gefunden wurdest, zur Zeit meiner Ankunft schon

verstorben. Weder ich noch der Nachfolger jenes Arztes, unser Bruder Hormisdas, hatten seither Grund, dich

nochmals zu untersuchen. Ich habe jedoch einen Bericht gefunden, welcher schildert, was jener Arzt feststellte, als er dich zum ersten Mal sah. Er hieß Chrysogonus. Ich

wünschte, ich hätte früher nach dem Bericht gesucht, doch es werden nur selten Berichte über Klosterkinder angefertigt und noch seltener im Archiv der Abtei aufbewahrt.

Dieser hier wurde nur deshalb verfaßt und aufbewahrt,

weil du eine Seltenheit warst. Und Bruder Chrysogonus hat in seinem Bericht geschrieben, was er in seiner Funktion als Arzt mit dir tat.«

»Mit mir tat?« wiederholte ich fast ärgerlich. »Wollt Ihr damit sagen, daß dieser Chrysogonus mich erst zu dem

machte, was ich bin?«

»Nein, Thorn. Ein Mannamawi - ein Hermaphrodit - warst du von Geburt an. Wie ich diesen Seiten jedoch entnehme, führte Bruder Chrysogonus eine kleine Operation an dir aus.

Das heißt, er berichtigte deine, hm, Geschlechtsteile. Dies bewahrte dich, wie ich es sehe, vor späteren unangenehmen Folgen, Schmerzen oder gar einer Verunstaltung, die dich zum Krüppel gemacht hätte.«

»Das verstehe ich nicht, Nonnus.«

»Ich auch nicht. Jedenfalls nicht ganz. Dieser Bruder

Chrysogonus war entweder Grieche von Geburt oder er

wollte in deiner Sache Diskretion bewahren, denn er

verfaßte seinen Bericht auf Griechisch. Ich kann die Worte zwar lesen, verstehe aber nicht ihre medizinische

Bedeutung.«

»Könnt Ihr nicht Bruder Hormisdas bitten, sie Euch zu

erklären?«

Der Abt räusperte sich unbehaglich. »Lieber nicht.

Hormisdas ist ein Arzt, der seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt. Er würde dich vermutlich hierbehalten wollen. Zu Studienzwecken oder Experimenten... oder sogar, um dich anderen vorzuführen. Es hat schon Klöster gegeben, die ihrem Ruhm und ihrer Kasse dadurch aufhalfen, daß sie

Pilger mit dem Versprechen eines... offensichtlichen

Wunders anlockten.«

»Einer Kuriosität, meint ihr«, sagte ich rauh.

»Was auch immer - ich will dir diese Schmach ersparen, mein Kind. Wir werden Bruder Hormisdas nicht bitten, uns den Bericht zu übersetzen. Eines kann ich dir immerhin sagen. Bruder Chrysogonus schreibt, er habe einen kleinen Eingriff vorgenommen und die Bänder durchtrennt, die dein, hm, Organ in einer abnormal gekrümmten Form festhielten.

Wie ich schon sagte, Thorn, du solltest ihm dankbar sein.«

»Hat er noch etwas über mich geschrieben?«

»Er war überzeugt, daß du Kinder weder zeugen noch

gebären kannst... obwohl du äußerlich die... die Anlagen dazu hast.«

»Ich freue mich, das zu hören«, murmelte ich. »Dann

brauche ich nicht zu fürchten, ein zweites Wesen wie mich in die Welt zu setzen.«

»Doch diese Tatsache erlegt dir eine weitere

Beschränkung auf, Thorn, und keine kleine. Die Menschen essen, damit sie leben, und sie pflanzen sich fort, damit sie nicht aussterben. Die Fortpflanzung ist für unsere Mutter Kirche der einzige Grund für den Geschlechtsverkehr. Da du nie Kinder haben kannst, wäre es eine Todsünde für dich, mit einem anderen Menschen - egal ob Mann oder Frau -

geschlechtlichen Umgang zu haben. Deine bisherige

Unwissenheit und Unschuld spricht dich von den Sünden

frei, die du begangen hast. Doch nun, da du alles weißt, mußt du in Keuschheit leben.«

»Aber Gott muß doch einen Grund gehabt haben, mich als Mannfrau zu schaffen, Nonnus Clemens«, sagte ich bittend, fast wie eine Frau. »Was hat er mit mir vor? Was soll ich mit meinem Leben anfangen?«

»Hm... Soviel ich weiß, legt die Mischna der Juden Regeln für das gesellschaftliche und religiöse Leben eines

Hermaphroditen fest. Unsere Schriften tun dies nicht. Ich mache dir einen Vorschlag, Thorn. Die Arbeit, die du als Schreiber geleistet hast, als wir dich in St. Damian noch für einen von uns hielten, war vielversprechend. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß ein weiblicher Schreiber etwas

Unvorstellbares und Unnatürliches wäre. Was ich dir also rate: Wenn du dich bei einem anderen Abt oder Bischof

irgendwo weit weg als Mann vorstellen würdest, wenn du ehelos bliebest und stets darauf bedacht wärst, deine

Weiblichkeit zu verbergen, dann könnte ich mir vorstellen, daß du dort eine befriedigende Arbeit als Kopist findest.«

»Und wenn ich sterbe«, sagte ich bitter, »werde ich nichts hinterlassen als Abschriften der Worte anderer. Und

während meines traurigen Erdenlebens muß ich jede

normale menschliche Regung unterdrücken, ja sogar die

Hälfte der mir von Gott gegebenen Natur.«

Der Abt runzelte die Stirn und sagte dann streng: »Ein Christ muß nach dem Höchsten streben. Er kann

vollkommen sein, deshalb ist es seine sittliche Pflicht, nach Vollkommenheit zu streben - moralisch, geistlich, geistig, ja selbst körperlich. Wer absichtlich in Unvollkommenheit verharren will, handelt verwerflich und macht sich schuldig.«

Entsetzt starrte ich ihn an. »Ihr glaubt an die

Jungfrauengeburt, Nonnus Clemens, Ihr glaubt an die

Auferstehung von den Toten, und Ihr glaubt, daß Engel

weder männlich noch weiblich sind. Warum bin

ausgerechnet ich ein widernatürliches Wesen?«

»Schweig, Thorn! Lästere nicht Gott und seine Engel!«

Mühsam versuchte der Abt den Zorn zu beherrschen, der in ihm aufstieg. Nach einem Augenblick sagte er etwas ruhiger, aber noch mit einem Zittern in der Stimme: »Laß uns im Guten auseinandergehen, Thorn, schließlich waren wir

Freunde. Ich habe dir den Rat eines Freundes gegeben und gebe dir nun aus Freundschaft einen Solidus. Dafür

bekommst du über einen Monat zu essen und ein Dach über dem Kopf. Bitte gehe so weit wie möglich fort von hier, wo dich jeder kennt, bevor du ein neues Leben beginnst - das Leben, zu dem ich dir rate, oder ein anderes. Möge Gott mit dir sein. Vade in pace. Gehe hin in Frieden.«

So verabschiedeten wir uns schweren Herzens

voneinander. Ich sah Dom Clemens nie wieder. Allerdings verließ ich Balsan Hrinkhen nicht sofort, wie mir befohlen worden war, denn ich hatte zuvor noch einiges zu erledigen.

Zuerst wollte ich meinen Juikabloth aus dem Kuhstall von St.

Pelagia holen. Ich schlich mich also noch in derselben Nacht ins Nonnenkloster. Ich brauchte kein Licht, weil ich den Weg gut kannte. Als ich mich durch das Heu zu dem Käfig

tastete, hörte ich plötzlich eine weibliche Stimme fragen:

»Wer ist da?« Entsetzt hielt ich inne.

Doch dann erkannte ich die Stimme, und erleichtert sagte ich: »Ich bin's, Thorn. Bist du es, Schwester Tilde?«

»Ja. Bist du es wirklich, Schwester Thorn? Oder... Bruder Thorn? Bitte, lieber Bruder, tu mir keine Gewalt an!«

»Pst, Schwester, sprich leise. Ich tue niemandem Gewalt an, am allerwenigsten einer lieben Freundin. Was tust du hier zu dieser nächtlichen Stunde?«

»Ich wollte nur nachsehen, ob dein Vogel gut versorgt ist.

Stimmt es denn, Thorn, was man uns gesagt hat? Daß du

ein Junge bist? Warum hast du dich als Mädchen...?«

»Pst«, beschwichtigte ich sie wieder. »Das ist eine lange Geschichte, die ich selber noch nicht ganz verstehe. Aber woher weißt du, daß hier ein Vogel versteckt ist?«

»Schwester Deidamia hat es mir gesagt, als sie noch

sprechen konnte. Sie bat mich, ihn zu versorgen. Bist du gekommen, um ihn abzuholen?«

»Ja. Ich freue mich, daß ihr an ihn gedacht habt. Aber was soll das heißen? Als sie noch sprechen konnte?«

»Etwas ist in ihr zerbrochen, Thorn«, wimmerte Tilde.

»Nonna Aetherea hat Deidamia mit der schrecklichen

Lederpeitsche grausam ausgepeitscht. Den ganzen Tag

immer wieder, sobald Deidamia zu sich kam.«

»Die Bestie!« zischte ich. »Bei mir hat sie es versäumt, und jetzt muß die arme Deidamia für uns beide leiden.«

Tilde schniefte und sagte: »Deidamia ist nicht mehr schön und Wohlgestalt wie einst. Nonna Aetherea schlug sie wild und ohne Nachsicht.«

»Zum Teufel mit ihr!« fluchte ich. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke. »Die Äbtissin hat doch einen gesunden Schlaf, oder?«

»Ja, vor allem, wenn sie sich so verausgabt hat wie

heute.«

»Gut. Dann werde ich dafür sorgen, daß sie morgen

keinen Gedanken mehr für Deidamia übrig hat. Komm, Tilde.

Ich lasse den Adler hier und suche zuerst die Äbtissin auf.

Du paßt auf, daß niemand kommt.«

»Gudisks Himins! Du redest wirklich wie ein Junge. Keine wohlerzogene Novizin würde...«

»Ich bin keine brave Nonne mehr. Doch du brauchst keine Angst zu haben. Wenn jemand kommt, während ich bei der Äbtissin bin, warne mich ganz einfach mit einem Zischen und bringe dich dann in Sicherheit. Tu es für Deidamia.«

»Für dich könnte ich es nicht tun, Thorn. Selbst wenn ich es für eine Schwester täte, wäre es ein schändliches

Verbrechen. Was hast du vor? Willst du der Äbtissin etwas antun?«

»Nein, ich will der Furie nur zeigen, daß sie besser einer anderen Frau nacheifert, die vor langer Zeit gelebt hat und liebevoll und freundlich war.«

Tilde begleitete mich also zum Fenster der Kammer, in der Domina Aetherea schlief. Schon von draußen konnten wir sie laut schnarchen hören. Ich kletterte durch das Fenster, und als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich die Äbtissin auf ihrer Bettstatt liegen. Sie schnarchte fürchterlich und schlief den Schlaf der Gerechten. Mit größter Behutsamkeit tastete ich nach dem kleinen, aber schweren kristallenen Fläschchen an ihrem Hals. Es hatte einen dicken Messingring, durch den eine fest verknotete Lederschnur gefädelt war.

Da ich von Tilde nichts hörte und auch sonst kein Laut an mein Ohr drang, glaubte ich, genügend Zeit zu haben. Also benetzte ich den Knoten mit Speichel, damit das Leder sich vollsog und dicker wurde. Dann löste ich den Knoten mit geschickten Fingern. Er war raffiniert geknüpft, vermutlich von der Äbtissin selbst. Ich ließ das Fläschchen in meine Tasche gleiten. Dann gab ich mir alle Mühe, die Schnur wieder so zu verknoten, wie sie es am Anfang gewesen war.

Ich stieg durch das Fenster, vor dem Tilde auf mich

wartete. Als wir wieder im Stall waren, erzählte ich ihr, was ich getan hatte. »Was?« rief sie entsetzt. »Du hast die heilige Reliquie gestohlen? Das Fläschchen mit der Milch der Heiligen Jungfrau?«

»Still. Niemand außer dir wird es erfahren. Bis zum

Morgen ist das Leder wieder trocken und fest. Wenn Domina Aetherea aufwacht und den Verlust bemerkt, den Knoten

aber unversehrt vorfindet, wird sie annehmen, daß das

Fläschchen von göttlicher Hand entfernt wurde. Sie wird denken, daß die Heilige Jungfrau selbst gekommen ist, um ihre Milch zurückzuholen, und daraus vielleicht schließen, daß sie sich bessern und weniger grausam sein sollte.

Vielleicht bleiben Schwester Deidamia dann weitere Qualen erspart.«

»Hoffentlich«, sagte Tilde. »Was willst du mit der Reliquie tun?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich besitze nicht viel. Vielleicht kann sie mir irgendwann nützen.«

»Hoffentlich«, sagte Tilde noch einmal, und sie klang

aufrichtig. Rasch beugte ich mich vor und drückte einen Kuß auf ihre kleine Stupsnase. Sie machte einen Satz zurück, als hätte ich sie vergewaltigen wollen, doch dann kicherte sie aufgeregt, und wir nahmen in Freundschaft voneinander

Abschied.

Ich habe bereits erwähnt, daß ich aus Balsan Hrinkhen

zwei Dinge mitnahm, die mir nicht gehörten: den gefangenen Adler und das gestohlene Fläschchen. Aber auch jetzt

verließ ich das Tal noch nicht. Mir blieb noch eine

Verpflichtung, die ich mir selbst auferlegt hatte. In derselben Nacht stahl ich mich in den Küchengarten von St. Damian, zog einige Winterrüben als Proviant und stieg auf einen Baum, dessen Äste einen Teil des Gartens überragten. Ich kletterte unbeholfen, denn ich trug den Käfig, in dem sich mein Adler befand.

Als Domina Aetherea mich nach St. Damian

zurückbrachte, hatte sie einen der Mönche gebeten, in

einem Nebengebäude auf mich aufzupassen. Von diesem

erfuhr ich, welche Arbeiten Bruder Petrus nun ausführte: Er mußte die Felder und Gärten der Abtei mit Mist düngen. Ich wußte also, daß Bruder Petrus früher oder später in den Küchengarten kommen würde, und ich war vorbereitet,

notfalls viele Tage und Nächte lang darauf zu warten.

Wie sich herausstellte, mußte ich nur noch den Rest

dieser Nacht, den darauffolgenden Tag und die

darauffolgende Nacht frierend auf meinem Baum ausharren.

In dieser letzten Nacht stockte ich meinen Vorrat an Rüben auf und fand sogar ein paar Regenwürmer für den Adler. Er fraß sie, freilich ohne besonderes Vergnügen. Dann hörte ich zu, wie die Brüder im Kloster zur Frühmette sangen und den Sonnenaufgang begrüßten. Wenig später, die Mönche

hatten inzwischen ihre Morgenmahlzeit eingenommen,

öffneten sich die Türen der Abtei. Zwei davon lagen in meinem Blickfeld, und ich beobachtete, wie die Brüder zur Arbeit auf den Feldern herausströmten.

Dann kam Petrus. Er ging in einen Schuppen, kam mit

einer Mistgabel und einem Eimer voller Mist wieder heraus und trug beides geradewegs zum Garten zwischen der

Küche und dem Baum, auf dem ich saß. Er setzte den

schweren Eimer ab, dessen Inhalt in der Sonne dampfte, und begann träge, den Mist auf die Gemüsebeete zu

verteilen.

Ich wartete, bis er fast genau unter mir war. Dann streckte ich langsam und ruhig den Arm in den Käfig des Adlers und stieß mit dem Handgelenk vorsichtig gegen dessen Beine.

