich sowohl dir wie auch dem Saio Soas eindeutige Beweise mitgeben.« Er rief mit erhobener Stimme: »Aurora, bring das Fleisch.«
Ich erwartete, daß das Mädchen auf diesen merkwürdigen Befehl hin große Holzteller oder Schneidebretter
hereinbringen würde, um die Mahlzeit darauf zu servieren.
Als sie jedoch aus der Küche kam, trug sie zwei Lederbeutel der mir bereits bekannten Art vor sich her, die sie
Theoderich aushändigte. Er öffnete einen der Beutel,
schaute hinein und gab ihn dann an Soas weiter. Den
anderen reichte er mir mit der beiläufigen Bemerkung:
»Auch Aurora hat in dieser Nacht kaum geschlafen. Sie
mußte diese Dinger da räuchern, damit sie nicht völlig verwest sind und stinken, wenn ihr sie abliefert. Julius Nepos erhält den Kopf von Camundus, Leo II. den von Babai. Ist das Beweis genug, Saio Thorn?«
Ich nickte ernüchtert.
»Saio Soas, Ihr habt den längeren Weg. Ihr müßt über
Land nach Ravenna reisen. Am besten, Ihr brecht sofort auf.«
»Ich bin bereit, Theoderich!« stieß Soas hervor. Er sprang sofort auf die Füße, grüßte zackig und verschwand durch die Tür, die zur Straße führte.
Noch bevor ich fragen konnte, auf welche Weise ich nach Konstantinopel gelangen würde, sagte Theoderich bereits:
»Unten am Fluß warten in einem Kahn ein paar
vertrauenswürdige Bootsleute auf dich. Auch für Proviant wurde bereits gesorgt. Ihr werdet die Donau hinunterfahren, bis ihr meine mösische Hauptstadt Novae erreicht. Da du den Optio Daila bereits kennst, wird er dich zusammen mit zwei Bogenschützen begleiten, denn es könnte sein, daß ihr unterwegs auf Piraten oder irgendwelche Hindernisse
anderer Art stoßt. Der Kahn faßt euch alle und eure Pferde obendrein. Ich wünsche jedoch, daß du mit einer größeren, eindrucksvolleren Gefolgschaft in Konstantinopel eintriffst; daher gebe ich dir noch einen weiteren Brief für meine Schwester Amalamena in Novae mit, in dem ich sie bitte, dir weitere Krieger und Pferde zur Verfügung zu stellen.
Vielleicht möchte sie dich sogar mit ihrer Dienerschaft begleiten. Auch Amalamena war noch nie in Konstantinopel.
Du wirst dich in ihrer Gesellschaft sicher wohlfühlen. Sie ist schön und charmant und alle, die sie kennen, lieben sie -
mich eingeschlossen. Sie wird auch dafür Sorge tragen, daß dein ganzes Gefolge hervorragend gekleidet, ausgerüstet und versorgt ist, wenn ihr von Novae aus in südöstliche Richtung losreitet. Nun, hört sich das wirklich so schlecht an, Thorn? Hast du immer noch Bedenken, als mein Marschall zum Hof des Kaisers zu reisen?«
»Ne, ne, ni allis.« Was sollte ich auch noch groß sagen, wenn er sich ohne weiteres vorstellen konnte, daß sogar eine Frau nicht zögern würde, diese Reise zum erlauchten Kaiser Leo anzutreten. »Hast du noch irgendwelche
Anweisungen?«
»Nein, nur hohe Erwartungen; besonders die, daß du sehr schnell mit dem Vertrag zurückkehrst, um den du dich
bemühen sollst. So sei es!«
Unsere Fahrt die Donau hinab verlief ohne weitere
Zwischenfälle. Die Donau war zunächst weiterhin der
schnellfließende, aber dennoch breite, braune Strom, der mir bereits vertraut war, und die Sawe, die sich oberhalb von Singidunum mit ihr vereinigte, verbreiterte sie noch
beträchtlich. Die nun mehr als eine halbe römische Meile auseinanderliegenden Wälder links und rechts des Stromes waren daher nur noch verschwommen zu erkennen.
Ungefähr eine Tagesreise nach Singidunum veränderte der Strom jedoch plötzlich seinen Charakter dramatisch. Auf ihrem Weg nach Osten mußte die Donau sich nun zwischen zwei großen Gebirgsketten hindurchzwängen; im Norden
erhoben sich die Karpaten und im Süden der große Balkan.
