nachgelassen... Weißt du überhaupt, daß ich heute noch gar keine Alraunwurzeln nehmen mußte?«
Ich lächelte und gratulierte ihr. »Ich hatte gedacht, daß du vielleicht deshalb soviel rosiger und glücklicher aussiehst, weil die Bäder deinen Körper so aufheizen. Doch habe ich außerdem auch den Eindruck, daß das Geschwür an sich
kleiner und weniger bösartig wirkt als zuvor.«
Ich war auch der Meinung, daß die offene Wunde eine
Spur kleiner geworden sei und sich durch die
adstringierende Wirkung des Wassers etwas
zusammengezogen habe. Amalamenas eigentümlicher
Krankheitsgeruch hatte sich jedoch nicht merklich verringert.
Trotzdem entschloß ich mich, Daila am nächsten Morgen
mitzuteilen, daß wir alle noch ein paar Tage länger in Pautalia bleiben würden, einfach um abzuwarten, ob sich der Zustand der Prinzessin weiterhin verbessern würde. Auf jeden Fall begab sie sich gemeinsam mit mir in so fröhlicher Stimmung zu Bett wie schon lange nicht mehr. Und mitten in dieser Nacht geschah dann das Unvorhergesehene.
»Saio Thorn!« ertönte eine laute Stimme außerhalb
unseres Quartiers. Ich war sofort wach und registrierte, daß der Morgen schon graute. Fast im selben Moment war ich auch schon aus dem Bett gesprungen und beeilte mich, in Thorns Kleidung und Rüstung zu kommen.
»Ich komme, Daila!« schrie ich zurück, da ich seine
Stimme erkannt hatte. Wahrend ich einen meiner Stiefel mit der einen Hand anzog, tastete ich mit der anderen unter der Matratze nach dem gefalteten Pergament, um es unter
meine Tunika zu stecken. Es war nicht da. Höchst erstaunt und schlagartig hellwach schlug ich die Matratze an dieser Seite ganz zurück, um genau nachzusehen. Die Rolle war nirgends zu sehen.
»Amalamena!« keuchte ich. Sie saß aufrecht im Bett,
ebenso aufgeregt wie ich, und preßte die Decke an ihre nackten Brüste. »Das Pergament! Hast du es genommen?
Irgendwo anders hin getan?«
Sie sagte schwach: »Ne, ich nicht.«
»Dann zieh dich bitte auch an, mit Swanildas Kleidung.
Wenn unsere Manner weit genug weg sind, so daß sie dich nicht erkennen können, trittst du einen kurzen Moment als Kammerzofe auf.«
Ich wartete die Antwort nicht ab, sondern stülpte den Helm über mein' zerzaustes Haar und stürzte aus der Tür, immer noch an verschiedenen Verschlüssen meiner Kleidung
nestelnd. Draußen erwartete mich der Optio bereits mit finsterem Blick, doch hielt er - gottlob - das purpurversiegelte Pergament in der Hand. Er war nicht allein. Einige unserer Krieger standen bei ihm und zwei weitere stützten einen, der so wirkte, als sei er ohnmächtig oder verletzt.
»Saio Thorn«, grüßte Daila mich mürrisch. »Falls du mit einem offenen Auge schläfst, empfehle ich dir, ihm etwas Ruhe zu gönnen und zur Abwechslung einmal das andere
Auge zum Einsatz zu bringen.«
Es war kaum der Moment, ihn wegen mangelnder
Ehrerbietung gegenüber einem Vorgesetzten zu tadeln. Ich konnte ihn nur ziemlich zerknirscht fragen: »Wie kam es, daß das Ding gestohlen wurde?«
»Ein Verräter mitten unter uns.« Daila zeigte auf den
Mann, der schlaff zwischen den beiden anderen hing. Sein Gesicht war so entstellt, grün und blau geschlagen und blutig, daß es einen Moment dauerte, bis ich ihn als einen meiner beiden Bogenschützen erkannte. Der Optio führte mich ein Stück von der Gruppe weg, um sich vertraulich mit mir zu unterhalten.
»Unsere anderen Wachposten sind immer noch loyal. Sie
nehmen ihre Aufgabe sehr ernst und halten beide Augen
offen. Sie sahen ihn, wie er verstohlen in die Gemächer der Prinzessin schlich und wieder herauskam. Dann nahmen sie ihn in Gewahrsam, bevor er die Siegel aufbrechen und
feststellen konnte, daß er eine wertlose Imitation entwendet hatte.«
Ich nahm das zwar mit Erleichterung zur Kenntnis, war
aber doch erschrocken - und das in doppelter Hinsicht. Nicht nur daß mein persönlicher Wächter versucht hatte, den Plan zu vereiteln, bei dessen Ausarbeitung ich mir so große Mühe gegeben hatte. Ihm mußte jetzt auch klar sein, daß ich, Saio Thorn, nicht derjenige war, der ich schon so lange zu sein vorgab. Er hatte die Rolle direkt unter meinem schlafenden Kopf hervorgezerrt. Selbst in der Dunkelheit mußte ihm aufgefallen sein, daß Saio Thorn und das Chasar-Dienstmädchen ein und dieselbe Person waren. Nun, mich traf genausoviel Schuld wie den Dieb. Das Verhältnis
zwischen den Schwestern Amalamena und Veleda war so
intim und vertraut geworden, daß ich mir gestattet hatte, auf unverantwortliche Weise bequem und selbstgefällig zu
werden. Nun waren also sowohl Thorn als auch Veleda in Gefahr, demaskiert und öffentlich gebrandmarkt, schließlich noch bestraft oder vertrieben oder sogar vernichtet zu werden. Immerhin hatte Daila sich noch nicht zu diesem Thema geäußert, und er hatte mich auch noch nicht fragend oder befremdet gemustert - bis auf den verständlichen, mißbilligenden Blick, den er mir zugeworfen hatte -, deshalb zeigte ich mich auch nur über den Diebstahl äußerst
betroffen.
»Was könnte einen Ostgoten dazu bewegen, sich so zu
erniedrigen, daß er seinen eigenen König, sein eigenes Volk und seine eigenen Landsleute verrät?«
Der Optio bemerkte trocken: »Wir haben ihm diese Frage auch gestellt und, wie du sehen kannst, sehr nachdrücklich.
Er gestand schließlich, daß er sich in dem Gästehaus in Konstantinopel in eines der Chasar-Mädchen verliebt hatte.
Sie verleitete ihn zu diesem Verrat.«
Ein weiterer Punkt, dachte ich bei mir, für den ich
mitverantwortlich war, weil ich es gewesen war, der die beiden Bogenschützen aufgefordert hatte, sich im Haus
niederzulassen statt draußen auf dem Vorhof mit ihren
Leuten.
Ich seufzte: »Ich war beklagenswert nachlässig.«
Daila konnte sich nicht enthalten, knurrend zuzustimmen:
»Javvaüa!«
»Ich nahm als selbstverständlich an, daß alle Bediensteten des Xenodokheion Spione seien. Es kam mir nie in den
Sinn, daß sie einen meiner eigenen Leute auf ihre Seite ziehen könnten.«
»Und noch dazu für eine so gemeine Sache«, grollte der Optio. »Aus Liebe, der Gipfel der Geschmacklosigkeit! Aus Liebe zu einer Gästehauseinrichtung, die schon von
unzähligen Gästen zuvor benutzt wurde. Der Tod eines
Kriegers wird ihm ganz sicher nicht gewährt werden.« Daila ging hinüber zu dem zusammengesunkenen Mann und
versetzte seinem baumelnden Kopf einige harte Schläge.
»Wach auf, du erbärmliches Nichts! Wach auf, damit du
gehängt werden kannst!«
»Er hat es natürlich verdient«, sagte ich. »Laß uns jedoch kein großes Schauspiel daraus machen, das die
Einheimischen hier in Erstaunen versetzt und sie darauf aufmerksam macht, daß wohl in unseren Reihen
Unstimmigkeit herrscht. Ne, Optio. Wir wollen ihn schnell töten, ihn zu den Gepäckstücken auf einen unserer Lasttiere packen und seinen Leichnam dann an einem unbewohnten
Ort auf unserem Weg zurücklassen.«
Daila murrte ein wenig, sagte aber schließlich: »Ja, du hast recht.« Er legte die Hand an den Griff seines Schwerts.
»Willst du es tun, Saio Thorn, oder ich?«
»Halt ein«, sagte ich, weil mir plötzlich ein
besorgniserregender Gedanke durch den Kopf schoß, und
nahm ihn nochmals zur Seite. »Könnte es sein, daß der
Bogenschütze seiner Geliebten etwas von unserer vorab
entsandten Botin gesagt hat?«
»Ausgeschlossen. Weder er noch irgendein anderer Mann
außer dir und mir selbst wußte davon, Saio Thorn. Ich allein begleitete das Mädchen zum Stadttor. Und nun kann der
erbärmliche Verräter auch keinem mehr erzählen, daß wir lediglich einen gefälschten Vertrag bei uns haben.«
Die Tatsache, daß Daila mich als »Mann« bezeichnet
hatte, ermutigte mich zu fragen: »Hat er bei seinem
Geständnis noch von... irgend etwas anderem
gesprochen?«
Der Optio zuckte die Schultern. »Der Rest war sinnloses Gestammel. Ich fürchte, ich habe ihn zu oft und zu hart geschlagen.«
Als habe diese Bemerkung ihn geweckt, rührte sich der
geschwächte Gefangene und hob den Kopf. Er sah mich
und Daila mit seinem einen noch heilen Auge an, und dieses rote Auge richtete sich mit bösartigem Blick auf mich. Als er zu sprechen begann versprühte der Bogenschütze einen
Schwall Blut, und seine Sprache war infolge seiner
ausgeschlagenen Zähne und aufgesprungenen Lippen
undeutlich.
»Ihr! Ihr seid kein... kein Marschall... kein Krieger... nicht Thorn.« Er würgte, schluckte und versuchte erneut zu
sprechen. »Es gibt keinen Mann Thorn.«
»Seht Ihr?« sagte Daila. »Sinnloses Geschwätz.«
»Keinen Thorn... und die Prinzessin hat keine weibliche...«
An diesem Punkt hörte er abrupt zu sprechen auf, weil ich, mit einer einzigen Bewegung, mein Schwert aus der Scheide gezogen hatte, vorgetreten war und seine Kehle durchtrennt hatte.
Als der Tote weggezogen wurde, sagte der Optio: »Ich
bezweifle, daß er uns verlassen und das Pergament den
ganzen Weg zurück nach Konstantinopel bringen wollte. Er hätte sich klargemacht, daß wir ihm hinterherjagen und ihn einholen würden. Wahrscheinlicher ist, daß er die Rolle jemand anderem aushändigen wollte. Und da er sich bis
jetzt Zeit ließ, sie zu stehlen, hatte er wahrscheinlich vor, diesen Jemand hier in der Gegend zu treffen.«
»Das ist auch meine Meinung«, sagte ich. »Und wenn hier wirklich ein oder mehrere Feinde in der Gegend lauern, laßt uns schnell von hier aufbrechen. Dort drüben sehe ich
Amalamenas Chasar-Zofe, die eben ein paar Herbstblumen für ihre Herrin pflückt.« (Und, wie ich zufrieden bemerkte, dafür sorgte, daß die Blüten ihr Gesicht beschatteten.) »Die Prinzessin ist also auch auf den Beinen. Ich werde sie aber nicht abreisen lassen, bevor sie nicht ausgiebig gefrühstückt hat. Sorgt dafür, daß die Männer und Tiere auch satt
werden, und bereitet alle darauf vor, sofort danach
aufzubrechen.«
Ich erklärte Amalamena alles, als wir gemeinsam von dem Tablett aßen, das ich in ihr Quartier gebracht hatte, und es erfreute mein Herz, sie nun mit gutem Appetit essen zu sehen.
»Ich wäre gern noch länger hier geblieben«, sagte sie.
»Die Thermen scheinen mir auf höchst wundersame Weise
geholfen zu haben. Ich hatte heute morgen einen
Riesenappetit auf mein Frühstück. Doch wie du schon
sagtest, haben wir eine Mission zu erfüllen. Ich bin bereit und ich fühle mich kräftig genug, weiterzumachen.«
»Dann leg rasch deine königlichen Insignien für unsere heutige Tagesreise an«, sagte ich. »Doch ziehe heute
abend, sobald wir unser Lager aufschlagen, wieder
Swanildas Gewand an.« Ich zog aus meiner Tunika das
zurückgewonnene Pergament und sagte: »Heute nacht
klemme ich mir das wahrscheinlich zwischen die Zähne.«
Als der Zug sich formiert hatte und bereit zur Abreise war und die Pferde in Erwartung des Aufbruchs begierig
schnaubten, ritt der Optio von der Spitze des Trupps zurück zu der Stelle, wo ich neben Amalamenas Karosse auf Velox saß, und sagte:
»Es gibt zwei Straßen, die wir von hier aus nehmen
könnten, Saio Thorn. Der tote Verräter rechnete sicher damit, daß wir auf der Straße bleiben würden, auf der wir hierher kamen, auf der, die von hier in nordwestlicher Richtung geradewegs nach Naissus und anschließend nach Singidunum führt.«
»Ich verstehe, was du meinst. Sein Komplize - oder die Bande oder Horde von Komplizen - wird vermutlich auch
damit rechnen, daß wir auf dieser Straße Weiterreisen
werden. Ich danke dir für deinen Scharfsinn, Daila. Und die andere Straße?«
»Sie führt von hier aus nach Norden am Fluß Strymon
entlang, und in die Stadt Serdica.«
»Nun, Serdica liegt weitab von unserem Weg«, sagte ich.
»Doch werden wir diese Straße nehmen und so lange auf ihr bleiben, bis wir ein gutes Stück von hier weg sind. Dann hoffen wir darauf, auf eine andere Straße zu treffen, die in Richtung Westen abzweigt, und nehmen unseren früheren
Kurs wieder auf. Sehr gut. Gib das Kommando zum
Aufbruch, Daila.«
Wir schienen beinahe die einzigen Reisenden zu sein, die an diesem Tag die Straße entlang des Flusses benutzten; weder holten uns andere Reisegruppen ein, noch überholten wir welche, mit Ausnahme einiger Schweine-und
Schafherden und ihrer Viehtreiber. Aus diesem Grund
beschlich mich - ebenso wie den Optio Daila ein ungutes Gefühl, was die Sicherheit dieser besonderen Wegstrecke betraf, da die Landschaft uns auf beiden Seiten immer mehr einschloß. Wir befanden uns auf gebirgigem Gelände, durch das der Fluß Strymon einen tiefen, schmalen Engpaß
geschnitten hatte Da neben uns der Fluß war und unsere Straße, die an ihm entlangführte, von steilen Felsen
gesäumt war, fühlten wir uns auf unbehagliche Weise
prädestiniert für einen Hinterhalt.
»Ich möchte nicht, daß irgendjemand Felsblöcke auf uns herunterrollt«, sagte Daila, deshalb wies er als erstes zwei Männer an die über uns hängenden Felsen zu erklimmen.
Sie sollten über Nacht abwechselnd dort Wache halten. Als nächstes entsandte er zwei Krieger zur Bewachung der
Straße, in jede Richtung einen, die Straße hinauf und
hinunter, in beträchtlichem Abstand von unserem Lager.
Anschließend stellte er noch weitere Wachposten in
bestimmten Abständen entlang des Flußufers neben uns
auf.
Während unsere übrigen Männer sich um die Tiere
kümmerten, Feuer zum Kochen entfachten und unsere
Vorräte auspackten, sorgte ich dafür, daß Amalamena für jeden, der zufällig zu ihr hinsah, zu sehen war, und das sogar zweimal. Zuerst stieg sie in ihrem Prinzessinnenstaat aus ihrer vorhangverkleideten Karosse und schüttelte sehr eindrucksvoll ihre von der Reise steifen Glieder. Dann bestieg sie wieder die Karosse und erschien nach einer kleinen Weile, als das Zwielicht sich noch verstärkt hatte, in ihrer Chasar-Kammerzofen-Tracht, trug einen Wasserkrug hinunter zum Fluß, füllte ihn und brachte ihn ins Innere der Karosse.
Als ich die Prinzessin später aufsuchte, erkundigte ich mich bei ihr, wie sie sich während der Reise gefühlt hätte.
»Glänzend«, antwortete sie und wirkte so fröhlich und
vergnügt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. »Schon wieder brauchte ich die Droge den ganzen Tag nicht zu nehmen.«
»Deine Genesung grenzt in der Tat an ein Wunder. Und
nichts liegt mir ferner, als den ungläubigen Thomas zu spielen. Ich darf nicht vergessen, die Wasser von Pautalia allen Invaliden zu empfehlen, die ich in Zukunft treffe.«
»Außerdem bin ich hungrig wie eine Wölfin«, fuhr sie
lachend fort. »Den ganzen Weg über habe ich Obst
gemampft. Doch jetzt hätte ich sehr gern etwas
Herzhafteres.«
»Die Männer sind gerade beim Kochen. Laß mich nur
rasch deinen Verband wechseln; wenn das erledigt ist, ist das Essen sicher fertig.«
Als sie die Gewänder Swanildas, die sie gerade trug,
aufknöpfte und das Geschwür offenlag, verdüsterte sich nicht wie sonst ihre Stimmung sondern sie sagte lebhaft:
»Siehst du? Es ist schon kleiner als heute morgen!« Ich war mir da zwar nicht ganz sicher, sagte aber, daß ich auch dieser Meinung sei.
Als ich zu unseren Leuten zurückging, dachte ich bei mir, daß die fröhlichen Kochfeuer, die ihr warmes Licht nach oben auf die Felsen um uns herum warfen, unser Lager wie einen luftigen Raum ohne Decke, aber gemütlich und
geruhsam, erscheinen ließen, eine Insel in der schwarzen Nacht. Die Männer, die nicht arbeiteten oder als Wachen abbeordert waren, hatten sich schon hintereinander an den Feuern angestellt, wo der Lager-Koch und seine Helfer die Portionen austeilten, aber mir machten sie natürlich Platz.
Ein Austeiler reichte mir einen vollen Weinschlauch, und ich warf mir den Riemen über die Schulter. Ein anderer gab mir zwei hölzerne Schalen, und der Koch war gerade dabei,
einen gehaltvoll aussehenden Eintopf hineinzuschöpfen, als wir alle aufgeschreckt wurden durch plötzliches lautes Gebrüll von der dunklen Straße her:
»Hiri! Anaslauhts!«
Der Ruf kam von dem weiter entfernt postierten Wächter, der uns in panischem Entsetzen warnte: »Hier! Ein
Überfall!« Es gelang ihm, noch ein weiteres Wort
herauszuschreien, bevor er offensichtlich niedergeschlagen wurde: »Thusundi!«
Nun, Tausende waren es zwar nicht. Doch war an dem
näherkommenden donnernden Hufgetrappel klar erkennbar, daß sie uns zahlenmäßig weit überlegen waren. Im nächsten Moment hatten sie uns auch schon erreicht, waren überall, doch sah man sie immer nur kurz im Schein des Feuers -
bewaffnete, berittene Männer, in gotischer Rüstung und Helmen wie wir -, bevor die Hufe ihrer Pferde die Feuer austrampelten, so daß nur noch glühende Asche und
umherstiebende glimmende Funken davon übrigblieben.
Doch die Angreifer zogen noch nicht ihre Waffen; dieser erste Angriff sollte nur dazu dienen, uns in Schrecken zu versetzen und unsere Feuer zu löschen, denn die Pferde wurden nochmals zur Seite gerissen. Wie sich herausstellte, durchtrennten die Angreifer die Stricke, an denen unsere Reittiere angepflockt waren, und jagten sie in die Flucht, um uns keine Gelegenheit zu geben, sie zu benutzen.
Alle unsere Leute, ich selbst eingeschlossen, hatten das Essen oder Eßgeschirr fallen lassen und das Schwert
herausgerissen. Sie alle stürmten nun zu den Stellen, an denen sie ihre schwereren Waffen deponiert hatten, doch ich zögerte noch, unschlüssig, wo ich mich am besten postieren sollte. Dann stand plötzlich Optio Daila neben mir, nur schwach zu erkennen im übriggebliebenen Schein des
Feuers, und schrie Befehle:
»Männer! Macht euch bereit, zu Fuß zu kämpfen!
Durchbohrt mit euren Speeren ihre Pferde!« Dann wandte er sich an mich und schrie: »Geh! Hol' die Prinzessin und...«
»Sie wird bewacht, Daila.«
»Ne, das stimmt nicht. Einer der Wachposten hatte
bestimmte Anweisungen für den Fall, daß wir angegriffen würden, den anderen Verräter zu erschlagen und dann
wieder zu uns zu stoßen. Hier kommt er gerade angerannt.
Geh' jetzt und...«
»Erschlagen?« echote ich bestürzt. »Welcher andere
Verräter?«
»Das ist doch offensichtlich. Sie wußte, daß wir uns für diesen Weg entschieden hatten. Irgendwie muß sie ihnen eine Nachricht zugespielt haben. Die Chasar-Kammerzofe.«
Ich sagte oder wahrscheinlich war es mehr ein Klagelaut, den ich von mir gab: »Ach, Daila, Daila... Unglückseliger...«
»Hörst du mich? Geh' jetzt! Falls die Prinzessin gefangen wird, dient sie ihnen als Geisel. Bring' sie zum Fluß.
Versuche, flußabwärts zu entkommen, weg von...«
Doch die Angreifer fielen schon wieder über uns her,
diesmal wild mit ihren Schwertern, Streitäxten und
Kampfkeulen auf uns einschlagend. Daila riß sein Schild in die Höhe, um den Axthieb eines Reiters abzuwehren, der mir ganz sicher den Schädel gespalten hätte, weil ich
sprachlos und wie gelähmt da stand, bis jenes knirschende Geräusch von hartem Stahl, der sich in Leder bohrt, mich aus meiner Betäubung riß. Ich versuchte, den Feind mit meinem eigenen Schwert zu treffen, und machte mich dann davon, wie Daila angeordnet hatte.
In der Karosse fand ich Amalamena vor, wie ich es in
böser Vorahnung erwartet hatte. Sie hatte nur den Docht einer einzelnen schwachen Lampe angezündet; ihr
schwacher Schein hatte nicht ausgereicht, den Wachposten erkennen zu lassen, wer »die Chasar« in Wirklichkeit war.
Doch hatte das Licht ausgereicht, um sie mit einem sicheren Stich seiner Klinge zu töten - einem Stich in ihre weiße, mädchenhafte Brust, genau unterhalb der Stelle, wo das Fläschchen mit der Jungfrauenmilch hing. Es war nicht viel Blut geflossen nach diesem einen Einstich; meine geliebte Schwester hatte nicht viel Blut zu vergießen gehabt.
Selbst aus dieser Entfernung konnte ich das
Kampfgetümmel hören, doch ich wußte, daß es nicht lange anhalten würde. Unser Feind - und ich nahm an, daß es sich um Theoderich Strabo handelte - wollte sich das Pergament nun, nachdem es ihm nicht gelungen war, es durch List und Tücke an sich zu bringen, mit roher Gewalt holen, und er war mit genügend Mannen losgezogen, uns alle zu
vernichten. Ich seufzte erneut, da ich erst heute morgen mein Schlangenschwert zum ersten Mal benutzt hatte; nun würde es das letzte Mal sein. Und Strabos Männer, mochten sie auch verabscheuungswürdige Überläufer sein, waren
trotz allem Ostgoten. So würde also das einzige Blut, das mein Schwert je zu kosten bekommen sollte, das meiner
Landsleute sein.
Doch dann hielt ich inne. Ich hatte keine Angst vor dem Sterben und schreckte nicht davor zurück; es bedeutete das zu erwartende und höchst ehrenwerte Ende eines Kriegers.
Trotzdem wäre es sinnlos zu sterben, wenn ich
möglicherweise für meinen König und mein Volk lebend von größerem Nutzen wäre. Daila hatte gewünscht, ich solle Amalamena in Sicherheit bringen, da sie, falls sie in dem Kampf nicht getötet würde, Strabo als Geisel dienen würde.
Mit ihr als Pfand könnte er von ihrem Bruder jegliches Zugeständnis erpressen, selbst das, auf all das zu
verzichten, was der mit Kaiser Zeno geschlossene Pakt ihm zuerkannte. Nun, Strabo konnte die Prinzessin jetzt nicht mehr für seine erpresserischen Ziele benutzen. Doch...
angenommen, man würde ihn dazu bringen zu glauben, er
habe sie gefangen. Könnte nicht eine unechte Prinzessin -
eine Gefangene zwar, doch eine Gefangene, die Kontakt zu den höchsten Würdenträgern des Feindes hätte und sich
innerhalb seiner stärksten Festung aufhalten würde - könnte sich eine solche Prinzessin nicht als wertvollerer Trumpf erweisen als ganze Armeen von Kriegern draußen?
Hastig legte ich meine Rüstung, Stiefel und anderen Staat ab und schleuderte alles in der Dunkelheit in die Büsche neben der Karosse. Sogar mein kostbares
Schlangenschwert wollte ich wegwerfen, besann mich dann aber eines besseren. Ich trennte mich von Gurt und Scheide, doch verschaffte ich dem Schwert noch ein weiteres
Blutbad, wenn auch nur ein vorgetäuschtes und reichlich pathetisches. Sorgfältig steckte ich die Schwertspitze in die Wunde die der Wachposten in Amalamenas Brust
hinterlassen hatte und formte mit den Lippen schweigend einige Abschiedsworte an sie rammte dann das Schwert so tief in die Wunde, wie die andere Waffe hineingefahren war und ließ es dort, wobei das Heft die Waffe wie ein aufrecht stehendes Kreuz aussehen ließ.
Ich entkleidete mich bis auf das Hüftband, das ich immer noch trug, nahm dann aus der Truhe die besten Gewänder der Prinzessin samt dem entsprechenden Zubehör und legte sie an. Dann kniete ich neben ihrem Leichnam nieder, nahm ihr mit einer gemurmelten Entschuldigung die goldene Kette mit den drei Anhängern ab und legte sie mir um den Hals.
Zuguterletzt steckte ich den gefälschten Vertrag in das blusige Oberteil meines Gewandes - und ich war kaum damit fertig, als mein Eroberer auch schon kam, um mich zu holen.
Mit einem Geräusch, das sich anhörte, als teile ein
Blitzschlag den Himmel, wurden die Vorhänge der Karosse unvermittelt heftig auseinandergerissen. Im selben Moment stieß der Eindringling ein Triumphgeheul über seine
Entdeckung aus. Er stand draußen zwischen den Vorder-
und Hinterrädern der Karosse, hielt mit seinen
muskelbepackten Armen die Vorhänge weit auseinander
und war so massig, daß sein Helm beinahe das Dach
berührte. Er stieß weiterhin das bestialische Gebrüll aus, als ich instinktiv - und nicht vorgetäuscht - vor ihm zurückwich, wie es eine furchtsame Jungfrau auch in Wirklichkeit tun mochte. Da er einen gotischen Helm trug, sah ich von
seinem Gesicht nur seinen Bart, seinen Mund und seine
Augen. Der Bart war gelblichgrau, zerzaust, reichte bis zur Brust und war borstig wie die Stacheln eines Igels. Der brüllende Mund stand offen, Speichelfäden hingen ihm
zwischen Ober- und Unterlippe und dahinter waren lange, fast pferdeartige gelbe Zähne. Die von roten Lidern
bedeckten und von roten Äderchen durchzogenen Augen
hätten einem grotesken Riesenfrosch gehören können, sie schienen das gesamte Innere der Karosse von einer Wand zur anderen abzutasten, ohne sich ein einziges Mal zu
bewegen, weil jeder Augapfel unabänderlich nach außen
gedreht war.
Strabo
1
Theoderich Strabo - oder Theoderich Triarius, wie ihn
seine Schmeichler gehorsam nannten - hörte auf, seiner Freude über meine Entdeckung brüllend Ausdruck zu geben und erkundigte sich mit einer Stimme, die knirschte, als würden Grabsteine aneinander gerieben: »Ist jus
Amalamena, niu?«
Als sei ich sprachlos vor Entsetzen, nickte ich nur und hob die goldene Kette, um ihm die daran baumelnden
Schmuckstücke vorzuweisen. Er beugte sich vor, um sie in dem schwachen Licht genauer in Augenschein zu nehmen,
erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge, und
grunzte verächtlich.
»Ja. Wie man sie mir beschrieben hat. Eine närrische
Frau, die direkt neben einem heiligen Symbol das
Monogramm ihres schwachsinnigen Bruders trägt. Ja, Ihr seid das wirklich.« Er wies mit seinem stachligen Bart auf den durchbohrten Körper der Prinzessin. »Und wer ist das da?«
Ich gab vor, nur mit Mühe zu einer Antwort fähig zu sein:
»Sie... war Swanilda. Meine Kammerzofe. Sie bat mich...
das zu tun. Sie hatte große Angst davor... vergewaltigt zu werden... oder noch Schlimmeres erleiden zu müssen.«
Er lachte gemein. »Und Ihr habt wohl keine Angst, niu?«
»Ich stehe unter gutem Schutz«, antwortete ich in dem
Versuch, so zu wirken, als glaube ich daran, und zeigte ihm noch einmal die Anhänger an der Kette.
»Schutz? Wer sollte Euch wohl beschützen, niu? Der
heidnische Thor? Der Christ? Euer nichtsnutziger Bruder?«
»Ne, das dritte Amulett hier.« Ich hielt es in die Höhe, etwas getrennt von den beiden anderen. »Mein Fläschchen mit Jungfrauenmilch.«
»Eine echte Reliquie.« Ich richtete den Blick himmelwärts, setzte eine einfältige, inbrünstig andächtige Miene auf und beschrieb mit der freien Hand das Zeichen des Kreuzes auf meiner Stirn.
Er riß mich so unsanft aus dem Wagen, daß ich
wahrscheinlich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde gefallen wäre. Doch die beiden Krieger in seiner Begleitung fingen mich auf, brachten mich in eine aufrechte Position und hielten mich hart an beiden Armen zwischen sich fest.
Sie nutzten auch die Gelegenheit, mich an verschiedenen Stellen zu betätscheln, während Strabo sich erneut in die Karosse beugte und mein Schwert aus Amalamenas Körper
zog.