Der Vogel setzte sich daraufhin auf meinen Arm. Ich holte ihn aus dem Käfig, nahm ihm die Augenklappe ab und

wartete einen Augenblick. Bruder

Petrus hatte angefangen zu schwitzen, er hatte deshalb die Kapuze zurückgestreift. Da die Arbeit ihn zwang, sich zu bücken, sahen wir nur seinen Hinterkopf. Ich wartete, bis er aufrecht stand und sich streckte. Seine mit Fett eingeriebene weiße, von einem gräulichroten Haarkranz umgebene

Tonsur war ein fast wirklichkeitsgetreues Abbild des

schleimigen fettglänzenden Eies in dem Nest aus

rotbraunem Moos, auf das ich meinen Adler in den letzten Wochen abgerichtet hatte. Ich zeigte auf Petrus und

flüsterte: »Släit!«

Mein Arm machte einen Ruck, als der Adler sich abstieß, und der Ast, auf dem ich saß, schwankte. Petrus hörte

vermutlich das Rascheln der Blätter oder die sausenden Schwingen des Adlers, der schnell an Höhe gewann, denn er sah sich erstaunt um. Doch er sah nicht nach oben, und obwohl er den Kopf hin und her drehte, muß dieser aus der Sicht des Adlers immer noch wie ein Ei in einem Nest

ausgesehen haben, denn jetzt setzte der Vogel zum

Sturzflug an.

Fast senkrecht und mit unglaublicher Geschwindigkeit

schoß er nach unten. Der von den Strahlen der

Morgensonne auf die Erde geworfene Schatten des

Raubvogels wanderte über Felsen, flackerte über die an das Kloster angrenzenden Felder und stürzte schließlich

ungestüm durch den Garten unter mir. Im nächsten Bruchteil einer Sekunde verschmolzen Juikabloth, Schatten und Ziel miteinander.

Mit einem dumpfen Schlag traf der Adler auf Petrus' Kopf auf und grub seine Krallen tief in Haare und Kopfhaut.

Petrus stieß einen markerschütternden Schrei aus. Dann war er still. Mein Juikabloth hieb mit seinem furchtbaren krummen Schnabel auf die weiße Glatze des Mönchs ein,

genau in der Mitte der Tonsur. Das weiße Ei färbte sich rot.

Stumm und bewegungslos und mit dem Gesicht nach unten

lag Petrus zwischen zwei Reihen hochgeschossenen Kohls.

Wie besessen stieß der Vogel immer wieder mit dem

Schnabel auf das Ei herunter, das eine so unerwartet harte Schale hatte.

Zwei Mönche, die den Schrei gehört hatten, eilten um die Ecke und sahen sich im Garten um, aber sie entdeckten

Petrus nicht, der hingestreckt zwischen den fleischigen Blättern des Kohls lag. »Juikabloth!« rief ich leise, und gehorsam stieg der Adler auf und ließ sich auf einem Ast neben mir nieder. Die Federn an seinem Kopf starrten vor Blut. »Ach«, sagte einer der beiden Mönche, »es war nur ein Hase oder eine Wühlmaus, die der Adler gefangen hat.«

Und sie kehrten zu ihrer Arbeit zurück.

Ich setzte den Juikabloth auf meine Schulter, nahm den Weidenkäfig unter den Arm und kletterte vom Baum. Ich

brauchte den Käfig eigentlich nicht mehr, doch ich wollte keine verdächtigen Spuren hinterlassen, deshalb entfernte ich mich ein gutes Stück vom Kloster, bevor ich ihn an einem bestimmten Ort im Unterholz versteckte. Dort hatte ich auch das Bündel meiner wenigen Habseligkeiten gelassen, das ich nun wieder mitnahm.

Die Zeit des Abschieds war gekommen. Ich war aus dem

Paradies vertrieben worden wie einst Adam und Eva.

Aufgrund meiner vermutlich gotischen Abstammung hatte

die katholische christliche Kirche mir von Anfang an

mißtraut, aber jetzt, als Mannamawi, war ich für sie erst recht ein Schandfleck. Meine Doppelnatur war an sich schon ein Verbrechen und eine Sünde, obwohl ich nichts dafür konnte, und nun war ich außerdem innerhalb zweier Nächte zum Dieb einer Reliquie und zum Mörder geworden. Zu

welcher dieser beiden Sünden hatte mich der Adam, zu

welcher die Eva in mir getrieben?

Egal. Die Zeit des Abschieds war gekommen, und ich

würde gehen, um als Gote zu leben - und als Arianer, wenn die Arianer mit einem Zwitterwesen, wie ich es war, mehr Erbarmen hatten als die katholischen Christen. Sobald ich also von Balsan Hrinkhen auf die Hochebene kam, wandte ich mich nach links, nach Nordosten. Dort lag das Land, das die zivilisierten Menschen »Barbaricum« nannten, und dort hausten angeblich die Stämme der Ostgoten tief in

gefährlichen Wäldern.

Wyrd

1

Ich kam von Balsan Hrinkhen in eine Welt, deren

Schicksal so unbestimmt war wie mein eigenes: die Welt des zerfallenden Römischen Reiches. Damals ahnte ich noch

nicht, daß ich auf meinen Wanderungen den Menschen

treffen sollte, der dazu bestimmt war, dem Römischen Reich in Europa Einheit und Frieden, Gesetz und Ordnung zu

bringen. Wie hätte ich es auch wissen können? Niemand im ganzen Reich wußte damals von ihm, denn Theoderich, der eines Tages Theoderich der Große genannt werden würde, war zu dieser Zeit - wie Thorn Mannamawi - noch ein Kind.

Was Tugend und Unschuld anbelangt, so war Theoderich

in diesem Alter vermutlich weitaus kindlicher als ich, denn ich hatte während der vergangenen Monate und Jahre alles kennengelernt, was einem Erwachsenen, der noch dazu

beide Geschlechter in sich vereinigt, in dieser Hinsicht widerfahren kann: die mannigfaltigen Freuden der Liebe, ihre gelegentlichen Schmerzen und ihre manchmal bitteren Folgen.

An dieser Stelle sei erwähnt, daß ich, als ich dann ganz erwachsen war, wenigstens von einigen Nachteilen

verschont blieb, die dem jeweiligen Geschlecht anhaften -

wie es der Arzt Bruder Chrysogonus vorausgesagt hatte. Ich brachte nie ein Kind zur Welt, ich menstruierte nie, und soweit ich weiß, zeugte ich keine Kinder. Ich hatte also das Glück, von den Ärgernissen, Hindernissen und Pflichten von Haushalt und Familie, mit denen die meisten Menschen sich herumschlagen müssen, frei zu sein.

Selbst als ich erwachsen war, verriet mein Äußeres nicht, ob ich Mann oder Frau war, und ich wurde genausooft als gutaussehender Junge oder Mann gelobt wie als hübsches Mädchen oder schöne Frau. Ich habe viele Frauen

kennengelernt, die mir an Größe in nichts nachstanden, und viele Männer, die kleiner waren als ich. Mein gewelltes Haar trug ich mittellang, so daß ich gleichzeitig als Mann und als Frau gelten konnte. Meine Stimme veränderte sich nicht wie bei den meisten heranwachsenden Männern; man konnte

sie für die sanfte Stimme eines Mannes oder die aufreizend heisere Stimme einer Frau halten. Wenn ich allein

unterwegs war, reiste ich als Mann. Wegen meiner grauen Augen und hellen Haare hielten mich die Südeuropäer für einen aus dem Norden, während mich Nordeuropäer wegen

meiner schlanken Gestalt und meines spärlichen

Bartwuchses für einen Römer hielten.

Nein, mir wuchsen keine Haare im Gesicht oder auf der

Brust, und auch unter meinen Armen sproß nur ein leichter Flaum. Außerdem hatte ich sehr kleine Brüste, die kaum von einer männlichen Brust zu unterscheiden waren. Was ich hatte, konnte ich mit Hilfe eines Brustbandes entweder flach schnüren oder höher binden, so daß ein richtiger Busen entstand. Die zartrosa Höfe der Brustwarzen waren etwas größer als die eines Mannes, und die Brustwarzen richteten sich auf, wenn ich erregt war. Doch es kam nie vor, daß eine Frau sie als unmännlich empfand. Deidamia war und blieb jedenfalls die einzige, die mich ohne jedes Kleidungsstück für eine Frau hielt.

Mein Schamhaar war geringfügig dunkler als mein

Haupthaar. Es bildete kein so scharf umrissenes Dreieck wie bei einer Frau, war aber auch nicht so undeutlich abgesetzt wie bei einem Mann - doch dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist vermutlich nur einigen Ärzten bekannt.

Mein Nabel befand sich nicht genau auf der Gürtellinie wie der eines Mannes, aber auch nicht so weit darunter wie der einer Frau. Doch auch dieser Unterschied wird nur von den wenigsten bemerkt. Mein Penis war von normaler Größe und von Schamhaaren umgeben, so daß es nicht auffiel, daß ich keine Hoden besaß, obwohl ich natürlich achtgeben mußte, welche Körperhaltung ich einnahm, wenn ich nackt war.

Doch ich konnte das Organ mit einem Band so an den

Bauch binden, daß man es nicht sah, und dieses Behelfs bediente ich mich, wenn ich eine Frau war.

Es mag nun so klingen, als habe ich mich früh mit meiner abnormen Natur abgefunden und mich ihr angepaßt, aber

das war nicht so. Wie ich noch berichten werde, verlangte dieser Prozeß viel Zeit und zahlreiche Erfahrungen

gesellschaftlicher und sexueller Natur, mit Männern wie mit Frauen. Einige dieser Begegnungen waren Experimente,

andere entsprangen der Zuneigung, wieder andere erwiesen sich als unangenehm oder ausgesprochen schmerzhaft. Ich brauchte mehrere Jahre, bis ich mit mir selbst zurecht kam.

Denn Blütenkelche sind - abgesehen davon, daß sie

schön aussehen und gut riechen - nichts anderes als die Geschlechtsorgane einer Pflanze. Daher hatte ich in jener Zeit besonders gegen Lilien eine große Abneigung: Ihr

fleischiger Blütenkolben, der aufrecht aus der Vulva der Blütenscheide hervorbricht, schien mir eine Verspottung meiner eigenen Geschlechtsteile.

Ich konnte mich mit meiner Doppelnatur erst abfinden, als ich viele heidnische Geschichten gelesen und alte

heidnische Lieder gehört hatte, die aus einer christlichen Abtei natürlich verbannt waren. Dabei stellte ich fest, daß ich bei weitem nicht der erste meiner Art war. Wie Plinius in seiner Naturgeschichte schreibt, bringt die Natur fast alles hervor - und wenn die heidnischen Geschichten wahr waren, hatte sie schon vor mir allerlei Kuriositäten hervorgebracht, unter anderem Wesen wie mich selbst. Das tröstete mich, und ich fühlte mich weniger allein.

2

In den Jahren vor meiner Verbannung hatte ich das Tal

nur zum Besuch der nächstgelegenen Dörfer und Höfe der Hochebene verlassen, und dies geschah nicht oft, und nie war ich allein. Ich half den Mönchen damals, den Karren der Abtei mit Nahrungsmitteln oder anderen Vorräten zu

beladen, die von dort abgeholt werden mußten. Als sich die Hochebene jetzt sanft gewellt vor mir ausbreitete, kam ich mir einsam und verlassen vor, obwohl ich warm in mein

Schaffell eingehüllt war und mein Adler auf meiner Schulter saß. Ich fürchtete den zunehmend kälter werdenden Winter und fühlte mich schutzlos allen möglichen Gefahren

preisgegeben. Im Kloster hatte alles seinen geordneten Gang genommen. Aber man hatte mich ausgestoßen, und

jetzt wanderte ich auf einer

Straße dahin, die offen, ungeschützt und ins Endlose

reichend vor mir lag, und ich wußte nicht, was mich

erwartete.

In den ersten zwei oder drei Dörfern an dieser Straße war ich schon gewesen, und man erkannte den »Jungen vom

Kloster«. Die Dorfbewohner beäugten zwar überrascht und neugierig meinen Adler, nahmen aber zweifellos an, daß ich ausgeschickt worden war, um eine Besorgung für St.

Damian zu machen. Sobald ich jedoch diese Orte hinter

mich gebracht hatte und in eine Gegend kam, die ich nicht kannte, mußte ich mich vor allem vor einer Gefahr in acht nehmen. Es konnte mir unterwegs jemand begegnen, der

glaubte oder behauptete, ich sei ein entlaufener Sträfling, und mich als Sklaven einfing.

Da ich kein Sklave gewesen war, besaß ich auch keine

Urkunde, die meine Freilassung bestätigt hätte, aber nur so hätte ich beweisen können, daß ich ein freier Mensch war.

Natürlich müssen Erwachsene normalerweise nicht

beweisen, daß sie frei sind, es sei denn, sie tragen Narben und Schwielen, die von den Eisen und Ketten eines Sklaven herrühren könnten, oder sie haben das Pech, einem

entlaufenen und überall gesuchten Sklaven ähnlich zu

sehen. Ein allein umherstreifender Junge jedoch konnte leicht von jemandem, der einen Sklaven brauchte,

festgehalten und angeklagt werden. Da half dann kein

Schreien und Protestieren, und selbst wenn der Junge eine plausible Erklärung für sein Vagabundieren bereit hatte, würde vor Gericht das Wort des Erwachsenen mehr gelten.

Ein Knabe war ein besonders guter Fang, auch wenn er

noch sehr klein war - es lohnte sich, ihn aufzuziehen, bis er groß genug war, um zu arbeiten. Ich war zudem bereits im richtigen Alter und konnte als männlicher oder weiblicher Sklave eingesetzt werden. Was ich am Körper trug, war in dieser ländlichen Gegend für beide Geschlechter üblich.

Doch selbst wenn ich mich offen als Junge oder als

Mädchen ausgegeben hätte, schwebte ich in Gefahr: Als

Junge hätte ich schwere Arbeit verrichten müssen, als

Mädchen wäre die Arbeit vielleicht weniger schwer gewesen, doch hätte ich sicher das Bett mit meinem Besitzer teilen müssen.

So ging ich jedem Reisenden, den ich von weitem

erspähte, ob Reiter oder Fuhrmann, aus dem Weg und

versteckte mich im Unterholz oder in einer Hecke, bis er vorbei war. Jedes für mich fremde Dorf umging ich in

sicherer Entfernung. Ich fragte nie in einer der Herbergen am Weg um Obdach oder Nahrung an. Selbst wenn es bitter kalt war oder schneite, schlief ich in einem Heuschober oder Stall und war früh am nächsten Morgen, bevor der Bauer zur täglichen Arbeit auf die Felder kam, wieder unterwegs.

Wenn ich Hunger hatte, stahl ich mir etwas zu essen. Die Not lehrte mich, mit der Schleuder zu jagen, aber trotzdem gelang es mir nur selten, einen Hasen oder eßbaren Vogel abzuschießen. Mein Adler jagte weitaus besser, doch zum Glück war ich nie so hungrig, daß ich von den Schlangen und Mäusen, die er erbeutete, essen mußte. Die

brachliegenden winterlichen Felder gaben nicht viel her, außer gelegentlich einer vergessenen, gefrorenen Rübe. So blieb mir nichts anderes übrig, als Hühnerställe zu plündern und Eier oder ab und zu ein ganzes Huhn zu stehlen.

Die Straße führte zum Ufer des Doubs, und das erste Mal seit vielen Tagen hatte ich Gelegenheit, mich zu waschen.

Zuerst mußte ich jedoch ein Loch in das Eis schlagen. Das Wasser war so kalt, daß es schmerzte. Der Fluß versorgte mich mit genügend Fischen, und ich hatte es nicht mehr nötig, Hühnerställe zu überfallen. Entlang des Doubs lagen viele Weinberge, die zwar im Winter nicht trugen, mir aber dennoch in einer ganz besonderen Art dienten. Ich stahl mehrere Enden Schnur, mit denen die Reben an den

Pfählen festgebunden waren, band diese zu einer

Angelschnur zusammen und bastelte improvisierte

Angelhaken aus den Dornen des Hagedornstrauchs.

Das Holz des Hagedorns ist sehr hart, und ich hatte kein Messer, deshalb brachte ich dem Juikabloth bei, mit seinem scharfen Schnabel kleine Zweige abzubeißen. Es erforderte viel Mühe und Übung, bis der Vogel verstand, was ich wollte.