Da die Donau sich nun durch den weniger als ein Stadium breiten Engpaß hindurchschlängeln mußte, den die zu
beiden Seiten steil aufragenden Felswände bildeten, schoß der zuvor so breite, braune Strom ab hier als tosender, weiß schäumender Strudel durch sein beengtes Flußbett. Die
Pferde spreizten ihre Beine weit auseinander und stemmten sie gegen die Planken des Kahns. Daila, die Bogenschützen und ich klammerten uns bange an alles, was an dem Kahn niet- und nagelfest war. Das ächzende Boot wurde von den peitschenden Wassermassen hin- und hergeschleudert und tanzte mit abrupten Sprüngen und Schlenkern durch die
Brandung; dennoch blieben die Bootsleute während dieses wilden Ritts erstaunlich gelassen und hielten das Boot, das immer wieder zur Seite hin ausbrechen wollte, mit ihren Stangen und dem Steuerruder geschickt in der Mitte des Flußbetts, so daß es nicht an den Uferfelsen zerschellen konnte.
Diese wilde, turbulente und furchterregende Fahrt setzte sich beinahe ununterbrochen einen ganzen Tag lang fort, der einem wie eine ganze Woche vorkam, endete dann
jedoch genauso abrupt, wie sie begonnen hatte. Der Fluß schoß aus der Kluft heraus, die Felswände wichen zur Seite, und bald darauf ließen wir die Karpaten und den großen Balkan hinter uns und fuhren an Wäldern, Wiesen und
Unterholz vorbei. Als ob der Fluß sich über seine Befreiung aus der Bedrängnis freute, toste er nun nicht mehr mit ohrenbetäubendem Lärm vorwärts, sondern dehnte sich
gemächlich wieder auf seine alte Breite aus und floß mit einer Art erleichtertem Seufzen wie zuvor braun und friedlich vor sich hin. Nun lotste die Bootsbesatzung den Kahn ans Ufer, wo die Pferde auf einer saftigen Weide grasen
konnten, während wir Menschen uns dankbar und entspannt ebenfalls auf festem Boden niederließen, um unsere
Abendmahlzeit einzunehmen.
Die darauffolgenden Tage über konnten wir unsere
verspannten Glieder ausstrecken und uns von unseren
Schrammen und Prellungen erholen. Auf beiden Seiten des Flusses waren in der Ferne nun wieder Bergketten zu
erkennen. Die Donau hatte sich inzwischen fast auf die Breite eines Sees ausgedehnt und ging links und rechts direkt in eine Marsch- und Sumpflandschaft über. Der
ausufernde Strom floß nun so träge dahin, daß die
Bootsleute sich mit ihren Stangen kräftig ins Zeug legen mußten, damit unser Kahn sich schneller vorwärts bewegte als der Fluß; trotzdem ging es Daila, den Bogenschützen und mir nicht schnell genug. Unsere Glieder schmerzten zwar inzwischen nicht mehr, dafür juckte uns jetzt der ganze Körper unerträglich. Stechmücken und alle nur erdenklichen Arten von blutsaugenden Insekten kämen uns in dunklen
Schwärmen aus den Ufersümpfen heraus
entgegengeflogen, taten sich an uns gütlich und quälten uns bis aufs Blut.
Die Bootsleute waren anscheinend bereits so an diese
Plage gewöhnt, daß sie die Insektenschwärme überhaupt
nicht beachteten. Nur gelegentlich wedelte einer mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Wir vier anderen dagegen konnten nicht aufhören, uns blutig zu kratzen, und fanden so lange keinen Schlaf, daß wir beinahe verrückt wurden. Jede freie Stelle unseres Körpers trug die Spuren unserer Fingernägel, und die drei bärtigen Krieger hatten sich in ihrer Not sogar ganze Haarbüschel aus dem Bart gerissen. Unsere
Gesichter und Hände waren so dicht mit Insektenstichen übersät, daß sie völlig aufgedunsen waren; unsere Augen waren beinahe zugeschwollen und unsere Lippen waren
dick und wund. Die Pferde hatten zwar ein dickeres Fell, doch auch sie juckte es überall. Sie zuckten, tänzelten nervös umher, wälzten sich und traten um sich. Wir
befürchteten schon, sie würden irgendwann mit ihren Hufen ein Loch in den Kahn schlagen und uns auf diese Weise für immer an diesen schrecklichen Ort verbannen.
Wir waren ungemein erleichtert, als die Donau sich nach einer halben Ewigkeit wieder verengte und schneller zu fließen begann, so daß der Fahrtwind viele der Insekten vertrieb. Die Plage war endgültig vorüber, als der Fluß und unser Kahn bald darauf erneut in eine enge Felsenschlucht hineinglitten. Dort wurden wir noch länger und ausgiebiger durchgeschüttelt und hin und her geworfen als während
unserer letzten Durchfahrt durch eine solche Flußenge; dennoch nahmen Dalai, die Bogenschützen und ich, ja
vermutlich sogar die Pferde, diese heftigen Stöße und
Erschütterungen immer noch lieber in Kauf als die
Insektenschwärme.