Als wir dann nach einem Gang über den mit Leichen
übersäten Boden ins Licht des Feuers traten, wurde ich von Strabo und allen seinen Soldaten, die in der Nähe standen, anerkennend gemustert. Dann fragte er mich mit seiner
schnarrenden Stimme:
»Welcher dieser toten Männer war nun Saio Thorn, von
dem man mir berichtet hat?«
»Keiner«, sagte ich wahrheitsgemäß und fügte mit einiger Zivilcourage hinzu: »Vielleicht schaffte er es, lebend davonzukommen. Ich hoffe es jedenfalls.«
»Tatsächlich. Hatte er Zenos Vertrag bei sich?«
Wieder konnte ich wahrheitsgemäß antworten: »Das letzte Mal, als ich ihn sah, hatte er ihn bei sich, ja.«
Der Optio Ocer meldete sich lautstark zu Wort. »Triarius, keiner ist lebend davongekommen. Wir wissen, daß keiner an uns vorbei die Straße hinauf entwischt ist. Außerdem wies ich einige meiner Leute an, dem Zug in Verkleidung zu folgen, seitdem er Pautalia verlassen hatte. Sie haben mir Meldung erstattet und berichtet, daß keiner an ihnen vorbei die Straße hinunter flüchtete. Einige der Feinde starben jedoch am Flußufer, und ihre Leichen wurden flußabwärts gespült.«
»Sehr gut«, sagte Strabo. »Sobald wir alle ein paar Bissen zu essen zusammengekratzt haben und die anderen mit
dem Einfangen der vertriebenen Pferde fertig sind, geht mit ihnen los und findet jeden Mann, der getötet wurde. Geht bis zur Mündung des Strymon in die Ägäis, wenn nötig. Zieht alle aus und durchsucht sie. Bringt mir den Vertrag. Doch zuvor« - er wies mit seinem Bart auf mich - »fangt mit der hier an.«
Ich riß mich von den beiden grinsenden Wachen los und
rief: »Ihr würdet es wagen, eine amalische Prinzessin so zu erniedrigen?«
»Väi! Meint Ihr, ich scherze nur? Ich will dieses Dokument haben. Wenn Ihr weiter Eure Sittsamkeit hätscheln wollt, braucht Ihr uns nur den Mann Thorn zeigen.«
In gewisser Hinsicht tat ich das auch. Ich stieß zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor: »Ich habe den
Vertrag«, holte ihn aus meiner Bluse hervor und versuchte, ihn mit beiden Händen zu zerreißen. Doch Pergament läßt sich nicht so einfach zerreißen.
Der Optio und der andere Mann ergriffen mich im gleichen Moment und hielten mich fest. Strabo ließ wieder sein
krächzendes Lachen hören, trat zu mir und entriß mir die Rolle. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf das gefaltete Dokument, nickte, als er die purpurnen Wachssiegel mit dem Monogramm Z sah... und warf die Rolle zu meinem
Erstaunen fast beiläufig ins nächste Feuer. Ich erfuhr erst später, daß Strabo des Lesens nicht mächtig war. Natürlich wären alle meine Pläne umsonst gewesen, hätte er einfach das Pergament aufgerollt und festgestellt, daß es
unbeschrieben war. Doch er unterließ es, die Rolle zu
öffnen, weil es ihn beschämt hätte, nur vorzugeben, er lese es, oder jemand anderen bitten zu müssen, es ihm
vorzulesen und von mir als ignoranter Barbar verlacht zu werden.
Ich lachte dennoch spöttisch und sagte: »Ihr habt nur ein Stück Pergament zerstört, nicht seine Bedeutung. Mein
Bruder hat immer noch die strategisch wichtige Stadt
Singidunum in seinem Besitz. Das war der Grund, warum
der Kaiser diesem Vertrag und all seinen Klauseln
zugestimmt hat. Mein Bruder braucht nur anzufragen und Ihr könnt sicher sein, daß Zeno noch einmal ein solches
Pergament aufsetzen läßt, unterschreibt und mit seinem Siegel versieht.«
Strabo grunzte gleichgültig. »Euer Bruder hat Singidunum.
Ich habe seine Schwester. Warten wir ab, welches von
beiden höher eingeschätzt wird.« Er wandte sich von mir ab und sagte an die Adresse des Optio gewandt:
»Nun gut, Ocer. Wir müssen uns jetzt hier nicht allzu lange mehr aufhalten. Laßt zwei Männer wieder Zugpferde vor die Karosse spannen und weist sie an, die tote Dirne
hinauszuwerfen.
Zwei weitere sollen diese Prinzessin hier wieder dorthin zurückbringen, sie in die Karosse setzen und dafür sorgen, daß sie drin bleibt.« Zu mir sagte er: »Ich bedaure, Eure Nachtruhe gestört zu haben, Prinzessin. Doch ich möchte uns alle bei Tagesanbruch auf der Straße haben. Wir
werden in zügigem Tempo reiten und erst morgen abend
wieder ein Lager aufschlagen. Wenn Ihr also noch ein
Schläfchen halten wollt, bevor wir aufbrechen, schlage ich Euch vor, es jetzt zu tun.«
Ich warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu, deshalb wandte er sich nochmals an den Optio und sagte zu ihm: »In der Zwischenzeit, Ocer...«
Ich hätte gerne gehört, welche weiteren Anweisungen
Strabo noch erteilte, doch wurde ich fort in die Dunkelheit gezerrt, und nachdem die Pferde wieder vor die Karosse gespannt worden waren, stießen mich meine beiden
Wächter ziemlich unsanft hinein. Amalamenas Leiche war bereits entfernt worden, es war nichts mehr von ihr übrig als ein kleiner getrockneter Blutfleck an der Stelle, wo sie gelegen hatte. Ich erkundigte mich bei meinen Bewachern, was mit ihren Überresten geschehen war. Ich fürchtete, daß ein so lieblicher junger Körper, immer noch weich,
geschmeidig und zum Eindringen geeignet, rohe Soldaten verführt haben könnte, ihn zu allen möglichen degenerierten Vergnügungen zu benutzen.
»Wird sind Ostgoten wie Ihr selbst«, erinnerte mich einer der Männer hochmütig. »Wir schänden keine Toten. Eure
Zofe wird genauso behandelt wie jeder Krieger, der in
diesem Kampf gefallen ist.«
Ich spielte mit den Anhängern an der Kette um meinen
Hals und betete schweigend - wenn auch zu keiner
bestimmten Gottheit: »Bitte gib, daß Swanilda sicher bei Theoderich angekommen ist!« Seitdem ich Konstantinopel verlassen hatte, war nicht alles planmäßig verlaufen, doch war ich immerhin noch am Leben und darüber hinaus in
einer äußerst günstigen Situation, besonders wenn
Theoderich tatsächlich seinen Vertrag in Empfang
genommen hatte und Strabo weiterhin glaubte, er habe ihn nicht.
Weit weg in Singidunum würde Theoderich nicht viel Zeit damit verlieren, sich Sorgen zu machen, was wohl mit
seinem Marschall Thorn, seiner Schwester Amalamena,
seinem Optio Daila und all jenen anderen Kriegern
geschehen war. Bald würde er Kundschafter aussenden, die im Galopp unsere Strecke zurückverfolgen würden. Doch
was würden sie herausfinden? Keine Kampfszenen und
auch keine Gerüchte, daß Kämpfe stattgefunden hätten. Sie würden in pautalia erfahren, daß unser Trupp den Ort auf dieser bestimmten Straße verlassen habe. Und dann würden sie von Reisenden, Anwohnern oder Gasthausbesitzern an dieser Straße zu hören bekommen, daß in der Tat ein Zug ostgotischer Reiter an ihnen vorbeigekommen sei und ja, sie hätten eine stattliche Karosse begleitet, in der eine hübsche Frau gesessen habe...
Für Theoderichs Kundschafter würde es so aussehen, als habe Saio Thorn unvermittelt und ganz
unverständlicherweise - vielleicht sogar in verräterischer Absicht - den ganzen Trupp von seinem beabsichtigten
Zielort ferngehalten und ihn in Strabos Ländereien geführt, oder auf die andere Seite der Erde, oder ins Nir-Iwana. Ich hatte keine Vorstellung, wohin Strabo mich nun bringen würde, und da ich das ganze mit voller Absicht so geplant hatte, war es mir auch ziemlich gleichgültig. Dennoch hätte ich es vorgezogen, daß jemand, dem das alles nicht
gleichgültig wäre, mir dorthin hätte folgen können.
Wir waren den ganzen Tag unterwegs und machten nur
gelegentlich Halt, damit die Männer ihre Pferde wechseln und alle mit Wasser versorgen konnten. An zwei oder drei dieser Raststellen brachten mir meine Wächter aus dem
Reiseproviant des Trupps etwas zu essen und zu trinken: kaltes Räucherfleisch oder gesalzenen Fisch, einen harten Kanten Brot, eine lederne Tasse mit Wein oder Bier. Bei diesen Gelegenheiten wurde mir auch gestattet, kurz aus der Karosse auszusteigen, mir ein wenig die Beine zu
vertreten und meine Blase zu entleeren. Wir setzten unseren Weg in nordöstlicher Richtung fort, offenbar geradewegs nach Serdica. Ich wußte, daß es sich um eine
verhältnismäßig große Stadt handelte, doch war mir nicht klar, ob sie zu Strabos Herrschaftsgebiet gehörte oder ob er sie lediglich als günstigen Ort einschätzte, mich
gefangenzuhalten, während er mit Theoderich verhandelte.
Nun, dachte ich bei mir, ich würde es rechtzeitig
herausfinden. An diesem Tag erreichten wir Serdica trotz zügigen Reittempos nicht mehr, und als wir an diesem
Abend unser Lager am Straßenrand aufschlugen, stellte ich fest, daß Strabo andere und gemeinere Pläne für Prinzessin Amalamena im Auge hatte, als sie lediglich als Geisel
festzuhalten.
Obwohl sie immer noch von zwei Männern bewacht wurde
stand die Karosse ein gutes Stück vom Großteil der
Soldaten entfernt, und ich hatte als Grund dafür
angenommen, daß mir für Essen, Schlafen und andere
Funktionen eine gewisse Privatsphäre zugestanden werden sollte. Zwar wurden mir Essen und Wein erneut gebracht -
und diesmal sogar warmes Essen - wodurch mir erspart
blieb, mich unter die anderen an den Kochfeuern zu
mischen. Doch nachdem ich mit dem Essen fertig war, einen dringend erforderlichen Gang ins Gebüsch erledigt, mich den Umständen entsprechend nur flüchtig gewaschen hatte und eben einschlafen wollte, tauchte Strabo
höchstpersönlich plötzlich neben der Karosse auf. Ohne mir irgendeinen Gruß zu entbieten oder mich um Erlaubnis zu bitten - lediglich mit einem ausgiebigen Rülpser, einem Hinweis darauf, daß auch er gut gespeist hatte - kletterte er in die Karosse und legte sich neben mich.
»Was hat das zu bedeuten?« erkundigte ich mich frostig.
»Ach, Mädchen, Ihr habt gestern abend doch sicher ganz schlecht geschlafen.« Er rülpste erneut. »Ich werde
großmütig dafür sorgen, daß Ihr diese Nacht gut schlaft. Ihr werdet mit mir zusammen sein und danach befriedigt
schlafen können. Blast nun das Licht aus und schließt die Vorhänge. Oder wollt Ihr, daß die beiden Wächter uns
zusehen?«
Auf meinen Protest hin bemerkte er: »Sucht es Euch aus.
Theoderich Triarius oder das ganze Lager. Entweder ich oder alle werden Euch heute nacht besitzen, und ich werde nicht lange auf Eure Entscheidung warten. Ich könnte mir vorstellen, daß eine mutmaßliche Prinzessin lieber einem Cousin von ihrer eigenen amalischen Linie zu Willen ist als hundertfünfzehn Männern von zweifelhafter Abstammung
und Geblüt.«
»Seid Euch da nicht zu sicher«, sagte ich kühn, obwohl ich mich mitnichten so fühlte. »Sie mögen ja Tölpel und Plebejer sein, doch habe ich noch keinen gesehen, der so abstoßend häßlich ist wie Ihr.«
Er ließ wieder sein schnarrendes Lachen hören. »Ich bin mein ganzes Leben lang häßlich gewesen und habe in
dieser Zeit schon mehr Sticheleien, Spott und Beleidigungen gehört als Ihr Euch überhaupt einfallen lassen könntet, deshalb spart Euch Eure Puste auf, damit Ihr nachher
›Vergewaltigung‹ schreien könnt.«
»Eine Prinzessin schreit nicht«, sagte ich in dem Versuch, so hochmütig wie eine echte Prinzessin zu klingen. »Es ist unmöglich, Ekel, Verachtung und Geringschätzung in einem Schrei zum Ausdruck zu bringen. Doch werde ich folgende ruhige Worte an Euch richten, Strabo. Ihr erwartet von meinem Bruder gewisse Zugeständnisse, ein Lösegeld, was auch immer. Ihr müßt Euch darüber im klaren sein, daß er für beschädigte Ware nicht bezahlen wird.«
»Väi, er wird bereits gezahlt haben, bevor er weiß, daß die Ware beschädigt ist. Möglicherweise macht ihm der
sogenannte Schaden auch gar nichts aus, wenn er davon
erfährt.«
»Was?«
»Erinnert Euch, er ist lediglich ein geringer Anwärter auf den Königstitel. Mancher echte Monarch fand es vorteilhaft, eine Schwester oder Tochter mit einem mächtigeren
Monarchen zu verkuppeln. Euer schwachsinniger Bruder
erwägt das möglicherweise schon lange - Euch anzubieten, meine Frau oder Konkubine zu werden - im Austausch für eine Anerkennung seiner Ansprüche.«
Ich bezweifelte das zwar stark, doch gab es etwas, das ich sehr gerne wissen wollte. Deshalb fragte ich: »Warum in aller Welt, alter Mann, wollt Ihr überhaupt eine Gefährtin, die Euch abstoßend und verabscheuungswürdig findet?«
»Weil ich Euch anziehend finde«, sagte er ganz ruhig.
Doch dann war es mit seiner Ruhe plötzlich vorbei. Seine riesige Hand schoß vor, packte mich am Ausschnitt meiner Bluse, zog heftig daran und riß mir Amaiamenas duftiges weißes Gewand mit einem Ruck vom Körper. Darunter trug ich nur die Kette mit den Amuletten, das Leibchen über meinem Busen und das Schamband um die Hüften. Er
wiegte den Kopf hin und her und betrachtete mich zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge anerkennend von
Kopf bis Fuß. Nach einem Moment fuhr er, nun wieder ruhig, fort:
»Ne, ich finde Euch keineswegs abstoßend. Für meinen
Geschmack etwas zu mickrig, doch kann ich Euch zweifellos zu gegebener Zeit etwas auspolstern. Doch nun genug
dieser Spielchen. Laßt mich Euch ganz sehen. Oder muß ich alles selbst machen?«
Meine größte Sorge, die ich bei der nun folgenden
Vergewaltigung hegte, war, daß Strabo in seiner Wollust das Band um meine Hüften wegreißen könnte. Doch tat er nichts dergleichen. Weder bei dieser Gelegenheit noch zu einem anderen Zeitpunkt - denn dies war nicht die einzige Nacht, in der ich seine widerlichen Zudringlichkeiten über mich
ergehen lassen mußte. Ich glaube nicht, daß es auf ein Versäumnis seinerseits zurückzuführen war, daß er das
Band nicht ein einziges Mal entfernte; ich glaube vielmehr, er ließ es mich ganz bewußt weiterhin tragen. Da ich kein einziges Mal kreischte, wimmerte oder um Gnade bat - wie schrecklich auch die Handlungen waren, die er an mir
vornahm oder von mir an sich vornehmen ließ - vermute ich, daß er nur, weil er mein »Sittsamkeitsband« nicht anrührte, weiterhin innerlich davon überzeugt sein konnte, daß er mein Sittsamkeitsgefühl nie tatsächlich gröblich verletzte.
Deshalb stellte er auch nie fest, was für eine Art Mensch er immer vergeblich versuchte zu entehren. In seinen Augen stillte er seine Lust an der jungen, schönen,
begehrenswerten Prinzessin Amalamena. In meinen Augen
dagegen war ich niemand anderes als Thorn, und meine
einzige echte Antwort, auf diese Weise mißbraucht zu
werden, bestand darin, mir zu schwören, daß ich dafür
sorgen würde, daß Strabo sein Verhalten am Ende bitterlich bereuen sollte.
Nur einmal, ein einziges Mal, sagte ich ihm das auch und zwar noch in derselben Nacht. Als er schließlich völlig erschöpft und keuchend von mir herunterrollte, sagte er sinnend:
»Sehr seltsam. Dies ist das erste Mal, daß ich mit einer Frau zusammen war und nicht, früher oder später, den
süßen Duft ihrer Körpersäfte gerochen habe. Vielleicht habt Ihr keine ausgeschieden, trockene Dirne, die Ihr seid, doch kann ich nicht einmal meinen eigenen vertrauten Geruch ausmachen. Was hat das zu bedeuten, niu? Der einzige
Geruch, der mir in die Nase zu stechen scheint, ist ein schwacher, äußerst abstoßender... eine Art...«
Ich sagte: »Das ist der Geruch Eures nahenden Todes.«
2
Als Strabo mich irgendwann vor Beginn der Dämmerung
verließ, um sich woanders schlafen zu legen, schlug er die Vorhänge der Karosse zurück und befahl mir, sie so zu
lassen. Die beiden draußen postierten Wachen starrten
grinsend über meine Nacktheit zu mir herein. Natürlich hatten sie alles, was sich ereignet hatte, gehört und
mitbekommen. Ich war über das Stadium hinaus, mir über solche Dinge Gedanken zu machen, ignorierte sie, rollte mich einfach in die Decken und schlief ein. Am Morgen
wählte ich jedoch ein anderes von Amalamenas Gewändern aus ihren Sachen aus und zog es an, damit nicht jeder
Passant auf der Straße mich anstarren würde.
Am späten Nachmittag kamen wir in Serdica an, eine
Stadt, auf die weder Strabo noch irgendein anderer Anwärter Anspruch hatte, sondern die allein dem Römischen Reich unterstellt war. Sogar eine Garnison der Legio V Alaudae war hier stationiert. Da diese Legion jedoch zum östlichen Reich gehörte und Strabo momentan auf gutem Fuß mit
Kaiser Zeno stand, kamen die Legionäre bei der Ankunft dieser beträchtlichen Schar bewaffneter Ostgoten in voller Rüstung nicht aus ihren Quartieren gestürmt, um uns zu vertreiben. Strabo war ja schließlich auch nicht gekommen, um die Stadt zu belagern oder zu plündern, sondern wollte nur eine Pause einlegen auf dem Weg zu seinen eigenen
Ländereien. So ließ er also die meisten seiner Männer
zurück, wies sie an, ihr eigenes Lager außerhalb der Stadt aufzuschlagen, und quartierte sich dann mit mir und seinen engsten Vertrauten in einer Herberge ein.
Die Herberge war bei weitem nicht so luxuriös wie
diejenige, die ich ausgewählt hatte, als ich eine amalische Prinzessin begleitet hatte. Ich bekam ein sehr dürftig möbliertes Zimmer zugeteilt; es hatte nicht einmal eine Tür oder einen Vorhang für etwas mehr Privatsphäre. Und
wieder war ein Wächter davor postiert, um mich zu
beobachten und mir zu folgen, wenn ich nach draußen zur Toilette mußte. Strabos Raum war so spärlich ausgestattet wie meiner und lag meinem direkt gegenüber, so daß auch er ein Auge auf mich haben konnte. (Selbst meiner
momentan nicht gerade beneidenswerten Lage konnte ich
noch eine gewisse wenn auch bittere - Komik abgewinnen: Ich dachte darüber nach, daß Strabo ganz wörtlich jeweils nur ein Auge auf mich haben konnte.)
Ich hatte das Zimmer für mich allein in jener ersten Nacht.
Strabo kam nicht, um mich zu belästigen, wahrscheinlich, weil er genau wie ich eine Nacht ungestörten Schlafs nötig hatte. Doch am nächsten Morgen brachte mich mein
Wächter zum Vorhof des Gebäudes, wo Strabo, ein
Militärschreiber, der Optio Ocer und ein paar andere
Offiziere mich erwarteten.
»Ich wollte, daß Ihr das mitbekommt, Prinzessin« , sagte Strabo, wobei er wie gewöhnlich den Titel höhnisch betonte.
»Ich bin gerade dabei, meine Bedingungen an Euren Bruder zu diktieren.«
Er fuhr damit fort, wenn auch langsam, da sein Schreiber nicht besonders tüchtig war und viel mühseliger schreiben mußte als ich es getan hätte. Kurz zusammengefaßt forderte Strabo, daß der Amaler Thiudareichs, Sohn des Amalers
Thiudamer, die Stadt Singidunum räumen und sie an die
kaiserlichen Streitkräfte abtreten solle, die bald von Kaiser Zeno dorthin geschickt würden. Des weiteren: Theoderich solle von seinen Belästigungen Abstand nehmen, den Kaiser darum anzugehen, ihm Ländereien, militärische Titel, die consueta dona in Gold und dergleichen andere vermessene Anwartschaften zu gewähren. Des weiteren: Daß
Theoderich sich nicht mehr König der Ostgoten nennen
dürfe, auf alle Ansprüche auf die Staatsgewalt verzichten und dem wahren König, Thiudareichs Triarius, Treue und Ergebenheit schwören müsse. Als Gegenleistung für
Theoderichs Anerkennung dieser Bedingungen würde
Strabo erwägen, welche Verfügung hinsichtlich der Frau Amalamena, der Amalin, erlassen werden solle, die unlängst von Strabo in einem fairen Kampf gefangengenommen
worden sei und momentan von ihm als Kriegsgefangene
festgehalten werde. Strabo flocht einige Andeutungen
dahingehend mit ein, daß diese »Verfügung« so aussehen könne, daß Amalamena eine Vernunftheirat zu
unterzeichnen habe - wobei der zukünftige Gemahl nicht näher bezeichnet wurde - um durch diese Maßnahme die
seit langem bestehenden Unstimmigkeiten zwischen den
verschiedenen amalischen Linien der Ostgoten positiv zu beeinflussen und eine Phase langanhaltenden Friedens und harmonischer Beziehungen einzuleiten.
Strabo streckte seine Hand vor, zog mich brutal zu sich her, verschränkte seine Finger in der goldenen Kette um meinen Hals, riß sie entzwei und hielt sie fest, während er die drei Anhänger abnahm.
Dann sagte er: »Hier«, und warf mir zwei Anhänger und
die Kette wieder zu. »Behaltet Euer heiliges Spielzeug, es möge Euch viele schöne Sachen bescheren.« Das dritte
Ornament, Theoderichs goldverziertes Monogramm,
wickelte er in das Pergament, das der Schreiber ihm
schließlich ausgehändigt hatte. »Das wird Euren Bruder überzeugen, falls er überzeugt werden muß, daß ich Euch wirklich als Geisel hier festhalte.«
Der Schreiber ließ einige Tropfen Kerzenwachs auf das
gefaltete Dokument tropfen, und Strabo drückte auf diese Tropfen sein eigenes Siegel. Es bestand aus nur zwei
Runen, dem Thorn und dem Teiws, was Thiudareichs
Triarius bedeuten sollte. Er warf dem Optio die Rolle zu und sagte:
»Ocer, nehmt Euch so viele Männer, wie Ihr gegen
Banditen oder sonstige Widrigkeiten als angemessen
erachtet. Galoppiert mit diesem Dokument nach
Singidunum. Übergebt es dem nichtsnutzigen Prahlhans
Theoderich persönlich und sagt ihm, daß Ihr angewiesen wärt, auf eine schriftliche Antwort zu warten. Falls er zu wissen wünscht, wo seine Schwester gefangengehalten
wird, könnt Ihr ihm wahrheitsgemäß antworten, daß Ihr es nicht wißt, daß sie und ich irgendwo unterwegs sind. Wir werden hier in Serdica eine weitere Nacht bleiben und
dann« - hier machte er eine Pause und sah mich an -
»werden wir uns zu dem Ort aufmachen, den Ihr kennt.
Bringt mir die Antwort dorthin. Ihr werdet auf Eurem Pferd viel schneller vorankommen als wir mit unserem langen Zug, deshalb solltet Ihr dort etwa zur selben Zeit eintreffen wie wir. Und nun macht Euch auf den Weg!«
»Ich bin bereit, Triarius!« ließ sich der Optio lautstark vernehmen. Er setzte schwungvoll seinen Helm auf, gab den anderen Offizieren einen Wink und führte sie hinaus.
»Ihr«, sagte Strabo zu mir gewandt, »kehrt in Euer
Quartier zurück.« Er blinzelte mir wieder mit einem
Froschauge zu und grinste wollüstig. »Ruht ein wenig, denn bald kommt die Nacht Und morgen früh geht es auf eine
sehr lange Reise.«
Nun, dachte ich bei mir, als ich in meinem Zimmer saß und trübe aus dem Fenster starrte, Strabos Mitteilung an
Theoderich entsprach mehr oder weniger meinen
Erwartungen. Doch was würde Theoderich darauf
antworten? Selbst wenn Swanilda ihn nicht erreicht und Zenos Vertrag nicht überbracht haben sollte bezweifelte ich stark, daß Theoderich auf irgendeine von Strabos
Forderungen eingehen würde. Nein, nicht einmal um der
Sicherheit seiner geliebten Schwester willen. Schließlich war er König zu vieler Menschen, um ihre Hoffnungen wegen
einer einzigen jungen Frau aufs Spiel zu setzen. Dennoch war er sicherlich sehr beunruhigt über die Nachricht, daß Amalamena gefangengehalten wurde und in Gefahr
schwebte.
Nicht weniger betrübt wäre er natürlich, wenn er erführe, daß Amalamena bereits tot war, doch zumindest bliebe ihm dadurch erspart, sich Gedanken darüber zu machen, wie er sie retten könnte, wobei er wahrscheinlich sich oder andere in Gefahr bringen würde. Wie konnte ich es anstellen, ihm diese Nachricht zukommen zu lassen? Gib' nicht nach,
Theoderich. Täusche nicht einmal vor, mit Strabos
erpresserischen Bedingungen einverstanden zu sein. Deine Position ist unangreifbar, Theoderich, und irgendwo existiert immer noch Zenos echtes Dokument, das deine Position
bestätigt.
Ich überlegte hin und her, wie ich ihm das alles mitteilen könnte, als plötzlich etwas völlig Unerwartetes geschah. Als habe er meine Gedanken erraten, gebot mir der Wächter
draußen: »Prinzessin, macht keine unüberlegten
Bewegungen oder Geräusche. «
Ein oder zwei Wächter waren immer da, doch lösten sie
sich natürlich ständig gegenseitig bei der Wache ab. Ich schenkte ihnen jedoch keinerlei Aufmerksamkeit, wenn ich nicht gerade bewußt ihre Beleidigungen, glotzenden Blicke oder liederlichen Belästigungen ignorierte. Deshalb hätten es auch immer derselbe Mann oder dieselben Männer sein können, ich konnte sie nicht unterscheiden. Doch dieser hier kam, als er zu sprechen begann, nicht ins Zimmer geplatzt.
Er sprach mit gedämpfter Stimme vom Flur aus, und seine Stimme klang respektvoll.
»Prinzessin, ich muß schnell sprechen, denn im Moment
ist kein anderer zugegen.«
Unter leichtem Stottern antwortete ich: »Wer... wer bist du?« Und machte eine Bewegung auf die Tür zu, hielt
jedoch inne, als er sagte:
»Ne, kommt nicht näher. Wir dürfen nicht riskieren, daß man sieht, wie wir uns unterhalten. Mein Name ist Odwulf, Prinzessin. Ich bin sicher, daß Ihr mich nicht vom Sehen kennt, und ich habe Euch bis jetzt auch nur aus einiger Entfernung gesehen. Doch war ich einer von Eurer Kolonne
- ein Ulan von Optio Dailas Schar - ich war den ganzen Weg von Novae nach Konstantinopel bis zu der Abschlachterei am Fluß Strymon dabei.«
»Aber... aber... warum bist du nicht tot wie alle anderen?«
»Mein Pech, Prinzessin«, sagte er, und sein Mißmut wirkte nicht gekünstelt. »Vielleicht erinnert Ihr Euch, daß der Optio hier und dort Wachposten entlang der Straße und des
Flusses aufstellte. Zwei andere - mich selbst und einen Mann namens Augis - wies er an, ganz nach oben auf den Paß über dem Lager zu klettern, um von dort Wache zu
halten.«
»Ja... ja. Ich erinnere mich.«
»Augis und ich waren gerade oben angekommen, als
Strabo und seine Männer ihren Angriff starteten. Als wir begriffen, was da im Gange war, kletterten wir sofort wieder den Felsen hinunter. Doch war alles zu schnell vorbei. Ich bedaure das, Prinzessin. Wir bedauern es beide.«
»Tu' das nicht, Odwulf. Es ist besser, daß du überlebt hast. Ich habe mir heute den Kopf zerbrochen, wie ich ein Wunder bewirken könnte. Du bist die Antwort darauf. Doch wie kommt es, daß du hier bist?«
»Nach dem Kampf herrschte völlige Verwirrung - Strabos Männer rannten herum, um die Pferde wieder einzufangen, die sie auseinandergetrieben hatten, andere zogen unsere toten Kameraden aus und plünderten ihre Leichen. Wir
sahen, wie Ihr zum Feuer geführt wurdet. Wir hofften, daß Strabo auch den Marschall unseres Königs verschont hätte.
Doch fanden wir von Saio Thorn nur seinen Helm und seine Rüstung. Es waren die einzigen wertvollen Stücke, die die Plünderer liegengelassen hatten - wie Ihr wißt, war der Marschall ein kleiner Mann, und seine Rüstung paßte
keinem anderen. Auf jeden Fall muß ich mit Bedauern
mitteilen, daß Saio Thorn offensichtlich mit den anderen zusammen starb.«
»Seid Euch da nicht zu sicher«, sagte ich und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Der Marschall war
ebenfalls ein gewitzter Mann.«
»Doch niemals ein Feigling«, verteidigte Odwulf mich in unerschütterlicher Treue. »Ich habe gehört, wie er in
Singidunum gekämpft hat. Jedenfalls nahmen Augis und ich seine Rüstung mit - für alle Fälle. Oder hoffnungsvoll.«
Ich unterdrückte eine freudige Anwandlung, in laute
Dankesbekundungen auszubrechen. Meine maßgefertigte
Rüstung war immer noch in Sicherheit; ich wußte auch, wo mein Pferd und mein Schlangenschwert waren; und nun
hatte ich auch noch unerwarteterweise - ich konnte es kaum glauben- zwei tapfere Verbündete gefunden, die sich in meiner Nähe aufhielten.
»Doch Ihr habt überlebt, Prinzessin«, fuhr Odwulf fort.
»Deshalb dachten Augis und ich, wenn wir in der Nähe
blieben, könnte sich vielleicht irgendwann einmal eine Gelegenheit ergeben, Euch zu retten.«
»Und Ihr folgtet Strabos Kolonne den ganzen Weg bis
hierher?«
»Ne, ne. Wir waren in der Kolonne. Wir haben uns einfach unter die anderen gemischt und sind geritten, wenn sie es auch taten. Ach, wir waren schon manchmal in Gefahr,
entdeckt zu werden. Doch ist die Truppe stärker als hundert Mann. Bei so vielen Männern kennt nicht jeder jeden
anderen. Vielleicht hätte uns der Optio, Ocer, am ehesten als Fremde entlarven können, doch bemühten wir uns, ihm nicht unter die Augen zu geraten. Erst jetzt, da Ocer
abgereist ist, ließ ich mich von einem Vorgesetzten für diese Wache einteilen und - slavaith, Prinzessin. Da kommt
jemand.«
Es war ein anderer Unteroffizier, der den Flur
entlanggestapft kam und in Strabos Zimmer trat. Erst als Strabo und er sich laut miteinander unterhielten, fing Odwulf wieder leise zu sprechen an:
»Ihr sagtet, Prinzessin, daß Ihr ein Wunder vollbringen wolltet. Sagt mir, welches, und ich werde versuchen, es zu schaffen.«
»Zunächst muß ich dir mitteilen, ritterlicher Krieger, daß ich nicht deine Prinzessin Amalamena bin. Aber...«
»Was?« platzte er heraus.
