»Kaunplushagl« auszusprechen. Sie verwendeten große

Energie darauf, das »th« und das »kh« zu vermeiden, und sprachen meinen Namen unweigerlich auf die römische

Weise aus, Torn also oder Tornaricus.

Während ich mein Possenspiel weitertrieb und als der

akzeptiert wurde, der ich vorgab zu sein, nutzte ich meine Position niemals dazu aus, irgend jemandem materiellen Schaden zuzufügen. Entgegen Thiudas Rat beglich ich in Abständen sogar, was ich dem Wirt der Herberge schuldete

- und hörte auch auf, ihn verächtlich Knödel zu nennen, sondern sprach ihn als Amalrich an. Diese Zugeständnisse machten ihn mir gewogen, und so gab er mir viele wertvolle Hinweise, wie ich meinen Status am besten ausnutzen

könnte.

Schon früh entschied ich mich, mich meiner Rolle

entsprechend zu kleiden. Ich ließ Amalrich wissen, daß ich, obwohl ich es zufrieden war, ohne Gepränge im Aufzug

eines Waldmenschen zu reisen, nun wünschte, meine

Garderobe zu vergrößern. Wo die besten Schneider,

Schuhmacher, Juweliere und dergleichen zu finden seien, wollte ich von Amalrich wissen.

»Aber Euer Hoheit!« rief er aus. »Ein Mann in Eurer

Position geht nicht selbst, er läßt kommen. Erlaubt mir, das für Euch in die Hand zu nehmen, und seid versichert, daß ich nur diejenigen auswählen werde, die auch den Legaten, den Präfekten, den Herzogo und die anderen Liudaheins

beliefern.«

Schon am nächsten Tag stand ein Schneider mit seinen

Gehilfen in meinen Gemächern, nahm Maß und legte mir

verschiedenste Stoffmuster und zahllose Tuchballen zur Auswahl vor.

An einem anderen Tag, genauer, bei Nacht, erschien ein Aurifex mit Ringen, Nadeln, Armreifen und Fibulae sowie unverarbeiteten Edelsteinen, die er nach meinem Belieben in Geschmeide umzuarbeiten anbot, darunter Diamanten,

Rubine, Saphire, Smaragde, gefärbtes Glas, Berylle,

Hyazinthe und andere, manche ungefaßt, andere in Gold

oder Silber eingearbeitet.

Alles in allem war ich nicht allzu verschwenderisch, und was ich schließlich erstand, war keineswegs übertrieben. Als zum Beispiel der Schneider mit den Gewändern zur Anprobe zurückkehrte, sagte er: »Ich habe natürlich noch keine Farben ausgewählt, weder für den Saum Eurer Tuniken und Togen noch für die Einsatzstreifen an Eurem Mantel.

Obwohl ich Euch bisher als Illustrissimus angesprochen habe und Ihr mich diesbezüglich nicht verbessert habt, bin ich nicht sicher, ob dies in der Tat Euer Rang ist - in diesem Fall käme natürlich nur Grün als Farbe für Eure Gewänder in Frage - oder ob Ihr nicht doch den Status eines Patriziers einnehmt und das Purpur verdient. Auch habt Ihr nicht

bestimmt, ob die Säume und Einsätze lediglich gefärbt oder ornamental gestaltet werden sollen.«

»Nichts von alledem«, sagte ich, dankbar, daß er mich

unwissentlich aufgeklärt hatte. »Keine Farben, keine

Figuren. Ich ziehe die Materialien ohne Verzierungen in ihren natürlichen Farben vor - weiß, lederbraun, mausgrau, wie auch immer.«

Entzückt klatschte der Schneider in die Hände. »Euax!

Hier spricht ein Mann von gutem Geschmack. Ich erkenne Eure Beweggründe, Illustrissimus. Wenn die Natur den

Materialien keine grellen Farben verlieh, warum sollte es ihr Träger tun? Gerade die Einfachheit Eurer Gewänder wird Euch aus jeder Gesellschaft hervorheben, auffälliger noch, als wenn Ihr prunkvoll wie ein Pfau herausgeputzt wärt.«

Ich hatte ihn im Verdacht, mir nur schmeicheln zu wollen, aber dem war wohl doch nicht so. Als ich diese Gewänder später auf den Gesellschaften trug, zu denen ich eingeladen wurde, machten verschiedene herausragende und gebildete Personen, viel erfahrener in diesen Dingen als ich, mir ehrlich gemeinte Komplimente über meine Kleidung.