Sobald er jedoch begriffen hatte, brachte er fleißig immer mehr dornige Zweige herbei, so daß ich bald mehr davon hatte, als ich brauchte. Außerdem lieferte er mir die Köder zum Fischen; ich benutzte zum Beispiel den Kadaver einer Maus, die er geschlagen hatte. Als Dank bekam er den

ersten Fisch, den ich fing. In den folgenden Tagen brachte er mir jedesmal einen Schnabel voller Hagedornzweige mit, wenn er auf Futtersuche ging. Wahrscheinlich glaubte er, ich wolle mir ein Nest bauen.

Ich folgte dem Doubs einige Tage lang stromaufwärts und fing noch mehr kleinere Fische aller Art, darunter Forellen und Schmerlen. Für größere Fische wie Hechte waren

meine primitiven Angelhaken und meine Angelschnur nicht stark genug. Vor den Frachtkähnen, die täglich auf dem Fluß an mir vorbeizogen und schwere Ladungen von Salz oder

Holz stromabwärts nach Lugdunum brachten, versteckte ich mich, wie ich mich auf der Straße vor anderen Reisenden versteckt hatte. Die Gefahr, daß ein Kahnführer mich

schnappte und als Sklave auf seinem Schiff arbeiten ließ, war nämlich genauso groß. Daher fischte ich meist bei

Nacht, und es erwies sich, daß dies sogar einfacher war als bei Tag, denn mit einer Fackel aus Reisig konnte ich die Fische näher ans Ufer locken.

Die Straße führte in nordöstlicher Richtung weiter und stieg unmerklich an, so daß ich ganz erstaunt war, als der Doubs plötzlich von hohen Ufern gesäumt war. Schließlich kam ich zu einer scharfen Biegung des Flusses und einer Halbinsel, auf der die Stadt Vesontio liegt. Bereits aus der Ferne erblickte ich die auf dem höchsten Hügel der Stadt erbaute eindrucksvolle Basilika des heiligen Johannes.

Zwei oder drei Meilen vor dem Stadttor war die Straße mit vier parallelen Reihen von Kopfsteinen gepflastert, damit die Karren, die dort verkehrten, in der regnerischen Jahreszeit nicht im Dreck versanken. Die Zwischenräume zwischen den Reihen waren ungepflastert, um die Hufe der Zugpferde, Esel und Ochsen zu schonen. Da in Vesontio reger Verkehr herrschte - zu Fußgängern und Reitern kamen Karren und Wagen voll mit den unterschiedlichsten Gütern - konnte ich es riskieren, mich auf den Straßen unter die Leute zu

mischen. Selbst der Adler auf meiner Schulter fiel nicht weiter auf. Einige der Händler trugen auf der Schulter Weidenkäfige mit Nachtigallen und anderen Singvögeln, und ich nehme an, daß man mich für einen Vogelhändler hielt.

Vesontio war die erste Stadt, die ich kennenlernte, und ich war zutiefst beeindruckt von ihren vielen Häusern, den vornehmen Bädern, dem riesigen Amphitheater, der

steinernen Brücke, die sich über den Doubs spannte, und dem großen Triumphbogen, den Kaiser Marc Aurel hier

errichtet hatte. Am meisten beeindruckte mich freilich, daß sich die Menschen in der Stadt anders kleideten - anders als die Bauern auf dem Land und anders insofern, als Männer und Frauen und sogar Knaben und Mädchen meines Alters

verschiedene Kleider hatten. Die Frauen trugen im

allgemeinen lange Kleider, die bis auf den Boden reichten und mit reichen Stickereien verziert waren; Frauen, die ihre langen, ungeflochtenen Haare nicht offen trugen, bedeckten sie mit bunten Kopftüchern. Die Männer hatten kurze

Ledertuniken an und darunter knielange Röcke aus Tuch

und entweder Hosen oder Gamaschen. Die meisten trugen

keine Kopfbedeckung, und nur vereinzelt sah ich

Lederkappen in verschiedenen phantasievollen Formen.

Am Stoff der Kleidung - ich sah teure Wollstoffe aus

Baetica oder Mutina und feines Leinen aus Camaracum -

und der Zahl wie auch dem Wert des stolz zur Schau

getragenen Schmuckes konnte man erkennen, wie reich

jemand war und zu welcher Gesellschaftsschicht er gehörte.

Reiche Männer trugen eine »Spange« an der rechten

Schulter, reiche Frauen je eine Fibel an beiden Schultern.

Die Männer trugen aufwendige Gürtelschnallen, die Frauen Armbänder, Fußspangen oder beides. Der Schmuck war

meist aus Gold und mit Granaten, Karfunkeln, Bergkristallen oder anderen Edelsteinen besetzt. Da es Winter war, trugen die Menschen auf der Straße außerdem Mäntel und

Umhänge aus Fellen.

Ich konnte mir solche vornehmen Kleider natürlich nicht leisten, aber es verkehrten genug andere Leute vom Land auf den Straßen, so daß ich in meinem Schaffell, meinem Rock und meiner Hose nicht auffiel. Ich wollte mir allerdings zusätzlich einige Frauenkleider zulegen, so daß ich mich gegebenenfalls auch als Frau kleiden konnte. Und es gab noch etwas, das ich dringend brauchte: ein Messer. Da die Erfahrung mich gelehrt hatte, daß ein Messer wichtiger war als Kleider, suchte ich gleich an meinem ersten Tag in Vesontio den Laden eines Messerschmieds auf. Ich ging

nicht in das Geschäft hinein, sondern wartete, bis der Messerschmied um die Mittagszeit von seiner Frau abgelöst wurde, die offensichtlich im Laden aufpassen mußte,

während er selbst zu Mittag aß. Nun ging ich hinein und besah mir die zum Verkauf ausgestellten Messer. Die besten Klingen der Welt werden von Goten hergestellt, doch sind sie verständlicherweise sehr teuer. Ich prüfte mit dem Daumen andere Messer zweiter Qualität, wählte eines

davon aus und feilschte mit der Ladeninhaberin um den

Preis. Als wir uns geeinigt hatten, reichte ich ihr meinen Silbersolidus. Sie schnappte erstaunt nach Luft und sah mich scharf an. Glücklicherweise saf; der Adler auf meiner Schulter. Er erwiderte ihren Blick weitaus kälter, als ich es hätte tun können. Die Frau gab mir Messer und Wechselgeld und ließ mich gehen.

Genau deshalb hatte ich bis Mittag gewartet. Einen Mann hätte der Adler vielleicht nicht eingeschüchtert, und vielleicht hätte der Schmied sogar die Wachen gerufen, die draußen ihre Runde machten. Dann wäre ich verhört worden, und

man hätte mein Geld konfisziert und am Ende mich selbst verhaftet. Ein Silbersolidus ist zwar nur ein Sechzehntel eines Goldsolidus wert, doch war das in der Hand eines Bauernjungen schon ungewöhnlich viel Geld. Man hätte

mich verdächtigen können, ein entlaufener Sklave zu sein und dazu ein Dieb.

Da in Vesontio tagsüber und nachts Wachen

patrouillierten, wagte ich es nicht, etwas zum Essen zu stehlen oder mich für die Nacht irgendwo zu verkriechen.

Das Messer hatte mich zwar die Hälfte meines Solidus

gekostet, doch klingelte noch eine beruhigende Zahl von Denaren und Sesterzen in meiner Tasche. Außerdem lebten die vielen Herbergen der Stadt von Sommergästen; im

Winter waren sie fast leer, so daß die Preise für Kost und Logis entsprechend niedrig waren. Ich fand eine billige Unterkunft eine kleine Hütte mit nur einem Zimmer. Die Hütte gehörte einer alten Witwe, die so blind war, daß ihr weder mein ungepflegtes Äußeres noch mein

ungewöhnlicher Begleiter, der Adler, auffielen. Ich blieb zwei oder drei Tage lang dort, schlief auf einer Strohschütte, die nicht weicher oder wärmer war als der Sand am Flußufer, auf dem ich die Nächte davor geschlafen hatte, und ernährte mich von der einfachen Haferschleimsuppe, die alles war, was die alte Frau mit ihren fast blinden Augen noch kochen konnte. Tagsüber streifte ich durch die weniger vornehmen Viertel der Stadt und suchte nach Kleidern, die ich mir leisten konnte.

Es gab in diesen Vierteln viele schäbige kleine Läden, die älteren Juden gehörten und in denen die gebrauchten

Kleider von Angehörigen der besseren Gesellschaft verkauft wurden. In einem dieser Läden erstand ich nach langem

Feilschen mit dem alten, unterwürfig und händeringend um mich herumstreichenden Inhaber ein langes Kleid, das zwar sehr abgenutzt und zerschlissen war, aber noch getragen werden konnte. Während der alte Jude das Kleid zu einem Bündel schnürte und leise vor sich hin murmelte, ich hätte ihn bei diesem Geschäft um den letzten Sesterz Gewinn

betrogen, stahl ich schnell und unbemerkt ein Kopftuch und stopfte es unter meinen Rock. In einem anderen Laden

kaufte ich eine abgetragene Tunika aus Leder und Hosen aus grober ligurischer Wolle mit etwas schwerer gewebten Füßlingen. Auch hier entwendete ich etwas, als der

Ladenbesitzer einen Augenblick nicht hersah: eine

Lederkappe, wie sie die Männer trugen. Heute schäme ich mich, wenn ich daran denke, daß ich kleine Ladenbesitzer bestahl, die fast so arm waren wie ich selber. Aber damals war ich jung und unerfahren und glaubte außerdem wie alle anderen, daß es kein Verbrechen war, einen Juden zu

bestehlen.

Von dem wenigen Geld, das mir nach diesen

Anschaffungen noch blieb, kaufte ich einen Ring

geräucherter Wurst, der lange halten würde. An meinem

letzten Abend in Vesontio probierte ich aus, wie ich als Mann und als Frau auf andere Menschen wirkte. Zuerst zog ich in meiner Herberge Ledertunika und Hosen an; den Rock

steckte ich in die Hosen. Dann zog ich meine Stiefel über die Füßlinge und setzte die Lederkappe auf. Den Adler ließ ich in der Herberge. Das Schaffell über die Schulter geworfen, begab ich mich mit männlich ausgreifenden Schritten ins Hafengebiet zu den Prostituierten. Die geschminkten

Frauen, die in dunklen Eingängen standen oder auf

Fenstersimsen saßen, öffneten ihre schweren Pelze und

ließen mich ihre Körper sehen, während sie gurrten wie Tauben, mir zupfiffen und mich ansprachen. Manche

sprangen fast auf die Straße, um mich auf ihr Lager zu ziehen. Ich bedachte sie alle mit einem kühlen,

unverbindlichen, männlichen Lächeln und ging weiter. Ich war zufrieden, denn schließlich hatten sie in mir einen möglichen Kunden gesehen.

Ich kehrte in meine Herberge zurück, schlüpfte nun in das Kleid, knotete das Kopftuch fest und zog statt der Stiefel meine Sandalen an. Das Schaffell warf ich wieder über die Schulter. Dann kehrte ich zum Hafen zurück und schlenderte so unmännlich, wie ich konnte, die Straße entlang. Wo die Prostituierten mich zuvor werbend angesprochen hatten, sahen sie mich nun kalt an und ließen ihre Pelze

geschlossen. Einige zischten mich wütend an, andere

schimpften: »Hau ab, du Hure, und suche dir ein anderes Revier!«

Da ich weder Schmuck trug noch geschminkt war, hielten sie mich für eine Frau niederer Herkunft, für eine Neue und eine mögliche Konkurrenz. Ich schenkte ihnen ein warmes, huldvolles Lächeln und setzte meinen Spaziergang fort, geschmeichelt, daß ich als Frau offensichtlich so gut aussah, daß die Prostituierten neidisch waren.

Ich wußte jetzt, daß ich mich als Mann und als Frau

kleiden konnte und andere damit zu überzeugen vermochte.

Ich mochte allein sein, ohne Freunde, arm, hilflos und mit einer Ungewissen Zukunft - aber ich konnte wie ein wildes Tier die Farben, Muster und Strukturen meiner Umgebung annehmen und mich anpassen, so daß man mich für einen

ganz normalen Menschen hielt.

Vorerst jedoch brauchte ich mich weder als Mann noch als Frau zu kleiden, denn ich hatte.vor, wieder über Land zu reisen. Ich trug zwar Hosen wie ein Mann, aber nur, weil sie warm waren. Ohne Kopfbedeckung, in Rock, Schaffell und Stiefeln, sah ich wieder aus wie ein Bauernkind

unbestimmten Geschlechts. Ich hängte das neue Messer an meinen Gürtel, rollte die Wurst und die anderen Einkäufe zu einem Bündel, setzte mir den Adler auf die Schulter und verließ Vesontio.

3

Diesmal ging ich nach Osten. Ich verließ die geschäftige Straße und den vielbefahrenen Doubs, kam an den

Salzsiedereien und Holzlagern der Stadt vorbei und befand mich bald in der unberührten Wildnis fernab jeglicher

Zivilisation.

Ich verließ Burgund und kam ins Land der Alemannen. Ich wußte schon, daß es dort weder Hühnerställe noch

Heuschober gab, in denen ich Eier oder einen Unterschlupf für die Nacht finden würde. Die Alemannen sind Nomaden; sie haben keine Häuser, Höfe oder Weinberge, sondern

verbringen, wie ein Sprichwort sagt, das ganze Leben auf dem Rücken ihrer Pferde. Sie haben auch nicht wie die

meisten Völker nur einen König oder zwei Könige wie die Burgunder, da jedes Oberhaupt eines Stammes, er mag

noch so klein sein, sich »König« nennt. Die Alemannen

ziehen durch die Wälder, wie ich es von nun an auch tun würde, ernähren sich vom Wald und überleben, weil sie sich in der Wildnis zu helfen wissen.

Bisher war es ein milder Winter gewesen, doch nun

gelangte ich in die Nähe jener ungeheuer hohen Gipfel, die im Lateinischen »Alpes« genannt werden. Das Vorgebirge, das ich durchquerte, wird im Gotischen wegen seiner

strengen Winter »Hrau Albos« genannt - die rauhen Alpen.

Streng war der Winter in jenem Jahr wirklich, und je weiter ich nach Osten vorstieß, desto kälter wurde es. Im Wald war es sogar mittags dunkel und kalt. Es schneite

ununterbrochen, und ich kämpfte endlos gegen einen

eisigen Wind an, der mir ins Gesicht schnitt.

Wie man im Freien überlebte, wußte ich nicht. Ich wußte nur, was ich auf meinen Streifzügen durch Balsan Hrinkhen gelernt hatte. So paßte ich gut auf, daß ich Feuerstein und Zunder unterwegs nicht verlor. Ebenso gewissenhaft hütete ich das Fläschchen mit dem Milchtropfen der Jungfrau

Maria. Reisig, mit dem ich Feuer machen konnte, fand ich genügend, und ich war auch so vorsichtig, das Feuer nicht unter einem Baum oder Felsen zu entfachen, der dick mit Schnee beladen war, denn der Schnee wäre in der Hitze

heruntergefallen und hätte die Flammen erstickt.

Im Umgang mit der Schleuder war ich inzwischen so

geübt, daß ich ab und zu ein Eichhörnchen oder einen

Schneehasen zur Strecke brachte, doch es gab nicht viele Eichhörnchen, und die Hasen mit ihrem weißen Fell waren auf dem Schnee kaum zu erkennen. In den kleinen

Bergbächen fand ich keine großen Fische, nur Elritzen. Mir war oft schlecht vor Hunger, aber von meiner Wurst aß ich trotzdem nur selten. Sie sollte möglichst lange halten, außerdem machte sie mich ungeheuer durstig. Ich hatte

geglaubt, den Durst stillen zu können, indem ich Schnee aß, aber das gelang mir zu meiner Verwunderung nicht. Deshalb aß ich von der Wurst nur dann, wenn ich an einem Bach

lagerte, der so groß war, daß er unter der Eisschicht Wasser führte.

Mein Juikabloth zeigte mir schließlich, wie ich leichter an Nahrung herankam. Der Adler war immer wohlgenährt und

schien niemals weit oder lange fliegen zu müssen, um seine Beute zu schlagen. Ich beobachtete ihn und fand heraus, daß er Felsspalten nach Schlangen und Eidechsen

durchsuchte, die dort Winterschlaf hielten. Manchmal stieß er auf ganze Nester von Schlangen, die sich ineinander verschlungen gegenseitig wärmten.