»Aber ich handle auf Anweisung der Prinzessin, ihren
Platz einzunehmen, und Strabo glaubt auch, daß ich
Prinzessin Amalamena bin.«
»Aber... aber... wer seid Ihr dann?«
»Auch mich hast du nur aus der Entfernung gesehen. Ich bin die Zofe der Prinzessin, Swanilda.«
Odwulfs gemurmelte Kommentare klangen nun fast
erstickt. »Liufs Guth! Augis und ich haben unser Leben riskiert, um einer Dienerin auf den Fersen zu bleiben?«
»Ich habe auf Amalamenas Anweisungen hin gehandelt,
wie ich schon sagte. Und das müßt ihr auch, aus Treue zu ihr.«
Wir wurden erneut unterbrochen, als Strabo und sein
Besucher aus dem Zimmer gegenüber kamen und, unter
rauhem Gelächter, den Flur hinuntergingen. Als sie fort waren, kam Odwulf endlich in mein Zimmer und starrte mich an.
»Siehst du?« sagte ich. »Ich habe graue Augen.
Amalamena hatte blaue.«
Er runzelte die Stirn und fragte: »Was wollt Ihr damit sagen sie hatte? Hat Strabo auch die Prinzessin getötet?«
»Ne. Strabo glaubt, er halte sie gefangen, aber alles, was er hat, bin ich.«
Odwulf schüttelte den Kopf, als könne er sich dadurch
mehr Klarheit verschaffen, dann seufzte er und sagte: »Nun gut. Wenn Ihr alles seid, was übrig ist, werden Augis und ich eben Euch befreien. Wir müssen einen Plan fassen, wie wir am besten...«
»Ne«, sagte ich. »Ich möchte nicht befreit werden.«
Nun starrte er mich völlig fassungslos an. »Seid Ihr von Sinnen, Frau?«
»Keine weiteren Fragen, Ulan Odwulf. Solange wir noch
Zeit haben, mußt du zuhören und dann das tun, was ich dir sage.«
Er murmelte etwas verstockt: »Alle Götter mögen mich
verdammen, wenn ich verstehe, was hier vor sich geht. Ich bin es jedenfalls nicht gewohnt, Anordnungen von einer weiblichen Bediensteten entgegenzunehmen.«
»Wenn du sie hörst, wirst du sie freudig befolgen. Nun slavaith, und hör zu. Du sahst Optio Ocer von hier
aufbrechen. Er ist auf dem Weg nach Singidunum, um
Theoderich Strabos Lösegeldforderungen zu überbringen
und geltend zu machen, daß Strabo Amalamena als Geisel gefangenhält. Theoderich muß mitgeteilt bekommen, daß
das nicht stimmt.«
Odwulf dachte kurz darüber nach und sagte dann: »Ja,
das verstehe ich. Sobald ich bei dieser Wache abgelöst werde...«
»Ne, ne. Nicht du sollst gehen. Nun, da ich dich kenne und auch wiedererkennen kann, Odwulf, bleib' bei diesem Trupp und tu dein bestes, nicht entdeckt zu werden. Sende deinen Kameraden Augis zu Theoderich. Sag ihm, er solle hinter Ocer hergaloppieren - oder, wenn möglich, vor Ocer
Singidunum zu erreichen versuchen. Hier, gib ihm das mit.«
Ich gab ihm den goldenen Hammer des Thor. »Dies wird der Beweis für die Wahrheit seiner Botschaft sein. Sag' Augis, er solle Theoderich diese Nachricht überbringen.
Unglücklicherweise gibt es nichts, was er tun kann, um seine Schwester, die Prinzessin, zu retten. Die traurige Tatsache ist, daß Amalamena tot ist.«
»Jesus.« Odwulf machte das Kreuzzeichen auf seiner
Stirn. »Ihr sagtet doch, sie sei nicht getötet worden.«
»Sie starb an einer auszehrenden Krankheit. Theoderich kann das bestätigt bekommen, wenn er einen Boten nach
Novae entsendet und dort bei seinem Hofarzt Frithila
nachfragen läßt. Doch vor ihrem Tod vereinbarten die
Prinzessin und ich noch diesen Austausch. Ich sollte mich für sie ausgeben, um Strabo zu täuschen. Verstehst du, solange er denkt, daß er Amalamena gefangen hält und
darauf wartet, daß Theoderich sich seinen Forderungen
beugt, bedeutet Strabo weder eine Bedrohung noch ein
Hindernis. Theoderich kann mit seinen eigenen Plänen
fortfahren, seine Macht über Moesia verstärken, seine
Beziehungen zu Zeno festigen und fast alles tun, was ihm gefällt. Verstehst du das?«
»Ich... ich glaube ja. Und deshalb wollt Ihr nicht befreit werden?«
»Ja. Außerdem sehe, höre oder erfahre ich vielleicht
etwas von seinen eigenen Plänen und Absichten, solange ich in Strabos Gesellschaft bin - Dinge, die ich später Theoderich mitteilen kann und durch die ihm Vorteile
entstehen.«
Odwulf nickte und schwieg einen Moment. Dann sagte er:
»Vergebt mir, Swanilda, daß ich vorhin so unhöflich zu Euch war. Ihr seid eine tapfere und kluge junge Frau. Ich werde Augis auch sagen, er solle Theoderich das mitteilen.«
Die Reise dauerte wirklich sehr lang. Die Entfernung
zwischen Serdica und unserem Zielort stellte sich als viel größer heraus als die zwischen Novae und Konstantinopel, die meine eigene Kolonne zurückgelegt hatte. Ich sah das Schwarze Meer zum ersten Mal, als wir einen unbewohnten Streifen seiner haemimontischen Küste erreichten. Wir ritten dann an dieser Küste entlang nach Norden, über die
unsichtbare Grenze hinweg in die Provinz Moesia Secunda, was bedeutete, daß wir uns auf einem Gebiet befanden, das rechtmäßig Theoderich zustand - deshalb führte uns Strabo so schnell Wie möglich durch diesen Landstrich, wobei er den Kurs nach Norden beibehielt und wir schließlich das Schwarze Meer nicht mehr sehen konnten. Erst als wir eine weitere unsichtbare Grenze überquert hatten, die uns in die Provinz Skythien führte, wandten wir uns wieder nach Osten und erreichten schließlich die Küstenstadt Constantiana.
Die Stadt war auch von Konstantin dem Großen gegründet worden, und ihr Name geht auf die Schwester jenes Kaisers zurück, Constantia. Strabo hatte sie einfach besetzt,
benutzte sie, ob zu Recht oder Unrecht, momentan als seine Hochburg und betrachtete sie offenbar als seine
»Hauptstadt«. Nun, Constantiana verdiente damals wie
heute einen klangvollen Titel, denn es ist eine schöne, angenehme, dicht besiedelte Stadt, in deren großem Hafen sich - wie in dem von Perinthus am Propontis - viele Küsten-und Hochseeschiffe tummeln. Strabos Wohnsitz und
Praitoriaun waren unter demselben Dach vereint, doch
handelte es sich dabei um ein äußerst umfangreiches Dach, das sich über zahlreiche Gebäude, Baracken, Lagerhäuser, Sklavenunterkünfte, Ställe und dergleichen erstreckte, ähnlich dem Purpurpalast in Konstantinopel, wenn auch von geringerer Größenordnung. Die Palast- , Verwaltungs- und Militärgebäude präsentierten der übrigen Stadt eine
gleichmäßige, schmück- und fensterlose Steinfassade, doch innen waren viele kleine Gärten, Innenhöfe und ein
ausgedehnter Paradeplatz. Ich wurde zu einem der
Innenhöfe geführt, und Strab teilte mir mit, daß es sich dabei um meinen eigenen privaten Hof handele, in dem ich mich frei bewegen könne. Er war von Mauern eingeschlossen, die zu hoch waren, als daß ich sie hätte überwinden können, und in einer der Mauern befand sich eine Tür - vor der natürlich ständig ein Wächter postiert sein würde - die in meine Privaträume führte.
Die Zimmer hatten Fenster, die auf einen der Gärten
hinausgingen, doch war der Garten zu dieser Jahreszeit dürr und unfruchtbar, und die Fenster waren fest vergittert. Ein Dienstmädchen war schon angewiesen worden, als meine
ständige Betreuerin zu fungieren. Sie hatte ein kleines Zimmer für sich. Camilla verdiente kaum die Bezeichnung Kammerzofe, da sie nur ein verdrießlicher griechischer Bauerntrampel war. Außerdem stellte ich bald fest, daß sie taubstumm war. Zweifellos war sie deshalb als meine
Dienstmagd auserkoren worden, denn ich konnte eine
Taubstumme natürlich nicht dazu überreden, Nachrichten für mich weiterzugeben, noch konnte ich Informationen über irgend jemanden oder irgend etwas aus ihr
herausbekommen.
Die Unterkunft war kaum als fürstlich zu bezeichnen, doch hatte ich schon unter weit schlimmeren Bedingungen
gehaust und sollte zumindest nicht in irgendeinem dunklen Verlies angekettet werden. Ich bemühte mich, Strabo
keinerlei Zeichen von Genugtuung oder Resignation
erkennen zu lassen, doch schien er sich keinen Pfifferling darum zu scheren, in welcher Gemütsverfassung ich mich gerade befand.
»Ich nehme an, Ihr werdet Euren Aufenthalt hier genießen, Prinzessin« , sagte er. »Ich glaube wirklich, daß das der Fall sein wird. Ich glaube, Ihr werdet diese Wohnung mit der Zeit so zu schätzen wissen, daß Ihr Euch - und häufig auch ich -
und schließlich auch unser Sohn - sehr gern für lange, lange Zeit in diesen Räumen aufhalten werdet.«
3
Ob Strabo nun die Absicht hatte, mich für immer als sein Spielzeug zu halten, oder ob er wirklich erwartete, daß ich einen würdigeren Erben empfangen und gebären würde,
oder ob er (da ich ja nie schwanger werden würde)
schließlich meiner überdrüssig werden und mich kurzerhand umbringen lassen würde - eines war mir ganz klar: Als er sagte, ich würde »lange, lange Zeit« in seinem Palast in Constantiana festgehalten werden, meinte er, für den Rest meines Lebens.
Wäre ich wirklich Prinzessin Amalamena gewesen, wäre
ich mit der Aussicht auf ein solches Schicksal
höchstwahrscheinlich verzweifelt. Aber ich hatte ja meine ganz privaten Geheimnisse, die mich trösteten, und gute Aussichten, mit Odwulfs Hilfe meine Flucht in Szene zu setzen, wann immer ich den Zeitpunkt für geeignet hielte. Ich wußte, daß Odwulf noch immer bei uns war, denn ich hatte ihn auf unserer Reise hierher gelegentlich zu Gesicht
bekommen. Bei der ersten Gelegenheit hatte er mir kaum merklich zugenickt, um mir zu verstehen zu geben, daß sein Gefährte, der Ulan Augis, auf dem Weg zu Theoderich war.
Danach hatte Odwulf keinen Kontakt mehr zu mir
aufgenommen, und wenn wir zufällig aneinander
vorbeigingen, provozierte er mich wie alle anderen Soldaten mit liederlichem Geschwätz oder grinste mich lüstern an, doch keiner von uns zeigte auf irgendeine Weise, daß er den anderen kannte. Da sich hier in Constantiana noch
wesentlich mehr von Strabos Truppen aufhielten - obwohl beileibe keine große Armee, soweit ich es beurteilen konnte
-, fand es Odwulf wahrscheinlich einfacher (und dankte sicher dem Himmel dafür), sich unter sie zu mischen, ohne als Eindringling entlarvt zu werden. Jedenfalls gelang es ihm hin und wieder, als Wachposten an der Tür zu meinem
Vorhof eingeteilt zu werden, einfach nur, um in Erfahrung zu bringen, ob ich irgend etwas von ihm brauchte. Das war zwar nicht der Fall - noch nicht -, doch konnten wir ungestört miteinander reden, da die Dienerin Camilla nicht in der Lage war, mitzuhören. Für mich war das sehr angenehm, da ich ansonsten nur Strabo als Gesprächspartner hatte.
Strabo redete oft und viel - und, wenn er nicht gerade während des Kopulationsaktes keuchte, grunzte oder
sabberte, konnte er sich sogar ganz leidlich ausdrücken -, und er ließ sich über viele Dinge aus, die mich ungeheuer interessierten. Er war äußerst gesprächig, wenn er matt und erschöpft war, nachdem er seine Fleischeslust an mir gestillt hatte, doch der Grund, warum er mir vieles so offen
anvertraute, war nicht, daß er aus Liebe zu mir wie von Sinnen war. Er redete, weil er gerne prahlte und weil er sich sicher war, daß ich niemals die Möglichkeit haben würde, irgendwelche Vorteile aus den Geheimnissen zu ziehen, die er ausplauderte.
Selbstverständlich enthüllte er bei seinen Ausführungen nicht nur finstere Geheimnisse. Bei unserer Ankunft in Constantiana äußerte er Erstaunen und Mißfallen - nicht nur mir, sondern jedem gegenüber, der sich in Hörweite befand
, weil sein Optio Ocer nicht schon da war und ihn mit einer Nachricht voll Reue, Zugeständnissen und Unterwerfung von Theoderich erwartete. Doch weil es für Ocers Verspätung viele harmlose Gründe geben konnte, machte Strabo damals kein allzu großes Aufhebens darum. Als die Zeit jedoch fortschritt und der Optio immer noch nicht erschien, wuchsen Strabos Besorgnis und Verstimmung, und er herrschte mich oft an:
»Falls Euer nichtsnutziger Bruder erwartet, mir durch
absichtliche Verzögerung seiner Antwort irgendeinen
Kompromiß abzuschmeicheln, hat er sich gewaltig
getäuscht!«
Ich reagierte auf diese Bemerkungen nur mit einem
Achselzucken, als wolle ich sagen, daß ich mit der
Angelegenheit nichts zu tun habe, sie mich nicht interessiere und ich nichts daran ändern könne, selbst wenn ich wollte.
Ein anderes Mal drohte Strabo:
»Vielleicht würde es die schwächliche Unentschlossenheit Eures Bruders beflügeln, wenn ich anfangen würde, ihm
Eure Finger zukommen zu lassen, einen in der Woche.«
Ich gähnte und sagte: »Schickt ihm Camillas Finger.
Theoderich würde kaum Verdacht schöpfen, und sie würde sie kaum vermissen. Sie gebraucht sie selten genug hier.«
»Iesus Xristus«, sagte Strabo voller Hochachtung. »Ihr mögt ja nur vortäuschen, eine Prinzessin zu sein, doch seid Ihr ganz sicher eine Ostgotin. Eine Raubritterin! So
unbarmherzig wie eine Vertreterin der Unterwelt! Und wenn Ihr mir einen Sohn schenkt, welch ein starker, kräftiger und stahlharter Sohn wird das sein!«
Ein anderes Mal sprach er von etwas anderem, das
offensichtlich kein Geheimnis war, für mich jedoch eine unglaubliche Neuigkeit darstellte. Er hatte sich damit gebrüstet, wie sehr Kaiser Zeno ihn schätzte, unterstützte und von ihm abhängig war, als ich einen kühnen Vorstoß wagte:
»Aber angenommen, mein Bruder hat sich an den Kaiser
von Rom um Hilfe gewandt. Wärt dann nicht Ihr und Theoderich einander ebenbürtig und entstünde somit nicht eine Pattsituation?«
Strabo rülpste gewaltig und knurrte: »Väi! Es gibt keinen Kaiser in Rom.«
»Nun, ich meine natürlich Ravenna. Und ich weiß, daß er nur ein Junge ist und verächtlich ›Kleiner Augustus‹ genannt wird...«
»Ne, Tie. Audawakrs entthronte diesen Jungen Romulus
Augustulus, schickte ihn ins Exil und ließ seinen Vater, den Regenten, enthaupten. Zum ersten Mal seit mehr als
fünfhundert Jahren trägt kein Römer den hochtrabenden
Titel eines Kaisers. Wahrhaftig, das ganze Römische Reich des Westens existiert nicht mehr. Sein Name wurde von den Landkarten der Welt entfernt.«
»Was?«
»Wo wart Ihr bloß, Mädchen, daß Ihr das nicht erfahren habt?« Strabo legte den Kopf schief, um mich mit einem seiner Augen ungläubig anzustarren. »Ach, ja, ich vergaß.
Ihr wart lange Zeit auf der Straße unterwegs. Ihr müßt Konstantinopel verlassen haben, kurz bevor die Nachricht hier eintraf.«
»Welche Nachricht? Wer ist Audawakrs?«
»Ein Ausländer, wie ich und Ihr. Er ist der Sohn des
verstorbenen Königs Edika der Skiren.«
»Von Edika habe ich gehört«, sagte ich, in Erinnerung an das kleine Dorf, das von Menschen ohne Hände bewohnt
war. »Theoderich - mein Vater erschlug König Edika
während einer Schlacht, kurz bevor er selbst starb. Doch was hat Edikas Sohn zu tun mit...?«
»Audawakrs schloß sich als Jugendlicher der römischen
Armee an und erreichte bald, Rang für Rang
emporklimmend, eine Position von höchster Bedeutung. Er eiferte Riccimer, diesem anderen Ausländer vor ihm, nach und ist seit kurzem der ›König-Macher‹ in Rom. Es war
Audawakrs, der den jungen Augustulus auf den Thron
setzte, und Audawakrs, der ihn wieder vom Thron stieß «
»Warum? Der König-Macher Riccimer war damals der
wirkliche Beherrscher des Westlichen Reiches und jeder wußte es, doch gab er sich stets damit zufrieden, im
Schatten des Throns zu stehen.«
Strabo zuckte die Schultern und rollte mit den Augäpfeln.
»Audawakrs ist nicht so. Er wartete nur auf einen Vorwand.
Die Ausländer in der Armee reichten eine Petition ein, bei Beendigung ihres Dienstes Landsitze zugesprochen zu
bekommen, die immer den in Italia Geborenen vorbehalten gewesen waren. Augustulus oder vielmehr sein Vater Orest lehnte dies mit Entschiedenheit ab. Deshalb vertrieb
Audawakrs den Jungen, ließ Orest hinrichten und
verkündete, daß er die Petition billige. Die ausländischen Truppen jubelten ihm begeistert zu und ließen ihn auf ihren Schilden hochleben. Deshalb regiert Audawakrs nun sowohl namentlich als auch tatsächlich.«
Strabo kicherte in sich hinein und genoß es sichtlich, von den verheerenden Zuständen in Rom zu erzählen. Er fügte noch hinzu: »Natürlich haben die Römer große
Schwierigkeiten, seinen Namen in der alten Sprache
auszusprechen. Sie haben daraus Odoaker gemacht, was
im Lateinischen soviel bedeutet wie ›verhaßte Klinge‹.«
»Ein Ausländer!« flüsterte ich fassungslos. »Der Kaiser von Rom! Wahrhaftig, ein noch nie dagewesener Umsturz.«
»Ne, er erhebt keinen Anspruch auf den kaiserlichen Titel.
Das wäre zu dreist, und dafür ist er zu schlau. Weder die Bürger von Rom, noch Kaiser Zeno hätten ihm das gestattet.
Nichtsdestoweniger scheint Zeno völlig damit einverstanden zu sein, Odoaker weiterhin im Westen regieren zu lassen, so lange er fortfährt, dem Kaiser des Ostens seine Ehrerbietung zu zollen. Das heißt, dem einzigen Kaiser alles dessen, was vom Römischen Reich noch da ist.«
Strabo rülpste erneut, als sei es ihm vollkommen
gleichgültig, daß er ja eigentlich vom Ende einer Ära
gesprochen hatte, vielleicht dem Ende der modernen
Zivilisation, möglicherweise sogar vom Ende der gesamten Weltordnung, wie wir sie kannten.
Immer noch verwirrt sagte ich: »Ich habe den Überblick darüber verloren, wieviele Kaiser in Rom oder Ravenna
regiert haben, seit ich auf der Welt bin. Doch hätte ich mir nie träumen lassen, daß ein Ausländer - ne, ein wilder Barbar, wenn er von den Skiren abstammt - maßgeblich am Zerfall des größten Imperiums in sämtlichen Annalen der Geschichte beteiligt ist.«
»Auf jeden Fall«, sagte Strabo spitz, »hege ich große
Zweifel, daß Odoaker sich jemals mit dem Sohn des Mannes verbünden wird, der seinen Vater erschlagen hat.«
»Ne«, mußte ich einräumen und seufzte. »Von dieser
Seite kann Theoderich keine Freundschaft erwarten.«
»Andererseits«, sagte Strabo, »wenn es einem Ausländer gelungen ist, solchen Ruhm zu erlangen, könnte es auch einem anderen gelingen.«
Er kniff seine Froschaugen zusammen, wie ein Frosch, der eine schmackhafte Fliege entdeckt hat, lächelte verschlagen und sprach dann ganz langsam, als lauere er der Fliege schon einige Zeit auf, um plötzlich zuschnappen zu können.
»Odoaker könnte sehr wohl Erfolg damit haben, die
verschiedenen Nationen und Parteien des Westens
miteinander zu vereinen. Er könnte aus ihnen eine so
mächtige Liga machen, daß Zeno ihn als einen höchst
unbequemen Nachbarn unmittelbar neben dem Östlichen
Imperium betrachten würde. Ich glaube, daß es dazu
kommen wird. Bis es so weit ist, werde ich Zeno, der meinen unwürdigen Sohn Rekitach bei sich hat, weiterhin in dem Glauben lassen, er habe mich als seinen Sklaven unterjocht.
Er soll ruhig denken, daß ich sein demütiger und
unterwürfiger Handlanger bin. Und dann, wenn Zeno
jemanden braucht für die Invasion, Eroberung und
Übernahme von Odoakers Gebieten... wer käme dafür mehr in Frage als Zenos seit langem treu ergebener und
vertrauenswürdiger Günstling, Thiudareichs Triarius? Niu?
Und dann... wollen wir wetten, wie lange Zenos Imperium sich dann noch halten kann? Niu?«
Ausgezeichnet. Ich hatte mich nur aus dem einen Grund
gefangennehmen lassen, um so viel wie möglich von
Strabos ehrgeizigen Plänen und Absichten in Erfahrung zu bringen, und nun war mir das gelungen. Sie waren
verblüffend einfach: Er strebte nach der Weltherrschaft. Es klang so wahrscheinlich, glaubhaft und durchführbar, daß ich versucht war, sogleich Vorkehrungen für meine Flucht zu treffen, um in gestrecktem Galopp Theoderich die
Neuigkeiten überbringen zu können.
Es gab jedoch noch einige weitere Dinge, die ich in
Erfahrung bringen wollte - eine Sache insbesondere, die mich seit unserer Ankunft in Constantiana interessierte.
Deshalb schnitt ich eines Nachts das Thema an, als Strabo nach seinen schweißtreibenden Bemühungen, die er schwer atmend und keuchend hinter sich gebracht hatte, matt und schläfrig dalag.
«Ihr spracht von der Unbesiegbarkeit Eurer Armee und
davon, wie sehr Zeno sie fürchtet«, sagte ich. »Doch habe ich hier noch keine Armee gesehen, nur eine Garnison, und die besteht aus weniger Männern als diejenige, welche
Theoderich in unserer Stadt Novae eingesetzt hat.«
»Skeit!« grunzte Strabo unanständig. »Meine Armee ist eine Armee, kein Bienenstock voller Drohnen.
Garnisonsaufgaben macht Männer zu Faulpelzen und
Nichtsnutzen. Ich habe die meisten meiner Männer auf dem Schlachtfeld, wo Soldaten hingehören. Sie kämpfen, wie es sich für Soldaten gehört.«
»Gegen wen kämpfen sie?«
»Gegen jeden.« Er fuhr schläfrig fort, als wäre die
Angelegenheit nicht besonders wichtig. »Vor kurzem hatten zwei meiner unterworfenen Stämme oben im Norden in den Sümpfen des Donaudeltas - zwei unbedeutende Seitenlinien der Herulianer - aus irgendwelchen Gründen Streit. Dann fingen sie, ohne meine Erlaubnis, einen kleinlichen Krieg untereinander an. Ich schickte meine Armee hin, um die Sache im Keim zu ersticken.«
»Woher wußte Eure Armee, auf wessen Seite sie sich
schlagen sollte?«
»Was? Sie hatten selbstverständlich den Befehl, alle kämpfenden Männer auszulöschen, und ihre Frauen und
Kinder als Sklaven gefangenzunehmen. Wie sollte ich sonst wohl Ungehorsam bestrafen?« Er streckte sich träge und furzte. »Zufälligerweise ergaben sich jedoch ziemlich viele der aufständischen Krieger feige, bevor sie erschlagen werden konnten. Deshalb ist ein Teil meiner Armee im
Moment auf dem Rückweg hierher und bringt diese
Kriegsgefangenen mit - etwa dreihundert von jeder Seite, wie man mir sagte. Ich werde sie auf eine Art und Weise hinrichten lassen, die jedem in Constantiana Vergnügen bereiten wird. Vielleicht die Tunica molesta. Oder wilde Tiere. Oder das Patibulum. Ich habe mich noch nicht
entschieden.«
Ich ließ nicht locker: »Aber wenn Ihr Eure Armee dauernd auf dem Schlachtfeld habt und hier nur eine kleine Garnison, was sollte Theoderich - oder irgendeinen anderen Feind -
daran hindern, Constantiana zu belagern? Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr und Eure Garnisonstruppen und alle Bürger von Constantiana vom Hunger zur Kapitulation
gezwungen werden würdet, lange bevor Eure Armee hier
sein könnte, um Euch zu befreien.«
Er schnaubte angeekelt. »Vai! Die Worte von Frauen sind leeres Geschwätz! Diese Stadt könnte von allen Armeen
Europas zusammen nicht erfolgreich belagert werden. Ihr saht doch den Hafen. Die Schiffe aus dem Schwarzen Meer könnten Constantiana, falls nötig, jahrzehntelang mit
Nahrungsmitteln, Waffen und Vorräten versorgen, damit es weiter Widerstand leisten kann. Nur wenn alle Kriegsflotten Europas sich zusammenschließen würden, könnte eine
Blockade Constantiana gefährlich werden. Aber keine Flotte könnte hierher gelangen, ohne sich durch die Meerenge des Bosporus zwängen zu müssen, um in das Schwarze Meer
zu gelangen. Jede sich nahende Flotte würde mir schon so lange vorher gemeldet werden, daß ich Maßnahmen
ergreifen könnte, sie zurückzudrängen.«
»Ja, darauf hätte ich selbst kommen müssen.«
»Hört zu, närrische Dirne. Die einzige Art, wie diese Stadt zerstört werden könnte, ist von innen. Ein Aufstand entweder der Einwohner oder der Truppen. Und das ist ein weiterer Grund, warum ich die meisten meiner Soldaten in sicherer Entfernung von hier einsetze. Es gab immer Armeen, die sich gegen ihre Führer aufgelehnt haben. Doch ist die
Garnison, die ich hier habe, groß genug - und ich sorge dafür, daß meine Männer die Bevölkerung mit aller Brutalität einschüchtern -, um jeden potentiellen Revolutionär unter den Städtern zu entmutigen.«
Ich bemerkte dreist: »Ich glaube kaum, daß Eure Truppen oder Euer Volk Euch wegen dieser Maßnahmen sehr
gewogen sind.«
»Ich gebe keinen Pfifferling für ihre Sympathie,
ebensowenig wie für Eure.« Er hustete Schleim hoch und spuckte ihn auf den Boden vor meine Füße. »Obwohl ich
beileibe kein sklavischer Imitator der saftlosen Römer bin, befolge ich doch zwei ihrer alten Maximen. ›Divide et
impera.‹ Teile, um regieren zu können. Das ist ein weiser Ratschlag. Die zweite gefällt mir sogar noch besser. ›Oderint dum metuant.‹ Laßt sie nur hassen... wenn sie sich nur fürchten.«
Odwulf kam auf dieselbe Angelegenheit zu sprechen, als er das nächste Mal als Wache eingeteilt war.
»Die paar Krieger, mit denen ich flüchtig bekannt bin, denken, ich sei nicht ganz richtig im Kopf«, sagte er. »Um zu erklären, daß ich erst seit kurzem bei ihnen bin, tischte ich ihnen die Geschichte auf, daß ich früher ein Ulan in
Theoderichs Armee war, daß ich erwischt wurde, wie ich beim Würfelspiel mogelte, am Auspeitschpfahl schwer
bestraft wurde und daß ich dann meine Kameraden verließ, um mich statt dessen Strabos Streitkräften anzuschließen.«
»Mir scheint das ein klug ausgedachter Vorwand zu sein«, sagte ich. »Was finden sie daran so unsinnig?«
»Sie sagen, daß nur ein Mann mit Skeit im Kopf Strabos Armee Theoderichs vorziehen würde.«
»Warum denn? Offensichtlich tun sie das doch auch.«
»Bei ihnen liegt es daran, daß ihre Familien schon lange Strabos Zweig der amalischen Linie die Treue halten. Sie fühlen sich verpflichtet, ihm zu dienen, doch sind sie sehr unzufrieden. Ach, sie sind gute Kämpfer, ja, und Strabo gibt ihnen oft Gelegenheit zum Kampf. Doch selbst wenn es
niemanden zu bekämpfen gibt, läßt er sie in irgendeinem Hinterland reiten, marschieren und auf der Lauer liegen.«
»Ich habe davon gehört.«
»Bis auf die gelegentliche Abwechslung, hier in der
Garnison von Constantiana zu dienen, dürfen sie selten die Zerstreuungen einer Stadt genießen: ein ausgelassenes
Fest in einem Bordell, eine gute Mahlzeit, ein ordentliches Besäufnis und vielleicht noch eine handfeste Schlägerei in einer Taberna, nicht einmal ein schönes, erholsames Bad in einer Therme.«
»Wollt Ihr damit etwa sagen, Odwulf, daß Strabos Männer ihn verlassen und zu Theoderich überlaufen könnten?«
»Ach, ne. Nicht in so kurzer Zeit. Sie, ihre Väter und Großväter sind der amalischen Linie, von der Strabo
abstammt, schon zu lange verpflichtet. Ich vermute, ihre Unzufriedenheit könnte vielleicht zu offener Rebellion aufgepeitscht werden, doch brauchte man dazu Agitatoren, die so spitzfindig wären wie Priester, und es wären eine Menge davon erforderlich und das ganze würde
möglicherweise viele Jahre dauern.«
»Wenn Strabo aber eliminiert würde«, sagte ich
nachdenklich, »... wenn sie keinen Führer mehr hätten, dem sie folgen könnten...«
Odwulf sah mich so ähnlich an wie Strabo, als ich ihm
vorgeschlagen hatte, er solle die Finger der Dienstmagd amputieren. Er sagte: »Swanilda, ich habe schon von
Amazonen gehört, doch habe ich nie damit gerechnet,
einmal einer zu begegnen. Schlagt Ihr vor, den Mann zu ermorden? Ihr selbst? Eine schlanke junge Frau gegen
einen zähen alten Krieger? Hier in seinem eigenen Palast, in seiner eigenen Stadt, mitten in seinem eigenen
Territorium?«
»Falls ich das tun würde - oder falls irgend jemand das täte wenn seine Truppen keinen Strabo als Oberhaupt
hätten, glaubst du, daß sie statt dessen Theoderich als ihren König anerkennen würden?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin nur ein einfacher
Soldat. Zweifellos wären sie ziemlich verwirrt und
verunsichert. Doch bedenkt, Swanilda, Strabos
Regierungsgewalt würde seinem Sohn Rekitach übertragen werden.«
Ich murmelte: »Ich glaube, nicht einmal Strabo würde
seinen guten Männern einen Fisch als König wünschen.