Die Bemerkung des Schneiders lehrte mich eine wichtige Lektion: meinen Mund zu halten, wenn ich mit einem Thema konfrontiert wurde, über das ich eigentlich Bescheid wissen müßte, es aber nicht tat. Mit geschlossenem Mund konnte ich unmöglich meine Unerfahrenheit verraten. Und wenn ich nur lange genug schwieg, dann würde mir früher oder später jemand mit einer zufällig hingeworfenen Bemerkung

weiterhelfen. Indem ich meine Unwissenheit hinter einer scheinbar hochmütigen Schweigsamkeit verbarg, gelang es mir, mich nicht nur nicht bloßzustellen, sondern von anderen sogar für weiser als sie selbst gehalten zu werden.

Eines Nachts, nach einem Gelage im Triklinium von

Vindobonas angegrautem, enorm dicken Präfekten Maecius

- die Frauen hatten sich schon zurückgezogen, und wir

Männer freuten uns auf ein Trinkgelage - betrat ein Bote den Raum und übergab unserem Gastgeber unauffällig ein

Schreiben. Der Präfekt warf einen Blick darauf und räusperte sich dann aufmerksamkeitsheischend. Die Unterhaltungen verstummten mit einem Schlag, und alle wandten sich ihm zu.

Feierlich verkündete Maecius: »Freunde und Mitbürger

Roms, wichtige Nachrichten harren Eurer. Diese Botschaft wurde mir direkt von meinen Agenten in Ravenna

übermittelt, Ihr hört die Neuigkeit also noch vor den

offiziellen Stellen: Olybrius ist tot.«

Ein Chor überraschter Ausrufe erklang.

»Was? Nun auch Olybrius?«

»Wie kam er zu Tode?«

»Schon wieder ein Attentat?«

Ich schrie nicht, wie ich es früher wohl getan hätte, hinaus

»Wer um alles in der Welt ist Olybrius?«, sondern rümpfte nichtssagend die Nase und trank einen Schluck von meinem Wein.

»Nein, diesmal kein Attentat«, erwiderte Maecius. »Der Imperator starb an der Wassersucht.«

Erleichtertes Murmeln in der Runde.

»Welche Erleichterung, das zu hören.«

»Aber was für eine Art zu sterben, eines Bauern würdig, nicht aber eines Imperators.«

»Und nun, was jetzt?«

Ich platzte nicht los »Aber ich dachte, Anthemius sei

Imperator in Rom!«, sondern setzte ganz gemächlich zu

einem weiteren, langen Schluck aus meinem Glas an.

Der Präfekt gab die Frage an die Anwesenden zurück:

»Ja, was nun? Ich schlage vor, wir fragen den erlauchten Tornaricus dort drüben, obwohl ich kaum glaube, daß er uns etwas verraten wird. Seht, Freunde, nur er allein unter uns scheint von der Nachricht weder überrascht noch sonderlich bewegt zu sein.«

Alle Anwesenden starrten mich an. Gleichgültig erwiderte ich ihre Blicke. Ein Lächeln wäre kaum angebracht gewesen, aber mir war auch keineswegs danach, in Tränen

auszubrechen.

»Hat man eine solch unschuldige Erscheinung jemals

zuvor gesehen?« wandte sich Maecius an die

Versammelten. »Hier, dieser Mann ist im Besitz geheimen Wissens.« Aber in seiner Stimme lag mehr Bewunderung als Anklage, und dasselbe las ich in den mir zugewandten

Gesichtern.

»Das Imperium selbst«, fuhr Maecius fort, »hat mich zum Präfekten dieser Provinz ernannt. Und was weiß ich? Nur, daß Anthemius im Juli hinterrücks ermordet wurde, auf

Betreiben seines eigenen Sohnes, des Mannes, der ihn auf den Thron gehievt hatte, dem Königsmacher Riccimer.

Genau vierzig Tage später ist Riccimer selbst tot, angeblich eines natürlichen Todes gestorben. Und ein anderes seiner Geschöpfe, Olybrius, wird zum Herrscher über das westliche Imperium ausgerufen. Und jetzt, nur zwei Monate nach

seinem Aufstieg, ist auch Olybrius tot. Sprecht, Tornaricus.