Ich sah bald, warum diese Flußenge das Eiserne Tor
genannt wurde. Die links und rechts des Flußes
emporragenden Felswände waren nicht aus grauem,
sondern aus rostrotem Gestein, und die Schlucht zwischen ihnen war so schmal, daß eine oben am Abgrund
aufgestellte Gruppe von Kriegern den Fluß mit Pfeilen, Feuer, Steinen oder Baumstämmen bombardieren könnte,
um so dieses »Tor« für jedes Schiff zu blockieren; selbst die gesamte Flotte römischer Schutzschiffe hätte man hier an der Weiterfahrt hindern können. Unser Kahn blieb jedoch von feindlichen Angriffen unbehelligt. Er holperte und schlingerte ungestört und mit rasender Geschwindigkeit die weiß schäumenden Stromschnellen hinunter.
Wir gelangten einigermaßen sicher durch diese zweite
Flußenge, fühlten uns nach dieser Tortur jedoch noch müder und zerschundener als beim vorigen Mal. Als die Bootsleute sahen, daß uns richtiggehend übel war, bekamen sie Mitleid mit ihren Fahrgästen steuerten den Kahn ans linke Flußufer und machten ihn dort fest damit wir uns zwei Tage lang an Land von unseren Strapazen erholen konnten.
Im weiteren Verlauf unserer Reise waren keine
Wildwasserfahrten mehr zu bestehen. Auf diesem letzten Flußabschnitt war auch das Risiko, von Flußpiraten
überfallen zu werden, nicht mehr sehr groß. Von Turris Severi ab trieben wir die stärker befahrene untere Donau hinunter, die zudem noch von den bewaffneten
Schutzschiffen der mösischen Flotte überwacht wurde. Der Strom war inzwischen wieder braun und breit und floß ruhig dahin. Wir durchführen eine äußerst karge und eintönige Landschaft und erreichten schließlich das am südlichen Ufer des Flußes gelegene Novae.
Ich dachte bei mir, daß Theoderich ziemlich übertrieben hatte, als er Novae als »Stadt« bezeichnete. Ich hatte nun schon mehrere Städte gesehen, und im Vergleich zu diesen war Novae wirklich nur ein Städtchen. Die Häuser waren überwiegend einstöckig, es gab kein Amphitheater, und die einzige Kirche war alles andere als majestätisch. Die zwei oder drei Thermen hatten nichts vom Prunk ihrer römischen Gegenstücke, und das Anwesen, das Daila als »den
königlichen Palast mit seinen Gärten« bezeichnete, war sehr viel bescheidener als zum Beispiel das des Herzogs Sunnja in Vindobona. Dennoch war Novae ein freundliches
Städtchen, das sich vom Flußufer aus einen sanften Hügel hinaufzog; die vielen Marktplätze waren von
schattenspendenden Bäumen umgeben und mit bunten
Blumen bepflanzt. Wie Theoderich mir bereits gesagt hatte, war Novae tatsächlich von keinerlei Mauern umgeben; Daila erklärte mir jedoch, daß die Stadt diese Offenheit nach allen Seiten durchaus nicht voller Selbstzufriedenheit genießen konnte.
»Hast du bemerkt, Saio Thorn, daß die Eingangstür jedes Wohnhauses, jedes Ladens und jeder Herberge so
angebracht ist, daß sie nicht auf gleicher Höhe liegt wie die Eingangstür des gegenüberliegenden Hauses? Das
geschah, damit die Männer im Falle einer Bedrohung oder eines Alarms mit ihren Waffen sofort aus ihren Häusern eilen können, ohne dabei mit denen zusammenzostoßen die
gerade das gegenüberliegende Haus verlassen«, erklärte mir Daila, als wir an Land gingen.
»Ja«, sagte ich, »ein Plan, der Weitblick beweist. Ich habe diese Vorsichtsmaßnahme bisher noch nicht einmal in einer Stadt bebachten können.« Dann fügte ich sofort taktvoll hinzu: »in einer größeren Stadt, meine ich. Aber jetzt sag mir, Optio, was wird von uns erwartet? Sollen wir uns in einer der Herbergen einquartieren?«
»Ach, ne. Ich werde mich mit den beiden Bogenschützen
in das Armeelager begeben, das hinter der Kuppe des
Hügels liegt. Wir werden auch die Pferde mitnehmen. Du dagegen wirst als Marschall von Prinzessin Amalamena
freundlich empfangen werden und im königlichen Palast
wohnen.«
Ich nickte, fuhr dann jedoch unsicher fort: »Wie du weißt, bin ich erst vor kurzem zum Marschall ernannt worden;
glaubst du, ich sollte mich der Prinzessin bewaffnet und in voller Rüstung vorstellen?«
Auch Daila war taktvoll: »Ahm... in Anbetracht dessen, daß du noch keine eigene Rüstung hast, die deiner... ahm...