Doch sag, Odwulf, wie hast du es fertig gebracht, so lange unentdeckt zu bleiben? Kannst du das noch etwas länger durchhalten?«
»Ich glaube schon, ja. Es ist ein seltsames und für einen Soldaten ungewohntes Gefühl, nicht irgendeiner Schwadron anzugehören, beim Appell nicht zu antworten, keine
Aufgaben irgendwelcher Art zu haben. Doch ich habe schon dazugelernt. Immer, wenn ich irgendwohin gehe, trage ich etwas mit mir herum. Etwas Großes und weithin Sichtbares.
Einen unbehauenen Holzklotz, einen Packen Speere, die
poliert werden müssen, einen reparaturbedürftigen Sattel.
Jeder Offizier, der mich sieht, glaubt, ich sei mit irgendeiner Aufgabe oder einem Auftrag für einen anderen Offizier
unterwegs.«
»Mach weiter so. Sei unauffällig. Mir kommt da eine Idee, und falls ich versuchen sollte, sie in die Tat umzusetzen, werde ich dich brauchen. Eine Abordnung von Strabos
Truppen wird bald von einer kleineren Schlacht irgendwo nördlich von hier zurückkehren. Sie bringen einige Hundert Kriegsgefangene, Herulianer. Wenn sie eintreffen, sorg'
dafür, daß du wieder zur Wache vor meiner Tür eingeteilt wirst. Ich werde dir dann sagen, was ich vorhabe. Und ich versichere dir, Odwulf, dann wirst du dich wieder als echter Soldat fühlen.«
Als Strabo mir das nächste Mal einen Besuch in meinen
Gemächern abstattete, war er fast einem Schlaganfall nahe, der ihn daran hinderte, mich zu belästigen, von Camilla ganz zu schweigen. Mit Schaum vor dem Mund und unstetem
Blick brüllte er mich an:
»Meine Geduld ist kurz vor dem Ende! Der
vertrauenswürdige Optio Ocer hätte nicht gewagt, mich in Ungewißheit warten zu lassen. Es muß falsches Spiel
seitens Eures nichtsnutzigen Bruders dahinterstecken, das Ocers Rückkehr hierher verzögert. Bei allen Göttern, Eurem Kreuz, Eurem Hammer und den Ausscheidungen Eurer
Jungfrau Maria werde ich nur noch zwei Tage länger warten!
Heute abend treffen diese herulianischen Gefangenen ein.
Ich bin in der Stimmung, sie morgen inständig wünschen zu lassen, daß sie auf dem Schlachtfeld umgekommen wären, wie es sich gehört. Doch wenn ich mit ihnen fertig bin, falls bis übermorgen immer noch keine Nachricht von
Singidunum da ist, schwöre ich, daß ich...«
»Ich habe eine Idee, was diese Gefangenen betrifft«,
unterbrach ich ihn.
»Eh?«
»Oder habt Ihr schon beschlossen, was mit ihnen
geschehen soll? Die wilden Tiere? Die Tunica? Das
Patibulum?«
»Ne, ne«, sagte er ungeduldig. »Das ist alles viel zu
harmlos, um meinen momentanen brüllenden Blutdurst zu
stillen.«
»Dann laßt mich Euch etwas wirklich Blutrünstiges
empfehlen«, sagte ich und täuschte Begeisterung vor.
»Habe ich nicht ein Amphitheater hier in Constantiana
gesehen, als wir ankamen?«
»Ja, ein sehr schönes, großes, von weißem parischem
Marmor. Doch falls Ihr Gladiatorenkämpfe vorschlagen wollt, laßt es bleiben. Einzelkämpfe sind sogar noch harmloser, ermüdender und langweiliger als...«
»Einen
phantastischen
Wettkampf«, sagte ich
überschwenglich. »Diese Stammesbrüder erzürnten Euch,
weil sie versuchten, einander abzuschlachten, niu? Dann laßt sie das doch tun. Alle zur gleichen Zeit. Zwingt sie dazu.
Jagt sie alle in die Arena. Dreihundert von dem einen Stamm gegen die dreihundert des anderen. Um sie noch mehr
anzuspornen, könntet Ihr Ihnen versprechen, den letzten Überlebenden jedes Stamms zu verschonen und ihm die
Freiheit zu schenken. Wahrhaftig, ein Wettkampf dieser Größenordnung müßte an all das herankommen, was
Caligula oder Nero jemals ersonnen haben. Die Arena wird wahrscheinlich knöcheltief voll Blut sein.«
Voller Bewunderung schüttelte Strabo so heftig den Kopf, daß seine Augäpfel fast aus den Höhlen fielen, und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Ich hoffe inbrünstig, daß Ocer wirklich rechtzeitig hier eintrifft, damit ich Euch nicht verstümmeln muß, Amalamena.
Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die so viele meiner eigenen Leidenschaften teilt, und es wäre wirklich ein Jammer, wenn ich Euch umbringen müßte. Eine
Raubritterin, eine Vertreterin der Unterwelt nannte ich Euch, und das seid Ihr auch. Caligula und Nero - in Walis-Halla oder Avalonnis oder wo immer sie jetzt auch residieren -
sterben sicher noch einmal vor lauter Neid, daß ich Euch gefunden habe.«
»Dann zeigt Eure Dankbarkeit«, sagte ich. »Laßt mich
neben Euch sitzen und dem Schauspiel beiwohnen.«
Er murmelte mit finsterem Blick: »Nun, das...«
»Ich bin noch nie aus diesen Räumen herausgekommen,
seitdem Ihr mich hierher brachtet. Und noch nie durfte mich jemand besuchen, nur einmal der Garnisonspfarrer. Er sagte mir, daß ich, beschmutzt und besudelt wie ich sei, keine Aussicht auf den Himmel der Christen habe. Laßt deshalb zu, daß ich mich unwiderruflich der Hölle verschreibe.
Kommt, Triarius. Würdet Ihr wirklich einer Raubritterin die Gelegenheit verwehren, beim Töten dabei zu sein? Würdet Ihr eine Vertreterin der Unterwelt daran hindern, sich an dem zu weiden, was ihrem ureigensten Wesen entspricht?
Strabo lachte kurz auf. »Nur zu wahr. Doch werdet Ihr mit einer Handschelle an einen Wächter gefesselt sein. Und ich hoffe Ihr genießt das Spektakel, Weib. Es ist mein voller Ernst, wenn ich schwöre, daß das nächste Blut, das
vergossen wird, das Eure sein wird.«
Als an diesem Abend die Wachablösung stattfand, war der neue Wächter, der mir und Camilla die Tabletts mit unserem Abendessen brachte, erwartungsgemäß der Ulan Odwulf. Er erzählte mir, die herulianischen Gefangenen seien
inzwischen in der Stadt angekommen und in die Verliese unter dem Amphitheater gesperrt worden. Die Frauen und Töchter seien den Soldaten der Garnison überlassen
worden, die ein großes Gelage veranstalteten.
Ich meinerseits berichtete ihm von den umfangreichen
Gladiatorenwettkämpfen,
die am nächsten Morgen
stattfinden sollten. Dann sagte ich zu ihm: »Ich möchte, daß du die Rüstung und das Pferd von Marschall Thorn
herbeischaffst. Strabo und ich sitzen morgen in dem
zentralen Podium in dem Rang des Amphitheaters, der auf gleicher Höhe mit der Arena liegt. Binde also das Pferd an und verstecke die Rüstung irgendwo in der Nähe des
Privateingangs zu diesem Podium.«
»Aber ich dachte, wir würden die Rüstung nur als
Andenken aufbewahren. Ihr wollt sie tragen?«
Ich sagte leichthin: »Saio Thorn war nicht viel größer als ich. Sie müßte mir eigentlich gut passen. Und er brachte mir auch bei, auf seinem Pferd zu reiten, mit diesem Fußseil darum herum. Bedenke, Odwulf, vor nicht allzu langer Zeit waren die ostgotischen Frauen selbst auch keine schlechten Kämpferinnen.«
»Trotzdem... eine Dienerin, die zur Prinzessin...«
»Ich hoffe, mein Dienstbotendasein hat mich nicht
allzusehr verweichlicht. Tu einfach, was ich Dir sage. Und noch eins. Strabo wählt morgen bestimmt einen
vertrauenswürdigen Wächter aus, an den er mich dann
fesselt. Versuch' aber, so nah wie möglich bei mir zu sein.«
»Keine Sorge«, sagte er. »Jeder wird morgen einen
schweren Kopf haben nach dem Gelage heute nacht. Ich
werde keine Schwierigkeiten haben, mich in der Nähe
aufzuhalten. Und Swanilda, wir wollen beide beten, daß unser Plan gelingt. Wenn wir nicht fliehen können, werden wir den morgigen Tag ganz sicher nicht Überleben.«
4
Am nächsten Morgen zog ich Veledas edelste Gewänder
an, benutzte teure Kosmetika und legte den wertvollen
Schmuck an, den ich aus Novae mitgebracht hatte.
Strabo erschien dann auch bald, ebenfalls prächtig
gekleidet. Er trug statt der schweren Rüstung einen Mantel und eine Tunika aus feinem, leichtem Stoff; Schwertgehenk und Scheide waren mit Juwelen verziert. Er sah erstaunlich gepflegt aus, und sogar sein normalerweise völlig zerzauster Bart war hübsch gestutzt und glatt gekämmt. Er legte den Kopf schief, um mich von Kopf bis Fuß mit jedem Auge
einzeln zu mustern, rieb sich die Hände, grinste und sagte warm:
»Amalamena, ich bin wirklich froh, daß es Euch erst
morgen an den Kragen geht. So schön und verführerisch
habe ich Euch noch nie gesehen. Wenn der Wettstreit in der Arena unseren gemeinsamen Blutdurst gestillt hat, genießen wir bestimmt unser eigenes privates Fest heute abend. Ich werde es jedenfalls ganz sicher genießen. Wirklich zu
schade, daß es das letzte Mal sein muß.«
»Falls nicht Freya oder Tyche oder eine andere
Glücksgöttin sich dazu herabläßt, mir vorher zuzulächeln«, sagte ich.
»Ach ja, falls der überfällige Ocer plötzlich auftauchen sollte. Doch ich fürchte, daß Eure Gnadenfrist rapide abläuft.
Kommt, sollen wir jetzt aufbrechen, um uns das Gemetzel anzusehen, nach dem es Euch so gelüstet?«
Er gab dem bewaffneten Soldaten, den er bei sich hatte, einen Wink, worauf der Mann die eiserne Handschelle eines Sklaven um mein rechtes Handgelenk schloß. Die Kette war bereits an einer identischen Handschelle befestigt, die der Mann an seinem linken Handgelenk trug.
Als wir unsere Plätze im Amphitheater eingenommen
hatten schwenkte Strabo träge ein weißes Tuch, worauf sich die Tore in dem Mauerrund der Arena öffneten. Von ihren zahlreichen bewaffneten Wächtern gestoßen, strömten die herulianischen Gefangenen auf den Sandplatz. Jeder Mann war splitternackt bis auf einen blauen oder grünen
Farbklecks auf seiner Brust, um deutlich zu machen,
welchem der beiden Stämme er angehörte. Aus den
verschiedenen Stämmen wurden zwei Gruppen gebildet, die sich in der Arena gegenüberstanden. Jeder Mann trug ein römisches Gladiatoren-Kurzschwert aber kein Schild, was bedeutete, daß es zwangsläufig ein schrecklicher und
blutiger Nahkampf werden würde.
Strabo gab ein weiteres Zeichen. Die Wächter gingen
durch die Tore der Arena hinaus und verriegelten sie so, daß keiner der Wettkämpfer fliehen oder sich verstecken konnte.
Die Herulianer liefen auf ihren jeweiligen Seiten der Arena durcheinander und besprachen offenbar untereinander die Lage, andere zeigten auf die Männer, die ihnen gegenüber standen und mit einer anderen Farbe beschmiert waren.
Doch nach kurzer Zeit drehten sie sich alle um und schauten zum Podium. Das Stadtvolk auf seinen Sitzen tat es ihnen gleich und begann zu schreien: » Letfairweitlgaggan! « - und drängten Strabo, »das Vergnügen beginnen zu lassen«. Ich wandte mich ebenfalls um, doch nur, um einen Blick auf Odwulf zu erhäschen. Er gab mir durch sein Kopfnicken zu verstehen, daß er meine Anweisungen befolgt hatte, und schnitt dann eine Grimasse, die besagen sollte: »Wir können nur abwarten und hoffen.«
Strabo lächelte und ließ mutwillig noch einige Zeit
verstreichen, um seine gierigen Untertanen etwas auf die Folter zu spannen. Dann erhob er sich träge von seinem Lager und trat an die Brüstung des Podiums, um das Wort an die Gladiatoren zu richten. Falls diese Männer Strabo vorher noch nie persönlich gesehen hatten, waren sie sicher äußerst erstaunt zu beobachten, daß es ihm möglich war, gleichzeitig beide Kompanien zu fixieren. Seine Rede
bestand größtenteils aus dem, was ich zuvor zu ihm gesagt hatte: daß diese aufrührerischen Stammesleute, die die Autorität ihres Königs untergraben hatten, indem sie
versucht hatten, einander abzuschlachten, nun die
Gelegenheit erhalten würden, genau das zu tun, die Blauen gegen die Grünen. Für den Fall, daß ein letzter Mann auf beiden Seiten überleben sollte, würden diese Beiden nicht nur mit dem Leben davonkommen, sondern darüber hinaus
als ehrenvolle Krieger des Königs eigener Palastwache
zugeteilt werden.
»Haifsts sleideis haifstjandau!« beschloß Strabo seine Rede: »Kämpft einen erbitterten Kampf!« Dann kehrte er gelassen zu seinem Lager zurück und machte es sich darauf bequem, so daß seine perlenverzierten Füße von allen
gesehen werden konnten, bevor er das weiße Tuch
schwenkte und fallen ließ zum Zeichen, daß der Kampf nun beginnen möge.
Das tat er auch, aber nicht so, wie Strabo und die anderen Schaulustigen sich das vorgestellt hatten. Als das Tuch fiel, stürmten die Blauen und Grünen nicht etwa aufeinander los.
Vielmehr schlugen sie die andere Richtung ein und strebten auf die Seitenwände der Arena zu. Ein paar von den
Männern nahmen ihre Schwerter zwischen die Zähne,
sprangen hoch, klammerten sich an der über ihnen
liegenden Brüstung fest, zogen sich an ihr hoch und
sprangen über sie hinweg. Andere wiederum traten in die zu Schalen geformten Hände ihrer Kameraden und wurden
über die Mauer gehievt. Dann beugten sich diejenigen, die schon oben waren nach unten und zogen andere nach. Die Zuschauer, denen plötzlich nackte und bewaffnete Männer kopfüber in den Schoß plumpsten, behinderten sich
gegenseitig in dem Bemühen, die Flucht zu ergreifen. Alle anderen in dem Amphitheater aber - auch Strabo - waren so vom Donner gerührt, daß sie sitzen blieben, auf den noch nie dagewesenen Tumult starrten und erstaunt vor sich hin murmelten.
Das Gemurmel schlug jedoch in Geschrei und Gebrüll um, als die nackten Herulianer begannen, ihre Schwerter zu schwingen. Sie schlugen wahllos zu, und die Männer,
Frauen und Kinder, die eng aneinander gedrückt in den
Sitzen saßen, waren ihnen hilflos ausgeliefert. Einige von den Zuschauern warfen die Arme hoch, um sie als Schilde einzusetzen. Ihre Arme wurden abgetrennt und flogen durch die Luft. Dasselbe geschah mit Fingern, Händen, Ohren, Nasen und einer beträchtlichen Anzahl vollständiger Köpfe -
meistens die von Kindern, da diese einfacher abzutrennen waren - sowie mit undefinierbaren Fleischfetzen, und
Fontänen hellroten Blutes spritzten umher.
Noch bevor Strabo selbst richtig begriffen hatte, was
passierte, erholte sich mein eigener privater Wächter von seinem sprachlosen Erstaunen und langte mit der linken Hand nach seinem Schwert. Gleichzeitig riß ich jedoch
meinen rechten Arm hoch, an dem die Handschelle befestigt war, und verhinderte es. Mit aller Kraft lehnte ich mich dann seitlich auf die Kette und zwang damit seinen Arm in eine Position zwischen uns. Odwulfs Schlangenschwert kam von hinten nach unten geschossen und durchtrennte den
Unterarm des Wächters, ein kleines Stück oberhalb der
Handschelle. Das hatte zur Folge, daß nicht nur die Kette und zwei Handschellen von meinem eigenen Handgelenk
baumelten, sondern auch seine schwere, blutende,
zuckende Hand. Doch die Tapferkeit des Wächters verdiente Anerkennung. Trotz seiner schweren Verwundung gelang es ihm irgendwie, sein Schwert mit der rechten Hand zu ziehen, und er kämpfte verzweifelt, um Odwulfs nachfolgende
Schläge abzuwehren.
Inzwischen war auch Strabo auf den Beinen und brüllte
mich an: »Falsche Schlange, die Ihr seid, das war Euer Werk!«
Auch er hatte ein Schwert und ging damit auf mich los, und eigentlich wäre es in diesem Moment um mich
geschehen gewesen. Da ich jedoch nur eine unbewaffnete Frau war, machte er sich nicht die Mühe, die richtige
Stellung einzunehmen und genau zu zielen, ja nicht einmal mit aller Macht das Schwert zu führen. Sein Schwert traf nur meinen spiralförmigen bronzenen Brustpanzer und prallte daran ab. Der Hieb selbst war entsetzlich schmerzhaft, nahm mir die Luft und brachte mich zum Straucheln. Doch ehe Strabo sich in Positur stellen und wieder losschlagen konnte, dieses Mal mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang, hatte Odwulf den Wächter niedergestreckt, holte nun noch einmal aus und Strabo stürzte zu Boden. Seltsamerweise blutete er nicht, was mir trotz meines angeschlagenen
Zustands auffiel.
»Ich traf ihn... mit der flachen Seite... meines Schwerts«, erklärte Odwulf keuchend. »Ihr hattet keine Anweisungen gegeben... ich wußte nicht... ob Ihr... ihn jetzt schon... tot haben wolltet.«
»Ich... glaube... nicht...«, krächzte ich, nach Luft ringend, während ich mich im Amphitheater umblickte. Bei dem
allgemeinen Tumult schenkte uns kein Mensch auch nur die geringste Beachtung. Ich sagte zu Odwulf: »Ich möchte, daß Strabo noch nicht stirbt. Er soll sich aber wünschen, er wäre schon tot. Hier, lös' die Schraube und befrei' mich von dieser Handschelle. Ich brauche keine drei Hände. Nun gib mir den Degen des toten Wächters. Und leih' mir dein eigenes
Schwert und deine Kraft, um mir beizustehen.« Ich sagte ihm, was wir tun würden, und wo. »An den Knien und
Ellbogen. Es ist einfacher, Gelenke zu durchtrennen als Knochen entzwei zu schlagen.«
Strabo war immer noch bewußtlos, als wir begannen, an
ihm herumzuschneiden, doch war er auf der Stelle hellwach.
Natürlich wehrte er sich wie ein Verrückter. Er war ja auch ein gewaltiger, bärenstarker Koloß. Jedoch war er bereits geschwächt, weil ihn Odwulf bewußtlos geschlagen hatte und seine Kräfte verließen ihn noch schneller, als das Blut aus ihm herauszuströmen begann. Darüber hinaus war er
nur mit Stoff bekleidet, während Odwulf seine Rüstung trug und ich alles andere als eine schwächliche Frau war. Als daher sein Ende nahte, schrie Strabo nur noch und winselte um Gnade, genauso kläglich und nutzlos wie jeder beliebige seiner unseligen Untertanen aus Constantiana.
»Schwein-Mann«, rief ich ihm zu und keuchte, diesmal vor Anstrengung. »Bis Ihr verblutet... könnt Ihr Euch... auf allen Vieren fortbewegen. Auf Euren vier Stümpfen. Wahrhaftig, ein Schweine-Mann. Niu?«
»Kommt, Swanilda«, sagte Odwulf. »Die Menge hat sich
einen Weg gebahnt durch den Torweg dort unten. Wir
können uns auf den Stufen unter sie mischen und
unbemerkt auf die Straße gelangen.«
»Ja«, sagte ich und schaute dorthin, wo er hinzeigte.
»Unsere Pferde, Thorns Rüstung, wo ist das alles?«
»Gut versteckt und unter Dach und Fach«, sagte er
lachend. »Genauer gesagt, in einem Haus, meine ich. Direkt gegenüber vom Privateingang dieses Podiums. Von der
Familie war keiner da sie waren hier drüben, um sich die Wettkämpfe anzusehen -, deshalb dachte ich: warum
nicht?«
»Gut gemacht. Geh' schon los. Ich komme dir gleich
nach.« Ich beugte mich noch einmal über Strabo und sagte:
»Nur noch zwei Dinge.«
Seine verstümmelten Glieder zuckten nach oben, als wolle er einen Schlag abwehren. Ich nahm jedoch nur mein
Reliquien, fläschchen von der Kette um meinen Hals, öffnete den Verschluß und preßte das kristallene Glas zwischen Strabos Lippen, die inzwischen eine hellblaue Färbung
angenommen hatten.
»Hier«, sagte ich. »Das ist die einzige Absolution, die Ihr bekommen werdet. Ihr habt Euch oft genug lustig gemacht über die Milch der Heiligen Jungfrau. Nun mögt Ihr vielleicht an ihr herumnuckeln, während Ihr Eure letzten Gebete
sprecht.«
Ich stand auf und sah mich um, um sicherzugehen, daß
Odwulf außer Seh- und Hörweite war.
»Nun zu der anderen Sache«, sagte ich. »Ich gebe Euch
einen kleinen Trost mit auf Euren Weg in den Tod. Schämt Euch nicht, daß es nur eine Frau war, die Euch erschlug. Ich bin nicht Prinzessin Amalamena.« Und nun belog ich ihn bewußt, obwohl ich hoffte, daß nur die Hälfte davon nicht stimmte. »Amalamena befindet sich in Sicherheit bei ihrem Bruder Theoderich - ebenso wie der echte Vertrag, verfaßt und unterschrieben von Kaiser Zeno. Daß ich in
Gefangenschaft geriet und so lange hier festgehalten wurde, diente lediglich dazu, Euch dieses Wissen vorzuenthalten, bis es zu spät war.«
Er stöhnte verzweifelt und krächzte in Froschmanier:
»Aber wer... Ihr elendes Weibsstück... wer seid Ihr?«
Ich erwiderte schnippisch: »Mitnichten ein Weibsstück, nicht einmal eine Amazone. Ich bin ein Raubvogel. Und Ihr hofftet, von mir einen Sohn zu empfangen, niu?« Ich lachte.
»Ihr wurdet getäuscht, verhöhnt, überlistet und offenbartet schließlich Euer wahres Ich, das eines Schweine-Mannes.
Zur Strecke gebracht wurdet Ihr von einem Hermaphroditen, der sich Thorn Mannamawi nennt.«
Ich wünschte, ich könnte berichten, daß alles, was ich für diesen Tag geplant hatte, auch genauso passierte, doch sollte es leider anders kommen.
Ich verbarg das blutverschmierte Schwert, das ich an mich genommen hatte, in einer Falte meines blutbefleckten
Gewands und rannte in, die Richtung, in der Odwulf
verschwunden war, durch den Ausgang und einige Stufen
hinunter, wobei ich über mehrere zu Boden getrampelte
Körper springen mußte. An einem Treppenabsatz war mir
jedoch der Weg versperrt, und ich sah, daß auch Odwulf nicht weitergekommen war. Er war eingekeilt zwischen einer Menschenmenge, die sich hatte retten können. Halb
wahnsinnig vor Wut packten die Leute ihn, stießen ihn hin und her und schrien ihm Verwünschungen zu.
»Einer von Strabos feigen Wachen! Auf der Flucht!«
»Warum ist er nicht dort drin und kämpft gegen diese
Teufel?«
»Meine schöne Tochter wurde getötet! Und so einer lebt!«
»Aber nicht mehr lang!«
Odwulf versuchte, sie zurechtzuweisen, konnte sich aber bei dem Tumult kein Gehör verschaffen. Natürlich erhob ein Berufssoldat nicht sein Schwert gegen unschuldiges
Stadtvolk. Ich hätte das tun können, einfach um sein Leben zu retten, doch der Mob stand zu dicht gedrängt und war zu sehr in Bewegung, als daß ich mich rechtzeitig hätte zu ihm durchkämpfen können. Der Mann, der geschrien hatte ›Nicht mehr lang!‹ hatte im selben Moment Odwulfs Schwert aus der Scheide gezogen. Odwulf versuchte noch einmal, etwas zu sagen, als der Mann ihm die Klinge so heftig in den offenen Mund stieß, daß die Spitze an der Rückseite von Odwulfs Hals wieder austrat.
Als der untadelige Odwulf fiel und sein Schwert senkrecht aus seinem Mund ragte, wie ein Kreuz, das bereits sein Grab markierte, schien die Menge plötzlich kollektiv zur Vernunft zu kommen. In der Einsicht, welchem
abscheulichen Verbrechen sie eben beigewohnt hatten - und nicht ahnend, daß Strabo nicht mehr in der Lage war, sie dafür zu bestrafen - huschten sie schuldbewußt die Stufen hinunter und stoben auf der Straße unten in alle Richtungen auseinander. Ich folgte ihnen langsamer, weil ich noch einen Moment verweilte, um Odwulf den gotischen Gruß zu
entbieten, bevor ich ihn verließ.
Die Straßen der Stadt waren voller Menschen. Die meisten waren offensichtlich auf der Flucht vor dem Aufruhr, da ihre schöne Festtagskleidung blutbefleckt oder zerfetzt war.
Einige rannten nach Hause, andere standen einfach da,
schweigend und verwirrt oder weinend und wehklagend.
Auch viele bewaffnete Soldaten rannten vorbei, nicht weg vom Amphitheater, sondern darauf zu, um ihren Kameraden darin zu Hilfe zu kommen. In der ganzen Verwirrung fiel eine weitere zerzauste und blutverschmierte Frau nicht auf. Ich brauchte Erschöpfung nicht bloß vorzutäuschen, als ich an den Außenmauern des Amphitheaters entlang stolperte und schwankte, bis ich zu dem Eingang kam, den Strabo, mein Bewacher und ich vorher benutzt hatten.
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand ein
schönes herrschaftliches Haus; offenbar gehörte es einer Familie von hohem Rang. Ich stieß die unverschlossene
Eingangstür auf und entdeckte in dem gut ausgestatteten Flur direkt dahinter meinen lieben Velox, den ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte und der immer noch mein Fußseil trug und sogar - ich hatte keine Ahnung, wie es Odwulf gelungen war, das alles zu finden - meinen eigenen Sattel und mein Zaumzeug. Velox wieherte vor Freude und Überraschung, mich zu sehen. Es stand auch noch ein
anderes Pferd da, doch da Odwulf es nicht mehr brauchen konnte, beschloß ich, es einfach da zu lassen, wo es war, als eine weitere Überraschung an diesem Tag für die
Bewohner dieses Hauses, wenn sie, falls überhaupt,
zurückkamen. Auf einem Ecktisch lagen ordentlich
aufeinander gestapelt mein Helm, mein Brustharnisch und ein Bärenfellmantel.
Als ich mir gerade überlegte, wie ich sie am unauffälligsten mit meiner Frauenkleidung kombinieren konnte, lugte ein verwirrtes Gesicht um eine Ecke - ein alter Diener, der mir widerspruchslos gehorchte, als ich ihm befahl, mir seine Tunika, Beinkleider und Lederschuhe zu geben. Da die Stadt noch immer völlig in Aufruhr war, erregte ein eilig
dahinpreschender Reiter in ostgotischer Soldatenuniform ebensowenig Aufsehen wie eine erschöpfte Frau. Jedesmal, wenn ich an einem anderen Soldaten oder einem
Außenposten vorbeiritt, schrie ich einfach: »Gairns bokos!
Dringende Meldung!« und keiner wagte es, mich anzuhalten.
Als ich auf diese Weise schließlich sicher an dem letzten Wachposten in den Außenbezirken der Stadt
vorbeigekommen war, ließ ich Velox eine gemächlichere
Gangart einschlagen.
Ich war entkommen.
Nun war ich also wieder einmal unterwegs, genauso allein und mittellos, wie ich bei meinem Abschied von Balsan
Hrinkhen als Kind gewesen war. Meine einzige Waffe war ein gestohlenes Schwert, das wegen meiner geringen
Körpergröße nicht sehr geeignet für mich war. Wyrds
prächtiger hunnischer Bogen samt Pfeilen war verloren, ebenso alle meine anderen Besitztümer und Habseligkeiten, außer dem, was ich in Novae zurückgelassen hatte -
Immerhin hatte ich Amalamenas Goldkette, die ich statt Geld als Zahlungsmittel benutzen konnte. Ich könnte ihre
einzelnen Glieder und ihr einziges noch verbliebenes
Schmuckstück, den goldenen Anhänger mit Hammer und
Kreuz, gegen alle unentbehrlichen Dinge eintauschen, die ich mir nicht selbst beschaffen konnte. Eine lange
Winterreise lag vor mir, doch hatte ich solche Reisen schon früher erfolgreich hinter mich gebracht. Ich sah keine unüberwindlichen Schwierigkeiten vor mir, was die
Rückreise zu Theoderich betraf.