Ich weiß, Ihr wißt es. Wer wird unser nächster Imperator sein? Und wie lange?«

»Sprecht, Tornaricus«, stimmten die anderen ein.

»Aber das geht nicht«, sagte ich, grinsend angesichts ihrer Einfältigkeit.

»Da, habe ich es nicht gesagt?« röhrte Maecius, nicht

unfreundlich. »Einige unter euch, die ihr euch bemüht, mächtig zu werden, nehmt euch ein Beispiel an Tornaricus.

Einem Mann, dem man Geheimnisse anvertrauen kann,

dem werden sie anvertraut. Beim Styx, ich wünschte, ich würde Eure Quellen kennen. Tornaricus, wer sind Eure

Agenten? Sind sie käuflich?«

»Kommt, Tornaricus«, sagte einer der Stadtältesten.

»Wenn Ihr Euch schon weigert, den Namen von Olybrius'

Nachfolger zu nennen, dann sagt uns wenigstens, was wir aus Ravenna zu erwarten haben. Aufruhr? Verheerungen?

Was steht uns bevor?«

»Ich kann nicht«, wiederholte ich. »Über die Vorgänge in Ravenna kann ich euch leider nichts sagen.«

Um mich herum hörte ich es wispern.

»Er könnte wohl, will aber nicht.«

»Trotzdem, er hat weder Aufruhr noch Verheerungen

ausgeschlossen.«

»Nur über Vorgänge in Ravenna nicht, sagt er.«

Als drei Wochen später dann in Vindobona die Kunde von dem seit vier Jahrhunderten mächtigsten Ausbruch des

Vulkans Vesuv in der Provinz Campania die Runde machte, beäugten mich meine Bekannten mit unermeßlichem

Respekt und größter Bewunderung. Allgemein wurde

beschlossen, ich sei allwissend, nicht nur was die Affären des Staates, sondern auch was die der Götter anging.

Von da an wurde ich in Gesellschaften oft beiseite

gezogen und von diesem oder jenem vermögenden Mann

um Rat bezüglich einer Geschäftsentscheidung

angegangen, von dieser oder jener Dame gebeten, den Rat ihres Astrologen zu kommentieren. Junge Männer wollten wissen, ob ihre Vorgesetzten wirklich mit ihrer Arbeit zufrieden seien und welche Aussichten sie auf Beförderung hätten, junge Frauen eher, was ihr Vater wirklich von diesem oder jenem ihrer Schneider hielt.

Aber ich verweigerte mich allen -

meinen

Standesgenossen höflich, Gemeinen herablassend - denn

nur durch Schweigen über Dinge, von denen ich nichts

verstand, hatte ich es zu einem gewissen Ruf gebracht.

3

Jedermann kannte mich unter dem Namen, den Thiuda

erdacht hatte, Thornareichs (oder, häufiger, Tornaricus), was alle als Beweis meiner Abstammung aus einer

hochgestellten gotischen Familie ansahen. Wenn sich in einer Unterhaltung die Gelegenheit ergab, so erwähnte ich ganz beiläufig »meine Besitztümer«, was meine Zuhörer

davon zu überzeugen schien, daß ich irgendwo Land

besäße. Der Präfekt hatte bereits festgestellt, daß ich über Spione verfügte, also mußte ich geheimes Wissen über alle Vorgänge im Imperium besitzen. Diese Fiktion wurde ständig wiederholt, und der günstig gelegene Ausbruch des Vesuvs brachte mir auch noch den Ruf eines Mannes ein, dem auch die Zukunft nicht verborgen war, eine Auszeichnung, die ich ansonsten nie hätte erringen können. Da ich über genügend Mittel verfügte, mich angemessen zu kleiden, in der besten Herberge der Stadt zu logieren, und, wenn ich mich mit den anderen jungen Männern in den Tavernen vergnügte, Runde auf Runde mitzuhalten, hielt man mich für viel

wohlhabender, als ich war. Vor allem aber klagte ich nicht -

wie andere, wirklich reiche Männer endlos über Ausgaben, Steuern und Löhne. Und darüber hinaus war ich ein junger Mann im heiratsfähigen Alter von, so wurde mir gesagt, anziehendem Äußeren.