Ich tat es also dem Vogel gleich und stocherte auf meiner mühsamen Wanderung immer wieder mit einem langen

Stecken im tiefen Schnee. Manchmal entdeckte ich eine

kleine Höhle im Felsen oder eine Spalte im Boden, in der ein Igel, eine Haselmaus oder eine Schildkröte Winterschlaf hielten. Am meisten freute ich mich, wenn ich ein Murmeltier fand. Murmeltierfleisch ist schmackhaft und enthält viel Fett, welches ich zur Erhaltung meiner Körperwärme dringend

benötigte. Außerdem findet man in der Höhle eines

Murmeltiers immer Nüsse, Wurzeln, Samen und trockene

Beeren, die das Tier als Vorrat angeschafft hat für den Fall, daß es zu früh aufwacht. Sie ergeben eine köstliche

zusätzliche Mahlzeit.

Ich erlebte jedoch auch viele Tage, an denen ich glaubte, verhungern oder verdursten zu müssen, und viele Nächte, in denen ich fast erfror. Immer wieder hoffte ich, Alemannen zu begegnen, denen ich mich anschließen und bei denen ich das Jagen und das Leben des Nomaden lernen konnte.

Gelegentlich entdeckte ich unterwegs Spuren, die darauf hindeuteten, daß schon vor mir irgend jemand hiergewesen sein mußte, allerdings vor längerer Zeit. Manchmal waren es nur einige gespaltene Steine, und erst bei näherem

Hinsehen erkannte ich, daß sie aufgrund von Hitze

geborsten waren, was bedeutete, daß hier ein Lagerfeuer gebrannt hatte. Manchmal kam ich auf eine Lichtung, auf der ganz offensichtlich eine größere Anzahl von Menschen

gelagert hatte, aber das überall wuchernde Gestrüpp ließ darauf schließen, daß dies schon längere Zeit her war. An manchen dieser Orte fand ich noch Hinweise auf die

Alemannen: flache Felsen oder grobe Holzstämme, in die ein Kreuz mit vier rechtwinklig abgeknickten Balken

gemeißelt war. Darunter standen zu Dreiecken, Kreisen oder wellenförmigen Linien angeordnete Runen.

Ich war bereits seit Wochen in den Bergen unterwegs

gewesen, als ich dem ersten Menschen begegnete. Es hatte an jenem Tag viel geschneit. Die Dämmerung brach gerade herein, und ich war müde, ausgehungert, durstig und starr vor Kälte. Ich hatte noch nichts getrunken, und weil es im Wald rasch dunkel wurde, suchte ich verzweifelt nach einer Quelle, in deren Nähe sich außerdem vielleicht die Höhlen überwinternder Tiere fanden und neben der ich mich für die Nacht in mein Schaffell rollen konnte. Plötzlich flatterte der Adler auf meiner Schulter mit den Flügeln, um meine

Aufmerksamkeit zu erregen. Ich reckte den Hals, versuchte, durch das Schneegestöber etwas zu erkennen, und

entdeckte nicht weit von uns entfernt einen Lichtschimmer.

Vorsichtig pirschte ich mich näher heran, bis ich ein

bescheidenes Lagerfeuer vor mir sah, an dem eine dunkle Gestalt saß. So leise wie möglich umkreiste ich das Feuer und näherte mich der Gestalt von hinten. Ich konnte nur einen Schöpf wirrer grauer Haare erkennen, der Rest

verschwand in einem dicken Pelz. Ich sagte mir, daß es ein Mann sein mußte, doch sah ich nirgends ein Pferd und auch keine anderen Menschen oder Lagerfeuer. Ich überlegte, ob ein Alemanne wohl allein und ohne Pferd die rauhen Alpen durchqueren würde. Frierend stand ich da und kämpfte mit mir, ob ich mich zu erkennen geben oder mich zurückziehen und in Sicherheit bringen sollte, als die Gestalt plötzlich, ohne den Kopf zu drehen oder die Stimme zu erheben,

sagte: »Da du nun einmal hier bist, warum kommst du nicht ans Feuer und wärmst dich?«

Es war die rauhe Stimme eines Mannes, und der Mann

sprach Gotisch, mit einem Akzent, der mir unbekannt war.

Immerhin hatte ich ihn verstanden.

Aber wie hatte er mich gehört? Ich hatte mich so bemüht, kein Geräusch zu verursachen. War dies vielleicht ein

Waldgeist mit Augen im Hinterkopf? Am liebsten wäre ich davongerannt, doch das fröhlich flackernde Feuer sah so einladend aus. Ich ging auf seine andere Seite, setzte mich und fragte verwirrt: »Wie habt Ihr mich bemerkt?«

»Herr im Himmel!« grunzte der Mann verächtlich, und es war das erste Mal, daß ich jemanden so fluchen hörte. »Du dummer Junge, seit mindestens einer Woche schon

stolperst du hinter mir her!«

Wenn er ein Skohl mit übernatürlichen Fähigkeiten war, sah er zumindest äußerlich wie ein ganz normaler

Sterblicher mit langen Haaren und zottigem Bart aus. Er war alt, aber nicht schwächlich, sondern eher robust, und er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und klare Augen von

einem durchdringenden Blau. Seine Zähne waren blendend weiß, als würde er damit Leder kauen.

»Alle möglichen Waldtiere hast du aufgescheucht mit dem Lärm, den du machst«, brummte er. »Sie sind an mir

vorbeigerannt. Jesus, bist du ein erbärmlicher Jäger! Als dann zu fürchten war, daß du mir in absehbarer Zeit alle Tiere verscheuchen und vielleicht sogar die Bären zu früh aus dem Winterschlaf wecken würdest, habe ich mich

entschlossen, hier auf dich zu warten. Wie heißt du,

Dummkopf?«

Noch verwirrter als zuvor sagte ich: »Thorn.«

Er lachte freudlos. »Welch passender Name. Ein Dorn im Auge eines Jägers, das bist du wahrhaftig. Du störst mich bei der Jagd, die mein Lebensunterhalt ist. Was tust du hier, Thorn? Du jagst nur, wenn du Hunger hast, und du bist ein schlechter Jäger. Bei den Hörnern des heiligen Joseph, mich wundert, daß du nicht schon längst verhungert bist. Und von Tieren verstehst du nichts - wie hast du es überhaupt

geschafft, den Adler zu fangen und zu zähmen? Teilt ihr euch seine Beute? Bist du hungrig, Junge?«

»Und durstig«, murmelte ich.

»Hinter den Büschen dort ist ein Bach, wenn du kräftig genug bist, ein Loch in das Eis zu schlagen.«

Er redete in einem fort, während ich zum Bach ging und gierig trank. Ich war beeindruckt von der Redseligkeit des Alten und der Gottlosigkeit seiner Flüche, wobei ich ihm zugute halten muß, daß er zumindest in der Wahl der Götter und anderer ehrwürdiger Persönlichkeiten unparteiisch war.

Als ich zum Feuer zurückkehrte, warf er mir ein blutiges Stück Fleisch zu. »Elchleber, eine Delikatesse. Hol dir einen Stock und brate sie über dem Feuer.«

»Thags izwis, Fräuja«, murmelte ich, »vielen Dank, Herr.«

»Tja, Junge, du sprichst nicht viel, wie? Auch daran

erkennt man den Neuling. Wer so lange wie ich im Wald

gelebt und immer nur Selbstgespräche geführt hat, redet schließlich in einem fort, sobald er Zuhörer hat, und wenn es nur ein Geier ist.«

Genau das tat er, während ich aß. Ich war so hungrig, daß ich das Fleisch nur kurz über das Feuer hielt und dann gierig wie ein wildes Tier mit den Zähnen zerriß. Was dabei zu Boden fiel, fütterte ich dem Juikabloth auf meiner Schulter.

»Der Schnee fällt immer dichter«, sagte der Alte. »Das ist gut. Wenn es so weiterschneit, gibt das eine schöne warme Decke für heute nacht. Du hast mir noch nicht gesagt, was dich in die Hrau Albos treibt, Junge. Wahrscheinlich bist du ein entlaufener Sklave - aber warum hast du dich in diese unwirtlichen Wälder geflüchtet? Du bist hier so fehl am Platz wie ein Krokodil aus den heißen Ländern. Warum hast du dich nicht in einer Stadt versteckt, wo man dich unter den vielen Menschen nicht findet?«

»Ich bin kein Sklave, Fräuja«, sagte ich mit vollem Mund.

Blut rann mir übers Kinn. »Ich war nie ein Sklave. Ich war Klosterschüler in einer Abtei. Aber ich wurde... ich kam zu dem Entschluß, daß es mir nicht bestimmt ist, Tonsur und Kutte zu tragen.«

Die kräftige Mahlzeit hatte mich gestärkt, und lebhafter fügte ich hinzu: »Ich fliehe vor niemandem, Fräuja. Ich will nach Osten zu den Goten, zu meinem Volk.«

»Ach tatsächlich? Zu den Ostgoten? Wer sagt, daß du

wirklich nach Osten gegangen bist, Junge?«

»Bin ich das etwa nicht?« fragte ich bestürzt. »Als ich Vesontio verließ, habe ich mich nach Osten gewandt. Doch hier in den Bergen verdecken ständig dicke Wolken die

Sonne und den Polarstern. Dennoch glaubte ich, wenn ich dem Vorgebirge der hohen Alpen im Süden folge...«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Hattest du nicht den ganzen Weg über den Wind im Gesicht? Das ist der Aquilo, der

Nordostwind. Das Vorgebirge macht zwar tatsächlich

irgendwann einen Knick nach Osten, im Augenblick jedoch gehst du in Richtung der römischen Garnisonsstadt Basilia, wo auch ich hinwill.«

»Herr im Himmel«, murmelte ich, und zum ersten Mal

bekreuzigte ich mich nicht dabei.

»Wenn du Jäger und Fallensteller werden willst, mußt du noch viel lernen.«

»Aber Ihr seid ein erfahrener Waldläufer, Fräuja. Ihr habt lange in diesen Wäldern gelebt. Warum zieht Ihr jetzt in die Stadt?«

»Ich mag vom Leben in den Wäldern etwas kauzig

geworden sein«, sagte der Alte mürrisch, »aber ich bin noch nicht vollkommen übergeschnappt. Ich jage nicht aus

Gewohnheit oder weil ich nichts anderes zu tun hätte oder blutrünstig bin oder mir den Bauch vollschlagen will. Ich bin Pelzjäger. Das dort sind Bärenfelle.«

Er wies auf einen großen, mit einer Schnur

zusammengebundenen Ballen, der sicher in der Gabel eines Baumes verwahrt war.

»Ich gehe nach Basilia, um meine Bärenfelle zu verkaufen und meine Vorräte aufzustocken. Die Stadt ist nicht das Richtige für mich, ich bin kein Stadtbewohner. Sobald ich meine Felle verkauft habe, ziehe ich nach Osten an den großen See, den man Lacus Brigantinus nennt. Im Frühjahr schmilzt das Eis auf den Flüssen dieser Gegend, und die Biber kommen aus ihren Bauten; ihr Fell ist in dieser Zeit von auserlesener Qualität.«

Ich überlegte. Der Alte schien andere Menschen zu

verachten und zu verabscheuen. Er hatte kein Benehmen, fluchte, war gottlos und glaubte an keine einzige Religion, wie ich schnell herausfand. Allein die Nähe zu ihm konnte mich verderben und für alle Ewigkeit verdammen. Und ich durfte nicht erwarten, von dem alten Sonderling je freundlich behandelt zu werden. Andererseits kannte er sich im Wald aus, und wenn es dort wirklich so gefährlich war...

Zögernd sagte ich: »Fräuja, da wir beide in dieselbe

Richtung gehen... vielleicht könnten wir miteinander reisen, und Ihr könntet mir das Jagen beibringen.«

Jetzt war es an ihm zu überlegen. Er musterte mich lange, bevor er sprach. »Ich könnte dich schon gebrauchen.

Glaubst du, daß du den großen Ballen Felle schleppen

kannst?«

Armer Alter, dachte ich, du bist nicht mehr der starke Mann, der du gern sein würdest. Wahrscheinlich stolperst du andauernd und jammerst und klagst, mürrisch wie du bist.

Wahrscheinlich wäre ich ohne dich noch besser dran; ich könnte besser auf mich aufpassen und käme schneller

voran. Doch ich hörte mich sagen: »Ja, das müßte gehen.«

»Also gut. Jetzt ist aber für heute genug geredet. Hier, Junge« er ergriff einen seiner Pelze und warf ihn mir zu -

»darin schläfst du wärmer als bisher.«

Er legte sich an das inzwischen heruntergebrannte Feuer, nahm von irgendwoher einen Blechnapf, aus dem er sonst offensichtlich aß und trank. Dann nahm er einen Kieselstein in die Hand und legte sich so zum Schlafen hin, daß seine Hand über dem Napf hing. Erst fragte ich mich, warum er das tat, dann gab ich mir die Antwort selbst: Wenn er nachts durch ein Geräusch aufgeschreckt würde, würde der Stein in den Napf fallen und das Scheppern ihn vollends aufwecken.

Und jetzt hatte er ja auch noch mich, um eventuelle

Angreifer in die Flucht zu schlagen.

Dankbar rollte ich mich in den Pelz, den er mir gegeben hatte. Dann fragte ich: »Fräuja, da wir nun eine Zeitlang Reisegefährten sind - wie soll ich Euch nennen?«

Er hatte nicht gesagt, ob er den Alemannen angehörte

oder einem anderen Volk, und sein Akzent war mir

unbekannt. Freilich half mir auch sein Name nicht weiter.

»Man nennt mich Wyrd, den Waldläufer«, sagte der Alte. Im nächsten Moment war er eingeschlafen. Er atmete tief, doch lautlos, so daß in dieser Nacht weder wilde Tiere noch Raubvögel, noch herumstreunende Hunnen auf uns

aufmerksam wurden.

4

Mit dem ersten Tageslicht wachten wir auf. Der Himmel

war immer noch bedeckt, aber es hatte aufgehört zu

schneien.

»Ich bin Euch wirklich dankbar für das Fell, das Ihr mir gegeben habt, Fräuja Wyrd«, sagte ich. »Es war sehr...«

»Schweig!« unterbrach er mich grob und so übellaunig wie am Tag zuvor. »Ich habe noch nicht gefrühstückt, deshalb kann ich kein dummes Geschwätz ertragen.«

Er rollte seine Habseligkeiten in das Fell, das ihn über Nacht warmgehalten hatte, und dabei sah ich, daß er auf einem Bogen und einem Köcher mit zahlreichen Pfeilen

gelegen hatte.

Als er meinen erstaunten Blick sah, sagte er: »Hast du geglaubt, ich töte Bären und Elche mit bloßen Händen?«

Seine Stimme wurde weicher, als er liebevoll über den

Bogen strich. »Ja, das ist das Schönste, das ich besitze, und das einzige, worauf ich mich verlassen kann. Bis ein solcher wunderbarer Bogen fertig und eingeschossen ist, vergehen leicht fünf Jahre. Die Goten machen zwar die besten

Schwerter und Messer der Welt, aber die Hunnen machen

unbestritten die besten Bogen.«

»Ihr habt den Bogen von einem Hunnen bekommen?«

Wyrd schnaubte verächtlich. »Nein, das nicht. Ich habe ihn mir genommen.«

»Ihr habt einem Hunnen den Bogen weggenommen?«

»Ja, aber erst als ich sicher war, daß er ihn nicht mehr brauchte«, sagte er trocken.

»Ach so«, murmelte ich ehrfürchtig. Ich wollte seinen

Jähzorn nicht reizen, deshalb fragte ich vorsichtig:

»Wahrscheinlich wart Ihr damals noch jünger, Fräuja?«

»Ja«, sagte er, und es klang kein bißchen gekränkt. »Das war vor drei Jahren. Davor mußte ich mich mit einem

gewöhnlichen Bogen begnügen. Aber wir vertrödeln Zeit...