»Und welch wundersame Geschichte ich ihm dann
erzählen darf!«
Ich mußte das einfach laut herausschreien. Keiner außer Velox konnte mich hören, doch legte das Pferd die Ohren an und spitzte sie in meine Richtung, als ob es mir hingerissen lausche. Deshalb fuhr ich fort:
»Wahrhaftig, ich tötete einen König, ebenso wie
Theoderich Babai, den König der Sarmaten, tötete. Oder wenigstens habe ich einen Rivalen und Bewerber um den
königlichen Thron der Ostgoten getötet. Vielleicht sogar mehr als das. Möglicherweise habe ich nicht nur das
gotische Volk davor bewahrt, von diesem Tyrannen
überwältigt zu werden.«
Ich hatte jedoch einen guten und getreuen Kameraden
verloren, als Odwulf fiel. Doch bedauerte ich das nicht allzusehr, denn ohne Odwulf brauchte ich wenigstens nicht mehr in Verkleidung -
oder je nach Situation in
verschiedenen Verkleidungen - aufzutreten. Und wenn ich bei Theoderich eintraf, würde die Tatsache, daß ich allein kam, sicherlich weniger komplizierte Erklärungen erfordern in bezug auf die Frage, wer ich war.
Oh väi, und wer bist du denn nun eigentlich?
Diese Bemerkung äußerte ich nicht laut, denn sie drängte sich mir aus meinem Unterbewußtsein auf. Es war eine
innere Stimme in mir, die das zu wissen begehrte.
Oder was bist du, daß du so bedenkenlos ein Blutbad in Kauf nimmst, um deine eigenen Ziele zu erreichen? Bist du anderen Lebewesen gegenüber wirklich so gefühllos
geworden wie der Juikabloth? fuhr die Stimme fort.
Bedenke, daß du Strabo prahlerisch erzähltest, du seist ein Raubvogel. Und das war auch nicht das erste Mal, daß du dich arrogant als Raubvogel bezeichnet hast.
Ungeduldig und ärgerlich schüttelte ich diese Gedanken ab. Ich würde es nicht zulassen, daß meine sentimentale und empfindliche weibliche Natur sich einmischte, um den Stolz auf meine männlichen Taten zu trüben oder zu
schmälern. Denn im Moment war ich immer noch Thorn.
Thorn! Thorn!
»Und bei allen Göttern,« schrie ich in die Welt hinaus,
»wenn ich schon ein Raubvogel bin, bin ich wenigstens ein lebendiger und einer, der nicht eingesperrt ist!«
Weiter sagte ich nichts. Ich trieb mein Pferd voran, um an die Donau zu gelangen und ihr flußaufwärts zu folgen.
5
Den ganzen Weg westlich von Constantiana bis hin zur
Donau durchquerte ich ödes, flaches, baumloses Grasland, in dem außer mir und Velox nur noch das dürre braune Gras in Bewegung war, über das ständig ein unangenehm kühler Wind strich. Als ich schließlich das Donauufer erreichte, beschrieb der Fluß an dieser Stelle einen Knick, der meinen Kurs nach Westen kreuzte. Ich mußte mich also nun, um
flußaufwärts weiter zu reiten, in südwestlicher Richtung orientieren. Da ich Straßen vermied, begegnete ich keinen Boten und wurde auch von keinen überholt, obwohl ich
sicher war, daß sie im Galopp in alle Himmelsrichtungen unterwegs waren, um die Nachrichten von dem Blutbad in Constantiana und von Strabos Tod zu verbreiten. Ich hätte gerne gehört, welche Botschaften sie ins Ausland
überbringen sollten und welche Botschaften sie von dort wieder zurückbrachten - von Zeno, von Rekitach und von den anderen Beteiligten. Dennoch war ich zufrieden, nicht auf einer jener vielbenutzten Strecken unterwegs zu sein, da möglicherweise auch Patrouillen ausgesandt worden waren mit dem Auftrag, die verschwundene »Prinzessin
Amalamena« zu suchen, um an ihr Rache zu üben.
Die Donau beschrieb eine Biegung, die mich immer mehr
in direkter Linie nach Westen brachte, und so gelangte ich schließlich nach Durostorum, eine römische Festungsstadt, die einen Flußhafen für Handelsschiffe hat und wo eine Versorgungsbasis für die moesische Flotte ist. Ich war von der Provinz Skythien wieder in Theoderichs zumindest
nominelles Herrschaftsgebiet Moesia Secunda gelangt. Die am Flußufer gelegene Festung war der Sitz der Legio I
Italica, die, ungeachtet ihres Namens, eine Legion von Zenos Östlichem Imperium war. Sie bestand zudem
größtenteils aus Ausländern -
Ostgoten, Alemannen,
Franken, Burgundern und Abkömmlingen anderer
germanischer Stämme. Alle diese Männer betrachteten sich ausschließlich als »römische Legionäre«, und die Ostgoten unter ihnen waren weder Anhänger Strabos, noch
Theoderichs.
Sie hielten mich für einen Boten aus Skythien - offenbar war aus dem Norden kein anderer vor mir da gewesen - und eskortierten mich unverzüglich zum Praetorium ihres äußerst kompetent wirkenden Vorgesetzten, Celerinus, bei dem es sich um einen echten Römer handelte, was bedeutete, daß er in Italien geboren war. Er nahm ebenfalls an, daß ich eine Art Kurier sei, und empfing mich äußerst herzlich. Ich übermittelte ihm die einzige Botschaft, zu der ich befugt war: daß Thiudareichs Triarius tot und seine Hafenstadt
Constantiana am Schwarzen Meer ein Schlachtfeld war.
Celerinus war als langjähriger Soldat entweder gewohnt, öfter erstaunliche Neuigkeiten überbracht zu bekommen, oder er war darin geübt, sich bei solchen Gelegenheiten ganz gelassen zu geben. Er zog lediglich die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte den Kopf. Doch dann erzählte er mir großzügig die neuesten Nachrichten, die er aus dem Westen gehört hatte. Und in der Tat handelte es sich dabei um erfreuliche Neuigkeiten.
Thiudareichs, der Amaler, mein Theoderich, hatte erfolgreich einen Vertrag mit Kaiser Zeno ausgehandelt. (Ich dankte den Göttern schweigend, aber inbrünstig; Swanilda war tatsächlich mit dem Vertrag sicher zu Theoderich
gelangt und Zeno hatte ihn nicht für nichtig erklären können.) Daraufhin hatte Celerinus einen großen Trupp seiner
eigenen Italica-Legion flußaufwärts nach Singidunum
entsandt. Theoderich hatte die Stadt formell an seine Leute abgetreten - und damit an Kaiser Zeno, der in Kürze viele weitere Truppen entsenden würde, um die Stadt gegen
zukünftige Angriffe durch irgendwelche Barbaren schützen zu können.
Im Moment, sagte Celerinus, halte sich Theoderich in
seiner Heimatstadt Novae auf und sei im Begriff, seine verschiedenen ostgotischen Streitkräfte neu zu gruppieren und einzuteilen, um zu verteidigen, was nun unwiderruflich ihre Ländereien in Moesia seien. Man erwarte, daß Theoderich als nächstes die Befehlsgewalt übernehmen
würde, die Zeno ihm zugestanden hatte: Magister militum praesentalis aller militärischen Einheiten, einschließlich seiner Legio I Italica, die die Donau-Grenze des Imperiums sicherten. Celerinus sagte - und es klang aufrichtig -, er freue sich darauf, seinem neuen Oberbefehlshaber den
Treueeid zu leisten.
»Thorn lebt! Das Gerücht war also doch wahr!«
Das waren Theoderichs frohlockende Worte, als ich das
Thronzimmer betrat, wo ich Amalamena zum ersten Mal
gesehen hatte. Offensichtlich war ich erkannt worden, als ich durch die Stadt ritt, und die Neuigkeit war zum Palast von Novae vorgedrungen. Außer dem König erwarteten mich
noch vier weitere Leute, um mich willkommen zu heißen.
Als ich meinen Arm in dem steifen gotischen Gruß nach
oben streckte, schlug ihn Theoderich lachend wieder nach unten. Wir umklammerten gegenseitig unsere rechten
Handgelenke in der kameradschaftlicheren römischen Art, umarmten uns dann wie Brüder nach einer langen Trennung und riefen fast einstimmig: »Es tut gut, dich wieder zu sehen, alter Freund!« Zwei der Männer in dem Raum grüßten mich mit erhobenem Arm, ein anderer Mann nickte mir ernst zu und eine junge Frau lächelte mich verlegen an. Alle
wiederholten Theoderichs warmen Willkommensgruß:
»Wailagamotjands!«
»Nun«, sagte ich zum König, »du scheinst fast alle, die mit dieser Mission zu tun hatten, hier versammelt zu haben.«
Der Mann mittleren Alters, der mich mit erhobenem Arm
begrüßt hatte, war der andere Marschall Saio Soas. Der viel ältere Mann, der mir nur zugenickt hatte, war Lekeis Frithila.
Die hübsche junge Frau war Swanilda. Der junge Mann, der auch den Arm zum Gruß erhoben hatte, war mir unbekannt, doch nahm ich an, daß es sich bei ihm um meinen Kurier Augis handelte, auch ein Ulan wie der verstorbene Odwulf.
Er mußte es sein, denn er starrte mich an, als wäre ich der auferstandene Geist Thorns oder ein Gespenst, das die
Gestalt Thorns angenommen hatte und es war auch
tatsächlich Augis gewesen, den ich mit der Nachricht von Thorns Tod hierher geschickt hatte.
»Du hast nur eine Person nicht hierher bestellt,
Theoderich«, sagte ich. »Strabos Optio Ocer. Ich bin äußerst erpicht darauf, wieder mein eigenes Schwert in Empfang zu nehmen.«
»Du wirst in Kürze wieder vollständig mit allem
ausgerüstet sein. Doch laß mich dich zunächst
beglückwünschen - preisen zu dem überwältigenden Erfolg deiner Mission. Du hast dich als wahrer Ostgote erwiesen, ein beispielhafter Marschall, ein würdiger Herizogo. Die Berichte über diese Mission, die zu uns gelangten, waren jedoch nur bruchstückhaft. Du mußt uns die ganze
Geschichte berichten, die Lücken ausfüllen. Fang' doch damit an, uns - und vor allem dem konsternierten Augis dort drüben - zu erklären, wie es kommt, daß du noch lebst.«
Ich breitete in einer Geste kummervoller Resignation die Arme aus und sagte: »Ne, laßt mich zunächst meiner Trauer Ausdruck geben über jene, die nicht mehr leben. Optio Daila und meine ganze übrige Schwadron mit Ausnahme des
trefflichen Augis dort. Ich hoffe, der Erfolg der Mission rechtfertigt ihren beklagenswerten Verlust. Von all denen, die wir verloren haben, beklage ich am meisten den Tod deiner werten Schwester, Theoderich. Ich hatte Amalamena noch mehr ins Herz geschlossen als selbst du es konntest.«
»Ich hätte dir diese Verantwortung nicht aufbürden
sollen«, sagte er reuevoll. »Doch hatte ich keine Ahnung, daß sie in irgendeiner Weise krank war. Frithila erzählte mir natürlich alles darüber - und daß kein Sterblicher ihr mehr hätte helfen können.«
»So gut ich konnte«, sagte ich, »hielt ich mich an die Anweisungen des Lekeis. Ich versuchte, ihre Stimmung zu heben und dadurch ihre Lebensgeister zu wecken.«
»Und... sie starb dann tapfer«, sagte Theoderich, eine Formulierung wählend, die weder eine Feststellung noch eine Frage war. Nicht ganz bei der Wahrheit bleibend sagte ich: »Ja, sie sah ihrem Tod tapfer entgegen, da sie wußte, daß er unvermeidlich war. Doch am Ende brauchte sie gar nicht tapfer zu sein. Das allerletzte Mal, als ich Amalamena lebend sah, schien sie bei guter Gesundheit und guter
Laune zu sein; sie hatte sogar großen Appetit. Äußerst vergnügt bat sie mich, zu gehen und ihr das Abendessen zu bringen. Als ich damit zurückkam, war sie tot. So schnell so einfach, so friedlich.«
Theoderich seufzte und sagte: »Ich bin froh darüber. Und ich bin froh, daß du überlebt hast, um mir davon zu
berichten. Es trägt dazu bei, den Schmerz über ihren Verlust zu mindern. Doch wer war dann die in Gefangenschaft
gehaltene Frau, die Strabo als meine Schwester ausgab?
Die Frau, für deren Freilassung Optio Ocer diverse
Gegenleistungen forderte.«
»Strabo glaubte wirklich, sie sei deine Schwester, die Prinzessin. In Wirklichkeit war sie eines der Chasar-Dienstmädchen, die uns im Purpurpalast versorgten.
Amalamena übernahm die Frau als ihre Kammerzofe,
nachdem wir Swanilda befohlen hatten, mit Zenos Vertrag hierher zu reiten. Ich nahm an, daß die echte Swanilda« - ich deutete auf sie - »bei Augis' späterer Ankunft mit der Nachricht, daß Strabo nicht Amalamena, sondern eine
Stellvertreterin in seiner Gewalt habe, erraten würde, wer diese Frau sein mußte.«
»Und Swanilda stellte auch tatsächlich diese Vermutung an«, sagte Theoderich. »Doch fiel es mir schwer, daran zu glauben. Wie hätte Strabo eine dunkelhaarige, olivenhäutige Chasar-Bedienstete irrtümlicherweise für eine amalische Prinzessin halten können?«
»Nun, die Frau war außergewöhnlich geschickt für eine
Kammerzofe«, erwiderte ich und verstrickte mich immer
tiefer in meine Lügen. »Sie bleichte ihr Haar und ihre Haut äußerst professionell. Sogar alle unsere eigenen Männer wurden getäuscht - aus der Entfernung. Nicht wahr, Augis?«
Der Ulan nickte, mit weit aufgerissenen Augen. »Später, als sie von Strabo gefangengehalten wurde, gelang es mir, in Verbindung mit ihr zu bleiben. Wie Augis und Odwulf, ein weiterer unserer treuen Anhänger, hatte ich mich unbemerkt unter Strabos eigene Krieger gemischt.«
Augis riß die Augen noch weiter auf, und er nickte nicht, um dieser Bemerkung beizupflichten. Er fragte sich
offensichtlich, wie ihm mein Herumlungern entgangen sein konnte. Deshalb fuhr ich ziemlich verzweifelt fort: »Ich wollte diese verwandelte Chasar-Dienstmagd mit mir hierher
bringen, Theoderich, um dich in Erstaunen zu versetzen.
Und auch, damit du sie hättest loben können, denn sie
spielte ihre Rolle bravourös. Leider war sie unter den Unschuldigen, die bei dem Blutbad in Constantiana ums
Leben kamen, als...«
»Haltet ein, haltet ein!« unterbrach Theoderich
kopfschüttelnd und lachte. »Ich denke, es ist am besten, wenn du mit deinem Bericht am Anfang beginnst. Hier,
Männer, wir wollen alle unsere Liegen enger
zusammenrücken. Und Swanilda, würdest du in die Küche
gehen und die Leute dort bitten, ein paar Erfrischungen zu bringen? Das wird sicher eine lange Geschichte werden, und Thorn bekommt bestimmt großen Durst.«
Ich erzählte also alles, oder beinahe alles, was sich
ereignet hatte, von dem Tag an, als unser Trupp Novae
verlassen hatte, bis zum heutigen Tag meiner Rückkehr.
Kaum hatte ich begonnen, als Swanilda und eine andere
Frau eine riesige, mit Ornamenten verzierte Schale aus vergoldetem Silber voll mit frischem goldenem Met
hereinbrachten, aus deren Mitte ein Schöpflöffel in
anmutiger Vogelform herausragte. Sie stellten die Schale in die Mitte unseres Kreises und gingen dann hinaus, da sie sich nicht anmaßten, bei einem Männergespräch zugegen
zu sein. Ich unterbrach meinen Bericht zwar nicht, doch hatte ich die zweite Frau erkannt. Sie trug bedeutend
kostbarere Kleidung als zu dem Zeitpunkt, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war außerdem hochschwanger,
und aus ihrem Verhalten schloß ich, daß sie die neue Herrin Swanildas, der Kammerzofe, war.
Ich wunderte mich, doch verschob ich irgendwelche
Fragen bezüglich dieser Frau auf später. Als sie gegangen waren und ich in meiner Erzählung fortfuhr, schöpften der eine oder andere von uns Männern hin und wieder einen
Trunk süßen Mets aus der Schale. Entsprechend der Sitte, nach der verfahren wurde, wenn mehrere Männer
zusammen etwas besprachen, handelte es sich hierbei um eine »Brüderschaftsschale«, bei der alle von uns aufgerufen waren, abwechselnd freundschaftlich aus dem einzigen
Schöpflöffel zu trinken.
Ich erzählte meine Geschichte auf ganz ähnliche Weise
wie hier, nur faßte ich mich kürzer und verzichtete auf Details wie die häßlichen Manifestationen von Amalamenas Krankheit. Um die Tatsache zu erklären, daß ich in diesem Moment noch am Leben war, mußte ich mich
gewissermaßen als heroischen Krieger, der vor dem Tod
nicht zurückschreckt, darstellen. Ich berichtete, daß
Amalamenas Tod sich in Pautalia ereignet hätte und daß Optio Daila und ich sie heimlich dort begraben hätten - ohne selbst unsere eigenen Männer davon zu unterrichten - und daß die Chasar-Swanilda anschließend allein in der Karosse weitergereist wäre. Ich erzählte, wie unsere Entdeckung des Verrats des einen Bogenschützen mich und Daila dazu
bewegen hatte, von unserem Kurs abzuweichen und dem
Fluß Strymon zu folgen, bis wir schließlich in den steilen Engpaß geraten waren, in dem uns in einer dunklen Nacht Strabos Soldaten überfallen hatten. Dort hätte ich dann an der Seite meiner Männer gekämpft, sagte ich (wohl wissend, daß Augis dies nicht als Lüge entlarven konnte, da er zu der Zeit hoch oben auf dem Gipfel des Felsens gewesen war).
Dann, erzählte ich weiter, hätte ich erkannt, daß wir auf verlorenem Posten standen und hätte im selben Moment
gesehen, wie Strabos Männer die Chasar-Swanilda aus der Kutsche gezogen hätten - und daraufhin sei mir die Idee mit der Substitution gekommen. Ich entledigte mich meiner
eigenen Rüstung, da sie meinen Rang und meine Identität preisgab, und legte die eines anderen kleinwüchsigen
Mannes an, der bei der Schlacht gefallen war. Ich stahl mich an die Seite der Chasar-Swanilda und hatte dort die
Gelegenheit, ihr dringend notwendige Anweisungen
zuzuflüstern und ihr die Halskette der Prinzessin zu
übergeben. Als Strabo selbst sie dann zur Rede stellte, verkündete sie hochmütig, selbst Prinzessin Amalamena zu sein - und Strabo glaubte ihr.
»Er zweifelte nie an ihr, von jenem Tag an bis zu ihrem letzten«, sagte ich. »Doch hielt ihn das nicht davon ab, sie auf übelste Weise zu mißbrauchen, unter Mißachtung aller Konventionen redlicher Kriegsführung. Sei froh, Theoderich, daß sie nicht unsere Amalamena war. Nur zwei Nächte nach ihrer Gefangennahme, lange bevor er Ocer entsandte, um Lösegeld von Euch zu fordern, entjungferte Strabo die Frau, die er für eine Prinzessin hielt - die Frau, die, nach dem Ehrenkodex aller Krieger, während ihrer Gefangenschaft unter seinem Schutz hätte stehen sollen.«
Theoderich knurrte und obwohl er kein Schwert trug,
machte er eine unwillkürliche Handbewegung auf seinen
Gürtel zu.
Ich berichtete kurz von den anschließenden Ereignissen und schloß mit den Worten: »Du siehst also, wie der Bote Hiob konnte ich allein entkommen, um dir diese Dinge zu erzählen.« Theoderich sagte, wieder etwas ruhiger:
»Nichtsdestoweniger erfülltest du in bewundernswerter
Weise die Mission, zu der ich dich entsandt hatte. Ich und mein ganzes Volk stehen tief in deiner Schuld.
Selbstverständlich werde ich meiner geliebten Schwester ein prächtiges Ehrengrabmal errichten lassen. Und ein weiteres, nur geringfügig unauffälligeres, soll zu Ehren von Odwulf und Daila und all ihren Kameraden, die auch ihr Leben
lassen mußten, erbaut werden. Was Augis hier betrifft, so habe ich ihn vor einiger Zeit zum Anführer der Ulanen
befördert. Als Zeichen meiner Dankbarkeit gegenüber jener Chasar-Frau, die uns so vortrefflich diente, werde ich unseren Palastpriester anweisen, eine Messe für ihre Seele abzuhalten. Habe ich irgend jemanden übersehen, Saio
Thorn?«
»Ne«, sagte ich. »Und ich habe auch sonst nichts mehr zu berichten außer einigen zufällig aufgeschnappten
Neuigkeiten und Klatschgeschichten, die
Staatsangelegenheiten betreffend. Sie würden
wahrscheinlich niemanden außer dir interessieren,
Theoderich.«
Er verstand meinen subtilen Hinweis, stand auf, streckte sich gähnend und erklärte das Treffen für vertagt.
Der Lekeis und der Ulan verließen das Zimmer.
Theoderich, ich und Soas, der andere Marschall, blieben zurück. Als wir zu unseren Liegen zurückschlenderten,
flüsterte ich Theoderich zu:
»Diese gutaussehende und vornehm gekleidete junge
Dame, die die Met-Schale mithereintrug - ist das nicht das Mädchen aus Singidunum, das du Aurora zu nennen
pflegtest?«
»Ja«, erwiderte Theoderich, ohne im geringsten die
Stimme zu senken. »Ich nenne sie immer noch Aurora. Ich vergesse ständig ihren richtigen Namen. Es sprach sich herum, daß sie ein Kind von mir erwartete, deshalb...« Er grinste, halb stolz, halb albern und zuckte die Schultern.
»Meine Glückwünsche euch beiden«, sagte ich. »Doch...
du hast sie geheiratet und erinnerst dich nicht einmal an ihren Namen?«
»Sie geheiratet? Gudisks Himins, ne, das könnte ich nicht machen. Es kann ihr daher selbstverständlich auch kein offizieller Titel zugesprochen werden. Doch bewohnt sie jetzt Amalamenas frühere Gemächer und erfüllt alle Pflichten einer königlichen Gemahlin. Das wird so lange der Fall sein, bis ich eines Tages eine Frau von genügend hohem Rang
finde, die ich zur Frau nehmen kann.«
»Und wenn das nicht geschehen sollte?«
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Mein Vater hatte
auch nie eine rechtmäßige Königin. Unsere Mutter war auch nur seine Konkubine. Das brachte keinen Makel oder
irgendwelche sonstigen Nachteile für uns mit sich. Alles, was in Bezug auf die Thronfolge zählt, ist, daß ich Auroras Kind -
oder ihre Kinder - als meine eigenen anerkenne.«
Als wir wieder begannen, Met aus der Schale zu schöpfen, sagte ich: »Ich habe jetzt sehr lange geredet. Was ich noch an Gerüchten, Klatschgeschichten und aufgeschnappten
Indiskretionen zu berichten habe, kann noch ein wenig
warten. Ich würde gern erfahren, was sich hier im Westen ereignet hat, solange ich fort war.«
Theoderich gab Soas einen Wink, und der wortkarge
Mann berichtete in wenigen knappen Worten von seiner
eigenen Mission an einem kaiserlichen Hof. Wie ich bereits wußte, hatte Saio Soas in Ravenna nicht Julius Nepos als Kaiser angetroffen, sondern den ›Kleiner Augustus‹
genannten Knaben, der gerade zum Imperator gekrönt
wurde. Da der Wechsel mannigfache Verzögerungen mit
sich brachte - die Krönungsfeierlichkeiten, die Ernennung neuer Berater und vieles mehr - blieb Soas nichts anderes übrig, als untätig zu warten, bis er Theoderichs Nachricht und den geräucherten Kopf des Legatus Camundus
überbringen konnte. Selbst nachdem sich die Aufregung
etwas gelegt hatte und der neu ernannte junge Kaiser
anfing, Audienzen zu gewähren, waren viele andere
Abgesandte noch vor Soas an der Reihe. Als der
verabredete Termin dann endlich näherrückte, kam der
zweite große Umsturz - der nicht nur die Regentschaft von Romulus Augustus beendete, sondern das gesamte
weströmische Reich einschließlich der Vorstellung, daß ein Imperium von zwei gleichberechtigten Kaisern regiert
werden könne, veränderte. Audawakrs, bekannt als
Odoaker, übernahm als König und Untergebener von Zeno, Kaiser des Ostens, die Herrschaft.
Soas schloß mit den Worten: »Ich hütete mich, Odoaker
eine Petition im Namen Theoderichs vorzutragen, der den Vater des Mannes erschlagen hatte. Deshalb ritt ich wieder fort in der großen
Hoffnung« - er wies mit dem Kopf in meine Richtung -
»daß ein junger Kollege mehr Erfolg gehabt hätte.« Dann machte Soas noch einen kleinen Scherz, den einzigen, den ich je von ihm verommen hatte. »Ich besitze immer noch einen prächtigen geräucherten Kopf, falls jemand ihn haben möchte.«
Ich sprach nun über einige der vertraulichen Mitteilungen, die Strabo »Amalamena« gegenüber preisgegeben hatte -
daß die Tatsache, daß sein Sohn Rekitach als Geisel in Konstantinopel festgehalten wurde, Zeno keine wirkliche Macht über ihn gab und daß er damit rechnete, von Zeno dazu ermuntert zu werden, den Skiren Odoaker von seinem römischen Königsthron zu vertreiben. Ich zitierte Strabos eigene Worte in bezug auf Odoaker:
»Wenn es einem Ausländer gelungen ist, zu solcher Macht zu kommen, kann es auch einem anderen gelingen.«
Mit einem mutwilligen Funkeln im Blick fragte Theoderich:
»Schlägst du vor, daß ich Strabos Plan in die Tat umsetzen soll? Daß ich Odoaker vertreibe und die Herrschaft über das westliche Imperium an mich reiße?«
»Du bist zumindest dazu berechtigt, alle Ostgoten unter deiner Herrschaft zu vereinen«, erwiderte ich. »Strabos Constantiana ist in Aufruhr, in ganz Skythien herrscht Verwirrung. Strabo ist tot, und seine Völker sind führerlos.
Jetzt könntest du, zumal du noch Zenos Ernennung als
Magister militum praesentalis als Rechtfertigung hast, der wahre König aller Ostgoten werden, ohne auch nur dein Schwert zu zücken.«
»Bis auf ein kleines Detail«, sagte Marschall Soas.
»Strabo ist nicht tot.«
Ich fragte mich, ob ich zuviel Met getrunken hätte; ich konnte einfach nicht glauben, diese Worte gehört zu haben.
Theoderich warf mir einen mitfühlenden Blick zu und
erklärte:
»Während deiner langen Reise hierher, Thorn,
galoppierten Boten aus Constantiana schneller und auf
direkterem Weg nach Konstantinopel, Ravenna, Singidunum und in alle anderen größeren Städte, einschließlich dieser hier. Sie berichteten, daß Strabo zwar verletzt, aber noch am Leben sei.«
»Das ist unmöglich!« keuchte ich. »Odwulf und ich ließen den Mann mit vier verstümmelten Gliedern zurück, und aus jedem Stumpf spritzte Blut. Sogar seine Lippen waren blau und blutleer.«
»Ach, ich zweifle nicht an deinen Worten, Thorn. Die
Boten sagten, er sei ans Bett gefesselt, und nur zwei oder drei seiner geschicktesten und vertrauenswürdigsten Ärzte dürften ihn sehen. Nun, das ist nicht verwunderlich, wenn er nun so aussieht, wie du ihn uns beschrieben hast. Doch offensichtlich wurden seine Überreste entdeckt, bevor er den letzten Tropfen Lebensblut verlor. Vielleicht war aber auch göttliche Vorsehung mit im Spiel. Das erzählt man sich jedenfalls.«
»Eh?«
»Es heißt, Strabo habe sein Leben erneut Gott dem Herrn verschrieben und schwöre, er werde von nun an ein
besserer arianischer Christ sein als jemals zuvor.«
»Er wird keine allzu große Mühe damit haben. Aber
warum?«
»Um seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen für seine wundersame Errettung vom Tod und für seine
fortschreitende Besserung. Er schreibt alles einem Trunk von der Brustmilch der Heiligen Jungfrau Maria zu.«
6
Es war mir bestimmt, Strabo noch ein weiteres Mal in
meinem Leben zu sehen, wenn auch nur aus der Ferne, und das war einige Jahre später, deshalb werde ich davon zu gegebener Zeit berichten. Bei meiner Rückkehr nach Novae und nach meinem Wiedersehen mit Theoderich hatte ich
erwartet, mich ausruhen und frische Kräfte sammeln zu
können, bis mein König eine weitere Mission planen würde, auf die er seinen Marschall Thorn zu entsenden gedachte.
Doch war Theoderich natürlich sehr beschäftigt mit
mannigfachen eigenen Aufgaben. Die erste Pflicht eines Königs besteht darin, sich um die Bedürfnisse und Nöte seiner Untertanen zu kümmern. Und nun, als wahrer König aller Ostgoten, hatte Theoderich eine wahre Flut an
administrativen Details zu bewältigen, die seine
Aufmerksamkeit erforderten. Außerdem mußte er sich mit einer Vielzahl militärischer Angelegenheiten befassen, da er den Oberbefehl über die Donaugrenze übernommen hatte.
Und als Aurora zur angemessenen Zeit ihr gemeinsames
Kind zur Welt brachte, erwies sich Theoderich als
bewundernswert guter Ehemann und Vater. Wenn er
überhaupt jemals irgendwelche dringichen Angelegenheiten ruhen ließ, dann nur, um die Zeit mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Arevagni zu verbringen.
Ich will damit nicht sagen, daß ich ignoriert oder vergessen worden wäre; ganz im Gegenteil. Ich bekam alles, was
einem hochgeschätzten Herizogo gebührt und hatte dann
die Muße, meinen Erfolg in ungestörter Ruhe zu genießen.
Theoderich überschrieb mir das Anwesen eines anderen
Herizogos, der kürzlich verstorben war, ohne eine Witwe, Nachkommen oder andere Erben zu hinterlassen: ein
blühendes Landgut am Ufer der Donau, das von freien
Pächtern geführt wurde und auf dem Sklaven die Arbeit
verrichteten.
Auch weiterhin unternahm ich gerne Reisen, fand es aber auch angenehm, in ein eigenes Zuhause zurückkehren zu
können. Das war etwas, was ich nie zuvor besessen hatte.
Weil ich immer noch über den Verlust Amalamenas trauerte
- oder, um es ehrlicher auszudrücken, weil meine Sehnsucht nach dieser lieblichen Nymphe ungestillt geblieben war und nun für immer bleiben würde - hegte ich nicht den Wunsch, mich nach einer Gemahlin umzuschauen, die mir auf
meinem abgelegenen Landsitz hätte Gesellschaft leisten können. In der Tat mußte ich wiederholt die in freundlicher Absicht unternommenen Versuche der Dame Aurora
abwehren, mit verschiedenen ungebundenen weiblichen
Wesen des Hofes zu Novae eine Verbindung einzugehen,
von adeligen Witwen bis hin zu der hübschen Kammerzofe Swanilda. Deshalb nahm ich gelegentlich eine Sklavin zu mir, um mein Bett zu wärmen, einerseits, um mich vor der Versuchung zu bewahren, eine so langfristige Verbindung einzugehen, und andererseits, weil gebieterische Arroganz von einem Sklavenhalter erwartet wurde.