Darüber hinaus kam mir ein unsichtbarer, aber nicht zu unterschätzender Vorteil zugute. Selbst gemessen an den Söhnen von Persönlichkeiten wie Maecius und Sunnja hatte ich eine sehr gute Ausbildung genossen und zudem auf

meinen Reisen ausreichende Umgangsformen erworben,

um nicht als Bauerntölpel dazustehen, letzt, in Vindobona, achtete ich bei Empfängen und anderen Gelegenheiten

darauf, die Verhaltensweisen der Hochgestellten

nachzuahmen und dadurch meinem Benehmen weiteren

Schliff zu verleihen. Ich lernte, meinen Wein mit Wasser zu verdünnen und mit Zimt und Kassie zu würzen und dieses Gebräu hinunterzustürzen, ohne mit der Wimper zu zucken oder einen von Wyrds Flüchen auszustoßen. Ich lernte, die Gemeinen verächtlich als Plebecula, »der Pöbel« zu

bezeichnen. Und auf die römische Weise, mit einem leichten Fußtritt statt mit den Knöcheln, an Türen anzuklopfen. Ich muß zugeben, ich erhielt häufig die Gelegenheit, sehr diskret an verschlossene Türen zu klopfen.

Wie ihre Männer und Väter, so ließen sich auch die

hochgestellten Mädchen und Frauen von meiner Posse

täuschen. Und die Aura der Allwissenheit, die mich umgab, schien auf die Frauen, Witwen, Matronen und Jungfrauen eine noch stärkere Anziehungskraft auszuüben. Denn sie ließen keine Gelegenheit aus, mich zu treffen, mir vorgestellt zu werden und sich mit mir zu unterhalten. Ich erkannte eine Eigenheit an mir, die mir bisher entgangen war. Zu meiner eigenen Überraschung fiel es mir nämlich leichter als

anderen Männern, mich mit Frauen anzufreunden. Ich

spreche hier nicht unbedingt von kurzen Abenteuern oder leidenschaftlichen Liebesaffären, sondern von engen

Freundschaften, ob sie nun nur das Herz oder auch den

Körper miteinbezogen. Nach und nach wurde mir auch klar, warum das so war.

Gemeinhin werden Männer als den Frauen überlegen und

sie beherrschend angesehen. Die meisten Männer sehen in Frauen mithin nicht mehr als ein Geschöpf, das sie nach Belieben benutzen können. Die meisten Männer - egal wie häßlich, alt, dumm, verkrüppelt, arm und nichtsnutzig -

glauben, jede Frau haben zu können. Selbst wenn die Frau nobler Abstammung ist und der Mann ein gemeiner Sklave, ist er davon überzeugt, sie umwerben und gewinnen oder wenigstens entführen und vergewaltigen zu können, einfach weil er ein Mann ist. Auch ich habe spüren müssen, was die Welt als gut und richtig empfindet. Von Natur aus war ich ein halber Mann, und habe fast mein ganzes Leben als Mann

unter Männern verbracht. Als erwachsener Mann war ich

keineswegs unempfänglich für die Reize eines hübschen

Mädchens oder einer schönen Frau, und wünschte oft, sie zu besitzen. Andererseits konnte ich keine Frau als

minderwertig oder mir untertan betrachten, war ich selbst doch zur Hälfte Frau. Selbst in meiner Verkörperung als Mann, wenn ich mich verhielt und dachte wie andere

Männer, mich so sehr wie sie als Mann empfand und

wahrhaft männlichen Vergnügungen nachging, war die

weibliche Hälfte meiner Natur nie ganz unterdrückt.

Die Frauen, die ich bisher kennengelernt hatte, waren, bis auf wenige Ausnahmen, von der Arbeit ausgezehrte

Bäuerinnen oder duckmäuserische Nonnen gewesen. Die

Ausnahmen waren die fehlbare Schwester Deidamia, die

galante Dame Placidia, die besserwisserische kleine Livia, die verruchte Domina Aetherea und die Clarissima Robeya.

Hier nun pflegte ich Umgang mit intelligenten und gut

erzogenen Frauen nobler Herkunft - manche von ihnen

konnten sogar lesen und schreiben - und ich hatte erstmals die Gelegenheit, Frauen zu erleben, die nicht schon längst von lebenslanger Mühsal oder übertriebener Frömmigkeit zerbrochen oder von übermäßigem Ehrgeiz verzehrt worden waren. Ich fand heraus, daß sie dachten und fühlten wie ich, wenn ich Frau war.