Ich werde dich jetzt mit den Fellen beladen. Der tiefe Neuschnee wird uns das Vorwärtskommen erschweren, und

ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit an unserem Ziel ankommen.«

Behende lud er mir den Ballen auf und band ihn mit

breiten Streifen aus Leinwand fest, die er mir über Schultern und Brust führte und um die Hüften verknotete. »Ziel?« stieß ich hervor, denn die Last nahm mir den Atem. »Was für ein Ziel?«

»Eine Höhle, die ich gut kenne. In diese Richtung. Auf!«

Wyrd schritt leichtfüßig wie ein junger Mann vor mir durch den knietiefen Schnee. Wenn er mir die Wahrheit gesagt hatte, war er jetzt fünfundsechzig Jahre alt, ein Alter, das damals nur wenige Menschen erreichten, und mit

zweiundsechzig hatte er einen Hunnen getötet, um dessen Bogen zu bekommen. Ich war bald überzeugt, daß der

schwere Fellballen für ihn leichter war als für mich; in der vergangenen Nacht hatte er ihn allein in eine hohe Astgabel gehievt.

Der Marsch zu Wyrds Höhle war lang und beschwerlich.

Obwohl Wyrd den Weg durch den Schnee bahnte, taumelte

und stolperte ich, und bald keuchte ich und schnappte nach Luft. Es war kalt und stürmisch, aber ich schwitzte vor Anstrengung. Der Ballen reichte mir von den Hüften bis hoch über den Kopf, und zuoberst saß der Juikabloth, wenn ich ihn nicht gerade weggescheucht hatte, um meine Last

wenigstens um sein Gewicht zu erleichtern.

Schließlich fiel ich, ohne einen Ton von mir zu geben, vornüber in den Schnee und blieb mit dem Kopf nach unten liegen, zu

schwach, um mein eigenes Gewicht zu tragen,

geschweige denn die Bärenfelle auf meinem Rücken. Wyrd bemerkte nichts und stapfte ständig redend weiter: »Ich rieche Schnee in einiger Entfernung vor uns. Wir beeilen uns besser...« Zuletzt verlor seine Stimme sich im Sturm. Dann muß er bemerkt haben, daß ich ihm nicht mehr folgte, denn nach ungefähr ein oder zwei Minuten vernahm ich wieder das Knirschen seiner Schritte im Schnee. Er blieb neben mir stehen, und weil ich nichts sehen konnte, glaubte ich, er beuge sich besorgt über mich. Doch da sagte er voller

Verachtung: »Bei Murtia, der Göttin der Faulheit, spielst du schon den Erschöpften? Es ist gerade erst Mittag vorbei.«

Ich hatte gerade genug Atem geholt, um antworten zu

können: »Ich spiele nicht... Fräuja...«

Mit dem Fuß drehte er den Fellballen und mich um, so daß ich auf dem Rücken lag. Wyrd sah mich an, wie er eine

schleimige Schnecke ansehen mochte, die an der Unterseite eines umgedrehten Steins klebte. Mein Juikabloth kreiste über uns und sah neugierig herunter.

»Ich bin vollkommen erschöpft«, sagte ich, »und ich habe Durst, und meine Schultern sind von den Riemen wund.

Können wir nicht eine kurze Pause machen?«

Wyrd grunzte geringschätzig, doch er ließ sich neben mir nieder. »Aber nur kurz«, sagte er, »sonst werden deine Muskeln steif.«

»Können wir nicht unsere Lasten tauschen?« schlug ich

vor.

»Nein«, sagte er bestimmt. »Du hast gesagt, du kannst

den Ballen tragen. Du mußt lernen, zu deinem Wort zu

stehen. Schließlich warst du es, der mich begleiten wollte.

Ich habe zu Recht befürchtet, daß du mich aufhalten

würdest, aber aus Mitleid mit dir habe ich zugestimmt. Gib acht, worum du bittest, denn es kann sein, daß du es

bekommst. Doch was immer du dann bekommst, Junge,

mache das Beste daraus!«

»Ja, Fräuja«, murmelte ich und biß die Zähne zusammen.

»Mit mir zu reisen ist vielleicht kein Vergnügen und nicht bequem, doch du wirst viel lernen. Du wirst lernen, dich im Wald zurechtzufinden und den Körper zu stärken und die Sinne zu schärfen. Du mußt so stark werden wie ich!«

Um die Rast zu verlängern, fragte ich: »Seid Ihr eigentlich ein Christ, Fräuja Wyrd?«

Er antwortete geheimnisvoll: »Ich war einer. Inzwischen bin ich geheilt.«

»Dann hattet Ihr wohl keinen guten Priester oder Kaplan oder Pastor. Was auch immer.«

Wyrd grunzte. »›Pastor‹bedeutet›Schäfer‹, und Schafe

sind dazu da, daß man sie schert. Ich ziehe es vor, kein Schaf zu sein. Aber jetzt auf, Junge. Wir schaffen es noch bis zur Höhle, bevor es dunkel wird, wenn du nicht nochmal hinfällst. Los!«

Es gelang mir tatsächlich, den schrecklichen Marsch hinter mich zu bringen, ohne nochmals zusammenzubrechen.

Wyrd sagte, wir seien vier Stunden unterwegs gewesen,

aber für mich waren es vier Jahre, bis er endlich ankündigte, wir seien da.

Vor Erleichterung und Dankbarkeit wäre ich fast wieder in den Schnee gefallen, ich fing mich jedoch gerade noch

rechtzeitig. »Wo ist die Höhle?« keuchte ich. »Ich setze den Ballen erst in der Höhle ab.«

»Sie ist dort drüben.« Wyrd wies auf einen mit Gestrüpp überwucherten Hang vor uns. »Doch du kannst den Ballen hier absetzen. Wir gehen erst hinein, wenn er

herauskommt.«

»Er?« krächzte ich.

»Oder sie«, sagte Wyrd gleichgültig und legte sein Bündel ab.

Meine Beine begannen unter der schweren Last zu zittern.

»Ihr wollt... noch einen Bären töten?«

»Vielleicht gibt er sein Fell ja freiwillig her«, sagte Wyrd beißend. »Beim Styx, Junge, ich habe dir gesagt, du sollst den Ballen absetzen. Tu es, bevor du selber umfällst.«

Ich befreite mich von den Tragegurten und ließ die Felle hinter mir in den Schnee fallen. Ich konnte mich nicht sofort hinsetzen oder legen, denn mein Rücken war so krumm,

daß ich fürchtete, für immer in dieser Haltung verharren zu müssen. Auf unsicheren Beinen stakte ich umher und

versuchte, mich aufzurichten, während Wyrd prüfend den Bogen spannte und sich dann den Köcher umhängte, so daß die gefiederten Enden der Pfeile über seine rechte Schulter ragten.

»Ihr geht allein hinein?« fragte ich ängstlich. Ich fürchtete, er könnte mir befehlen, mit ihm zu kommen.

»Hinein?« Er funkelte mich an. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich weder verrückt noch beschränkt bin. Ein Bär hat die Kraft von zwölf Männern und die Intelligenz von elfen. Bei Jalk, dem Bärentöter, bist du auf deiner Wanderung nie einem Bären begegnet?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er mich und stieg mit angelegtem Bogen vorsichtig den Hang hinauf. Er ging gebückt ungefähr in der Haltung, in der ich mich immer noch befand -, um nicht mit dem Kopf gegen die

schneebeladenen Äste zu stoßen. Ich konnte den Eingang der Höhle nicht erkennen und deshalb nicht abschätzen, wie nahe Wyrd sich heranpirschte, doch ich sah deutlich, wie er sich hinter einen Busch duckte, die Höhle fixierte, langsam den Bogen hob und sorgfältig zielte. Dann schoß er in

rascher Folge nacheinander mehrere Pfeile ab - so rasch, daß sein rechter Arm kaum noch zu sehen war, während der linke, der den Bogen hielt, so ruhig blieb wie der einer Statue.

Im nächsten Moment stürmte ein riesiger brauner Bär aus der Höhle, die außerhalb meines Blickfelds lag. Er wirbelte eine Wolke von Schnee und abgerissenen Zweigen auf. Mit einem fürchterlichen Brüllen kam er zum Stehen, und als der Schnee sich lichtete, sah ich, daß eines seiner Vorderbeine von einem Pfeil durchbohrt war. Der Bär stellte sich auf, um besser über das Dickicht hinwegzusehen, und weißer

Schaum troff aus seinem mächtigen, aufgerissenen Rachen.

Wyrd zielte wieder und schoß. Obwohl der letzte Pfeil, soweit ich sehen konnte, nur den Unterkiefer des Bären durchbohrte, endete sein Gebrüll in einem verzweifelten, erstickten Laut, und das gigantische Tier fiel wie ein einstürzender Pfeiler nach hinten, rollte auf die Seite und blieb bewegungslos liegen. Nur seine krallenbewehrten

Tatzen zuckten noch.

»Es ist ein Männchen«, murmelte Wyrd, »also sind keine Jungen in der Höhle.«

Mir war nun klar, daß Wyrd nicht übertrieben hatte, als er den hunnischen Bogen über alles lobte. Der letzte Pfeil hatte tatsächlich den Unterkiefer des Bären getroffen, aber er hatte auch alle Knochen und Muskeln im Innern des Kopfes durchbohrt, war in das Gehirn eingedrungen und hatte die dicke und feste Hirnschale durchstoßen, so daß die

Pfeilspitze fast eine Handbreit aus dem Hinterkopf des Bären ragte.

»Diesen Pfeil kriegt Ihr nicht mehr heraus«, sagte ich, als Wyrd sich hinkniete, um den anderen Pfeil aus dem

Vorderbein des Bären herauszuziehen.

»Der Verlust hat sich wenigstens gelohnt«, gab er zur

Antwort. »Aber hole doch die anderen Pfeile aus der Höhle.

Da drin wird es dunkel sein, wir sollten also zuerst unser Lager aufschlagen und ein Feuer anzünden. Dann kannst du eine Fackel in die Höhle mitnehmen, damit du Licht hast. Ich habe acht Pfeile verschossen. Sieh zu, daß du sie alle findest.«

»Gern, Fräuja«, sagte ich. »Bereitet Ihr unterdessen das Bärenfleisch zu?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Schau her.« Er holte ein kleines Messer hervor, teilte damit das Fell am Bauch des Tieres und machte einen Schnitt in die ledrige Haut. Eine dicke Schicht gelben Fetts kam zum Vorschein. »Zu viel Fett.« Er zuckte die Achseln.

»Schade«, sagte ich. »Ihr seid sicher genauso hungrig wie ich. Vielleicht eine Keule...«

»Nein«, wiederholte er. »Ich muß das Tier erst ganz

abziehen, bevor wir es zerlegen. Das geht nicht so einfach und schnell, und bald wird es Nacht.« Er stand auf und sah sich um. »Tu, was ich dir sage, und zünde ein Feuer an.

Dort drüben ist ein guter Platz.«

»Ist das Euer Ernst, Fräuja? Sollen wir trockene braune Speckschwarten essen, während das ganze Fleisch hier

herumliegt?«

»Nein«, sagte er nochmals und sah sich dabei wie

suchend um. »Ich wette, daß der Lärm, den wir verursacht haben, bald andere Tiere anlockt - da ist schon eins!«

Er sah mir über die Schulter, aber bevor ich mich

umdrehen konnte, hatte er schon den Bogen erhoben, einen Pfeil aus dem Köcher gezogen, gespannt und geschossen.

Als ich mich umdrehte, war Wyrds Beute etwa dreißig Schritt von uns entfernt schon zu Boden gefallen. Das Tier ähnelte einer Ziege, nur daß es viel größere Hörner hatte, lange, dicke Hörner, die nach hinten geschwungen und an den

Enden hübsch gedreht waren. Ich hatte ein solches Tier noch nie gesehen.

»Ein Steinbock«, sagte Wyrd. »Er lebt gewöhnlich auf den Gipfeln der Alpen und kommt nur im Winter herunter.

Steinböcke sind neugierig wie Katzen, zu unserem Glück. Ihr Fleisch ist mager, weil sie sich kein Fettpolster für den Winterschlaf anlegen. Es schmeckt besser als bestes

Hammelfleisch. Machst du jetzt endlich Feuer, Junge?«

Es dauerte noch eine Weile, bis unsere Mahlzeit fertig war, und uns lief das Wasser im Munde zusammen, als ein

köstlicher Duft aus dem Kessel stieg, das kochende Wasser dunkel wurde und die rohen Fleischstücke langsam eine

braune Färbung annahmen. Schließlich, als ich vor Hunger oder freudiger Erwartung schon fast wie von Sinnen war, holte Wyrd sein Messer hervor, stach in das Fleisch und meinte: »Fertig!« Das Fleisch war köstlich und so zart, daß wir kaum zu kauen brauchten. Gierig schlugen wir uns den Bauch voll. Natürlich konnten wir nicht alles essen. Wyrd legte etwas für den Morgen zurück und räucherte einige Stücke über dem Feuer, um sie haltbar zu machen, damit wir sie mitnehmen konnten. Dann rollten wir uns gesättigt in unsere Felle.

Am selben Abend, aber in einer ganz anderen Gegend

weit weg im Osten, in Konstantinopel, hatte ein Knabe

meines Alters ein wohl genauso reichliches Abendessen

genossen und zog sich nun in sein Schlafgemach zurück: Ich meine Theoderich, den Sohn und Erben Thiudamer des Amalers, des Königs der Ostgoten. Theoderich war damals Ehrengast Leos, des Kaisers des oströmischen Reiches. Er schlief gewiß auf seidenen Kissen in einem warmen,

weichen Bett im prächtigen purpurnen Palast des Kaisers und hatte, bevor er sich schlafen legte, gewiß ein erlesenes Mahl zu sich genommen.

Seit jener Nacht habe auch ich so manch erlesene Speise an festlicher Tafel in einem vornehmen Palast gekostet. Ich habe oft mit Theoderich selbst in den Palästen, die er eroberte, an einer Tafel gesessen. Dort kosteten wir in der Gesellschaft Adliger von den feinsten Delikatessen und wurden von zahlreichen Dienern bedient. Doch ich schwöre bei Gott, daß mir in meinem ganzen Leben keine Mahlzeit besser geschmeckt hat als das einfache Gericht, das Wyrd in jener finsteren Nacht in den kalten, unwirtlichen Hrau Albos für uns zubereitete.

5

Obwohl ich auch am nächsten Tag beim ersten

Morgengrauen erwachte, war Wyrd bereits aufgestanden

und dabei, dem erlegten Bären das Fell abzuziehen. Ich wünschte ihm mit rauher Stimme einen schönen Tag und

brachte ihm ungeheißen das Frühstück: Steinbockfleisch, das ich am Feuer aufgewärmt hatte, und Wasser vom Bach.

Er grunzte beifällig und fuhr mit seiner blutigen Arbeit fort, während er von Zeit zu Zeit einen Bissen Fleisch oder einen Schluck Wasser zu sich nahm.

Dann machte ich mich geschäftig daran, die Felle, die uns des Nachts als Zudecke dienten, zu Bündeln

zusammenzurollen, in denen ich unsere anderen

Habseligkeiten und das Rauchfleisch verstaute. Auch

versicherte ich mich, daß das Fläschchen mit der Milch der Jungfrau Maria unversehrt war. Als ich damit fertig war, nahm ich mir den abgehackten Kopf des Steinbocks vor.

Mein Juikabloth hatte zum Frühstück bereits die Augen und die Zunge des Tieres verzehrt, aber mich interessierte das stattliche Gehörn. Mit einem Felsbrocken, der mir geeignet schien, zerschmetterte ich den Schädel. Dann legte ich auf jedes unserer Bündel eines der Hörner und band es fest.