Statur angepaßt wurde, würde ich Euch empfehlen, Saio
Thorn, in ganz gewöhnlicher Kleidung vor die Prinzessin zu treten.«
Ich beschloß, zumindest in sauberer Kleidung zu
erscheinen. Um mich ungestört umziehen zu können,
brachte ich meine Sachen in eine Hütte am Hafen. Dort
mußte ich jedoch feststellen, daß alle meine
Kleidungsstücke bei unseren Wildwasserfahrten feucht und muffig geworden waren. Mir blieb keine Zeit, all meine Sachen in der Sonne zu trocknen, also wählte ich die
besten, wenn auch nun feuchten, Gewänder aus, die ich in Vindobona als Thornareichs gekauft und getragen hatte: natürlich nicht die Toga, aber eine feine Tunika, die ich über ein passendes Untergewand streifte, dazu lange Hosen und meine Straßenschuhe mit der skythischen Schnalle. Auf den Schultern meiner Tunika befestigte ich dann meine Fibeln aus Bronze und roten Granaten. Als ich schließlich
vollständig angekleidet war, roch ich immer noch ziemlich modrig, obwohl ich bereits meine Phiole mit Rosenessenz hervorgezogen und ein paar Tropfen der duftenden
Flüssigkeit auf meine Kleider gesprenkelt hatte; außerdem gaben meine nassen Schuhe beim Laufen ein
quietschendes Geräusch von sich. Trotzdem glaubte ich, jetzt gut genug gekleidet zu sein, um wie ein Marschall des Königs auszusehen.
Das Grundstück, auf dem sich der Palast befand, war
ebenfalls nicht von einer Mauer, sondern lediglich von einer Hecke umgeben, die nur an einer Stelle von einem eisernen Gittertor unterbrochen wurde. Die davor aufgestellten beiden Wachposten waren die kräftigsten Goten, die ich je gesehen hatte; sogar ihre Barte waren viel buschiger als die der anderen. Beide trugen Helm und Rüstung und waren mit
Wurfspeeren bewaffnet. Ich ging auf sie zu, teilte ihnen mit, wer ich war und weshalb ich kam, und zeigte ihnen auch den Brief, den Theoderich mir für seine Schwester mitgegeben hatte. Ich bezweifelte, daß die Männer lesen konnten, nahm jedoch an, daß sie das Siegel erkennen würden. Meine
Vermutung erwies sich als richtig. Die eine Wache murmelte der anderen zu: »Geh und hol den Fauragagga!« Mich
forderte er schroff dazu auf, auf den Höfling zu warten, der mich dann hineinbegleiten würde. Während ich draußen vor dem Tor wartete, musterte die Wache mich eingehend von Kopf bis Fuß; sein Blick war jedoch weniger mißtrauisch, als etwas skeptisch.
Auf dem Weg vom Palast zum Tor, näherte sich uns ein
Höfling, ein sehr alter, gebeugter Mann mit einem langen weißen Bart, der am Stock ging und trotz der sommerlichen Hitze eine schwere, bodenlange Robe trug. Er stellte sich mir als der Fauragagga Costula vor und verbeugte sich, als ich ihm den Brief durch das Tor reichte. Dann erbrach er das Wachssiegel, rollte das Pergament auseinander und las es bis zum Schluß durch, wobei er mir gelegentlich mit
hochgezogenen, weißen Augenbrauen einen kurzen Blick
zuwarf. Schließlich verneigte er sich erneut, gab mir den Brief zurück und befahl den Wachen: »Öffnet das Tor,
Wachmänner, und erhebt eure Speere, um den Saio Thorn, den Marschall unseres Königs Theoderich, zu begrüßen!«
Sie befolgten seinen Befehl, und ich marschierte so aufrecht ich konnte zwischen den beiden Wachen hindurch, die mich dennoch wie die Klippen des Eisernen Tores überragten. Als wir zusammen den Weg zum Palast hinaufgingen, nahm der Höfling mich freundlich beim Arm, stutzte jedoch plötzlich, zog seine Hand wieder von meinem Ärmel zurück und
wischte sie an seiner Robe ab.