Männer, Traditionen, Gesetze und religiöse Dogmen

haben verkündet, die Frau sei nicht mehr als ein zu füllendes Gefäß. Aber sie selbst weiß es besser. Und so sieht sie auch in Männern nicht nur ein Fascinum, dessen Aufgabe es ist, sie zu füllen. Frauen betrachten Männer mit anderen Augen als Männer Frauen. Er bewertet zuerst, wie gut sie aussieht und wie begehrenswert sie ist, sie hingegen

versucht unter die Oberfläche zu blicken. Ich weiß das, denn so habe ich Gudinand beobachtet.

Anfangs mögen die Frauen von Vindobona vielleicht nur

neugierig auf einen Fremden mit angeblich so

geheimnisvollen Kenntnissen gewesen sein. Aber mich

schätzen lernten sie aus einem anderen Grund: ich

betrachtete und behandelte sie nicht wie andere Männer. Ich verhielt mich ihnen gegenüber so, wie ich als Frau wollte, daß sich Männer mir gegenüber verhielten. Mehr brauchte es nicht. Viele Mädchen und Frauen wurden intime

Freundinnen von mir, und viele machten deutlich, daß sie gerne noch intimer werden würden, einige wurden es.

Gewöhnliche Männer, so wage ich zu sagen, hätten aus

diesem überreifen Garten nur die schönsten und

vollkommensten Blumen gepflückt. Aber ich sah hinter die Fassaden und wählte diejenigen aus, die mir am teuersten waren, ohne Rücksicht auf Alter und Aussehen. Manche

waren schön, aber nicht alle. Einige waren noch jungfräulich unberührt und ich ihr erster Liebhaber. Sie mußten vorsichtig gelehrt werden, und ich glaube, ich war ein guter Lehrer.

Andere waren Matronen, die ihre Blütezeit hinter sich hatten, aber keine Frau ist jemals zu alt, um sich fleischlichen Genüssen hinzugeben, und einige dieser Frauen konnten

mich noch Dinge lehren.

Eine hochgeborene Dame, die ich hier Dona nennen

werde, war die erste, deren unmißverständliches Angebot ich annahm. Es genügt zu sagen, daß sie eine sehr schöne Frau mit veilchenblauen Augen war, aber auf weitere

Einzelheiten, die ihre wahre Herkunft entdecken könnten, verzichte ich besser.

Erregt, aber auch etwas ängstlich, betrat ich in jener ersten Nacht ihre Gemächer. In einer gewissen Sorge

entkleidete ich mich in ihrer Gegenwart - nicht um mein männliches Organ, das sich zu einem harten Fascinum

aufgerichtet hatte; auch nicht um meine mädchenhaften

Brüste, denn indem ich meine Brustmuskeln anspannte,

konnte ich sie fast verschwinden lassen. Vielmehr besorgte mich mein Mangel an Körperbehaarung. Bisher war mir nur Schamhaar und Achselhaar gewachsen. Dona würde es

vielleicht seltsam finden, daß ich über keine männlichen Haare auf der Brust, den Beinen oder den Unterarmen, ja noch nicht einmal über den Ansatz eines Bartes, verfügte.

Meine Sorge stellte sich als überflüssig heraus. Dona

entledigte sich erwartungsvoll ihrer eigenen Gewänder, bis auf, wie es der weibliche Anstand vorschrieb, ein

Kleidungsstück. Dabei erwies sie sich als wenig prüde, denn was sie anbehielt, war nicht mehr als ein dünnes, um ihre schlanke Hüfte geschlungenes Goldkettchen. So sah ich, daß an Donas Körper, abgesehen von ihrem

rabenschwarzen Haupthaar, kein einziges Haar wuchs. Sie war ein wenig überrascht, mich nicht gleichfalls überall glatt und unbehaart zu finden. So erfuhr ich wieder etwas Neues: für die Mitglieder der römischen Nobilität, sowohl der Männer als auch der Frauen, war es üblich, bis auf die

Kopfbehaarung jeglichen Haarwuchs am Körper sorgsam zu entfernen.