Wir waren ungefähr gleichzeitig gegen Mittag mit unseren Arbeiten fertig. Als ich den großen Pelz sah, den Wyrd unter dem Arm trug, erschrak ich. Resigniert wartete ich darauf, daß er ihn zu dem Bündel legen würde, das ich tags zuvor getragen hatte. Aber er nickte nur beifällig mit dem Kopf, als er sah, daß ich die Hörner des Steinbocks abgetrennt hatte, und sagte: »Du hast schon genug zu schleppen, Junge, und würdest ohnehin den Gestank nicht ertragen, den dieses Fell bald ausströmen wird, denn ich habe nicht sehr gründlich ausgefleischt, und natürlich habe ich jetzt nicht die Zeit, es aufzuspannen und zu trocknen. Ich dagegen bin an strenge Gerüche gewöhnt, also nehme ich es zu meinem Bündel

dazu.«

»Thags izwis«, sagte ich dankbar. »Wollt Ihr noch einen Bären erlegen, Fräuja Wyrd?«

»Ne, wir haben beide genug zu tragen. Außerdem kenne

ich keine anderen Bärenhöhlen mehr zwischen hier und

Basilia. Warum gehen wir also nicht gleich in die Stadt? Das Wetter ist schlecht, laß uns lieber in ein heißes römisches Bad steigen.«

»Soll ich noch etwas Bärenfleisch abschneiden, für den Fall, daß wir unterwegs Hunger bekommen?«

»Ne. Wenn ein Kadaver einmal steif geworden ist, bleibt das Fleisch zäh, egal wie lange man es kocht. Laß es

liegen.«

»Aber es wäre doch schade, es einfach liegen zu lassen.«

»In der Natur bleibt nichts liegen, Junge. Dieser Kadaver wird unzählige andere Tiere ernähren, Vögel und Insekten.

Und wenn ein Rudel Wölfe darauf stößt, wird das Fleisch sie abhalten, uns zu verfolgen. Dasselbe gilt natürlich auch für eine Horde streunender Hunnen.«

»Ich habe einmal einen Wolf gesehen, der aussah, als

könnte er einen Menschen mit Leichtigkeit töten«, sagte ich.

»Einen Hunnen habe ich noch nie gesehen. Wärt Ihr lieber das Opfer eines Wolfs als eines Hunnen, Fräuja?«

»Beim Styx, auf jeden Fall! Wölfe würden unsere Felle

zerreißen oder unsere Pferde anfallen, wenn wir welche hätten. Uns selbst würden sie nicht angreifen. Ich weiß nicht, wie die intelligenten und anständigen Wölfe in den Ruf kamen, sie würden Menschen auffressen. Aber ich weiß, wie die Hunnen dazu kamen. Los, Junge, gehen wir!«

Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage wir unterwegs waren.

Doch fast jeden Tag ging es etwas mehr bergab, und das Wetter wurde zunehmend milder, und fast jeden Tag

schienen die Bärenfelle auf meinem Rücken etwas leichter zu werden. Wie Wyrd vorausgesagt hatte, gewöhnten sich meine Schultern und mein Rücken an die Belastung, und

mein ganzer Körper wurde stärker. Ich stolperte nicht mehr schwerfällig hinter Wyrd her, sondern hielt nun mit dem alten Waldläufer Schritt.

Zuletzt ließen wir den stets grau verhangenen Himmel der Alpen hinter uns. Die Sonne brach immer häufiger zwischen den Wolken hindurch, und es wurde warm. Glücklicherweise gab es in diesen niedrigeren Regionen Wälder, die so dicht waren, daß sie Schatten spendeten, obwohl sie kahl waren, sonst hätte der grelle Widerschein der Sonne auf dem

weißen Schnee uns geblendet. Wir waren in der römischen Provinz Rhaetia Prima angelangt.

Wir folgten dem Birsus, einem kleinen Fluß, der wie die Gebirgsbäche vollständig mit Eis bedeckt war. Dort, wo der Birsus in den Rhein mündet, sahen wir vor uns die Stadt Basilia liegen. Von weitem schon erblickten wir die Mauern des Kastells hoch über der Flußmündung.

Weil sich der gesamte Verkehr und Handel auf der

Wasserstraße des Rheins abspielt, führen nur zwei enge, schlechtgepflasterte Straßen nach Basilia hinein, und eine davon benützten Wyrd und ich. Ich hatte schon damit

gerechnet, daß die Straße nicht sehr belebt sein würde, aber zu meinem Erstaunen hatten wir die Straße sogar ganz für uns. Weit und breit waren weder Karren noch Wagen, noch Reiter, noch Fußgänger zu sehen, nirgends eine Spur

menschlichen Treibens. Wyrd schüttelte immer wieder

verwundert den Kopf. Auch am Stadtrand sahen wir keinen Menschen, niemanden, der arbeitete, umherging oder

einfach nur dasaß. Die Fenster und Türen der Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren geschlossen und verriegelt, kein Schmiedefeuer oder Brennofen brannte, und kein

Geräusch ließ erkennen, daß hier jemand lebte. Wir hörten nicht einmal einen Hund bellen.

»Beim gebackenen Leib des heiligen Polykarp«, knurrte

Wyrd, »das ist höchst seltsam.«

»Aber seht da oben, Fräuja«, sagte ich. »Zumindest steigt Rauch von den Dächern auf.«

»Ja. Komm, Junge, ich zeige dir eine Taverne, die ich sehr gern aufsuche. Sie gehört einem alten Freund von mir, der seinen Wein nicht panscht. Von ihm werden wir erfahren, ob Basilia von der Pest heimgesucht wird.«

Als wir aber vor der Taverne standen, mußten wir

feststellen, daß auch ihre Tür verschlossen war. Nur der Rauch, der zum Himmel aufstieg, ließ auf ein Herdfeuer im Innern des Hauses schließen. Wyrd hämmerte zornig gegen die Tür, gab einige schreckliche Obszönitäten von sich und rief: »Dylas, mach sofort auf! Verflucht seist du von allen Göttern, ich weiß, daß du da drin bist!«

Erst nach einiger Zeit tat sich ein Fenster einen Spalt breit auf. Ein trübes, rotgerändertes Auge erschien, und jemand fragte mit schroffer Stimme auf Gotisch und wie Wyrd mit einem Akzent, den ich nicht kannte: »Wyrd, alter Freund, bist du es?«

»Nein, ich bin der schlanke Knabe Hyazinthus,

gekommen, um dich zu verführen«, brüllte Wyrd so laut, daß noch mehr Fenster benachbarter Häuser ebenfalls einen

Spalt breit aufgingen. »Schiebe den Riegel zurück, oder, bei Jesus, ich trete die Tür ein!«

»Ich kann dir nicht öffnen, Freund Wyrd«, sagte das Auge am Fenster. »Ich darf keinem Fremden öffnen.«

»Was? Keinem Fremden öffnen? Bei den Knochen des

Hiob, du und ich, wir haben doch alle Seuchen überlebt, die es überhaupt gibt. Wir stecken weder uns noch sonst

jemanden an. Außerdem bin ich kein Fremder! Ich sage

nochmals, wenn du nicht aufmachst...«

»Du alter Schafskopf, sei wenigstens einmal in deinem

Leben still und höre mir zu. Ich darf auf Befehl des Legaten Calidius niemanden hereinlassen. Auch die anderen

Einwohner der Stadt dürfen das nicht. Wir wurden von keiner geringeren Plage heimgesucht als den Hunnen.«

»Jesus! Verbarrikadiert Calidius den Stall erst, nachdem die Pferde gestohlen wurden?«

»Du sprichst wahrer, als du glaubst, Freund. Diesmal

wurden allerdings eine ungewöhnliche Stute und ihr Fohlen gestohlen.«

»Beim Höllenfürsten Pluto!« brüllte Wyrd. »Laß mich rein und erzähle mir mehr!«

»Über das, was hier geschah, darf ich nicht sprechen, und auch kein anderer Bürger dieser Stadt. Fremde und

Besucher müssen sich in der Garnison melden. Nur dort

wird euch vielleicht die Tür geöffnet.«

»Dylas, du Unglücksvogel, was geht hier vor? Es gibt hier doch gar nicht so viele Hunnen, daß sie eine römische

Garnison angreifen könnten!«

»Ich kann dir nicht mehr sagen, alter Freund. Geh zur

Garnison.«

Also machten wir uns auf den Weg zur Garnison. Wyrd

fluchte die ganze Zeit vor sich hin, ich sagte nichts. Das Kastell von Basilia war zwar vergleichsweise klein, doch damals riß ich vor Staunen die Augen auf. Die Mauer vor uns maß von einer Ecke zur anderen vierhundert Schritt.

Obwohl zweifellos aus Stein errichtet, war sie mit dicken Torfballen verkleidet, um sie vor dem Angriff eines

Rammbocks zu schützen. Über dem großen Holztor hing ein Schild mit einer mehrfarbigen Inschrift: Der Name Kaiser Valentinians, der die Festung in längst vergangenen Zeiten erbaut hatte, war in Gold zu lesen, der Name der Legion, zu der die Garnison gehörte, der Legio XI Claudia, in Rot.

Das massive Tor war wie die Türen der Häuser fest

verschlossen, und von einem der beiden das Tor

flankierenden Türme rief uns eine Stimme an, erst auf

Latein, dann auf Gotisch: »Quis accedit? Huarjis

anaquimith?«

Sehr zu meinem Erstaunen antwortete Wyrd in beiden

Sprachen: »Est caecus, quisquis? Ist jus blinda, niu? Wer wird es sein, Paccius, du eingebildeter Schnösel? Bin ich vielleicht deine Mutter, die Hure? Du kennst meine Stimme so gut wie ich deine.«

Ich hörte den Wachposten leise lachen, dann rief er uns nochmals an: »Ich erkenne dich. Aber einige der sechzig Bogenschützen hier oben auf den Zinnen kennen dich nicht, und sie zielen bereits auf dich. Sag deinen Namen.«

Wyrd stampfte zornig mit dem Fuß auf und brüllte: »Bei den zwölf Aposteln! Man nennt mich Wyrd, den Waldläufer!«

»Und dein Gefährte?«

»Auch so ein Schnösel wie du. Mein Lehrling, Thorn der Nichtsnutz.«

»Und dessen Gefährte?«

»Wer?« Wyrd sah sich verdutzt um. »Ach der Vogel. Ein

römischer Legionär erkennt doch wohl einen Adler? Soll ich nun auch meine Zehen noch einzeln vorstellen?«

»Warte.«

Wir mußten nicht lange warten. Bald hörten wir, wie

knirschend und knarrend Holzbalken zurückgeschoben

wurden. Dann öffnete sich das schwere Tor langsam einen Spalt, gerade breit genug, um uns durchzulassen. Der

Posten Paccius, in voller Schlachtrüstung wie die anderen Legionäre, die hinter dem Tor Aufstellung genommen hatten, erwartete uns. Es war das erstemal, daß ich Soldaten und Rüstungen sah.

»Salve, Waldläufer«, sagte Paccius erfreut und hob die geballte rechte Faust zum römischen Gruß.

»Salve, Paccius«, brummte Wyrd. Seine Arme waren zu

schwer beladen, als daß er den Gruß hätte erwidern können.

»Das hat aber lange gedauert.«

»Ich mußte eure Ankunft dem Provinzstatthalter melden.

Er heißt euch willkommen und fordert euch auf, sofort zu ihm zu eilen.«

»Na! Der parfümierte Calidius wird mich kaum so

empfangen wollen, wie ich bin. Wahrscheinlich hast du mich schon lange gerochen, bevor du endlich aufgemacht hast.

Ich gehe zuerst ins Bad. Komm mit, Junge.«

»Halt«, bellte Paccius, noch bevor wir drei Schritte

gegangen waren. »Wenn der Legat ›sofort‹ sagt, dann meint er ›sofort‹ .«

Wyrd funkelte ihn an. »Du kannst mir nichts befehlen. Ich bin ein freier Bürger.«

»Das Kriegsrecht wurde verhängt, und du weißt genau,

daß es auch für freie Bürger gilt. Doch wenn du darauf bestehst, bittet Calidius dich auch höflich, zu ihm zu kommen, störrischer Alter. Aber es eilt.«

»Also gut«, seufzte Wyrd ungeduldig. »Zeigt uns

wenigstens, wo wir unsere Bündel ablegen können.«

»Kommt mit«, sagte Paccius und ging voraus. »Fast alle unsere Reserveunterkünfte sind mit Zivilisten belegt.

Calidius hat alle Bewohner des Umlands und alle Besucher der Stadt hierher geholt. Alle, die keine sichere Unterkunft hatten. Wir spielen sogar Gastgeber für einen reisenden syrischen Sklavenhändler und seine Charismaten. Doch ich finde schon etwas für euch; notfalls werfe ich den Syrer hinaus.«

»Was soll das alles?« fragte Wyrd. »In der Stadt unten sprach Schankwirt Dylas, den du sicher kennst, von Hunnen, aber ich hielt ihn für verrückt. Ihr erwartet doch nicht im Ernst einen Überfall der Hunnen.«

»Keinen Überfall, sondern hin und wieder Besuch«, sagte Paccius zögernd. »Und nur von einem einzigen Hunnen. Der Legat hat befohlen, daß niemand außer ihm mit dem

Besucher spricht und niemand ihm etwas zuleide tut oder versucht, ihm zu seinem Lager zu folgen.«

Wyrd starrte ihn ungläubig an. »Ist ganz Basilia verrückt geworden? Wie könnt ihr zulassen, daß ein dreckiger Hunne hier ein- und ausgeht, ohne daß er seinen zerlausten Kopf verliert?«

»Bitte«, sagte Paccius fast schamvoll. »Der Legat wird dir alles erklären. Hier ist euer Quartier.«

Wir standen vor einem hölzernen Gebäude mit mehreren

Türen. Als wir eintraten, sahen wir, daß alle Betten bereits belegt waren. Auf einem davon saß ein Mann mit

schwarzem Bart, brauner Haut und Hakennase in schweren, wollenen Reisekleidern. Auf den anderen saßen Kinder, fünf bis zwölf Jahre alte Knaben, mit Eisenringen um die

Fußgelenke, die durch eine eiserne Kette verbunden waren.

Alle waren in Lumpen gekleidet und sahen uns trübselig entgegen.

»Weg mit dir, du syrisches Schwein!« fuhr Paccius den

Mann an. »Nimm deine Knaben und stecke sie zu den

anderen in die nächste Kammer. Und du gehst auch mit. Wir haben Gäste, und sie wollen eine Kammer, die sie nicht mit einem schmierigen Sklavenhändler und seinen Charismaten teilen müssen.«

Der Syrer, der Bar Nar Natquin hieß, wie ich später erfuhr, brachte ein zugleich liebenswürdiges und höhnisches

Lächeln zustande, rang die Hände und sagte in griechisch gefärbtem Latein: »Ich werde mich beeilen, Eurem Befehl Folge zu leisten, Zenturio. Darf ich den Zenturio um

Erlaubnis bitten, mit meinen Schützlingen die Bäder

aufzusuchen, bevor ich sie zu Bett bringe?«

»Du weißt genau, daß ich kein Zenturio bin, du

speichelleckende Kröte. Von mir aus kannst du deinen

Krötenlaich die Latrine hinunterspülen. Fort!«

Die Knaben lachten in sich hinein, als ihr Herr so

beschimpft wurde, obgleich die Beschimpfung sie selbst miteinschloß. Dabei fiel mir auf, daß sie alle sehr hübsch waren. Als der Syrer sie hinausführte, sagte Paccius: »Der schmierige Zuhälter Natquin hält seine Ware so sauber und appetitlich, wie nur möglich. Er hat sogar versucht, einen Knaben an mich zu verhökern. Aber ich schwöre, daß sich der Barbar selbst in seinem ganzen Leben noch nicht

gewaschen hat. Wyrd, leg dein Bündel hier ab. Dein Bursche soll es auspacken, während du mit mir zu...«

»Beim Donner Thors!« explodierte Wyrd. »Du kannst uns

nicht wie Syrer und Sklaven herumkommandieren. Thorn

lernt bei mir - bei Magister Wyrd, wenn du willst. Was immer ich von dem Legaten erfahre, Thorn soll es auch hören. Wir gehen zusammen zu Calidius.«

»Wie Ihr wünscht«, sagte Paccius und warf verzweifelt die Hände hoch. »Aber geht jetzt!«

Ich band den Juikabloth an mein Bett, dann folgten wir Paccius hinaus. Wir nahmen die Via Praetoria, die

Hauptstraße, die quer zur Via Principalis verlief und an deren Ende sich das Praetorium befand, die Residenz des Legaten, seiner Familie und seines Gefolges. Als wir hinter Paccius hergingen, fragte ich Wyrd halblaut: »Sagt, Fräuja, was sind Charismaten?«

»Nun, die Knaben, die wir gerade gesehen haben.« Er

wies mit dem Daumen hinter sich.