»Entschuldigt, daß ich so feucht bin, Costula«, sagte ich verlegen »Der Fluß war sehr naß.« Er warf mir einen kurzen Seitenblick und mir wurde schlagartig bewußt, daß diese Worte aus dem Mund eines Marschalls außerordentlich
dumm geklungen haben mußten; daher wechselte ich
schnell das Thema und fragte: »Wie habe ich Prinzessin Amalamena zu begrüßen und anzureden?«
»Eine respektvolle Verbeugung genügt, Saio Thorn; und
Ihr könnt sie einfach mit Prinzessin ansprechen, bis sie Euch anbietet, sie Amalamena zu nennen, was sie wahrscheinlich tun wird. Sie verlangt nicht, mit so hochtrabenden Titeln wie Augusta oder Maxima angesprochen zu werden, wie sie bei den Römern üblich sind. Ich möchte Euch jedoch um einen Gefallen bitten, Saio Thorn. Würde es Euch etwas
ausmachen, eine Zeitlang in einem Vorzimmer zu warten?
Ich muß der Prinzessin Eure Ankunft melden, und sie muß erst aufstehen und sich ankleiden, bevor sie Euch
empfangen kann.«
»Sie muß erst aufstehen? Mitten am Nachmittag?«
»Oh väi, sie ist keine verschlafene Schlampe. Sie ist seit einiger Zeit krank und steht unter der Obhut eines Arztes.
Sagt ihr jedoch nicht, daß ich Euch das erzählt habe.
Amalamena ist die Tochter ihres Vaters und die Schwester ihres Bruders. Genauso wie sie sich weigern würde, auch nur die geringste Schwäche zu zeigen, würde sie es auch mißbilligen, von Euch Bezeugungen der Anteilnahme oder des mitleidigen Verständnisses zu hören.«
Undeutlich murmelte ich Bekundungen meines Bedauerns
vor mich hin und versicherte, daß ich nicht so taktlos sein würde, die Prinzessin auf ihre Gesundheit anzusprechen.
Der Höfling führte mich durch die große doppelte Vordertür des Palasts zu einer Liege in der Eingangshalle und bat einen Diener, mir eine Erfrischung zu bringen. Ich saß also da, nippte an einem Humpen mit gutem, bitterem, dunklem Bier und studierte meine Umgebung.
Der Palast war aus demselben roten Gestein erbaut, aus dem die Felsen des Eisernen Tores bestanden hatten. Das zweistöckige Gebäude stand in der Mitte des Grundstücks.
Gepflegte Grünflächen und Blumenbeete wurden von
schmalen Kieswegen durchzogen. Die Inneneinrichtung des Palasts war ebensowenig protzig wie seine äußere Fassade.
Seine Eingangshalle war bei weitem nicht so überreich
geschmückt wie die einer römischen Villa, und es wunderte mich nicht, daß die meisten Einrichtungsgegenstände
Jagdtrophäen waren. Die Liege, auf der ich saß, war mit dem Fell eines Auerochsen bedeckt, auf dem Mosaik des
Fußbodens lagen kleine Teppiche aus Bärenfell, und an den Wänden waren prächtige Hörner und Geweihe angebracht.
Es standen auch kunstvolle Gefäße einer mir völlig
unbekannten Art herum, riesige, elegant geformte Vasen und Urnen aus schwarzer oder zinnoberroter Keramik, auf denen anmutige Götter und Göttinnen, kleine Jungen und Mädchen beim sportlichen Spiel oder muskulöse Jäger mit ihrer Beute dargestellt waren. Costula erklärte mir später, daß es sich um griechisches Kunsthandwerk handele, und daß die spärliche Möblierung des Raumes, die jeden
einzelnen Einrichtungsgegenstand voll zur Geltung brachte, ebenfalls eine griechische Mode sei.
Einige Zeit später öffnete sich auf der dem Eingang
gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle eine
Doppeltür. In der Türöffnung erschien der alte Costula und winkte mich zu sich herüber. Ich setzte meinen Humpen ab, durchquerte die Halle und wurde dann von ihm in den hinter der Tür gelegenen Raum geführt. Dieser war sehr geräumig und hoch und hatte viele Fenster, durch die von draußen das helle Licht der Sommersonne hereinflutete. Auch dieser Raum hatte einen Fußboden aus Mosaik und war mit
Jagdtrophäen und griechischen Urnen geschmückt. Er
enthielt nur ein einziges Möbelstück, das neben seiner dekorativen auch noch eine zweckmäßige Funktion hatte.
An der Wand gegenüber der Tür stand ein hoher,
thronähnlicher Stuhl, auf dem eine schmale, ganz in weiß gekleidete weibliche Gestalt saß. Sie hielt Theoderichs Brief aufgerollt in den Händen; ganz so, als ob sie ihn gerade selber lese. Es überraschte mich ein wenig, daß eine Frau von einem »unkultivierten« Stamm lesen konnte, auch wenn sie von königlichem Blute war. Ich sollte zur gegebenen Zeit noch herausfinden, daß die Prinzessin nicht nur lesen, sondern auch schreiben konnte und zudem noch sehr
belesen war.