»Wir bemühen uns«, Dona sprach, als ob sie einem

zurückgebliebenen Kind etwas erklären müßte, »nicht den wilden Barbaren zu gleichen, die so haarig sind wie die Felle, die sie tragen. Aus welchem Grund, teurer Torn, hast du diese drei nutzlosen Überbleibsel nicht entfernt?«

»Es ist der Brauch meines Volkes«, sagte ich, »sie als Schmuck zu tragen.« In Wahrheit brauchte ich das

Schamhaar, um zu verbergen, daß ich keinen Hoden besaß.

»Ahus alia via«, tat sie die Sache unbeschwert ab, »davon abgesehen bist du ein sehr ansehnlicher junger Mann.« Sie ließ ihren Blick hungrig über meinen Körper gleiten. »Diese kleine Narbe an deiner Augenbraue lädt zum Küssen ein.

Aber die leuchtende Narbe an deinem rechten Arm

beeinträchtigt die Makellosigkeit deines Körpers. Woher kommt diese Narbe?«

»Eine Dame« log ich, »die eines Nachts in ihrer Erregung ihr Verlangen nicht mehr bändigen konnte... «

»Euax!« rief Dona mit einem verräterischen Glänzen in

den Augen aus. Verführerisch räkelte sie sich in ihrem großen Bett.

Der Moment, der mir die meisten Sorgen bereitete, war

gekommen. Ich hatte nur einmal zuvor mit einer Frau

verkehrt, und damals unter falschen Vorzeichen. Obwohl ich alles, was ich in dieser Nacht mit Dona tun würde, bereits mit Deidamia getan hatte, war ich damals Schwester Thorn gewesen und hatte mich vollkommen als Frau empfunden.

Nun aber tat ich es als Mann, so wie Gudinand es mit Juhiza getan hatte.

Als ich Dona in einer leidenschaftlichen Umarmung umfing wie nur soll ich das begreiflich machen? - erinnerte sich wenigstens ein Teil meines Bewußtseins daran, wie ich

Gudinand gelehrt hatte, seine Finger, seine Lippen und sein Fascinum zu gebrauchen. Gleichzeitig, und zu Donas

Vorteil, erinnerte ich mich auch daran, was Juhiza und Deidamia am meisten in Erregung versetzt hatte.

Glücklicherweise beeinträchtigten diese Erinnerungen

meine Leistungen als Mann nicht im geringsten. Ich war so unermüdlich, wie Gudinand es gewesen war, und Dona so

dankbar, einfühlsam und unersättlich wie Juhiza.

Doch damit nicht genug. Während Dona und ich uns

hemmungslos meiner Männlichkeit bedienten, hatte ich

wiederum das Gefühl, mehrere verschiedene

Persönlichkeiten gleichzeitig zu sein: Thornareichs und Dona, Juhiza und Gudinand, Schwester Thorn und

Schwester Deidamia. Aktiv und passiv, eindringend und

empfangend, gebend und nehmend, ergiessend und

verschlingend. Das Gefühl, daß wir beide aus mehreren

verschiedenen Einheiten bestanden, daß ich sowohl Mann als auch Frau war, von einem Extrem ins andere floß, verlieh meinen Empfindungen eine unbeschreibliche Stärke. Und

das, glaube ich, kam auch Dona zugute, obwohl sie meine Doppelgeschlechtlichkeit nicht nachvollziehen konnte.

»Macte Virtute!« stöhnte sie vor Lust, als sie die Gewalt über ihre Sinne zurückgewonnen hatte. Schalkhaft fügte sie hinzu: »Ich werde dich meinen Freundinnen

weiterempfehlen.«

»Benigne«, dankte ich und fügte mit gespielter

Überheblichkeit hinzu: »Ich glaube kaum, daß das nötig sein wird. Eine ganze Reihe deiner Freundinnen hat ihrer

Bereitschaft bereits Ausdruck gegeben, mit mir...«

»Eheu! Gib acht, du Angeber! Du läufst Gefahr, über

Gebühr beansprucht zu werden.« Sie lachte so herzlich, daß ihr schöner Körper bebte. Das war so reizvoll, daß es mich zu etwas anderem als reden anregte.

Ich werde hier keine Einzelheiten dieser Begegnung mit Dona mitteilen, noch von anderen Begegnungen mit ihr oder anderen Frauen und Mädchen aus Vindobona. Es genügt zu wissen, daß es einige Monate lang so weiterging und ich meine Existenz als Thornareichs, in der ich unaufhörlich neue Dinge sah, lernte und erlebte, ausgiebig auskostete.