»Aber warum werden sie so genannt?«

Er drehte den Kopf und sah mich seltsam an: »Du weißt

nicht...?«

»Woher soll ich es wissen? Ich habe das Wort nie zuvor gehört.«

»Es kommt aus dem Griechischen«, erklärte er und sah

mich immer noch von der Seite an. »Du weißt, was ein

Eunuche ist?«

»Ich habe davon gehört, bin aber noch keinem begegnet.«

Jetzt sah mich Wyrd wirklich verblüfft an. »Charisma

bezeichnet ursprünglich eine besondere Gabe eines

Menschen. Ein Charismate ist eine bestimmte Art von

Eunuche. Die auserlesenste und teuerste Art. Ein Eunuche hat keine Hoden mehr, ein Charismate hat gar nichts mehr.«

Ich schwieg, und nach einer Weile wandte sich Wyrd mir nochmals zu und sagte: »Verzeih mir, Junge. Als du nach den Charismaten gefragt hast, war ich erstaunt, weil... nun, weil ich dich für einen von ihnen gehalten habe.«

»Das bin ich keineswegs!« sagte ich heftig. »Ich bin

überhaupt nicht verstümmelt!«

Er zuckte mit den Schultern. »Verzeih mir, ich werde nicht weiter fragen. Ich will nicht einmal wissen, ob du ein Nachkomme des Hermaphroditus bist. Das ist mir völlig

egal. Gehen wir also ins Praetorium, um zu hören, warum der erhabene Calidius so überglücklich ist, daß wir hier sind.«

6

Paccius führte uns durch einen Saal und zahlreiche

Räume, die alle vornehm möbliert, mit Mosaiken an

Fußböden und Wänden verziert und mit Liegen, Tischen,

Vorhängen, Lampen und anderen Dingen ausgestattet

waren, deren Gebrauch mir nicht bekannt war. Ich war

überzeugt, daß die Bewirtschaftung dieser Gemächer

unzählige Bedienstete, Sklaven und Laufburschen

erforderte, aber wir erblickten keinen Menschen. Dann führte uns Paccius wieder ins Freie, in einen von Säulen

umgebenen Innenhof in der Mitte des Gebäudes. Dort lag natürlich Schnee, und es wuchs und blühte noch nichts. Auf einer mit Fliesen belegten Terrasse ging ein Mann auf und ab. Er schien tief in Gedanken versunken, denn er rang im Gehen die Hände, ähnlich wie es der syrische

Sklavenhändler getan hatte.

Seine Haare waren weiß, und sein von der Sonne

gebräuntes, glattrasiertes Gesicht war faltig, doch er ging aufrecht und sah für sein Alter kräftig aus. Er trug keine Uniform, sondern ein elegantes langes Gewand aus feinster Mutina-Wolle, das mit Pelz besetzt war. Als er uns sah, erhellte sich sein Gesicht und er eilte auf uns zu und rief:

»Caius Uiridus! Salve, salve!«

»Salve, Clarissimus Galidius«, antwortete Wyrd, und beide ergriffen mit der rechten Hand das rechte Handgelenk des anderen.

»Ich werde Mithras eine Kerze anzünden«, sagte Calidius,

»weil er uns in dieser Zeit schrecklichen Unheils dich alten Krieger schickt.«

»Ich wüßte nicht, womit ich diese Gunst verdient hätte«, sagte Wyrd trocken. »Was ist los, Legat?«

Calidius befahl Paccius zu gehen und sagte dann, ohne

Notiz von mir zu nehmen: »Die Hunnen haben eine Römerin und ihr Kind entführt. Sie halten sie gefangen und verlangen für ihre Herausgabe Unmögliches von mir.«

Wyrd verzog das Gesicht. »Was immer du auch als

Lösegeld bezahlst, du erwartest doch nicht ernstlich, daß die Geiseln wirklich freikommen?«

»Nein, daran glaubte ich nicht im entferntesten - bis ich hörte, daß du vor dem Tor stehst, alter Kamerad.«

»Dein Kamerad ist tatsächlich alt und grau. Ich kam nur hierher, um einige Bärenfelle zu verkaufen und...«

»Warte! Du brauchst dich nicht mit den Händlern von

Basilia herumzuärgern. Ich persönlich werde dir alles

abkaufen, was du bei dir trägst, und zu jedem Preis, den du verlangst. Ich will, daß du diese Hunnen aufstöberst und die Frau und ihr Kind rettest.«

Wyrd schüttelte den Kopf. »Ich töte jetzt nur noch Bären, Calidius, keine Hunnen mehr.«

»Bitte höre mich zuerst an. Die Frau heißt Placidia. Ihr sechsjähriger Sohn, mir zu Ehren Calidius genannt, mußte mit seinem Pony zum Hufschmied. Die beste Schmiede von Basilia liegt weit draußen am Stadtrand, doch der kleine Calidius wollte selbst hinreiten und bei der Arbeit zusehen.

Placidia, die hochschwanger ist, bestand eigensinnig darauf, ihren Sohn zu begleiten. Die beiden machten sich auf den Weg, begleitet von nur vier Haussklaven, die den Tragstuhl trugen, in dem sie saßen, und einem Stallsklaven, der das Pony führte, ohne jeglichen militärischen Schutz. Die

Hunnen müssen vor der Stadt auf genau diese Gelegenheit gewartet haben. Sie überfielen die kleine Kolonne,

erschlugen die Sklaven, die den Stuhl trugen, und

verschwanden mit der Sänfte. Der überlebende Sklave kam mit dem Pony hierher zurück und überbrachte die

schreckliche Nachricht.«

»Natürlich hast du ihn töten lassen.«

»Das wäre zu barmherzig gewesen. Er wird den Rest

seines Lebens in einer Mühle Korn mahlen, die von den

Sklaven lebendige Hölle‹genannt wird. Lebenslänglich

bedeutet bei dieser Arbeit angesichts der erdrückenden Hitze und des erstickenden Staubes allerdings nicht lang.

Zwei Tage später kam ein Hunne mit einer weißen Fahne zu uns, der etwas Latein sprach. Er teilte mir mit, daß Placidia und der kleine Calidius gefangengenommen worden seien

und noch lebten. Sie sollten auch weiterhin leben, versprach er, wenn ich ihn unversehrt zu seinen Leuten zurückkehren lassen und ihm freies Geleit zusichern würde, damit er die Forderungen seiner Kameraden an mich überbringen könne.

Nun, ich gab ihm das Versprechen, und er kehrte zwei Tage später zurück und überbrachte eine Liste mit Forderungen: Verpflegung, Pferde und Sättel, Waffen - ich brauche nicht alles aufzuzählen. Es genügt zu sagen, daß diese

Forderungen für mich unerfüllbar sind. Ich sagte ihm, ich brauche Zeit, um zu entscheiden, ob die Geiseln den

verlangten Preis wert sind, und würde ihm in drei Tagen Antwort geben. Morgen wird der gelbe Hund wieder hier

sein. Du kannst nun sicher verstehen, warum ich so

verzweifelt bin und deine Ankunft mich so freute und

warum...«

»Nein, das verstehe ich nicht«, unterbrach ihn Wyrd.

»Vergib mir, Calidius, wenn ich alte Wunden öffne, doch als dein Sohn Junius damals im Kampf gegen Attilas Hunnen

auf den Katalaunischen Feldern fiel, hast du uns anderen Soldaten befohlen, nicht um ihn zu trauern. Eine Armee, so sagtest du, könne den Tod eines Soldaten verschmerzen.

Dabei war es dein eigener Sohn. Warum nun wegen einer

leichtsinnigen Frau und ihres unglücklichen Kindes...«

»Ich hatte und habe noch einen Sohn, den jüngeren

Bruder des Junius. Er dient hier unter meinem Befehl.«

»Optio Fabius, ich weiß, ein feiner Kerl.«

»Nun, die eigensinnige Placidia ist seine Gemahlin und meine Schwiegertochter. Ihr kleiner Sohn und das Kind, das sie trägt, sind meine einzigen Enkel. Wenn sie überleben...

nein, sie müssen überleben, denn sie sind meine letzten Nachkommen.«

»Jetzt verstehe ich«, murmelte Wyrd und machte nun ein so besorgtes Gesicht wie der Legat. »Fabius hat sich sicher gleich an die Fersen der Hunnen geheftet und dabei den Tod gefunden.«

»Sicher, hätte ich ihn nicht mit einer List ins Gefängnis gelockt und einsperren lassen. Er ist immer noch dort und schäumt vor Wut - auf mich und die Hunnen.«

»Dann verstehe ich wieder nicht, warum du so verzweifelt bist«, sagte Wyrd. »Ich will nicht herzlos erscheinen, aber ich weiß, daß ein Mann den Verlust einer Frau bewältigen kann, ja, daß er sie mit der Zeit vielleicht sogar vergißt. Auch eine Frau wie Placidia. Fabius ist noch jung, und es gibt viele andere Frauen wie sie. Und Kinder sind schnell

gemacht. Dein Geschlecht muß nicht aussterben, Calidius.«

Der Legat seufzte. »Genau das habe ich ihm auch gesagt, und ich war froh über die Gefängnisstäbe zwischen uns.

Nein, aus irgendeinem Grunde ist Fabius wie besessen von dieser Frau; er liebt den kleinen Calidius abgöttisch und erwartet voll Ungeduld die Geburt seines zweiten Kindes. Er schwört, daß er sich bei der nächsten Gelegenheit in sein Schwert stürzen wird, wenn er sie verliert. Ich weiß, daß er es ernst meint. Er ist mein Sohn. Ich muß die Geiseln

zurückbekommen.«

»Und ich soll sie dir holen«, sagte Wyrd barsch. »Welchen Beweis hast du, daß der Hunne die Wahrheit spricht und sie noch am Leben sind?«

»Er hat jedesmal einen Beweis mitgebracht.« Der Legat

seufzte wieder, griff in eine Tasche seines Gewands, holte zwei weiße, schlaffe Gegenstände heraus und reichte sie Wyrd. »Er brachte jedesmal einen Finger von Placidias

Hand mit.«

Ich wandte mich ab, um mich nicht zu erbrechen. Während Wyrd die Finger untersuchte, sagte der Legat mehr zu sich selber als zu uns: »Für jeden dieser Finger habe ich

persönlich dem nichtswürdigen Sklaven in der Mühle zwei Finger abgeschnitten. Wenn sich die Verhandlungen über das Lösegeld noch länger hinziehen, muß er den Mühlstein bald mit den Ellbogen drehen.«

»Beides sind Zeigefinger«, murmelte Wyrd. »Diesen

brachte er zuerst, nicht wahr? Und diesen bei seinem letzten Besuch. Er wurde vor nicht allzu langer Zeit abgeschnitten.

Ja, es stimmt, vor zwei Tagen lebte die Frau noch. Calidius, laß den Sklaven herbringen, sofort, bevor du ihn noch mehr verstümmelst.«

Der Legat rief nach Paccius, und der Soldat eilte im

nächsten Augenblick aus einer entfernten Ecke des

Gebäudes herbei, wo er Posten bezogen hatte, und

verschwand genauso schnell wieder, nachdem er den Befehl erhalten hatte.

»Eines weiß ich über die Hunnen«, sagte Wyrd, während

wir warteten. »Sie sind sehr ungeduldig. Es ist möglich, daß einige von ihnen am Stadtrand herumlungerten, in der

Hoffnung, irgend jemanden aufzugreifen. Aber es wäre nicht ihre Sache, lange zu warten, bis zufällig die Person

vorbeikommt, mit der sie Calidius am besten erpressen

können. Sie müssen gewußt haben, auf wen sie warteten

und wann die betreffende Person erscheinen würde. Es

macht mich mißtrauisch, daß einer der fünf den Zug

begleitenden Sklaven wie durch ein Wunder entkam.«

»Mithras sei Dank«, knirschte der Legat, »daß ich den

Elenden noch nicht getötet habe.«

Paccius kam mit zwei Wachen zurück, die den Sklaven

zwischen sich führten, so daß er halb rannte, halb stolperte.

Er war stämmig und hellhäutig, doch er zitterte, und Angst stand ihm in den Augen, und außer einem Lendentuch und schmutzigen, blutigen Bandagen an den Händen trug er

nichts. Als der Mann vor uns geführt wurde, zuckten die Hände des Legaten, als wolle er ihm an die Gurgel springen.

Doch Wyrd sprach den Sklaven mit ruhiger Stimme auf

Gotisch an: »Erbärmlicher, ich weiß alles. Wenn du es

zugibst, verspreche ich dir, dich aus der Mühle zu befreien.«

Als Wyrd ins Lateinische übersetzte, was er gesagt hatte, drang ein erstickter Laut aus der Brust des Legaten. Wyrd gebot ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen. Dann

fuhr er fort: »Wenn du es nicht zugibst, verspreche ich dir, daß du dich nach dem Mahlstein zurücksehnen wirst.«

»Ihr wißt alles?« krächzte der Sklave.

»Ja«, sagte Wyrd gleichgültig, als ob das tatsächlich der Fall wäre. »Ich weiß, daß du während eines früheren

Besuchs in der Schmiede am Stadtrand von Basilia einen dort herumstreunenden Hunnen getroffen hast. Du hast die hunnischen Verschwörer verständigt, als Placidia und ihr Sohn sich auf den Weg zur Schmiede machten. Du hast ihr versichert, es bestehe keine Gefahr, und sie so in Sicherheit gewiegt, daß sie auf die Begleitung einer Schutztruppe verzichtete. Du hast feige zugesehen, wie deine Kameraden versuchten, die Hunnen mit bloßen Händen abzuwehrejn,

und wie sie meuchlings ermordet wurden.«

»Ja, Fräuja«, murmelte der Sklave. Obwohl es im Garten kühl war, schwitzte er plötzlich. »Ihr wißt alles.«

»Alles bis auf zwei Dinge«, sagte Wyrd. »Einmal: Warum hast du es getan?«

»Diese gelben Hunde haben mir versprochen, daß sie

mich mitnehmen würden, daß ich als freier Mensch bei ihnen leben könnte. Doch als sie hatten, was sie wollten, lachten sie mich aus und sagten, ich solle verschwinden und froh sein, daß sie mich laufen ließen. Mir blieb nichts anderes übrig, als hierher zurückzukehren und so zu tun, als gehöre ich selbst zu den Opfern.« Er sah den vor Rachegelüsten schäumenden Legaten angstvoll von der Seite an. »Und das bin ich ja auch, oder?«

Wyrd schnaufte nur verächtlich. »Was ich noch wissen

wollte: Wohin haben sie die Frau und den Knaben

gebracht?«

»Ich habe keine Ahnung, Fräuja.«

»Wo ist ihr Lager, ihre Höhle, ihr Versteck? Es kann nicht weit von hier sein, wenn sie schon so lange hier in der Gegend sind. Außerdem mußten sie einen schweren

Tragstuhl schleppen.«

»Ich weiß es wirklich nicht, Fräuja. Wenn die Hunnen mich mitgenommen hätten, wie versprochen, wüßte ich es. So

nicht.«

»Ich versichere dir, du Einfaltspinsel, du wärst nicht weit gekommen. Doch du hast mit den Hunnen verhandelt.

Wurde nie ein bestimmter Ort erwähnt, eine Richtung?«

Der Sklave runzelte die Stirn und schwitzte wieder, als er angestrengt nachdachte, doch schließlich sagte er nur: »Hin und wieder zeigten sie in die Richtung, in der die Hrau Albos liegen, doch mehr weiß ich nicht, ich schwöre es, Fräuja.«

»Ich glaube dir«, seufzte Wyrd. »Die Hunnen sind viel

schlauer und vorsichtiger als du, Einfältiger.«

»Haltet Ihr jetzt Euer Versprechen?« fragte der Sklave kläglich.