Ich schritt langsam und würdevoll auf sie zu, doch der Stuhl war sehr weit von der Tür entfernt, und all die Würde, um die ich mich so, sehr bemühte, wurde von dem
komischen Quietschen meiner feuchten Schuhe zunichte
gemacht, das der gewölbte Raum noch immens verstärkte.
Ich fühlte mich eher wie eine Wasserwanze auf einem
langen mühseligen Marsch als wie ein Marschall und
Herzog.
Die Prinzessin Amalamena hatte wohl ähnliche Gedanken, denn während ich auf sie zuquietschte, blickte sie die ganze Zeit über mit gesenktem Kopf wie gebannt auf meine Füße.
Als ich schließlich kurz vor ihrem Stuhl stehen blieb, erhob sie endlich langsam ihr Haupt. Sie lächelte freundlich, doch die Grübchen um ihren Mund zeigten, daß sie mit einem
herzhaften Lachen kämpfte. Vor Scham wurde ich
wahrscheinlich noch röter als Theoderichs Aurora, daher verbeugte ich mich so tief, daß die Prinzessin mein Gesicht nicht sehen konnte, und richtete mich erst wieder auf, als sie sagte: »Willkommen, Saio Thorn.« Sie hatte ihren Lachreiz inzwischen überwunden, lächelte jetzt nachdenklich und schnupperte dezent in die Luft. »Seid Ihr durch das Tal der Rosen hierhergekommen?«
»Nein, Prinzessin«, sagte ich durch die Zähne hindurch, denn ich mußte die Bemerkung unterdrücken, daß es sich bei ihrer Krankheit offensichtlich nicht um einen Katarrh handelte, der ihren Geruchssinn betäubt hatte. »Ich benutze eine Rosenessenz als Parfüm, Prinzessin.«
»Ach tatsächlich? Wie originell!« Ihre Grübchen zuckten, als hätte sie erneut Schwierigkeiten, ihr höfliches Lächeln aufrechtzuerhalten. »Die meisten der hier eintreffenden Gesandten meines Bruders riechen nach Schweiß und
Blut.«
Ich brauchte ihr nicht erst zu sagen, daß ich als Marschall des Königs eine recht klägliche Figur abgab; dabei hätte ich diese Amalamena so gerne beeindruckt, denn sie war so
schön wie eine Prinzessin sein sollte. Ihre Ähnlichkeit mit dem älteren Bruder war unverkennbar, aber ihre Züge waren natürlich feiner. Theoderich sah gut aus, sie aber war schön; und natürlich hatte sie auch nicht seinen kräftigen Körper, sondern war geradezu geisterhaft schlank und hatte kaum mehr Busen als ich, wenn ich Veleda war. Während
Theoderich ein typischer Gote mit blondem Haar und heller Haut war, leuchtete Amalamenas Haar silbriggolden; ihre Lippen hatten die Farbe von Schlüsselblumen und ihre
elfenbeinerne Haut war so durchsichtig, daß ich an ihren Schläfen die Venen blau hindurchschimmern sah. Ihr Name, der »Mond der Amaler« bedeutete, paßte vortrefflich zu ihr, denn sie hätte eine Verkörperung des schmalen, bleichen, zerbrechlichen Neumondes sein können. Ihre perlene
Blässe betonte die gotischblauen Augen. Diese funkelten wie die Zwillingsfeuer, die ich einmal gesehen hatte, und es lag ein schelmischer und spöttischer Ausdruck in ihnen, als sie sagte: »Nun, Ihr seid nicht größer als ich, Saio Thorn, und wohl auch nicht älter. Auch habt Ihr keinen stärkeren Bartwuchs als ich. Vielleicht könnte auch ich mich um das Amt eines Marschalls bewerben. Oder gefällt es Theoderich seit neuestem, sich wie Alexander nur mit jungen Männern zu umgeben? Wenn das der Fall sein sollte, dann hat er sich seit unserem letzten Zusammentreffen sehr verändert.«
Inzwischen war mein Gesicht wahrscheinlich rot vor Ärger, und ich sagte mit von Wut erstickter Stimme: »Prinzessin, ich wurde nur deshalb zum Marschall ernannt, weil ich
Theoderich dabei half, die Stadt Singidunum einzunehmen.
Andere Gründe gab es nicht.«
Nach dieser letzten Bemerkung konnte sie sich nicht
länger beherrschen und brach in ein langes, melodisches Lachen aus. Mit ihrer schmalen weißen Hand winkte sie matt in meine Richtung, und selbst der alte Costula begann jetzt zu kichern. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden
versunken. Als ihre Heiterkeit sich schließlich legte, wischte sie sich die Tränen aus den strahlend blauen Augen und sagte in einem Ton freundlicher Belustigung: »Verzeiht mir, ich habe mich ungebührlich verhalten; aber Ihr saht so...
so... und der Lekeis sagte mir, Lachen sei für jede Art von Krankheit die beste Medizin.«
»Ich hoffe, daß er Recht behalten wird, Prinzessin«, sagte ich eisig.