Im Dezember feierte ich mit allen Einwohnern Vindobonas, vom Herzog bis hinunter zum niedrigsten Sklaven, die

siebentägigen Saturnalien. In den großen Villen richteten die reichen Familien ausschweifende Feste aus, die von der Abend- bis zur Morgendämmerung andauerten und, wenn

auch anfänglich eher steif, im Verlauf der Stunden in wüste Trinkgelage und Orgien ausarteten.

Die zügelloseste Festlichkeit, die ich besuchte, war aber jene die der Legat Balburius für seine Legion Gemina

veranstaltete. Der eigentliche Anlaß für die Saturnalien ist der Anstieg der Sonne von ihrem mittwinterlichen Tiefpunkt am Himmel. Da der Gott Mithras, den fast alle römischen Soldaten immer noch verehren, von seinen Anhängern auch als Deus Solis angesehen wird, feierten die Truppen die Saturnalien um so hemmungsloser.

Ich hing in einer der Baracken der Garnison herum und

sah den Soldaten beim Zechen mit den Huren aus den

armen Vierteln der Stadt zu. Ein vom Wein benebelter

Zenturio wankte auf mich zu, legte seinen Arm um meine Schultern und versuchte, mich mit einer flammenden Rede dazu zu überreden, meine gegenwärtige Religion, welche auch immer es sei, aufzugeben und die höheren Weihen des Mithraismus zu empfangen.

»Ihr müßtet Euch natürlich zuerst bewähren, hicks, als Rabe, als Geheimer oder als Soldat. Aber dann, durch

Studium und Anwendung und treuen Glauben, hicks, würdet Ihr in den Stand des Löwen erhoben und als Mithraist

anerkannt. Durch weiteres hartes Studium und die

Ausübung guter Taten könntet Ihr in den Stand eines

Persers aufsteigen, das wäre dann so weit, hicks, wie Ihr kommen könntet. Wir hier in der Legion Gemina haben

mehrere Sonnenstürmer, zu denen ich selbst die Ehre habe zu gehören. Und, Ihr mögt es glauben oder, hicks, auch nicht, es gibt hier sogar einen Mithraisten von höchstem und begehrenswertestem Rang, den Vater. Er ist, ich muß es wohl kaum erwähnen, hicks, unser geschätzter Legat. Nun, junger Tornaricus, ich erkläre mich bereit, Euren Antrag auf Aufnahme zu unterstützen. Was, hicks, sagt Ihr dazu?«

»Ich, ›Hicks‹«, machte ich mich über ihn lustig, »Dekurio Sonnenstürmer, sage, ich habe in meinem Leben schon

viele gesehen, die irgend jemanden zu irgend etwas

bekehren wollten. Und jeder einzelne beteuerte: ›Du mußt meinen Gott und meine Religion und meine Priester und

meinen Glauben annehmen.‹ Zu allen sage ich - und auch zu Euch, Dekurio: ›Thags izvis, benigne, eükharisto, aber ich lehne Euer Ansinnen ab.‹«

Im Februar feierte die ganze Stadt die Luperkalien. In längst ergangenen Zeiten, sagt man, sollen bei den

Luperkalien Ziegenböcke geopfert worden sein. Sie wurden gehäutet, und aus dem Leder wurden lange Streifen

geschnitten, die zu Peitschen verarbeitet wurde. Seit

Menschengedenken aber sind die Luperkalien nichts weiter als ein harmloser Feiertag. Heute werden die Peitschen aus Stoffstreifen geflochten, und kleine, nackte Knaben laufen in Anlehnung an die uralte Zeremonie peitschenschwingend

durch die Straßen und schlagen die zahllosen Frauen, die sich ihnen in den Weg stellen, damit. Da die Peitschen früher aus den Häuten geiler Ziegenböcke gefertigt worden waren, glaubte man, das Peitschen würde die

Unfruchtbarkeit einer Frau heilen oder ihre Fruchtbarkeit steigern. Davon abgesehen dienten die Luperkalien nur als eine weitere Ausrede für ein geselliges Fest und Convivum.