Indessen war da noch die andere Seite meiner Natur, die ebenfalls befriedigt werden wollte. Als Veleda wollte ich mich frei machen von der Erinnerung an den abscheulichen
Strabo und die widerlichen Kränkungen, die er mir zugefügt hatte. Außerdem hatte ich jetzt das Bedürfnis, mich meiner weiblichen Sexualität zu versichern, da ich so standhaft jedesmal meine Weiblichkeit unterdrückt hatte, wenn er mich entehrt hatte. Ich hätte dies mühelos überprüfen können, indem ich mich eines oder mehrerer meiner Sklaven bedient hätte; ich besaß ziemlich viele muskulöse und leidlich attraktive Männer. Doch ich schreckte davor zurück, mich wieder mit den Verkleidungen und Vortäuschungen
abplagen zu müssen, die dieser Ausweg mit sich gebracht hätte.
Deshalb zweigte ich etwas von dem Einkommen, das mir
mein Anwesen brachte, ab und kaufte als Veleda ein kleines Haus in Novae. Das erforderte Diskretion, und ebenso
diskret ging ich vor, wenn ich mit den Männern
Bekanntschaft schloß, die ich für geeignet hielt, meinen Zufluchtsort mit mir zu teilen - für eine Stunde, eine Nacht oder länger. Novae war nämlich eine viel kleinere Stadt als Vindobona, wo ich mich früher als Veleda aufgehalten hatte, oder Constantia, wo ich als Juhiza gelebt hatte. Und folglich war die Gefahr viel größer, daß über eine unbekannte Frau geklatscht würde. Ich war also vorsichtig und mied auch alle Männer aus dem Umkreis Theoderichs oder solche, mit
denen Thorn möglicherweise eines Tages zu tun haben
würde.
Natürlich freute ich mich, feststellen zu können, daß ich für Männer immer noch attraktiv war und sie mühelos zu
bezaubern und zu verführen verstand und daß außerdem
meine weiblichen Organe, meine weiblichen Empfindungen, Körpersäfte und Emotionen noch intakt waren. Doch
empfand ich für keinen Bettgenossen dort in Novae auch nur annähernd die Zuneigung und den sexuellen Appetit, die ich für meinen allerersten männlichen Liebhaber, Gudinand aus Constantia, empfunden hatte. Ich duldete keinen der Männer allzu lange in meiner Nähe - und wurde diejenigen sehr schnell wieder los, die sich unsterblich in mich verliebten und um eine dauerhafte Beziehung baten. Ich bedaure weder
Thorns noch Veledas freizügiges Verhalten in jenen Tagen, noch bin ich der Meinung, mich dafür entschuldigen zu
müssen. Es war eine der wenigen Zeiten in meinem Leben, da ich Muße und Gelegenheit hatte, mich selbst zu
verwöhnen - beide Seiten von mir - und ich genoß dieses Wohlleben in vollen Zügen.
Von allen männlichen Liebhabern erinnere ich mich nur
noch an den Namen eines einzigen - Widamer - und ich
habe einen guten Grund, diesen Namen in lebhafter
Erinnerung zu behalten. Obwohl ich nur zweimal mit ihm zusammen war, sollte mein Treffen mit Widamer dort in
Novae schließlich zu einer anderen Begegnung führen - der erstaunlichsten meines Lebens, möglicherweise der
phantastischsten, die je das Leben irgendeines Menschen ragt. Natürlich begegnete ich Widamer auf einem Marktplatz in Novae auf dieselbe Weise, wie ich andere Männer
kennengelernt hatte, und wir erfanden irgendeinen Vorwand, um uns vorzustellen und einander näher kennenzulernen.
Widamer war ungefähr vier oder fünf Jahre jünger als ich und wie jeder junge Gote von höherem Rang gekleidet, doch mutete der Schnitt seiner Gewänder etwas fremdländisch an, woraus ich schloß, daß er wahrscheinlich Westgote und nicht Ostgote war. Bei unserem ersten Wortgeplänkel
bestätigte er meine Vermutung. Er sei den weiten Weg von Aquitania hierher gekommen, sagte er, nur um eine
Botschaft zu überbringen, und werde sich nur so lange in Novae aufhalten, bis er eine schriftliche Antwort auf diese Botschaft bekäme, dann würde er wieder in sein Heimatland zurückkehren.
Das kam mir sehr gelegen. Ich zog einen Besucher auf der Durchreise einem ortsansässigen Einwohner vor. Bei ihm bestand weniger die Gefahr, daß er auf immer und ewig
mein einziger Liebhaber bleiben wollte und somit zu einem lästigen Ärgernis werden würde. Ich hätte Widamer jedoch ausführlicher befragen sollen, um hinsichtlich seiner Identität und seines Empfehlungsschreibens besser unterrichtet zu sein. Ich hätte dies auch getan, wäre ich nicht von Anfang an so von ihm eingenommen gewesen. Das lag daran, daß
Widamer fast das Ebenbild des jungen und anonymen
Theoderich war, den ich damals in Pannonia kennengelernt hatte und mit dem zusammen ich unterwegs gewesen war.
Widamer hatte ganz ähnliche Gesichtszüge, beinahe
denselben Teint und dieselbe männliche Statur, sah fast genauso gut aus und strahlte zudem die gleiche verwegene Sorglosigkeit aus. Daher nahm ich ihn, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, noch am selben Tag mit zu mir nach Hause und gewährte ihm bedeutend umfangreichere
Varianten der Wonne, als ich es für gewöhnlich beim ersten Zubettgehen mit einem neuen Liebhaber zu tun pflegte.
Nun, genaugenommen genoß ich das ganze auch viel
mehr als das sonst bei einem ersten Beischlaf der Fall war.
Ich beschloß, ihn für die bemerkenswerte Erfahrung zu
belohnen, und nahm eine andere Position im Bett ein, um ihn mit noch intimeren Aufmerksamkeiten zu beglücken. Als ich mich jedoch zu seinem Penis hinunterbeugte und sah, daß dieser eine unnatürliche, auffallend braune Färbung aufwies, zuckte ich zurück und rief aus:
»Liufs Guth! Seid Ihr krank?«
»Ne, ne«, sagte er lachend. »Das ist nur ein Muttermal, nichts Schlimmeres. Befühlt es und seht selbst.« Ich folgte dieser Aufforderung und überzeugte mich davon, daß er die Wahrheit gesprochen hatte.
Am Abend bat ich Widamer zu gehen, weil ich mich für
eine andere gesellschaftliche Verpflichtung später an diesem Abend umkleiden mußte. Wir verabschiedeten uns also mit glühenden Dankesbezeugungen und überschwenglichen
Komplimenten auf beiden Seiten und gaben der Hoffnung
Ausdruck, daß wir beide uns irgendwann einmal wieder
sehen würden. Ich bezweifle, daß Widamer damit rechnete, daß es jemals dazu käme, und von mir kann ich sagen, daß ich keinerlei Erwartungen diesbezüglich hegte.
Doch kam es tatsächlich noch einmal zu einem
Wiedersehen, und zwar noch am selben Abend. Ich war in Theoderichs Palast gebeten worden, wohin er seinen
Marschall Thorn zu einem ausgelassenen Fest eingeladen hatte. Ich hatte nicht gewußt, daß das gesellige
Beisammensein zu Ehren eines Gesandten namens
Widamer einberufen worden war. Da dem jungen Mann eine beträchtliche Anzahl von Höflingen vorgestellt wurde, fiel ihm sicher nicht auf, daß er einen bestimmten unter ihnen bereits unter anderen Umständen getroffen hatte. Trotzdem fühlte ich mich verständlicherweise nicht ganz wohl, als wir uns gegenüberstanden und Theoderich leutselig bemerkte:
»Saio Thorn, sei so gut und heiße meinen Cousin
Widamer, den Sohn des verstorbenen Bruders meiner
verstorbenen Mutter, willkommen. Obwohl von Geburt edler Amaler, entschloß sich Widamer vor einigen Jahren, sich dem Hof des Balten Euric, König der Westgoten, in Tolosa in Aquitanien zu verpflichten.« , Ich entbot ihm mit
hocherhobenem Arm den Willkommensgruß und sagte mit
meiner tiefsten, männlichsten Stimme: »Wailagamotjands«, und Widamer erwiderte den Gruß ohne ein Zeichen des
Wiedererkennens.
Theoderich fuhr fort: »Widamer kommt als Gesandter mit der Neuigkeit, daß unser königlicher Freund Euric und der römische König Odoaker ein gemeinsames Abkommen
getroffen haben, das besagt, daß die maritimen Alpen
künftig die feste Grenze zwischen ihren Gebieten sein
sollen. Das betrifft uns natürlich wenig, doch bin ich froh, es zu erfahren, einfach aus dem Grund, weil Widamer uns
deshalb einen Besuch abstattet. Wir haben einander zum letzten Mal als kleine Kinder gesehen.«
Ich sagte höflich: »Ich wünsche Euch einen angenehmen
Aufenthalt in Novae, junger Widamer.«
»Ach, er war bereits äußerst angenehm«, antwortete er
ohne die geringste Andeutung eines Schmunzelns oder
einer zweideutigen Anspielung.
Später, als die zahlreichen Gäste umherwandelten,
tranken und sich unterhielten, gelang es mir, Widamer aus dem Weg zu gehen. Als wir uns dann alle in das
Speisezimmer begaben und es uns an den Tischen
gemütlich machten, um einen Mitternachtstrunk zu uns zu nehmen, wählte ich eine Liege, die in einiger Entfernung von Theoderichs und Widamers Liege stand. Törichterweise
hatte ich aber offensichtlich den Tischweinen und dem Met allzusehr zugesprochen, weil ich, bevor die Nacht vorüber war, eine entsetzlich unkluge Bemerkung machte.
Theoderich schilderte seinem Cousin einige
Begebenheiten von seinem Werdegang aus den Jahren, in
denen sie sich nicht gesehen hatten, und in Anbetracht des festlichen Anlasses gab er vor allem fröhliche und
unterhaltsame Ereignisse zum besten. Die anderen Gäste hörten aufmerksam zu, wenn sie nicht gerade brüllend
lachten oder Theoderich mit Zwischenrufen unterbrachen, um eigene Erinnerungen zum besten zu geben, meist in
Form einer unanständigen oder ausgesprochen unzüchtigen Bemerkung. Und aus irgendeinem Grund verspürte ich auch das Verlangen, einen witzigen Einfall anzubringen. Ich kann nur vermuten, daß ich, als ich Theoderich und Widamer, die kaum voneinander zu unterscheiden waren, dort Seite an Seite sah, in meiner Trunkenheit nicht mehr wußte, welche meiner beiden Identitäten ich zu dem Zeitpunkt verkörperte.
Auf jeden Fall war mein Zustand der Verwirrung schon zu weit fortgeschritten, als daß ich noch daran gedacht hätte, daß ich allen Grund hatte, mich unauffällig zu verhalten.
«... Und dann, Widamer«, sagte Theoderich in bester
Laune, »als wir Singidunum besetzt hatten, nahm ich mir zum Zeitvertreib ein Mädchen von dort. Sie ist jedoch immer noch bei mir. Nicht nur, daß ich sie nicht losgeworden bin -
siehe da!« Er deutete auf die Stelle, wo seine Begleiterin zwischen einigen anderen Hofdamen lag. »Sie vermehrt
sich!«
Es stimmte, daß Aurora offensichtlich erneut schwanger war doch brachte die scherzhafte Anspielung sie nicht in Verlegenheit. Sie streckte Theoderich lediglich die Zunge heraus und stimmte in das Gelächter der Gäste mit ein, die sich darüber amüsierten. Dann übertönte meine eigene laute Stimme plötzlich das Gelächter:
»Und seht nur, Aurora errötet auch nicht mehr!
Theoderich, erzähl' Widamer, wie sehr Aurora zu erröten pflegte! Wahrhaftig, sie wurde so dunkelrot wie das
Muttermal auf Widamers Schwanz!«
Im Saal herrschte plötzlich Totenstille, bis auf das
vereinzelte Gekicher einiger peinlich berührter Damen.
Abgesehen davon, daß mein Herausposaunen einer solchen Intimität schon ungebührlich genug war, ist das Wort
»Schwanz« nicht üblich in gemischter Gesellschaft. Einige Frauen wurden auch wirklich feuerrot - genau wie Widamer -
und absolut jeder im Saal wandte sich um, um mich entsetzt anzustarren. Das Schweigen wäre zweifellos im nächsten Moment durch eine Salve von Fragen gebrochen worden,
die darauf abgezielt hätten, ob ich im Scherz gesprochen habe und, falls das der Fall wäre, worin die Pointe dieses Scherzes bestanden habe. Doch kam ich nun, in der
verspäteten Erkenntnis meiner eigenen Indiskretion, insoweit wieder zur Vernunft, daß ich eine plötzliche, auf den Alkohol zurückzuführende, Bewußtlosigkeit vortäuschte, von meiner Liege stürzte und der Länge nach auf den Marmorboden fiel.
Das brachte erneut einige Damen zum Kichern und
veranlaßte einige Männer, verächtlich »Dumbsmunths!« zu knurren. Ich blieb einfach mit geschlossenen Augen da
liegen, wo ich hingefallen war, und hörte mit Erleichterung, wie Theoderich in seinen Erzählungen fortfuhr, ohne daß irgendwer noch einmal auf meinen tölpelhaften Ausbruch zu sprechen kam.
Doch konnte ich dort nicht ewig liegenbleiben.
Glücklicherweise kamen mir Marschall Soas und der Arzt Frithila zu Hilfe, wenn auch unter mißbilligendem
Naserümpfen. Sie schütteten mir kaltes Wasser über den Kopf und in die Kehle, und statt mich zu wehren, gab ich vor, wieder einigermaßen zu mir zu kommen. Ich dankte ihnen mit lallender Stimme und ließ zu, daß sie mich in eine weit entfernte Ecke des Saales führten, wo sie mich auf einer Bank an die Wand lehnten. Als sie mich dort allein ließen, kam die hübsche Kammerzofe Swanilda zu mir herüber, um meinen nassen Kopf zu streicheln und tröstende Worte zu murmeln, worauf ich ihr gegenüber undeutliche
Entschuldigungen wegen meiner Torheit stammelte.
Endlich näherte sich das Fest seinem Ende, und Swanilda ging fort. Ich war gerade damit beschäftigt zu planen, wie ich überzeugend, aber unauffällig aus dem Palast torkeln
könnte, als Widamer unvermittelt mit gespreizten Beinen vor mir stand, die Hände auf den Hüften, und mich mit einer Stimme, die leise genug war, um überhört, doch kalt genug, um nicht ignoriert zu werden, fragte: »Woher wußtet Ihr von dem Muttermal?« Ich grinste so albern wie möglich und
sagte unter dem Vorwand, mich zu verhaspeln: »Offengar -
ich meine offenbar - waren wir im selben warmen Bett zu Gast.«
»In der Tat«, sagte er, und formulierte die Aussage nicht als Frage. Er legte eine Hand unter mein Kinn und hob
meinen gesenkten Kopf, so daß er mein Gesicht ganz aus der Nähe prüfend betrachten konnte. Seine Bemerkung
wieder nicht als Frage formulierend sagte er: »Es wäre wirklich noch warm gewesen, nicht wahr, wenn Ihr in der kurzen Zeit zwischen meinem Weggang und Eurem
Eintreffen hier zum Fest noch in dem Bett gewesen wärt.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein, und deshalb grinste ich ihn noch einmal albern an. Er hielt weiterhin mein Kinn fest und studierte aufmerksam mein Gesicht, bevor er schließlich sagte: »Seid getrost. Ich bin kein Klatschmaul. Doch werde ich diese Angelegenheit im Auge... und in Erinnerung
behalten...«
Damit verließ er den Saal und ich folgte ihm kurz darauf.
Ich hätte mich versucht fühlen können, nach diesem
Abend eine Zeitlang dem Palast fernzubleiben, bis vielleicht meine haarsträubend tölpelhafte Vorstellung vergessen
gewesen wäre. Doch war ich gespannt darauf, zu erfahren, ob ich nun dauerhaft bei Theoderich, Aurora und allen
anderen am Hof in Ungnade gefallen war. Noch mehr
interessierte es mich, ob Widamer sich lautstark über meine mangelnde Gastfreundschaft gegenüber einem
ausländischen Gesandten beschwert hatte. Deshalb
erschien ich trotz meiner Befürchtungen (und trotz
furchtbarer Kopfschmerzen) früh am nächsten Morgen im
Palast.
Meine bösen Ahnungen verflogen rasch, als Theoderich
mich nicht ausschalt, sondern lediglich grinste und mich neckte, daß ich mich »aisanasa« getrunken hätte -
kupfernasig, wie es in der alten Sprache heißt. Er erzählte mir auch, daß Widamer, sogar noch früher am Morgen,
bereits nach Aquitanien abgereist sei und er meine
alkoholbedingte Ungehörigkeit nur mit einem nachsichtigen Lachen kommentiert habe. Und Aurora bemutterte mich
nach einem Blick auf mich wie eine Glucke und watschelte in die Küche, um einen Becher mit Wein aus Camerinum,
vermischt mit Wermut und Balsamkraut, zuzubereiten. Sie brachte ihn mir und sagte lächelnd: »Tagl al wulfa« - wie es in der alten Sprache heißt: der Schwanz des Wolfes, der mich gebissen hatte -, und dankbar trank ich ihn in großen Zügen aus.
So war ich also nicht in unentschuldbare Ungnade
gefallen, und man trug mir meinen kurzen Anfall von
geistiger Umnachtung nicht nach. Auch bedrängten mich
später weder Theoderich, noch Aurora, noch irgendwer
sonst mit der Frage: »Welches Muttermal?« oder mit
irgendeiner anderen Frage in bezug auf Widamers
harmloses Geheimnis, das ich ausgeplaudert hatte.
Dennoch, auch wenn mich keiner verachtete, verachtete ich mich selbst umso mehr, weil ich wußte, daß Widamer sich viel anständiger verhalten hatte als ich. Welche
Vermutungen oder Intuitionen er auch gehabt haben mochte in bezug auf mein gut gehütetes, dunkles Geheimnis, er hatte es jedenfalls keinem anvertraut. Zumindest glaubte ich das damals. Erst zu einem späteren Zeitpunkt - und in einem anderen Land - sollte ich erfahren, welche Auswirkungen die Begegnungen zwischen Veleda, Widamer und Thorn an
diesem einen schicksalhaften Tag zur Folge gehabt hatten.
Die Suche
1
So fuhr ich fort, mir die Zeit mit allerlei Aktivitäten zu vertreiben, was ja nicht mit wirklicher Aktion gleichzusetzen ist, bis zu dem Zeitpunkt, an dem mir vor Augen geführt wurde, wie viel Zeit inzwischen tatsächlich schon vergangen war. Diese Erkenntnis gewann ich eines Tages, als ich von meinem Landgut nach Novae ritt und den Hofarzt Frithila auf der Straße traf.
»Habt Ihr schon das Neueste gehört, Saio Thorn?« fragte er. »Gestern abend gebar die Dame Aurora eine weitere
Tochter.«
»Was Ihr nicht sagt! Ich muß zum Palast eilen und
Glückwünsche und Geschenke überbringen. Aber... Gudisks Himins... «, sagte ich und rechnete rasch nach. »Das
bedeutet, daß ich schon seit der Zeit, bevor des Königs erstes Kind geboren wurde, in müßiger Zurückgezogenheit und Stagnation mein Leben verbringe. Die kleine Arevagni ist gar nicht mehr so klein. Wie die Zeit vergeht!« Frithilas Kommentar bestand nur aus einem kurzen Knurrlaut,
deshalb fragte ich: »Wie kommt es, Arzt, daß Ihr Euch nicht freut als Überbringer so angenehmer Neuigkeiten?«
»Sie sind nicht gänzlich angenehm. Die Dame starb bei
der Geburt.«
»Gudisks Himins!« wiederholte ich, da mich diese
Neuigkeit wirklich schockierte. Aurora war für mich wie eine Schwester gewesen. »Aber sie war doch eine so kräftige Frau, von guter, starker, bäuerlicher Abstammung. Traten irgendwelche widrigen Umstände auf?«
»Keine«, sagte er seufzend und breitete hilflos die Arme aus. »Die Entbindung verlief ohne Komplikationen, und der Säugling war in jeder Hinsicht völlig normal. Doch dann fiel die Dame Aurora in ein Koma, aus dem sie nicht mehr
erwachte.« Er zuckte die Schultern und schloß mit den
Worten: »Gutheis wilja theins« - was soviel heißt wie
»Gottes Wille geschehe«.
Ich wiederholte Theoderich gegenüber diese fromme
Floskel als ich ihm kondolierte: »Gutheis wilja theins.«
»Gottes Wille, ja?« sagte er bitter. »Ein untadeliges Leben auszulöschen? Mich meiner geliebten Gefährtin zu
berauben? Zwei Kindern die Mutter zu nehmen? War das
wirklich Gottes Wille? Ich werde die liebe Aurora sehr vermissen. Sie war eine angenehme Frau. Und obendrein
noch sehr ruhig. Es gibt nicht viele von ihrer Art. Ich bezweifle, daß es Soas gelingen wird, noch so eine Frau für mich zu finden, doch ist er bereits dabei, Listen von
geeigneten Prinzessinnen aufzustellen. Er hofft, eine
ausfindig zu machen, deren Vermählung mit mir eine für die Ostgoten vorteilhafte Verbindung mit einem anderen
mächtigen Monarchen zur Folge hätte. Dazu wäre es jedoch von Vorteil, wenn ich als Herrscher mehr Einfluß hätte.
Sicherlich sollten ich und mein Volk etwas mehr darstellen als lediglich Zenos gehorsame Wachhunde.«
Ich räusperte mich und sagte bedächtig: »Auf meinem
Weg hierher habe ich nachgedacht, Theoderich. Es ist
schon geraume Zeit her, seitdem dir - oder mir - eine
bedeutende Eroberung gelungen ist. Du pflegtest zu sagen:
›Huarbodau mith blotha!‹, doch in letzter Zeit...«
»Ja, ja«, murmelte er. »Ich habe mich noch nicht einmal aufgerafft, meine Männer bei Strabos drei oder vier dreisten Aufständen in den Kampf zu führen. Ich weiß, ich weiß.«
»Es begleitete auch keiner von uns die Männer«, erinnerte ich ihn, »als sie loszogen, um den aufrührerischen Stamm der Sueven zur Räson zu bringen, von deren wildem Treiben in den Niederungen der Isere ich berichtet habe. Wäre es denkbar, Theoderich, daß wir beide - wie du auch selbst zu sagen pflegtest - aufgrund der langen Friedenszeiten Rost angesetzt haben?«
»Oder aufgrund des häuslichen Lebens«, sagte er und
stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. »Doch jetzt, da Aurora nicht mehr da ist... Nun, einige meiner anderen Kundschafter berichten, daß Strabo bald ein noch größeres Ärgernis zu werden droht. Sie sagen, er versuche, sich mit einer
beträchtlichen Truppe abtrünniger Rugier aus dem Norden zu verbünden. Falls es eit kommt, Thorn - vielmehr wenn es soweit ist - wird es genügend Kämpfe geben, um uns beide zufriedenzustellen.«
»Bevor dies geschieht, hätte ich gern die Erlaubnis
meines Königs ins Ausland zu reisen, die Klinge meines Schwerts zu wetzen, meine Muskeln zu lockern und meine alten Kampfinstinkte aufzufrischen. Sie sind alle zu lange nicht im Einsatz gewesen. Bis auf gelegentliche Berichte, die ich dir von meinen müßigen Reisen mitbrachte, Theoderich, habe ich seit meiner Rückkehr von Skythien keine Mission mehr für dich erfüllt.«
»Doch diese Berichte waren stets ausführlich und überaus nützlich. Ich habe deinen Unternehmungsgeist sehr wohl bemerkt und zu schätzen gewußt, Saio Thorn. In der Tat hat mich deine zuverlässige Einsatzbereitschaft bereits dazu bewegen, eine andere Mission für dich ins Auge zu fassen.
Eigentlich eine Art Suche. Ich kam darauf, als ich den Namen für meine neue Tochter wählte -Thiudagötha. Und
als Saio Soas davon sprach, daß ich mir eine Braut suchen solle.«
»Wie?« sagte ich verblüfft. »Du willst mich losschicken, die in Frage kommenden Prinzessinnen in Augenschein zu
nehmen?«
Zum ersten Mal an diesem Tag lachte er herzlich. »Nein, ich möchte, daß du dich auf eine Suche nach der
Geschichte begibst. Ich bin der Meinung, daß meine jüngste Tochter, die aus dem gotischen Volk, alles über ihre
Vorfahren wissen sollte. Und wenn es mir gelingen sollte, eine Braut von höchstem königlichen Geblüt zu bekommen, muß ich in der Lage sein, ihr zu beweisen, daß ich ebenfalls von untadeliger Abstammung bin. Und nicht zuletzt sollte auch mein Volk wissen, wo seine Wurzeln sind und wie es kam, daß sie Ostgoten wurden. Ich schlage deshalb vor, Thorn, daß du die gotische Völkerwanderung
zurückverfolgst, und zwar in umgekehrter Reihenfolge. Fang am Schwarzen Meer an und folge ihrer Spur in Richtung
Norden, sofern du überhaupt Anzeichen von irgendeiner
Spur entdecken kannst. Du bist ein erfahrener und
unerschrockener Reisender. Deine
Fremdsprachenkenntnisse
sind bewundernswert und
versetzen dich in die Lage, die Menschen zu befragen, die heutzutage entlang der Völkerwanderungsstrecke leben. Du schreibst ausgezeichnet und kannst deshalb alles, was du erfährst, notieren und später zu einer fortlaufenden
Geschichte zusammenfügen. Ich möchte, daß du jene Goten aus grauer Vorzeit den ganzen Weg bis an die
Bernsteinküste, wo sie angeblich landeten, zurückverfolgst.
Und noch darüber hinaus - die ganze Strecke bis zu jenem Heimatland Skandza, wenn die Goten wirklich von dort
kamen und du es aufspüren kannst.«
»Diese Suche hört sich wirklich nach einer großen
Herausforderung an«, sagte ich. »Trotzdem wäre ich lieber nicht im Ausland, wenn du gegen Strabo und seine
Verbündeten ins Feld ziehst.«
Er sagte leichthin: »Wenn die Rugier nach Süden ziehen, um sich Strabo anzuschließen, erfährst du es wahrscheinlich früher als ich. Du kannst dann mit ihnen nach Süden kommen. Vielleicht wäre es aber auch vorteilhafter, ihnen zu folgen. Ich hätte keineswegs etwas dagegen, hinter den Linien meines Feindes einen Parmenio zu haben. Bevor du abreist, werde ich auf alle Fälle Kuriere in alle vier Himmelsrichtungen entsenden. Sie werden alle
ausländischen Monarchen und römischen Legaten, die ich kenne, auffordern, dir Zutritt zu ihren Gebieten zu gewähren, dir Gastfreundschaft entgegenzubringen und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dir deine Suche zu erleichtern.
Darüber hinaus werden sie dich stets von allem in Kenntnis setzen, was es hier möglicherweise an Neuigkeiten gibt. Du kannst natürlich alle Vorräte, Eskorten und Pferde
bekommen, nach denen dir der Sinn steht. Wünschst du ein eindrucksvolles Gefolge oder nur ein paar kräftige Krieger?«
»Niemanden, denke ich. Bei einer so außergewöhnlichen
Suche bin ich lieber allein unterwegs - besonders, wenn ich mich heimlich durch Feindesland stehlen soll. Außerdem werde ich zwar bewaffnet aufbrechen, aber ohne Rüstung.
An manchen Orten könnte es von Vorteil sein, nicht sogleich als Ostgote erkannt zu werden. Ich brauche nichts außer meinem eigenen treuen Pferd und den Vorräten, die ich
hinter meinem Sattel mitnehmen kann. Ja, ich werde das sein, was ich schon einmal war, ein Jäger auf
Wanderschaft.«
»Habai ita swe!« sagte Theoderich, und es war das erste Mal seit langer Zeit, daß er mir gegenüber jene gewichtige Bestätigungsformel gebrauchte: »So sei es!«
An einem herrlich sonnigen, milden Maimorgen brach ich auf, in der Hoffnung, mehr wie ein Vagabund ohne Ziel zu wirken als wie der Marschall eines Königs. Es war zwar unmöglich, die Reinrassigkeit meines Velox zu verbergen, doch hatte ich in den letzten beiden Tagen meine
Stallknechte bewußt angehalten, ihn nicht zu striegeln oder zu kämmen. Auch war meine Kleidung ziemlich grob und
einfach, und obwohl ich mein edles Schlangenschwert
persönlich geschliffen und poliert hatte, trug ich es in einer abgenutzten alten Scheide.
Zunächst ritt ich nach Novae zum Palast, um Theoderich wissen zu lassen, daß ich nun aufzubrechen gedachte. Wir machten kein großes Aufhebens um unseren Abschied,
doch wünschte er mir herzlich »raitos staigos uh bairtos dagos« - gerade Wege und heitere Tage -, und gab mir, wie auch früher schon, eine Vollmacht, die mich auswies und das Siegel mit seinem Monogramm trug. Als ich dann wieder in den Palasthof trat, sah ich, daß der Aufseher Costula, dem ich die Zügel meines Pferdes zum Halten überlassen hatte, nun die Zügel von zwei Pferden hielt. Auf dem zweiten saß in Reisekleidung die Kammerzofe Swanilda, ein Bündel hinter ihrem Sattel.
»Gods dags, Swanilda«, grüßte ich sie. »Verreist du heute ebenfalls?«
»Ja, wenn Ihr erlaubt, daß ich mich Euch anschließe«,
sagte sie mit leicht bebender Stimme.
Als ich näherkam, sah ich, daß ihr Gesicht verquollen war und sie rot verweinte Augen hatte, und ich kam zu dem
Schluß, daß sie seit dem Tod ihrer Herrin fast ständig geweint haben mußte.
Ich übernahm die Zügel der Pferde, beschied Costula
durch einen Wink, sich zu entfernen, und sagte höflich:
»Selbstverständlich könnt Ihr mich gern ein Stück begleiten, Swanilda, bis sich unsere Wege trennen. Wohin reitest du?«
»Ich möchte den ganzen Weg mit Euch zusammen
reiten«, sagte sie mit festerer Stimme. »Ich habe von der langen Reise gehört, die Ihr unternehmt. Ich möchte Eure Schildträgerin, Dienerin, Gefährtin sein, Eure... alles, was Ihr von mir erwartet.«
»Warte einen Moment -«, begann ich, doch lebhaft und
drängend fuhr sie fort:
»Ich habe zwei geliebte Herrinnen beweint und habe nun niemanden mehr; deshalb bitte ich Euch, ab jetzt einem Herrn dienen zu dürfen. Ich möchte Euch als meinen Herrn und Meister haben Saio Thorn. Bitte schlagt mir meinen Wunsch nicht ab. Ihr wißt, daß ich eine gute Reiterin bin und viel unterwegs war. Mit Euch bin ich ja auch von hier nach Konstantinopel geritten. Und später auf Euren Befehl hin eine noch größere Strecke - ganz allein und in Eurer
Kleidung. Erinnert Ihr Euch? Ihr lehrtet mich, als Mann aufzutreten. Ich solle nie vor den Augen anderer laufen oder etwas werfen...«
In all den Jahren, in denen ich Swanilda kannte, hatte ich sie noch nie so viel reden gehört. Doch nun war ihr die Luft ausgegangen, bevor ihr Wortschwall versiegt war, was mir die Gelegenheit gab, selbst ein paar Worte einzuflechten.