Wyrd nickte. Daraufhin wollte der Legat sich brüllend auf den Sklaven werfen und ihn erwürgen. Wyrd hatte damit

gerechnet. Geschickt schwang er sein Messer, stieß es

knapp oberhalb des Lendentuchs in den Unterleib des

Sklaven und riß ihm den Bauch auf, bis die Klinge gegen das Brustbein stieß. Die Augen des Sklaven und seine

Eingeweide traten zur gleichen Zeit heraus, und er fiel ohne einen Laut tot in die Arme der Wachen, die ihn hielten.

Paccius brachte sie und den Leichnam aus dem Garten.

Der Legat sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Beim

Styx, Uiridus, warum hast du das getan?«

»Ich hielt nur mein Versprechen. Ich versprach ihm, ihn aus der Mühle zu befreien.«

»Das hätte ich auch getan, nur hätte ich mir mehr Zeit gelassen. Doch egal, der Kerl hat uns nichts Nützliches erzählt.«

»Nichts«, stimmte Wyrd zu. »Ich warte hier, bis der Hunne eintrifft. Wenn er wieder geht, verfolge ich ihn. Sag ihm, daß du alle seine Forderungen erfüllst, Calidius, dann wird er auf dem kürzesten Weg zu seinen Leuten zurückkehren.«

»Und was willst du dann tun?«

»Bei den Füßen der Furien, woher soll ich das wissen? Ich muß erst darüber nachdenken.«

»Ich gebe dir alles, was du brauchst: Soldaten, Pferde, Waffen...«

»Du kannst mir nicht alles geben, was ich brauche. Nicht einmal der Kaiser könnte das. Ich brauche die Tarnkappe des Alberich und das unfehlbare Glück des Arion. Ich muß wie die Hunnen eine heimliche Entführung vorbereiten. Doch ich kann nicht mit einer hochschwangeren, verletzten Frau durch den Wald fliehen. Zu Fuß oder zu Pferd, ich würde bald eingeholt werden.«

Der Legat überlegte lange und sagte dann: »Was ich jetzt vorschlage, klingt herzlos, Uiridus: Kannst du wenigstens den kleinen Calidius retten?«

»Ja, das wäre sicherlich ein weit realistischeres

Unterfangen und auch erfolgversprechender. Du sagtest, er sei sechs Jahre alt? Dann müßte er mit mir Schritt halten können. Dennoch, es ist keine leichte Aufgabe, einen

kleinen Jungen aus einem Lager zu entführen, das gut

bewacht ist.«

Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann sprach ich. Zum

ersten Mal sagte ich etwas unaufgefordert, und ich sagte es leise, weil mir alles andere als wohl dabei zumute war. Ich sagte nur ein einziges Wort: »Austauschen.«

Beide Männer drehten sich um und starrten mich erstaunt an, als ob ich plötzlich zwischen den Fliesen zu ihren Füßen dem Boden entsprossen sei. Ich glaube nicht, daß sie mich anstarrten, weil ich wie sie Lateinisch sprach oder wegen meiner Vermessenheit, überhaupt den Mund aufzutun,

sondern weil sie gespannt darauf waren, was ich als

nächstes sagen würde. Ich sagte: »Tauscht ihn heimlich gegen einen der Charismaten aus.«

Die beiden Männer schwiegen immer noch. Dann

wechselten sie einen Blick.

»Bei Mithras, eine geniale Idee«, sagte der Legat zu Wyrd.

»Wer von Euch beiden ist der Lehrling?«

»Bei Gott, der Junge lernt schnell«, sagte Wyrd stolz.

Der Legat fragte mich: »Ich habe die Kastraten des

Sklavenhändlers nicht gesehen. Ist einer dabei, der uns dienen könnte?«

»Zwei oder drei scheinen das rechte Alter zu haben,

Clarissimus«, antwortete ich. »Entscheiden müßt Ihr selbst, ob einer davon Eurem Enkel ähnlich sieht. Der Syrer brachte sie vorhin in die Bäder, doch inzwischen sind sie sicher wieder zurück.«

»Das glaube ich kaum«, sagte der Legat. Und er fügte

nicht unfreundlich hinzu: »Anscheinend warst du noch nie in einem römischen Bad, Junge, wenn du überhaupt weißt,

was ein Bad ist.«

Wyrd schnaubte. »Zahlt man eine rettende Idee mit einer Beleidigung heim, Calidius? Der Junge ist sehr reinlich. Man hat uns nur kein Bad nehmen lassen, seit wir hier sind.«

»Verzeih mir, Thorn«, sagte der Legat. »Auch ich könnte heute ein zusätzliches Bad vertragen, nachdem ich mit

diesem schmutzigen Sklaven reden mußte. Wir wollen uns sofort zu den Bädern begeben. Paccius wird wissen, in

welches der Syrer gegangen ist.«

Im Bad angelangt, wurde mir schnell klar, warum Calidius sich so sicher war, daß der Syrer und seine kleinen

Eunuchen noch dort waren. Ein römisches Bad ist ein

langwieriges Ritual, für das man viel Zeit braucht.

Im Auskleidezimmer legten Calidius, Wyrd und ich unsere Kleider ab. Jeder wurde von einem Sklaven bedient. Bevor wir das Bad begannen, eilten wir jedoch zuerst in einen anderen Raum, in dem die Charismaten nackt und wendig

und glatt wie die Wassermolche und genauso

geschlechtslos vergnügt in einem Becken planschten.

Der Legat warf einen Blick auf sie und sagte dann leise:

»Der Junge dort drüben, der versucht, den Syrer mit Wasser zu bespritzen, ist ungefähr so alt und so groß wie mein Enkel. Nur hat er dunkle Haare, und der kleine Calidius ist blond. Auch die Gesichtszüge stimmen nicht überein.«

»Das macht nichts«, beruhigte ihn Wyrd. »Für die Hunnen sehen wir aus dem Westen alle gleich aus, wie umgekehrt alle Hunnen für uns gleich aussehen. Befehle sofort einem Sklaven, das Haar des Jungen zu bleichen. Mehr ist nicht notwendig.«

Der Legat hob den Arm, um einen Sklaven zu rufen, und

das erregte die Aufmerksamkeit des Syrers. Eilig kam er um das Schwimmbecken herumgetrippelt, verbeugte sich vor

uns, scharrte mit den Füßen und sagte: »Aha, Clarissimus Magister, Ihr habt gewartet, bis Ihr meine reizenden kleinen Knaben so sehen konntet, wie man sie sehen sollte: nackt, verlockend und unwiderstehlieh. Darf ich davon ausgehen, daß Ihr Euer erlauchtes Herz bereits an einen der Knaben verloren habt?«

»Ja«, sagte der Legat kurz. Dem Sklaven, der vor ihm

kniete, befahl er: »Den da!« Er zeigte auf den Jungen. Der Sklave holte das Kind aus dem Schwimmbecken.

»Bravo!« rief Natquin und klatschte begeistert mit den Händen. »Der Legat hat wahrhaftig einen erlesenen

Geschmack! Ausgerechnet den kleinen Becga, den ich gern für mich selbst behalten hätte. Er sieht fast aus wie ein Mädchen, nicht? Clarissimus, es wird mir das Herz brechen, mich von Becga trennen zu müssen. Doch Euer getreuer

Diener wird Eure Wahl nicht beanstanden. Statt dessen

werde ich in Bewunderung Eures trefflichen Geschmacks

einen besonders günstigen Preis festsetzen...«

»Schweig, du widerlicher Kuppler«, sagte der Legat

barsch. »Ich kaufe ihn nicht, ich beschlagnahme ihn!«

Der Syrer schnappte nach Luft und stammelte: »Quid?...

Quidnam?...«

»Im Krieg habe ich das Recht, kraft Sondervollmacht

Privatbesitz zu konfiszieren. Ich beschlagnahme den

Charismaten.«

Der Junge stand nun triefend vor uns, und es war

offensichtlich, daß derjenige, der ihn einst verstümmelt hatte, sehr kundig vorgegangen war. Dort, wo sich einst seine Geschlechtsteile befunden hatten, war nur noch ein

Grübchen. Ängstlich starrte er uns an.

»Nimm ihn mit und bleiche sein Haar«, befahl Wyrd dem

Sklaven. »Der Legat sagt dir, wann es hell genug ist.«

Nun ließen wir uns einölen, schwitzten im Dampfbad und lagen in Becken mit unterschiedlich heißem Wasser. Wir badeten nicht besonders lange, aber irgendwie hatten die Bädersklaven es geschafft, in der kurzen Zeit alle unsere Kleider zu waschen und zu trocknen. Sogar mein Schaffell und Wyrds schwerer Umhang aus Bärenfell waren von

verklumptem Dreck, Blut und abgerissenen Zweigen und

Blättern gesäubert. Mein Schaffell war wieder weiß, Wyrds Bärenfell glänzte, und Wyrds zuvor verfilzte Haare und sein Bart waren so flaumig weich wie Löwenzahnsamen.

Paccius erwartete uns am Ausgang des

Auskleidezimmers. Bei ihm waren der Sklave und dessen

Schützling Becga. Der kleine Eunuche war immer noch

nackt, sah jedoch nicht mehr so verängstigt aus. Er hielt einen Spiegel in der Hand und betrachtete lächelnd sein Spiegelbild. Seine Haare, die einst braun gewesen waren, schimmerten nun wie blasses Gold, ähnlich wie meine

eigenen.

Der Legat rührte den Jungen nicht an, doch er befahl dem Sklaven, den Kopf des Jungen in diese und jene Richtung zu drehen. Dann sagte er: »Ja, die Farbe stimmt ungefähr. Gut gemacht, Sklave. Paccius, bring den Jungen in Fabius'

Gemächer. Er soll die Kleider des kleinen Calidius anlegen, sie müßten ihm eigentlich genau passen. Dann bring ihn wieder her.«

Paccius salutierte, doch bevor er gehen konnte, fragte Wyrd: »Paccius, hat der Garnisonskoch etwas zu essen da?

Ich könnte einen Auerochsen mit Haut und Haar

verschlingen.«

»Komm mit, Uiridus«, sagte daraufhin der Legat. »Du

darfst nicht mit den gemeinen Soldaten essen. Da Ihr nun etwas menschlicher ausseht und riecht, werdet Ihr beide mit mir speisen.«

Und so kam es, daß ich im prächtigen Speisesaal der Villa des Calidius zum erstenmal auf römische Art speiste. Es war das erste Mal, daß ich in liegender Position, nur auf einen Ellbogen gestützt, meine Mahlzeit einnahm.

Als wir beim Nachtisch angelangt waren, meldete ein

Diener, Paccius warte draußen. Der Legat ließ ihn eintreten.

Paccius brachte den kleinen Charismaten mit, der nun

vollständig angezogen war und die schönsten Kleider trug, die ich je an einem Kind gesehen hatte: eine hellblaue, am Saum mit Blumen bestickte Leinentunika, weiche gelbe

Lederstiefeletten und über der Tunika einen tiefroten

wollenen Mantel, der an einer Schulter mit einer silbernen Fibel festgesteckt war.

Der Legat blieb liegen und kaute weiter, während er das Kind in aller Ruhe musterte. Dann gab er mit einem kurzen Nicken zu verstehen, daß er einverstanden war, und er

bedeutete Paccius mit einer Geste, den Jungen wieder

hinauszuführen. Erst als die beiden den Raum wieder

verlassen hatten, schluckte er laut. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust, und er sagte fast wehmütig: »Das hätte

beinahe mein verlorener Enkel sein können.«

»Warum behältst du ihn dann nicht hier?« fragte Wyrd.

»Statt mich und den echten Calidius einer tödlichen Gefahr auszusetzen?«

»Was?« rief der Legat entsetzt, »einen Eunuchen?« Dann begriff er, daß Wyrd nur scherzte. »Ich finde deinen Humor nicht besonders spaßig, Uiridus. Doch da wir schon davon sprechen: Sag mir, wie du es anstellen willst, die Kinder auszutauschen.«

»Ich habe dir schon gesagt, daß ich es noch nicht weiß und daß ich darüber erst nachdenken muß. Beim Essen

kann ich nicht nachdenken. Das beeinträchtigt den Appetit und die Verdauung.«

»Aber wir müssen uns vorbereiten und einen Plan

entwerfen. Der Hunne ist in wenigen Stunden hier. Weißt du wenigstens, wieviele Männer du brauchst?«

»Ich brauche einen Helfer. Aber ich werde niemanden

bitten, Selbstmord zu begehen.«

Wieder meldete ich mich zu Wort. »Ihr braucht mich nicht zu bitten, Fräuja. Ich gehe mit Euch.«

Wyrd nickte mir bestätigend zu und wandte sich wieder an den Legaten. »Sonst brauche ich niemanden.«

»Vielleicht nicht. Aber ich würde dir gern noch jemanden mitgeben. Meinen Sohn Fabius.«

»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Wyrd grob. »Ich versuche zu verhindern, daß deine Familie ausstirbt, und ich habe keine große Hoffnung, daß mir das gelingt. Sollte ich scheitern, stirbt mit mir jeder, der dabei ist. Auch Fabius. Und damit würde deine Familie endgültig aussterben. Diese Aufgabe verlangt Intelligenz, Geduld und List. Ein Mann, der vor Verzweiflung außer sich ist...«

»Fabius war römischer Soldat, ehe er heiratete, und er ist es noch heute. Wenn ich ihn unter deinen Befehl stelle, gehorcht er dir. Stell dir doch vor, Uiridus, was du an seiner oder meiner Stelle tun würdest. Was das Risiko angeht, sein Leben und unsere Familie aufs Spiel zu setzen, so habe ich dir bereits gesagt, daß Fabius sowieso nicht mehr leben will, wenn dieses Unternehmen scheitert. Laß ihn daran

teilnehmen und gib ihm die Chance, durch ein anderes

Schwert zu sterben als sein eigenes.«

Wyrd rollte mit den Augen. »Ich erinnere mich, daß Fabius ein tapferer Bursche war. Darf ich mich davon überzeugen, daß er es noch ist?«

Der Legat befahl einem Diener, seinen Sohn zu holen,

aber ohne ihm die Fesseln abzunehmen. Wir waren gerade mit dem Nachtisch fertig, als wir das Geklirr von Rüstungen und das Getrampel vieler Schritte hörten. Einen Augenblick später erschien ein junger Mann in der Tür, unverkennbar der Sohn des Legaten. Er war zur Schlacht gerüstet und trug den Helm unter dem einen Arm, den Helmbusch unter dem

anderen, doch an den Handgelenken hatte er Handschellen, und an den Handschellen hingen Ketten, die von zwei

Soldaten mit festem Griff gehalten wurden.

»Salve, Optio Fabius«, begrüßte Wyrd ihn freundlich.

»Uiridus?« fragte der junge Mann ungläubig, vielleicht, weil er Wyrd nie zuvor sauber und gebadet gesehen hatte.

»Salve, Uiridus. Was tust du hier?«

»Mein Begleiter Thorn und ich bereiten ein Unternehmen gegen die Hunnen vor, die deine Frau und deinen Sohn

festhalten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß wir alle dabei sterben. Doch dein Vater hat gesagt, du möchtest vielleicht mit uns sterben.«

»Vielleicht?« keuchte Fabius hervor. »Ich verbiete euch, ohne mich zu gehen!«

»Ich werde dein Anführer sein. Du mußt jedem meiner

Befehle...«

»Kein Wort mehr, Uiridus!« rief Fabius. Mit einem Ruck riß er die Ketten hoch, so daß die Wachen neben ihm fast

umfielen, steckte den ausladenden Helmbusch aus Roßhaar auf seinen Helm und stülpte sich den Helm auf. »Offizier Fabius von der elften Legion zum Abmarsch bereit!«

»Jesus«, murmelte Wyrd halblaut, »das ist mir ein

römischer Soldat.« Und mit beißender Ironie sagte er zu dem jungen Mann: »Und du hast keine Trompete dabei, um zum Abmarsch zu blasen? Geh jetzt, Dummkopf, und leg

deinen Putz ab. Morgen ziehst du dich so an wie wir. Ich lasse dich rechtzeitig rufen.«