»Weißt du, ich finde, daß du gar nicht jung genug bist, um so mit mir zu reden, als sei ich wesentlich älter. Nenn mich ab jetzt einfach Amalamena, und ich werde dich Thorn
nennen. Sicherlich hast du meine Scherze nicht
ernstgenommen, denn du hast doch bestimmt den Brief
meines Bruders gelesen.«
»Nein, das habe ich nicht«, sagte ich immer noch sehr
steif, »erst Euer - dein - Fauragagga hat das Siegel
erbrochen. Du kannst ihn selbst fragen.«
»Jedenfalls kannst du diesen Brief ruhig jeden lesen
lassen und sehr stolz auf das sein, was mein Bruder darin über dich schreibt. Mein Bruder preist dich über alle Maßen und bezeichnet dich nicht nur als seinen Marschall, sondern als seinen Freund. Natürlich hat er viele Freunde, aber während sie nur Freunde des Königs sind, bist du der
Freund Theoderichs.«
Trotz ihrer warmen Worte sagte ich immer noch förmlich: Ich versuche, ihm ein vertrauenswürdiger Freund zu sein, und befinde mich im Augenblick auf einer sehr dringenden Mission, Prinzessin... ich meine, Amalamena. Wenn du mir nur bald all das zur Verfügung stellen würdest, worum dich dein Bruder meines Wissens in diesem Brief gebeten hat, dann könnte ich sofort aufbrechen und...«
»Und ich auch«, führte sie meinen Satz fort. »Ich möchte gerne an dieser Expedition teilnehmen. Theoderich selbst hat mir in seinem Brief diesen Vorschlag gemacht.«
»Ich glaube, als dein Bruder das schrieb, wußte er nicht, daß du... ahm...« Ich unterbrach meinen Satz, weil Costula hinter dem Stuhl der Prinzessin so nachdrücklich seinen Kopf schüttelte, daß sein langer Bart hin und her wedelte.
»Ich will damit sagen, daß der Weg von hier nach
Konstantinopel mir nicht vertraut ist. Es wird möglicherweise eine sehr anstrengende oder vielleicht sogar gefährliche Reise werden.«
Ihre Grübchen verzogen sich erneut zu einem freundlichen Lächeln, als sie überredend erwiderte: »Aber ich werde doch von Thorn begleitet, der mich geleiten und beschützen wird.
Diesem Brief nach zu urteilen, könnte ich selbst unter dem Schild Jupiters und Minervas nicht sicherer reisen. Würdest du mir die Gelegenheit geben, mich selbst davon zu
überzeugen?«
Anstatt mir einen entsprechenden Befehl zu geben, hatte sie mir eine Frage gestellt; sie war eine königliche
Prinzessin, die Schwester meines Königs und Freundes und zweifellos bei ihrem Volk sehr beliebt; zudem litt sie unter einer Krankheit, über die ich noch nichts wußte, und man würde mich zur Verantwortung ziehen, wenn ihr in meiner Obhut etwas zustieße. Es gab also genug Anlaß für
berechtigte Befürchtungen und Einwände, und ich hätte
nicht zögern sollen, diese auch energisch zur Sprache zu Dringen, doch als ich dieses zerbrechliche und
wunderschöne Mädchen anschaute, war mein einziger
Gedanke: »Ach, könnte ich doch nur ein Mann sein!« Und alles, was ich noch sagen konnte, war: »Ich wäre nie
imstande, dir eine Bitte abzuschlagen, Amalamena.«
6
Amalamena gab dem Fauragagga verschiedene, die
Reisevorbereitungen betreffende Anweisungen und bat ihn darum, noch weitere Diener sowie militärische Berater in ihre Gemächer zu schicken damit sie auch diese entsprechend unterweisen könne. Dann sagte sie zu mir: »Die Vorfreude hat mich bereits ein wenig ermüdet oder vielleicht war es auch das heilsame Lachen, das du mir entlockt hast.« Sie lachte erneut. »Trotzdem würde ich mich jetzt gerne etwas ausruhen. Costula wird dir zeigen, wo du wohnen wirst, und auch deine Sachen dorthin bringen lassen. Ich sehe dich beim Abendessen wieder.«
Also verließen der alte Costula und ich zusammen den
Raum. Als wir draußen waren, fragte ich ihn: »Ist dieser Lekeis, der die Prinzessin behandelt, womöglich ein
Schamane, ein Sterndeuter, oder sonst so ein
Quacksalber?«
»Nein, durchaus nicht. Der Lekeis Frithila würde Euch
vergiften, wenn er Euch so reden hörte. Er ist ein sehr gelehrter und erfahrener Mann, der zu Recht den römischen Titel Arzt verdient. Würde eine königliche Familie etwa einen Quacksalber zu Rate ziehen?«
»Das will ich nicht hoffen. Bringt mich zu diesem Frithila.