»Völlig richtig, meine liebe Swanilda. Doch durchquerten wir bei diesen Reisen die mehr oder weniger zivilisierten Gebiete des Römischen Reiches. Diesmal wage ich mich in unbekannte Gefilde, unter feindliche, möglicherweise
unzivilisierte Völker, und - «
»Was sehr dafür spricht, mich mitzunehmen. Ein Mann,
der allein reist, wird mit Argwohn betrachtet, als eine Bedrohung angesehen. Doch ein Mann, der mit einer Frau an seiner Seite unterwegs ist, wirkt zahm und harmlos.«
»Zahm, ach wirklich?« sagte ich und lachte in mich hinein.
»Ich kann auch, wenn Ihr das vorzieht, wieder Kleidung von Euch tragen. Es könnte ebenso von Vorteil sein, wenn ich für Euren Zögling gehalten werde. Oder sogar« - sie schaute verlegen zur Seite -, »für Euren Liebhaber.«
Ich sagte ernst: »Swanilda, du mußt doch bemerkt haben, daß ich es in all diesen Jahren - teilweise wegen deiner teuren Herrin Amalamena - unterlassen habe, mich für eine Frau oder Gefährtin zu entscheiden, obwohl mir viele
Möglichkeiten offenstanden. Wahrhaftig, die Dame Aurora bot mir sogar dich an.«
»Ich kann gut verstehen, daß Ihr mich nicht formell als Frau oder Begleiterin haben wolltet. Ich kann einer
Amalamena in keiner Hinsicht das Wasser reichen und bin zudem nicht einmal mehr Jungfrau, doch bin ich trotzdem nicht erfahren genug, um bei den Dingen, die sich zwischen Mann und Frau abspielen, genau Bescheid zu wissen. Wenn Ihr jedoch ganz zwanglos mit mir vorlieb nehmen wollt, nur für die Dauer unserer gemeinsamen Reise, verspreche ich, in dieser Hinsicht mein Bestes zu geben und mich zu
bemühen, alles, was Ihr mir beibringen wollt, zu lernen.
Doch möchte ich kein Versprechen von Euch als
Gegenleistung, Saio Thorn. Wenn die Reise vorüber ist, oder auch zu jedem anderen Zeitpunkt, braucht Ihr nur zu sagen: »Swanilda, genug.« Ich werde mich ohne zu murren damit abfinden, nicht mehr Eure Geliebte zu sein und von da an nur noch als Eure demütige Dienerin zur Verfügung
stehen.« Sie streckte mir eine zitternde Hand entgegen und auch ihre Lippen bebten, als sie noch einmal sagte: »Weist mich bitte nicht ab, Saio Thorn. Ohne eine Herrin oder einen Herrn bin ich eine verlorene und ausgestoßene Waise.«
Das ging mir zu Herzen. Ich war selbst einmal eine
ausgestoßene Waise gewesen. Daher sagte ich: »Wenn du
vorgeben willst, meine Frau oder meine Gefährtin zu sein, mußt du von nun an versuchen, mich nicht mehr mit Saio oder Herr anzureden, sondern einfach mit Thorn.«
Ihre Miene hellte sich schlagartig auf, und trotz ihrer rotverweinten Augen und ihrem verquollenen Gesicht sah sie beinahe wieder strahlend schön aus. »Dann wollt Ihr mich also wirklich mitnehmen?«
Und das tat ich dann auch. Ich sollte es zu gegebener Zeit sehr bereuen.
2
Ich orientierte mich erneut am Verlauf der Donau, und
Swanilda und ich folgten ihr flußabwärts. Wir ritten also die Strecke zurück, die ich von meiner Flucht aus Strabos
Skythien her kannte. Obwohl ich eigentlich dagegen bin, zweimal dasselbe zu machen, bereitete es mir nun doch
Vergnügen, Swanilda mit einem gewissen Besitzerstolz
verschiedene Orientierungspunkte und Sehenswürdigkeiten zu zeigen, Dinge, an die ich mich von meiner früheren Reise her erinnerte, was zur Folge hatte, daß ich diese Exkursion in einem ganz anderen, neuen Licht sah.
Ich hatte Swanilda immer sehr geschätzt. Nun lernte ich, sie wirklich zu verehren, nicht nur aufgrund ihrer praktischen kameradschaftlichen Fähigkeiten, sondern auch wegen ihrer reizvollen Weiblichkeit. Ich erinnere mich, wie sie sich in unserer ersten Nacht, nachdem wir Novae verlassen hatten, auf beinahe magische Weise von der tagsüber wenig
ansprechend gekleideten Reisegefährtin in eine weiche, geschmeidige, bezaubernde junge Frau verwandelte.
Wie man sich unschwer vorstellen kann, fanden wir beide unsere Reise so erfreulich, daß uns wenig daran lag, schnell vorwärtszukommen, sondern wir im Gegenteil geneigt
waren, das Ende der Reise so lange wie möglich
hinauszuzögern. Dennoch gelangten wir nach etwa zwei
Wochen gemächlicher Gangart zu der am Fluß gelegenen
Festungsstadt Durostorum und quartierten uns dort in einem gut ausgestatteten Gasthaus ein. Ich ließ Swanilda dort zurück, wo sie alsbald im Luxus der Thermen schwelgte, während ich meine Aufwartung beim Prätor der Legion
Italica machte. Der Kommandeur, den ich früher dort
angetroffen hatte, war nach dieser langen Zeit nicht mehr im Amt. Sein Nachfolger war aber selbstverständlich auch ein Untergebener Theoderichs und daher überaus
gastfreundlich zu einem Marschall des Königs. Wir saßen zusammen und tranken einen der unzähligen Weine
Durostorums, während er mir die neuesten Nachrichten aus Novae erzählte. Es waren lediglich Routineberichte bei ihm eingegangen, Strabo schien, mit oder ohne seine
mutmaßlichen rugischen Verbündeten, keine Anstalten zum Angriff zu machen. So gab es also keinen Grund und keine Entschuldigung für mich, meine Suche abzubrechen und an Theoderichs Seite zurückzukehren.
»Es gibt außerdem auch keinen Grund«, sagte der
Kommandeur beflissen, »Euren Weg weiterhin mühselig
über Land fortzusetzen, Saio Thorn. Warum nehmt Ihr Euch hier nicht eine Barkasse und gleitet bequem die Donau
hinunter? Auf diese Weise kommt Ihr viel schneller ans Schwarze Meer und verausgabt Euch auch nicht so.«
Ich erkundigte mich am Flußufer nach der Möglichkeit,
eine Barkasse zu mieten. Und bei dieser Gelegenheit stieß ich auf die erste Spur jener frühen Goten, deren Fährte ich suchte.
Der zweite oder dritte Barkassenbesitzer, den ich
ansprach, war so alt, daß er beinahe selbst einer jener Goten aus uralten Zeiten hätte sein können. Er fragte mich ungläubig, warum ich den beträchtlichen Preis einer
Flußfahrt bis zum Schwarzen Meer zahlen wolle, ohne
irgendwelche Handelsgüter als Fracht mitzuführen. Da ich meine Mission nicht geheimhalten mußte, sagte ich ihm frei heraus, daß ich den Wunsch habe, nach dem Mutterland zu suchen, das meine gotischen Vorfahren einst besetzt hatten.
»Dann ist natürlich eine Barkasse das richtige Mittel, es zu finden, das stimmt schon«, sagte er. »Ihr braucht auch nicht die ganze lange Küste um dieses Meer herum zu segeln auf der Suche nach jenem Land. Ich kann es Euch sagen - die Goten lebten vor langer Zeit in einem bestimmten Gebiet dort. In dem Delta nämlich, das man die Münder der Donau nennt, wo der große Fluß in das Meer dort mündet.«
Meinerseits nun auch etwas ungläubig, fragte ich: »Woher wißt Ihr das?«
»Erkennt Ihr denn nicht an meiner Sprechweise, daß ich ein Gote vom Volk der Gepiden bin? Im übrigen gehört es zu unseren Aufgaben als Barkassenführer, zu wissen, wer wo auf unserem Fluß lebt. Daher wissen wir natürlich auch, wer früher an welchem Ort lebte. Nicht nur letztes Jahr, sondern auch vor vielen Jahrhunderten. Es ist uns allen wohlbekannt, daß die Goten in alten Zeiten zwischen jenen Mündern der Donau lebten. Nun gut, wenn Ihr es Euch leisten könnt, Geld zu vergeuden, werden ich und meine Besatzung Euch auf
diesem Delta absetzen.«
Ich engagierte ihn auf der Stelle, wies ihn an, am nächsten Morgen bereit zur Abreise zu sein, und gab ihm einen Teil des Geldes im voraus, wobei ich ihm befahl, die Barkasse großzügig mit Vorräten auszustatten, an Futter für zwei Pferde zu denken und, wie mir nachträglich als glückliche Eingebung noch einfiel, eine Auswahl guter Weine aus
Durostorum für zwei Fahrgäste zu besorgen. Dann ging ich zum Gasthaus zurück, um Swanilda bei einem genüßlichen, ausgiebigen Bad Gesellschaft zu leisten, das wir
wahrscheinlich bis zu unserer Rückkehr in die Zivilisation zum letzten Mal in so eleganten Thermen genießen konnten.
Am nächsten Morgen stieß unsere Barkasse vom Ufer ab,
sobald ein paar Männer von der Besatzung unsere Pferde an Bord geführt und sie mittschiffs sicher festgebunden hatten. Ich war Swanilda dabei behilflich, unsere
Habseligkeiten zu verstauen und unsere Schlaffelle auf dem mit einem Vordach überspannten Heck auszubreiten, als der alte Besitzer mir von seinem Platz am Steuerruder aus
zurief: »Könnte es sein, daß der Reiter dort drüben nach Euch Ausschau hält?«
Ich richtete mich auf und sah am Hafen, den wir gerade hinter uns gelassen hatten, ein Pferd mit Reiter. Der Mann saß aufrecht im Sattel und beschattete seine Augen, um hinter uns herzuspähen, doch grüßte er nicht und
gestikulierte auch nicht aufgeregt. Ich konnte nur erkennen, daß er von schmächtiger Statur war - von unserer Position inmitten des Flusses konnte ich über die Entfernung hinweg seine Gesichtszüge nicht sehen - doch kam er mir irgendwie bekannt vor.
»Vielleicht ein Diener des Gasthauses«, sagte ich zu
Swanilda. »Haben wir etwas dort vergessen?«
Sie warf einen prüfenden Blick auf unser Gepäck und
sagte: »Jedenfalls nichts von Bedeutung.«
Ich gab also dem alten Steuermann ein Zeichen, die Fahrt fortzusetzen und nicht umzukehren. Und sobald wir eine Biegung des Flusses umrundet hatten, war die Person am Hafen außer Sichtweite und in Vergessenheit geraten.
Unsere gesamte Reise flußabwärts wirkte auf mich wie die Fortsetzung des trägen Lebens, das ich so lange in Novae geführt hatte. Die Donau floß in viel rascherem Tempo
dahin, als wir zu Pferd hätten bewältigen können, doch drohten hier keine Stromschnellen oder Wasserfälle. Ich mußte nicht arbeiten, brauchte mich nicht mit den widrigen Umständen, die das Reisen über Land mit sich brachte,
herumplagen und mußte mir nicht einmal Gedanken über die Nahrungsbeschaffung machen. Gelegentlich angelte ich
zwar, um unsere Mahlzeiten mit frischem Fisch zu
bereichern und übernahm auch um der Erfahrung willen ein-oder zweimal das Steuerruder. Swanilda erledigte hilfsbereit einige Näh- und Ausbesserungsarbeiten an der Kleidung der Männer, schnitt ihnen, wenn nötig, die Haare und stutzte ihre Barte. Doch lebten wir beide hauptsächlich ziellos in den Tag hinein, sonnten uns in dem warmen Sommerwetter und bewunderten die vorübergleitende Landschaft und die
anderen Schiffe auf dem Wasser. Nachts genossen wir dann andere Freuden. Der einzige Versuch, den ich unternahm, in meine Suche fortzusetzen, bestand darin, den alten
Barkassenbesitzer zu fragen, ob er wisse, wie seine Linie des gotischen Volkes zu dem Namen ›Gepiden‹ gekommen
sei.
Er wußte es nicht; er konnte dazu nur sagen: »Was meint Ihr damit? Das ist nun einmal unser Name. Ebensogut
könntet Ihr fragen, warum dieser Fluß Donau heißt. Es ist einfach so.«
Eines Tages schließlich machte der Barkenbesitzer eine weitausholende Armbewegung und verkündete: »Wir sind
da. Die Münder der Donau!«
»Jesus!« rief ich aus. »Unsere gotischen Vorfahren hatten nichts dagegen, hier zu leben? In einem Sumpfgebiet?«
»Macht nicht den Fehler, es zu verachten. Dies ist ein reiches und weites Land. Wir sind immer noch mehr als
vierzig römische Meilen von der Stelle entfernt, wo die vielen Mündungsarme des Flusses sich in das Schwarze Meer
ergießen. Und diese Sumpfgebiete erstrecken sich zu
beiden Seiten auf einer noch viel größeren Fläche. Alles in allem ist dieses Delta größer als manche römische Provinz in ihrer Gesamtheit. Und bietet zudem noch weitaus mehr natürlichen Reichtum als manche dieser Provinzen.«
»Nicht, was die Schönheit betrifft«, murmelte Swanilda.
Der alte Mann bemerkte trocken: »Ich glaube, werte
Dame, unsere Vorfahren schätzten andere Dinge höher ein als Schönheit. Sie legten zunächst einmal Wert darauf, ihren Lebensunterhalt fristen zu können, und diese
Donaumündungen gaben ihnen dazu reichliche
Möglichkeiten. Seht Euch all die Fischerboote an, die in diesen Kanälen immer noch im Übermaß zu finden sind, weil die Gewässer hier von nahrhaften Fischen nur so wimmeln.
Barsche, Karpfen, Katzenwelse und hundert andere Arten mehr. Sind Euch außerdem die riesigen Vogelschwärme
aufgefallen? Fischreiher, weiße Reiher, Ibisse, Pelikane.
Und die kleinen Inseln und Erhebungen dienen ebenfalls als Lebensraum.für die Tiere, die Jagd machen auf die Fische und Vögel - Eber und Wildkatze, Vielfraß und Marder...«
Seine Begeisterung überzeugte uns. Ich schaute mich
erneut um und sah das Gebiet nun mit den Augen jener
Goten aus längst vergangener Zeit, die hier auf der Suche nach einem bewohnbaren Gebiet, in dem sie sich
niederlassen konnten, angelangt waren, nachdem sie ganz Nordeuropa durchquert hatten. Höchstwahrscheinlich waren sie auch ziemlich hungrig gewesen.
»Ja, die Goten wurden in dieser Gegend fett und
glücklich« fuhr der Barkassenbesitzer fort. »Sie räucherten und salzten das überschüssige Fleisch, sammelten die Felle, Federn und Daunen und handelten äußerst erfolgreich mit diesen Waren an allen Küsten des Schwarzen Meeres - und sogar in Konstantinopel und in Gebieten jenseits dieser Stadt. Die Goten hätten diesen Ort hier auch nie verlassen, wenn sie nicht durch die Invasion der Hunnen vertrieben und nach Westen gedrängt worden wären.«
»Wer sind dann all die Leute in den Fischerbooten um uns herum?« fragte ich.
»Die heutigen Bewohner sind hauptsächlich Taurier und
Chasaren, die ebenfalls einen Ort zu schätzen wissen, an dem man gut leben kann. Doch einigen Goten aus der alten Zeit gelang es, sich hier vor den plündernden Hunnen zu verstecken - oder sie kehrten nach der Vernichtung der Hunnen zurück. Ja, hier und da wohnt noch eine gotische Familie - vielleicht eine Sippschaft oder ein Gau, nichts, was man von der Größenordnung her als Stamm bezeichnen
könnte -, die immer noch oder wieder Fischfang und
Pelztierjagd, Vogelfang und Handel betreibt und dadurch ein gutes Auskommen hat. Wenn Ihr Euch eine Zeitlang hier
aufhaltet, findet Ihr sie bestimmt.«
»Doch wo sollen wir uns aufhalten?« fragte Swanilda, weil nichts Größeres als die Fischerboote in Sichtweite war.
»Noviodunum«, sagte der alte Mann. »Wir werden morgen
dort ankommen. Die Stadt war einst von beträchtlicher
Größe, bis die Hunnen sie verwüsteten und in Brand
steckten. Doch sie ist mit dem, was von ihr übriggeblieben ist, auch jetzt noch eine blühende Stadt, weil der Fluß an dieser Stelle tief genug ist, um den Handelsschiffen auf ihrem Weg zum Schwarzen Meer Durchfahrt und Ankerplatz zu ermöglichen. Daher stehen dort auch einige Gasthäuser zu ganz annehmbaren Bedingungen zur Verfügung.« Er hielt inne und fuhr dann lachend fort: »Außerdem erwartet Euch ein bemerkenswerter Anblick, wenn Ihr zum ersten Mal
eines von diesen Hochseeschiffen nach Noviodunum
einfahren seht.«
Mit dieser Vermutung lag er richtig, denn schon am
nächsten Tage bekamen wir eines zu Gesicht, und zwar in eben dem Moment, als wir auch die Stadt zum ersten Mal erblickten - beide aus großer Entfernung. Die Gewässer, Flußufer und anderen verstreuten Fleckchen Land in der Gegend sind alle beinahe gleich flach, und Noviodunum
besteht fast nur aus einstöckigen Gebäuden. Daher wirkte das massige Zweimaster-Hochseeschiff mit seinem
stumpfen runden Bug wie ein wandernder Berg, der die
ebene Landschaft entlangkroch, um vorsichtig die
Windungen des Kanals auszukundschaften. Die kleinen
Fischerboote und anderen kleinen Seefahrzeuge, die auch auf dem Fluß unterwegs waren, wirkten im Vergleich dazu winzig klein, und es sah aus, als schwebe es praktisch hoch über der Stadt, der es sich näherte. Das alles zusammen ergab ein so widersinniges Bild, daß es wie ein Traum
erschien.
Als unsere Barkasse schließlich die Stadt erreichte, hatte das große Handelsschiff bereits in einiger Entfernung von der Küste angelegt, und kleine Ruderboote fuhren geschäftig Waren zwischen Schiff und Ufer hin und her. Die Männer unserer Besatzung manövrierten uns geschickt ins Dock, und ich half ihnen, die beiden Pferde unter gutem Zureden von der Barkasse an Land zu führen. Dann trat ich auf die von Menschen wimmelnde Straße, die am Hafen
entlangführte, um mich ein wenig umzuschauen. Die
meisten Leute waren dunkelhaarig und dunkelhäutig:
Chasaren und die Taurier, von denen ich glaube, daß sie die rassischen Vettern der Chasaren sind. Doch man sah auch einige hellhaarige und hellhäutige Personen von
offensichtlich germanischer Abstammung. Wie nicht anders zu erwarten bei einer Hafenstadt, die so nah an einem Meer lag, waren auch noch andere Menschen von praktisch jeder Nationalität auf der Welt vertreten: Römer, Griechen, Syrer, Juden, Slowenen, Armenier, sogar hier und da ein
schwarzer Nubier oder Äthiopier. Und ebenso viele
verschiedene Sprachen wurden auch gesprochen. Am
meisten (und am lautesten) gesprochen wurde jedoch eine Art Seefahrer Jargon, die Sprache der am Hafen Handel
treibenden Seeleute, ein buntes Gemisch von Wörtern all jener anderen Sprachen. Sie wurde offenbar von allen am besten beherrscht und verstanden.
Unter den Schiffen, die in der Nähe unserer Barkasse vor Anker lagen, befand sich ein Kriegsschiff der moesischen Flotte, daher sprach ich dessen Kapitän an - der natürlich des Lateinischen mächtig war - und fragte ihn, ob er mir ein bestimmtes Quartier oder Gasthaus in der Stadt empfehlen könne. Während Swanilda und die Männer von der Barkasse die Pferde sattelten und beluden, entlohnte ich den
Barkassenbesitzer, dankte ihm für die angenehme Reise
und verabschiedete mich von ihm, wonach er sich in den Hafenanlagen nach einer möglichen Fracht umsah, die er wieder flußaufwärts mit zurücknehmen könnte. Dann führte ich Swanilda und unsere Pferde zu dem empfohlenen
Quartier. Es trug die Bezeichnung ›Pandokheion‹, da es von Griechen geführt wurde, doch war es durchaus nicht
besonders luxuriös und auch nicht übermäßig sauber. Da mir der Kapitän jedoch gesagt hatte, es sei das beste in Noviodunum, mietete ich einen Raum für Swanilda und mich und Stallplätze für die Pferde.
Das Gasthaus besaß natürlich keine Thermen, deshalb
wies Swanilda die Dienstboten an, warmes Wasser für die Becken in unserem Zimmer zu holen, und bereitete sich auf ein Bad vor. In der Zwischenzeit fragte ich den Besitzer, ob die Stadt einen Präfekten habe - oder einen Herrscher, Stadtältesten oder wie immer auch sein ehrenvoller Titel lauten möge -, dem ich als Marschall des Königs einen
Höflichkeitsbesuch abstatten könnte. Der Grieche mußte lange über die Frage nachgrübeln, bevor er sagte: »Es gibt keinen offiziell anerkannten Herrn über die Stadt. Doch Ihr könntet Meiros, den Schlamm-Mann, aufsuchen.«
»Seltsamer Titel«, murmelte ich.
»Er ist wahrscheinlich der älteste Einwohner der Stadt, mit Sicherheit einer der ersten Händler, da er hier in
Noviodunum als ranghöchste Persönlichkeit anerkannt ist.
Ihr werdet ihn in seinem Lagerhaus in der Nähe des Docks, von dem Ihr gerade kamt, antreffen.«
Das Lagerhaus unterschied sich in keiner Weise von
denen, die ich früher schon besichtigt hatte, abgesehen von dem widerlichen Gestank, in seinem dunklen, dumpfen
Inneren. Ich stand in dem Eingang, der auf die Straße führte, spähte umher und versuchte, bei den schlechten
Lichtverhältnissen die Quelle des Gestanks auszumachen.
Dann tauchte ein Mann aus dem Halbdunkel auf und sagte
»Willkommen, Fremder« in sechs oder acht verschiedenen Sprachen, von denen ich ein paar verstand. Er war alt, ungeheuer alt, und ich hielt ihn für einen Chasaren, da er olivenfarbige Haut, eine gekrümmte Nase und einen
buschigen, gelockten Bart hatte der so schwarz war, daß er sein offensichtlich hohes Alter Lügen strafte.
Ich erwiderte seinen Gruß - in nur zwei Sprachen: »Salve«
und »Haus« -
und überreichte ihm mein
Empfehlungsschreiben. Doch sobald er neben mir stand,
schien er mich im Licht des Eingangs zu erkennen, denn er sagte liebenswürdig: »Natürlich, Saio Thorn. König
Theoderich ließ uns vor kurzem eine Nachricht zukommen, daß Ihr bald eintreffen würdet, und vor knapp einer Stunde wurde mir Eure Ankunft mitgeteilt. Erlaubt mir, mich
vorzustellen. Meirus Terranius auf lateinisch. Meiros
Terastios auf griechisch. Oder, in meiner Muttersprache, Meir ben Teradion.«
Ich platzte in der alten Sprache heraus: »Ist jus Iudaius, niu?«
»Ik im, ja. Hegt Ihr eine Abneigung gegen Juden?«
Ich beeilte mich zu versichern: »Ni allis. Nequaquam.
Doch ist es... nun, recht ungewöhnlich, einen Juden als ranghöchste Persönlichkeit in einem Gemeinwesen des
Römischen Reiches anzutreffen. «
»Eine Abnormität, ja. Oder vielleicht auch eine
Geschmacklosigkeit, wie die Chittims sagen würden.«
»Die Chittims?«
»Die Römer, wie sie in meiner Muttersprache genannt
werden. Und ich wette, Marschall, daß Euch auch schon zu Ohren gekommen ist, mit welchem anderen Namen ich noch bezeichnet werde.«
»Äh... ja, das stimmt. Doch würde ich ungern jemanden
als Schlamm-Mann ansprechen. Ich fand den Beinamen
nicht gerade schmeichelhaft.«
Er kicherte. »Er beschreibt nur, was ich tue. Ich bin der Mann, der mit dieser Ware handelt.«
»Ihr handelt mit Schlamm?«
»Ihr riecht ihn doch sicher. Das ganze Gebäude ist voll davon.«
»Doch... an wen verkauft Ihr den Schlamm? Und wohin
verkauft Ihr ihn? Gibt es denn irgendwo auf der Welt einen Ort, der nicht bereits seinen eigenen Schlamm hat?«
»Wie Ihr bemerkt habt, verbreitet mein Schlamm einen
besonders penetranten Geruch.«
»Meiner Meinung nach müßte dieser Umstand ihn
besonders wertlos machen.«
»Nun, Ihr berücksichtigt nicht die menschliche Phantasie und den Wert, den sie allem geben kann.«
»Wahrscheinlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht.«
»Einbildungskraft, junger Mann! Die meisten Händler
befassen sich lediglich mit Dingen. Sie sind nur unbedeutende Hausierer. Ich handle mit Phantasie. Ich war nämlich nicht immer Händler, müßt Ihr wissen. In meinen Jugend- und Wanderjahren war ich abwechselnd Poet,
Minnesänger, Geschichtenerzähler - in harten Zeiten sogar Chazzen, was Augur, Wahrsager bedeutet. Doch diese
Berufe waren schlecht bezahlt, und als ich älter wurde, erwachte in mir der Wunsch, irgendwo seßhaft zu werden.
So fand ich mich also eines Tages vor langer, langer Zeit hier an den Mündungsarmen der Donau wieder und
versuchte, mich zu orientieren. Ich sah manchen Mann reich werden, der mit Pelzen, Fischen oder Federn handelte. Das Dumme war nur, daß alle einträglichen Produkte des Deltas bereits mit Beschlag belegt waren. Das einzige, was in diesem morastigen Gebiet noch nicht genutzt worden war, war der Morast selbst.«
Er hielt inne und warf mir einen schelmischen Blick zu, deshalb sagte ich: »Der Schlamm.«
»Ja! Der besonders übelriechende Schlamm dieses
Deltas. Bloße Hausierer hätten nicht einmal ein zweites Naserümpfen daran verschwendet. Doch ich - ich hatte
Phantasie. Zudem besaß ich noch die Unverfrorenheit des Wahrsagers; meine Zeit als Wahrsager hatte mich um die Erfahrung bereichert, wie leichtgläubig die Menschen sind.
So kaufte ich also kleine Töpfe, füllte sie mit dem Schlamm und bot ihn als Breiumschlag gegen Rheuma oder faltige Haut an. Und die Leute kauften den Schlamm - eitle,
alternde Frauen und schmerzgeplagte alte Männer - weil sie davon überzeugt waren, daß die wirksamste Medizin meist die abstoßendste ist. Ich besaß sogar die Dreistigkeit, dem gräßlichen Schlamm einen gräßlichen Namen zu geben -
sapros pelethos, verfaulter Schlamm - und ihn zu einem exorbitanten Preis anzubieten. Der abstoßende Name und der ungeheuer hohe Preis machten ihn absolut
unwiderstehlich. Seit vielen Jahren verkaufe ich das
schauderhafte Zeug nun schon an reiche Römer bis nach
Rom und Ravenna, an reiche Griechen bis nach Athen und Konstantinopel, und an reiche Männer und Frauen aller
anderen Staaten, die dazwischen liegen. Der sapros
pelethos hat mich ebenso reich wie sie alle gemacht. Oh, ich sage Euch, Phantasie ist die magische Ingredienz!«
»Ich gratuliere Euch. Und Eurer Phantasie.«
»Thags izvis. Natürlich bestand, nachdem ich einmal
meine Phantasie angestrengt hatte, für mich kein Bedarf mehr, mich in irgendeiner Weise nochmals anzustrengen.
Schlamm zu verkaufen erfordert keine große
Aufmerksamkeit oder Anstrengung. Ich lebe nicht wie
andere Händler in einem Zustand der Sorge oder gar
Verzweiflung. So habe ich genügend Muße, mich mit
öffentlichen Angelegenheiten der Stadt und der Provinz zu befassen, gelegentlich als Wahrsager für die zu fungieren, die diese Dienstleistung in Ansprach nehmen wollen, und häufig so angesehenen Persönlichkeiten wie unserem
militärischen Oberbefehlshaber Theoderich Gefälligkeiten zu erweisen; und seinem Marschall, der als Gast zu uns
gekommen ist. Gestattet mir, Saio Thorn, Euch einen Topf voll Zauberschlamm zu kredenzen. Ihr seid zu jung, um
schon Rheuma zu haben, doch vielleicht habt Ihr eine
Freundin, die unter ihren Falten leidet...?«
»Sie ist noch jung, thags izvis. Außerdem rechne ich
damit, bald selbst in den Sumpfgebieten unterwegs zu sein.
Falls es nötig werden sollte, kann ich mir meinen eigenen Schlamm zusammensuchen.«
»Gewiß, gewiß. Nun, womit kann ich Euch dienen,
Marschall? In seiner Botschaft beschrieb Theoderich Euch als reisenden Historiker und bat darum, Euch in jeder
Hinsicht zu unterstützen. Seid Ihr in diesem Sumpf gebiet der Geschichte auf der Spur?«
»Dort und überall, wo ich auf Spuren stoßen könnte«,
sagte ich. »Ich weiß, daß unsere gotischen Vorfahren sich hier aufhielten, bevor sie von den Hunnen nach Westen
gedrängt wurden. Ich weiß außerdem, daß die Goten,
während sie in diesem Gebiet hier lebten, neben ihren
friedlichen Beschäftigungen wie Fischen, Pelztierjagd und Handel auch noch Kriege zur See führten und viele Städte, von Trapezus bis Athen, überfielen.«
»Nicht ganz«, sagte der Schlamm-Mann und hob einen
Finger.
»Die Goten waren immer Soldaten, die zu Fuß oder zu
Pferd unterwegs waren. Sie waren ein Landvolk. Die
Seefahrer waren die Kimmerier - wie sie in den alten
Erzählungen genannt wurden In Wirklichkeit waren das die heutigen Alanen, die auch die Küsten des Schwarzen
Meeres besiedelt haben. Die Goten überredeten die Alanen, bei solchen Überfällen den Transport der gotischen Krieger zu übernehmen - genau wie Ihr eine Barkasse gemietet
habt, um hierherzukommen. Die Alanen stellten ihre
Seefahrerkenntnisse zur Verfügung, die Goten übernahmen die Kämpfe und Plünderungen.«
»Ich werde mir diese Berichtigung merken«, sagte ich.