Ich muß zuerst seine Erlaubnis einholen, bevor die
Prinzessin mit Euch zusammen weitere Reisevorbereitungen trifft.«
»Das ist wahr. Wir werden sofort zu Frithila gehen. Laßt mich nur zuerst nach einer Sänfte rufen, Saio Thorn, denn für meine alten Füße ist der Weg zum Lekeis ziemlich weit.«
Durch mehrere Straßen und um mehrere Ecken gelangten
wir zu einem ansehnlichen Wohnhaus. Im bereits vollen
Wartezimmer saßen ausschließlich Frauen und kleine
Kinder. Ich wartete ebenfalls dort, während Costula in einem anderen Zimmer verschwand. Aus diesem kam kurze Zeit
später eine Frau heraus, die ihre Kleider zurechtzupfte.
Costula streckte seinen Kopf durch die offene Tür und nickte mir zu.
»Nun?« bellte der Lekeis, als ich den Raum betrat. Er war beinahe so alt wie der Fauragagga, hatte jedoch wachere Augen und eine energischere Art. »Warum wünscht Ihr mich so dringend zu sprechen? Ihr seht völlig gesund aus.«
»Es ist der Gesundheitszustand von Prinzessin
Amalamena, über den ich mich erkundigen möchte.«
»Dann könnt Ihr sofort wieder gehen. Ich bin an meine
Schweigepflicht gebunden und darf nur mit einem
beratenden Arzt über das Befinden eines Patienten
sprechen.«
»Habt Ihr dem Lekeis denn nicht gesagt, wer ich bin?«
fragte ich Costula.
»Doch, er hat es mir gesagt«, sagte Frithila, »aber ich würde nicht einmal dem Oberbischof von...«
Ich schlug laut mit der Faust auf den Tisch, hinter dem er stand. »Ich werde mich kurz fassen. Die Prinzessin möchte mich nach Konstantinopel begleiten, wo ich eine Mission zu erfüllen habe.«
Mein Verhalten schien ihn ein klein wenig aus der Fassung gebracht zu haben, dennoch zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Wie schön für Euch, junger Mann. Ich sehe
keinen Grund, warum sie das nicht tun sollte.«
»Versteht mich richtig, Lekeis Frithila. Ich bin nicht nur der Marschall des Königs, sondern auch sein Freund, und ich wage es nicht, seine Schwester auf eine so lange Reise mitzunehmen, wenn Ihr mir nicht versichern könnt, daß sie diese auch überleben wird.«
Der Arzt strich sich nachdenklich über den Bart und
schaute mich dabei mit zusammengekniffenen Augen an.
Nach einer Weile wandte er sich an Costula und sagte:
»Laßt uns bitte allein.« Als der Höfling den Raum verlassen hatte, schaute mich Frithila nochmals prüfend an und fragte schließlich: »Sprecht Ihr ein wenig Griechisch oder Latein?«
Ich bejahte. »Sehr gut. Selbst Euch als Laie dürfte bereits aufgefallen sein, daß die Prinzessin ganz offensichtlich unter einem Marasmus, unter einer Kakochymie sowie unter einer Kachexie leidet.« ich blinzelte. Noch nie hatte ich irgend jemanden in irgendeiner Sprache von diesen Dingen
sprechen hören; ich hätte auch nicht sagen können, ob
diese Begriffe auf eine bestimmte Person Strafen oder nicht; jedenfalls hörte sich das, was der Lekeis sagte, für mich so an, als ob Amalamena noch kränker sei, als sie mir
vorgekommen war. »Mir fiel nur auf, Lekeis«, sagte ich »daß sie sehr schmal und blaß ist und daß sie sehr schnell müde wird.«
»Ja«, sagte er hastig, »genau das habe ich soeben
gesagt. Sie sieht aus, als sei sie schlecht ernährt, als seien ihre Körpersäfte vergiftet, kurz: als sei ihr
Gesundheitszustand insgesamt sehr schlecht. Als ich sie zum ersten Mal so sah, bestand ich darauf sie zu
untersuchen, obwohl sie beteuerte, sie fühle sich so gesund wie eh und je. Wenn ein Arzt eine geschwächte weibliche Patientin vor sich hat, denkt er natürlich zuerst an