Meirus fuhr fort: »Jene Goten, die vom Meer aus ihre
Überfälle ausführten, waren berühmt - oder berüchtigt -
wegen der Kürze und Grausamkeit der Botschaft, die sie stets in die nächste Stadt vorauszuschicken pflegten, der sich ihre Schiffe näherten. Welche Sprache sie auch dafür benutzten, die Botschaft bestand immer aus nur drei Worten.
Tributum aut bellum. Gilstr aiththau baga. Tribut... oder Krieg.«
»Aber all das fand doch ein Ende, als die Goten
schließlich mit Rom eine Allianz schlössen, in Frieden zu leben, und begannen, die römische Kultur und die römischen Sitten zu übernehmen...?«
»Ja, die Goten genossen damals ein goldenes Zeitalter
des Friedens und des Überflusses, fünfzig Jahre lang. Bis die Hunnen kamen, geführt von ihrem Häuptling Balamber.«
Meirus schüttelte kummervoll den Kopf. »Früher hatten die Römer von den Goten gesagt: ›Gott hat sie uns als Strafe für unsere Missetaten gesandt.‹ Später sagten dann die Goten von den Hunnen: ›Gott hat sie uns als Strafe für unsere Missetaten gesandt.‹«
»Ab diesem Zeitpunkt kennt jeder die Geschichte der
Goten«, sagte ich. »Was ich nun herauszufinden hoffe ist, was die Goten machten und wo sie sich aufhielten, bevor sie sich hier am Ufer des Schwarzen Meeres niederließen.«
Der Schlamm-Mann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich
bin zwar, weiß Gott, schon sehr, sehr alt, doch so alt nun auch wieder nicht. Außerdem erstrecken sich meine
hellseherischen Fähigkeiten nur auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit. Ihr sagtet, Ihr hättet vor, die Sumpfgebiete zu durchstreifen. Dort werdet Ihr zumindest auf vereinzelte übriggebliebene Vertreter der Goten stoßen. Vielleicht findet Ihr unter ihnen andere alte Männer, und vieleicht erinnern die sich an Dinge, die ihre Väter und Großväter ihnen
erzählten. Laßt mich Euch einen vertrauenswürdigen Führer zur Verfügung stellen, Saio Thorn.« Er wandte sich um und rief ins Halbdunkel des Lagerhauses hinein: »Made...
hierher!«
»Made?« wiederholte ich amüsiert.
»Eigentlich heißt er Maghib. Doch er ist der Mann, den ich hinaus in den Sumpf schicke, um mir das Rohmaterial zu bringen, und er war immer in der Lage, Schlamm von der schleimigsten Konsistenz und dem ekelhaftesten Gestank für mich zu finden. Er wühlt sich durch den Schlamm« -
Meirus zuckte mit den Schultern - »daher: Made.«
Bei dem Mann handelte es sich um einen kleinwüchsigen
Armenier mit fettiger Haut, dessen Hautfarbe an Schlamm erinnerte und der in seiner kriecherischen Art wirklich wie eine Made wirkte, als er mit starkem gotischen Akzent sagte:
»Zu Euren Diensten, Fräuja.«
Er nahm eine unterwürfige, gekrümmte Haltung ein,
während der Schlamm-Mann in unverständlichen Lauten
etwas in seiner eigenen Sprache zu ihm sagte. Made
antwortete darauf mit ebenfalls unverständlichem
Geplapper, das sich ziemlich lange hinzog.
»Abgemacht«, sagte Meirus zu mir. »Wann immer Ihr
bereit seid, einen Ausflug in die Umgebung zu unternehmen, kommt hierher und nehmt Made als Euren Begleiter mit. Er sagt, er kenne in der Tat alle möglichen älteren Goten -
Westgoten, Ostgoten, Gepiden - die möglicherweise etwas von den alten Zeiten wissen.«
Am nächsten Morgen, nachdem ich den alten Juden mit
Swanilda bekanntgemacht hatte und er ihr galant versichert hatte, daß sie niemals seinen Schlamm nötig haben würde, sagte er zu mir: »Ihr und ich, Saio Thorn, wir beide scheinen uns immer über Namen zu unterhalten. Dürfte ich Euch jetzt einmal fragen - seid Ihr vertraut mit dem Namen Thor?«
»Wer wäre das nicht?« sagte ich. »Er ist der Donnergott aus der Alten Religion.«
»Ist es oft der Fall, daß Euch ein Gott folgt? Ich muß sagen, er sah einem Gott nicht besonders ähnlich, konnte es aber an Arroganz und Unhöflichkeit mit jedem Gott
aufnehmen.«
»Wen meint Ihr?«
»Einen Neuankömmling, einen jungen Mann - oder Gott,
wenn Thor wirklich sein Name ist, wie er behauptet.
Außerdem ist er über und über mit den Symbolen dieses
Gottes geschmückt. Um den Hals trägt er eine Kette mit Thors Hammer als Anhänger. Die Spange, die seinen
Umhang zusammenhält, und seine Gürtelschnalle sind mit dem häßlichen eckigen Kreuz verziert, das symbolisiert, wie Thors Hammer im Kreis geschwungen wird. Er kam mit
seinem Pferd von einer anderen Barkasse an Land, kurz
nachdem Ihr eingetroffen wart. Ein Mann von ungefähr
Eurem Alter, Eurer Größe und Hautfarbe. Und bartlos, was ich von einem Gott nicht erwarten würde. Er nannte Euren Namen, fragte nach Euch und beschrieb Euch zutreffend.
Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht ein Gefährte, Helfer oder Lehrling von Euch ist.«
»Er ist nichts dergleichen. Ich kenne ihn nicht.«
»Seltsam. Er kennt Euch. Er sagte, er habe Euch in
Durostorum ganz knapp verpaßt. Und er schien sehr
verstimmt darüber zu sein, daß er gezwungen war, Euch so weit nachzureisen. Er murrte, nörgelte und meckerte in der Tat ganz ähnlich wie ein Gott.«
Unvermittelt fiel mir der Reiter wieder ein, der uns
flußaufwärts vom Dock aus nachgeschaut hatte, als unsere Barkasse abgelegt hatte. Doch gab mir das keinen
Anhaltspunkt in bezug auf seine Identität oder seinen Grund, mir zu folgen. Ich sagte lediglich ziemlich unwirsch:
»Gleichgültig wer er ist, ich mag es nicht, wenn man mich verfolgt.«
»Dann freue ich mich, daß ich ihm gegenüber vorschützte, Euch nicht gesehen oder auch nur jemals von Euch gehört zu haben. Doch kam diese Person Thor zu mir, dem
Schlamm-Mann, um mich über Euch auszufragen; er besitzt folglich Intelligenz und eine rasche Auffassungsgabe. Er hat sehr schnell herausgefunden, daß ich sozusagen
Noviodunums Informationsquelle bin. Er rechnete damit, daß Ihr mich aufgesucht hättet. Er kommt ganz sicher noch
einmal hier vorbei, um nach Euch zu suchen.«
Verärgert, ohne zu wissen warum, antwortete ich
ungehalten: »Es ist mir gleichgültig, was er tut! Ich kenne ihn nicht. Ich habe och nie von jemandem gehört, der den
Namen eines Gottes angenommen hätte.«
Doch Swanilda bemerkte dazu leichthin: »Wenn du näher
darüber nachdenkst, unterscheidet sich der Name Thor im römischen Alphabet nur durch einen Buchstaben von
deinem Namen, Thorn.«
Ihre beiläufige Bemerkung ließ mich stutzen. Ich murmelte:
»Du hast recht. Ich habe meinen Namen so selten
geschrieben gesehen. Bis jetzt war mir das nicht bewußt.«
Ich hätte mir diese Enthüllung gern ein wenig durch den Kopf gehen lassen, doch Meirus bedrängte mich hartnäckig weiter: »Dürfte ich Euch im Vertrauen fragen, Marschall, wäre es möglich, daß diese Person ein alter Feind von Euch ist?«
Erneut unerklärlich gereizt zischte ich: »Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nie einen Feind - weder Gott noch Mensch namens Thor. Doch falls dieser Mann einer sein
sollte und Euch erneut aufsucht, könnt Ihr ihm sagen, daß ich es vorziehe, wenn meine Feinde von vorn auf mich
zukommen und nicht von hinten.«
3
Swanilda und ich verließen Noviodunum nicht im Galopp, da wir unsere Pferde in einer Gangart halten mußten, mit der Made Schritt halten konnte. Am Stadtrand warf Swanilda einen Blick zurück und sagte: »Niemand folgt uns, Thorn.«
Ich knurrte: »Götter sind vielleicht Langschläfer. Der Teufel soll den da im Schlaf holen.«
»Mein Herr, der Schlamm-Mann, hat mir Euer Anliegen
erläutert, Fräuja Thorn«, sagte Made, der, während er neben uns hertrottete, offenbar mühelos sprechen konnte, ohne außer Atem zu geraten. »Ich werde Euch einem
hochbetagten ostgotischen Paar aus meiner Bekanntschaft vorstellen, das sich, wie alle alten Leute, gern an die Vergangenheit erinnert.«
»Sehr gut, Made. Werden wir eigentlich in der Lage sein, unser ganzes Unternehmen in diesem Sumpfgebiet zu Pferd zu erledigen? Oder werden wir hin und wieder aufs Wasser ausweichen müssen?«
»Nein, nein. Ihr werdet den Boden zwar unangenehm
sumpfig finden, doch ich kenne die Pfade genau, die um oder durch die morastigeren Stellen führen. Ihr könnt Euch darauf verlassen Fräuja, daß ich Euch gefahrlos und
bequem führen werde.«
Bei Anbruch der Dämmerung näherten wir uns einem
kleinen Hügel, auf dem ein recht stabil gebautes Holzhaus stand. Auf unserem Weg nach oben stieß Made einen lauten Ruf aus, worauf in dem mit Leder verhängten Eingang zwei Gestalten erschienen. Er rief ihnen zu: »Hails, Fillein uh Bauhts!« Sie winkten und entboten ihm ihrerseits den
Willkommensgruß: »Hails, Maghib!«
Wie bei so vielen älteren Paaren der Fall, waren Mann und Frau kaum voneinander zu unterscheiden - beide waren
gekrümmt und zerbrechlich, trugen dieselbe Kleidung und hatten dieselben runzligen Gesichter - abgesehen davon, daß der Mann einen weißen Vollbart trug, während die Frau nur einen kümmerlichen Schnurrbart und ein paar vereinzelt sprießende Haare an Kinn und Wangen aufwies. Swanilda
und ich saßen ab, und Made machte uns alle miteinander bekannt.
»Das ist der gute Mann Fillein und seine gute Frau Bauhts, beide Ostgoten.« An sie gewandt sagte er: »Meine alten Freunde, ich bin stolz, Euch Herrn Thorn, den Marschall des Königs der Ostgoten und seine Begleiterin, Frau Swanilda, vorstellen zu können.«
Anstatt mich zu begrüßen oder willkommen zu heißen,
überraschte mich der alte Fillein mit der nörgelnden
Bemerkung: »Thorn? Thorn? Er ist nicht Marschall eines Königs. König Thiudamers Marschall heißt Soas. Ich mag ja alt und geistesschwach sein, aber daran erinnere ich mich.«
Ich lächelte und sagte: »Verzeiht, werter Fillein. Es stimmt, daß Soas immer noch Marschall ist, doch bin ich ein weiterer Marschall. Und König Thiudamer ist schon seit vielen Jahren tot. Sein Sohn Thiuda der Jüngere regiert jetzt an seiner Stelle; man nennt ihn Thiudareichs - oder gebräuchlicher Theoderich. Er war es, der mich neben Saio Soas zum
Marschall ernannte.«
»Ihr macht Euch doch nicht über mich lustig?« sagte der alte Mann unsicher. »Stimmt das wirklich?«
»Es könnte stimmen«, warf seine Frau ein, deren Stimme ebenso dünn und zittrig klang. »Erinnerst du dich nicht an die Zeit, Mann, in welcher dieser Sohn geboren wurde? Das Kind des Sieges, nannten wir ihn alle « Zu mir sagte sie: »Ist dieser Thiuda schon zum Mann herangereift und inzwischen König geworden? Wahrhaftig, wie die Zeit vergeht.«
»Die Zeit vergeht allerdings«, echote Fillein melancholisch.
»Also dann... wailagamotjands, Saio Thorn. Unser
bescheidenes Haus steht Euch zur Verfügung. Ihr seid
sicher hungrig. Tretet ein, tretet ein.«
Made führte die Pferde hinter das Haus, um sich nach
Futter für sie umzusehen, während Swanilda und ich den alten Leuten ins Innere des Hauses folgten. Fillein stocherte im Kamin herum, um aus der glühenden Asche wieder ein
Feuer zu entfachen, während Bauhts mit einem langen,
gespaltenen Stock eine Wildbret-Schinkenschwarte von den Dachsparren herunter holte; beide sprachen dabei angeregt mit ihren dünnen alten Stimmen.
»Ja, ich erinnere mich jetzt an die Zeit, als Thiuda geboren wurde«, sagte Fillein und machte mit seinem zahnlosen
Mund nachdenkliche Kaubewegungen. »Es war damals, als
unsere beiden Könige, die Brüder Thiudamer und Walamer, im weit entfernten Pannonien weilten, um die hunnischen Tyrannen im Kampf zu besiegen und -«
Bauhts unterbrach ihn. »Wir nannten König Thiudamer
immer den Gütigen und König Walamer den Treuen.«
Ich nickte und sagte rückblickend in zärtlichem Tonfall:
«Thiudamers Tochter, Prinzessin Amalamena, hat mir das einmal erzählt.« Vielleicht war es der Klang meiner Stimme, der Swanilda, die gerade der alten Frau bei der Zubereitung eines Mahls für uns half, veranlaßte, mir einen
nachdenklichen Blick zuzuwerfen.
Fillein fuhr fort: »Was ich sagen wollte, eines Tages
erhielten wir damals hier die Nachricht, daß die
Königsbrüder schließlich die Hunnen besiegt hatten und daß keine Ostgoten mehr in Gefangenschaft waren. Am selben Tag erfuhren wir auch, daß Thiudamers Gemahlin ihm einen Sohn geboren hatte.«
»Darum«, warf Bauhts ein, »nannten wir den jungen
Thiuda auch immer Kind des Sieges.«
Ich sagte zu Fillein: »Dann kanntet Ihr vor der
Regentschaft Thiudamers und seines Bruders keinen
Monarchen oder Herrscher außer den hunnischen
Häuptlingen?«
»Keineswegs! Vor langer Zeit war ich, wie alle Ostgoten, Untertan von König Vandalar, des Vaters dieser Brüder.«
»Bekannt als der Vandalen-Eroberer«, sagte Bauhts,
während sie mit Swanildas Hilfe einen großen
schmiedeeisernen Topf hochhob und auf dem Herd
absetzte.
»Und Vandalars Vater regierte vor meiner Zeit«, sagte
Fillein, »doch kannte ich seinen Namen. König Widereichs.«
»Bekannt als der Eroberer der Wenden«, bemerkte
Bauhts, damit beschäftigt, flache Teigfladen zwischen die Asche im Herd gleiten zu lassen, um daraus Brote zu
backen.
Mir war inzwischen klar geworden, daß in diesem Haushalt Fillein für die Namen der Könige zuständig war und seine Frau für deren Beinamen. Doch etwas kam mir merkwürdig vor, und deshalb wollte ich wissen: »Werter Fillein, warum bezeichnet Ihr diese Männer als Könige? Ihr sagtet doch selbst, daß die gesamte ostgotische Nation bis zur Zeit der Brüder Thiudamer und Walamer von den Hunnen
unterdrückt wurde.«
»Ha!« rief er aus und seine schnarrende alte Stimme klang kräftiger vor Stolz, als er erklärte: »Unsere Könige hielt das zu keinem Zeitpunkt davon ab, auch weiterhin Könige zu sein, oder unsere Krieger, sich weiterhin als Krieger zu fühlen. Und obwohl die Hunnen in der Tat wilde Barbaren waren, handelten sie andererseits auch klug. Sie wußten, daß unsere Männer von ihnen niemals Befehle
entgegennehmen würden. Deshalb ließen sie die königliche Thronfolge unangetastet, was zur Folge hatte, daß unsere Krieger ihre Befehle von unseren Königen entgegennahmen.
Der einzige Unterschied bestand darin, daß wir nun keine unserer angestammten Feinde mehr bekämpften, sondern
die Feinde der Hunnen. Einerlei. Für einen Krieger lohnt sich jeder Kampf. Als die Hunnen gen Westen zogen, um die
elenden Wenden in den Tälern der Karpaten zu besiegen, war es unser König Widereichs, der unsere Krieger in den Kampf führte, um den Hunnen dabei hilfreich zur Seite zu stehen. Und später, als die Hunnen die Vandalen aus
Germanien vertreiben wollten, war es unser König Vandalar, der unsere Krieger in diese ruhmreiche Schlacht führte.«
»Wie Ihr sagt, vertrieben die Hunnen alle anderen in
Richtung Westen, einschließlich fast aller Goten. Wie ist es dann zu erklären, daß Ihr hier lebt?«
»Denkt nach, junger Marschall. Römer, Hunnen oder jede beliebige andere menschliche Rasse mögen auf dem Erdball herumwüten, soviel sie wollen. Die verschiedenen Gebiete mögen viele Male den Besitzer wechseln. Der Grund und
Boden mag mit Blut getränkt, mit Knochen, Gräbern oder rostenden und verrottenden Rüstungen übersät sein. Diese Dinge geraten in Vergessenheit und verschwinden während eines einzigen Menschenlebens. Ich selbst bin Zeuge dieser Vorgänge. Doch die Erde selbst ändert sich nicht. «
»Meint Ihr damit... daß ein Mann nur der unveränderlichen Erde Loyalität schuldig ist? Und keinen Vorfahren, keinem König, keiner Verwandtschaft?«
Er antwortete nicht sofort darauf, sondern fuhr fort:
»Balamer führte seine plündernden Hunnen vor hundert
Jahren hier durch diese Gegend. Doch unsere Väter hatten diese Gebiete zuvor schon mehr als hundert Jahre lang
besessen und bearbeitet. Die Hunnen schwärmten zwar
über unser Land und erklärten es zu ihrem Eigentum, doch ließen sie es nicht brachliegen - und das aus gutem Grund.
Sie brauchten die Erzeugnisse aller Länder, die sie eroberten, um ihre Armeen mit Nahrung und Kleidung zu
versorgen und es ihnen so zu ermöglichen, weiter plündernd durch Europa zu ziehen.«
»Ja«, murmelte ich. »Das verstehe ich.«
»Doch was wußten diese Hunnen schon davon, wie man
es schafft, dem Boden eine Ernte abzuringen? Um den
Boden weiterhin ertragreich zu halten, waren Menschen
nötig, die es verstanden, auf den Feldern, in den
Sumpfgebieten und Gewässern zu arbeiten. Obwohl die
Hunnen unsere Könige, Krieger und jungen Männer
zwangen, entweder mit ihnen nach Westen zu ziehen oder vor ihnen zu fliehen, gestatteten sie daher den Alten, Frauen und Kindern, ihre Gehöfte zu behalten -
und ihre
Ernteerträge mit den Versorgungskolonnen der Hunnen zu teilen.«
Es entstand eine Gesprächspause, als Swanilda und die
alte Bauhts unser Essen vom Herd nahmen und auf den
Tisch brachten -
Wildschweinschinken, gekocht mit
Gänsefußgemüse, gehäuft auf die Brotfladen. Da es
inzwischen stockdunkel geworden war und das Feuer im
Herd die einzige Lichtquelle darstellte, nahm der alte Fillein zwei brennende Holzstücke, steckte sie in mit Schlitzen versehene Holzklötze und stellte sie als Fackeln für uns auf den Tisch. Während seine alte Frau mit einem Brotfladen nach draußen ging, dorthin, wo Made wahrscheinlich sein Essen einnahm, zapfte der alte Fillein noch Krüge voll Bier von einem Faß in einer Ecke des Zimmers, stellte sie vor uns hin und sagte mit glucksendem Lachen: »Gebt acht,
Saio Thorn. Wir halten auch heute noch an einigen alten gotischen Bräuchen fest. Da dieses Flußdelta kein
anständiges Korn zum Bierbrauen bietet müssen wir unser Bier bei den Händlern in Noviodunum kaufen. Ebenso
preiswert könnten wir auch römischen oder griechischen Wein kaufen. Doch in den alten Zeiten pflegten die Starkbier trinkenden Goten die Weintrinker mit ihrem verwässerten Rebensaft als verweichlichte Schwächlinge zu verachten.
Deswegen also...« Er kicherte wieder, hob seinen Krug und wünschte uns »Hails!« Dann nahm er die Unterhaltung
wieder auf: »Ihr fragtet vorhin, Marschall, ob ein Mann seinem Heimatland eher Loyalität schuldig ist als seinen angestammten Vorfahren. Ich denke, daß jeder Mann das
für sich selbst entscheiden muß. Als die Hunnen den Nicht-Kriegern unter den Ostgoten freien Abzug einräumten, damit sie ihr Leben und ihre Arbeit hier wieder aufnehmen
konnten, lehnten die meisten unter ihnen dieses
Zugeständnis stolz ab. Sie weigerten sich, von ihren das Kriegshandwerk ausübenden Verwandten getrennt zu
werden, gingen mit ihnen nach Westen und entschieden sich somit für Heimat- und Besitzlosigkeit und ein oftmals
elendes Dasein für den Rest ihres Lebens.«
Ich sagte: »Für viele Tausende dieser Menschen war der Rest ihres Lebens nicht lang.«
Fillein zuckte die schmächtigen Schultern und sagte:
»Nun, einige wenige entschieden sich für die Sicherung ihres Überlebens. Sie blieben hier. Unter ihnen waren meine Urgroßeltern und andere ältere Leute, auch die Urgroßeltern der lieben Bauhts hier. Selbstverständlich kann ich diese Menschen nicht dafür verurteilen, daß sie eine solche
Entscheidung getroffen haben. Bauhts und ich hätten sonst wahrscheinlich nie existiert. Als jedoch die nachfolgenden Generationen geboren waren, gaben sich ein paar der
jungen Leute nicht damit zufrieden, ständig nur Handlanger für die Hunnen zu sein. Ich war einer von ihnen. Und glaubt mir, Marschall, ich sah nicht immer so aus wie jetzt.«
Er stopfte sich das letzte durchweichte Stück Brot in den Mund und betrachtete, während er es mit dem Zahnfleisch zerdrückte, seine Hände, die er zum Essen benutzt hatte. Es waren alte Hände, ?er, gekrümmt, von dicken Adern
durchzogen und mit Altersflecken übersät.
»Diese Hände waren einmal jung und kräftig, und ich war der Meinung, daß sie bessere Arbeit verdient hätten als im Schlamm zu wühlen.«
»Oh ja«, warf seine Frau ein. »Er war ein so gutgebauter strammer Mann damals, daß man ihn Fillein den Stattlichen nannte. Unserer beider Eltern hatten unsere Heirat schon arrangiert, als wir fast noch Kinder waren. Sie wollten nämlich sichergehen, müßt Ihr wissen, daß wir hier in der Gegend bleiben würden. Doch als Fillein sich entschloß, Soldat zu werden, versuchte ich nicht, ihn umzustimmen. Ich war stolz auf ihn. Ich schwor unseren Eltern, daß ich bleiben und unserer beider Arbeit übernehmen würde, bis er
zurückkehrte.«
Die alte Frau und der alte Mann lächelten sich zahnlos, aber innig und voller Wärme an. Dann wandte er sich erneut mir zu.
»Ich machte mich also davon und schloß mich den
Truppen unseres Königs Vandalar an, der damals gegen die Vandalen ins Feld zog. Wie er und alle seine anderen
Krieger kämpften wir natürlich für die Belange unserer Unterdrücker, der Hunnen. Doch schien es zumindest eine Beschäftigung zu sein, die einem Mann besser anstand.«
Ich sagte staunend: »Ihr kämpftet... mit König Vandalar?
Aber... aber, das muß doch vor mindestens siebzig Jahren gewesen sein.«
Fillein sagte schlicht: »Ich sagte Euch doch, ich war jung damals.«
Ebenso erstaunt wie ich bemerkte Swanilda: »Da seid Ihr und Eure Frau Bauhts ja sogar noch länger verheiratet...«
Er nickte lächelnd. »Und die meiste Zeit waren wir
zusammen, hier an diesem Ort. Ich bin froh, daß ich auf meine Zeit als Krieger zurückschauen kann. Aber ich war auch froh, als ich in der Schlacht verwundet wurde, schwer genug, um vom Soldatenleben Abschied nehmen zu müssen
- froh, zu meiner lieben Bauhts heimzukehren. Und seit dieser Zeit wohnen wir hier, hier unter diesem Dach, auf diesem Stück Land, das von den Urgroßvätern unserer
Väter besiedelt wurde.«
Die alte Frau sagte selbstzufrieden: »Wenn Thors
Hammer einmal im Kreis über den Köpfen eines Jungen und eines Mädchens geschwungen wurde, bleiben sie ihr Leben lang zusammen.«
Wieder war ich leicht gereizt, den Namen Thor erwähnt zu hören, deshalb strebte ich danach, das Thema zu wechseln.
»Wir wollen uns noch weiter zurückerinnern, sogar noch vor die Zeit der Könige Vandalar und Widereichs -«
»Nein, das wollen wir nicht«, unterbrach mich Fillein.
»Heute abend nicht mehr. Wir alten Leute sind es gewohnt, zu Bett zu gehen, sobald es dunkel ist. Dieser Zeitpunkt ist jetzt schon lange vorbei und das hier ist das Zimmer, in dem wir schlafen. Der junge Maghib liegt im Heuschober hinter dem Haus. Ihr beiden jungen Leute könnt Eure Schlaffelle auf den Speicher über dem Zimmer hier mitnehmen.«
Am nächsten Morgen wollte Fillein nachschauen, welche
Beute er in einigen Vogelfangnetzen gemacht hatte, die er kürzlich zwischen dem Schilfrohr im Sumpf ausgelegt hatte, und lud mich ein, mit ihm zu kommen. Swanilda bot an, im Haus zu bleiben und Bauhts bei einigen Näharbeiten zur Hand zu gehen, da, wie die alte Frau einräumte, ihre
Sehkraft »nicht mehr das sei, was sie einmal war«.
»Eure Kräfte, werter Fillein«, sagte ich, »sind sicher auch nicht das, was sie einmal waren. Wenn Eure Netze sehr weit weg liegen, weist uns nur den Weg, dann werden Made und ich uns darum kümmern.«
»Ich mag zwar alt sein, doch noch längst nicht so alt wie einige andere. König Ermanareichs starb ja auch erst, als er hundertzehn Jahre alt war. Er wäre sogar noch älter
geworden, wenn er nicht Selbstmord begangen hätte.«
»König Ermanareichs?« sagte ich. »Wer war das?«
Wie ich mir hätte denken können, hatte die alte Bauhts prompt einen Beinamen für ihn parat. Sie sagte, in
Erinnerungen schwelgend: »Ah, dieser Ermanareichs. Er
war der König, den viele den ›Alexander den Großen‹ des ostgotischen Volkes nannten.«
Doch hatte sie dem nichts mehr hinzuzufügen, deshalb
geduldete ich mich, in der Hoffnung, die Geschichte dieses Königs von Fillein auf unserem Inspektionsgang zu den
Netzen erzählt zu bekommen.
»Ihr fragtet nach Ermanareichs, Marschall. Als ich jung war, hörte ich von meinen Großeltern, was sie in ihrer Jugend von ihren Großeltern gehört hatten, und man sorgte dafür, daß ich es mir gut einprägte: Ermanareichs war der König, der als erster die Ostgoten aus dem fernen Norden hierher zu den Donaumündungen brachte. Damals nannte
man dieses Land hier Skythien, wie es auch jetzt noch heißt, doch wird es heutzutage nicht mehr von den degenerierten Skythen bewohnt. Um für sein eigenes Volk Platz zu
schaffen, jagte König Ermanareichs sie nach Sarmatien, wo einige wenige von ihnen immer noch auf ihre primitive, erbärmliche Art leben.«
Ich murmelte: »Ja, ich habe auch seltsame Geschichten
über diese einst so großen Skythen gehört.«
Fillein nickte und fuhr fort: »Bevor die Ostgoten jedoch hierher gelangten, waren sie durch die Länder vieler anderer Völker gezogen. Auf seinem Weg hierher zwang
Ermanareichs all diese verschiedenen Völker, die Ostgoten als ihre Befehlshaber und Beschützer anzuerkennen.
Tatsächlich war Ermanareichs König viel zahlreicherer
Völker als nur seiner Ostgoten. Das ist auch der Grund, warum man ihn in einem Atemzug mit jenem legendären
Alexander dem Großen nannte. Unglücklicherweise wurden alle seine großen Eroberungen zunichte gemacht, als er seine erste und einzige Niederlage hinnehmen mußte. Die Hunnen aus dem fernen Osten fielen über ihn und sein Volk her, und Ermanareichs war inzwischen schon hundertzehn Jahre alt - zu alt, um eine wirkungsvolle Verteidigung aufzubauen. Nach dem Sieg der Hunnen nahm er sich das
Leben als Buße für sein eigenes Versagen. Seid vorsichtig hier, Saio Thorn. Tretet nur in meine Fußspuren. Auf beiden Seiten gibt es hier Treibsand mit bodenlosen Untiefen.«
Auf seine Bitte hin ging ich nun hinter ihm. Doch war ich während seines Berichts zunehmend skeptischer geworden und sagte jetzt: »Gudisks Himins, Mann, dieser König hätte so ungefähr zweihundertzehn Jahre leben müssen, um an
all diesen Ereignissen teilnehmen zu können, angefangen von der Ankunft der Goten hier bis zu ihrer Unterwerfung durch die Hunnen.«
Fillein sagte schmollend: »Wenn Ihr schon alles wißt, was zu wissen ist, warum fragtet Ihr mich dann nach dem
wenigen, das ich zu wissen glaubte?«
»Vergebt mir, werter Fillein. Offensichtlich sind viele verschiedene Geschichten im Umlauf. Ich möchte sie nur in Einklang miteinander bringen, aus ihnen die wahre
Geschichte herausfiltern.«
Er murrte: »Nun, es gibt eine Sache, die König
Ermanareichs betrifft, die unbestritten ist. Nach ihm waren nur noch Männer aus der amalischen Linie Könige der Ostgoten. Nicht notwendigerweise immer der Sohn jedes
Königs, doch der am besten geeignete Vertreter amalischer Abstammung. Um ein Beispiel zu geben, Ermanareichs
selbst hatte einen ältesten Sohn. Jener Prinz wurde
Hunimund der Schöne genannt, doch Ermanareichs
bestimmte einen weniger gutaussehenden, fähigeren Neffen zu seinem Nachfolger. «