Im März, an einem Tag, der eigentlich nicht mit roter

Kreide im Kalender markiert war, erhielten Vindobona und jede andere Stadt im Reich einen weiteren Anlaß für eine Festlichkeit. In der ersten Woche dieses Monats

verkündeten Botschafter in allen Provinzen, daß ein

gewisser Glyzerius am sechzehnten Tag vor den Kaienden des April das kaiserliche Purpur annehmen würde. Wenig war über diesen Glyzerius bekannt, nur, daß er in der Armee gewesen und nach dem fast gleichzeitigen Dahinscheiden des Imperators Anthemius und des Königmachers Riccimer aus der Versenkung aufgetaucht war. Nun wurde ihm der

Titel übertragen und allen römischen Bürgern befohlen, den Tag seiner Thronbesteigung zu feiern und dem neuen

Imperator »Salve atque flore!« zu wünschen. So unbekannt er war, begrüßte Vindobona doch die Gelegenheit, eine

Festlichkeit zu veranstalten. Da dies zumindest dem

Vorwand nach eine Staatsangelegenheit war, trugen bei den Festlichkeiten alle Frauen eine Stola und alle Männer eine Toga. Jetzt war ich froh, daß mein Schneider damals darauf bestanden hatte, eine Toga für mich anzufertigen.

Um der Wahrheit Genüge zu tun, muß ich jedoch

gestehen, daß dieses fast nur aus Gesellschaften und fadem Gerede bestehende Leben mich langsam, aber sicher

langweilte. Überall traf man dieselben Leute, die den ganzen Tag lang nur, wie man sagte, »Penelopes Netz spannen«, soll heißen, nach Abenteuern Ausschau hielten.

In der Zwischenzeit hatte ich alles gelernt, was diese Leute mir über die Manieren, Eigenheiten und

Beschäftigungen der Mobilität beibringen konnten. Sowohl ihr Verhalten als auch ihre Unterhaltungen kamen mir jetzt künstlich, aufgesetzt und blutlos vor.

Ich sehnte mich nach Bekanntschaften mit Menschen, die vielleicht weniger kultiviert, dafür aber um so greifbarer waren. Meine besten Freunde bisher waren einfache

Menschen gewesen. Wyrd hatte als gemeiner Soldat

angefangen, und Gudinand hatte sogar zum Abschaum der

Gesellschaft gehört. Langsam keimte in mir die Hoffnung auf, daß ich unter dem einfachen Volk vielleicht eher wieder so charakterstarke und umgängliche Freunde finden könnte.

Ganz wollte ich mich jedoch nicht aus den höheren

Kreisen Vindobonas zurückziehen. Die intime Gesellschaft der Frauen, die ich dort kennengelernt hatte, wollte ich nicht missen. Außerdem konnte ich nicht einfach so mir nichts, dir nichts in die schlechteren Viertel der Stadt hinabsteigen und mich beim Volk einschmeicheln. Egal ob die Plebecula die Bessergestellten bewunderten, beneideten oder

verabscheuten: sie alle kannten jeden einzelnen von uns, auch den Illustrissimus Thornareichs. Was ich brauchte, war eine neue Identität, eine, die ich ablegen und wieder

annehmen konnte, wann immer ich wollte. Das war leicht: Ich brauchte nur mein Geschlecht zu wechseln, indem ich meinen anderen Namen benutzte, und meine Frauenkleider und dazu noch ein wenig Schminke und etwas Schmuck

anlegte. Mein zweites Ich würde auch eine separate

Unterkunft benötigen. Almarich hatte Thiuda, der sich nach einer billigen Herberge erkundigt hatte, das Haus einer gewissen Witwe genannt. Ich erkundigte mich bei ihm, wie ich dorthin würde finden können.

»Der Schuppen der Widuwo Dengla?« Er verzog das

Gesicht. »Vai, Euer Hohheit, warum solltet Ihr dorthin gehen wollen?«

»Um geheime Botschaften abzuholen«, log ich, »und

meine Antworten darauf auszusenden. Ich habe mit Thiuda, meinem Diener und Agenten, verabredet, daß wir das Haus der Witwe dafür benutzen würden.«

»Gudisks Himins«, brummelte Almarich. »Dann fürchte

ich, daß Eure Botschaften alles andere als geheim sind.

Diese Frau hat ganz sicher jede einzelne Nachricht geöffnet und gelesen und den Inhalt weitergeleitet oder sonstwie Nutzen daraus geschlagen.«

»Ihr schätzt«, lachte ich, »diese Dengla nicht sehr hoch.«

»Nicht nur ich, Eure Hohheit. Jeder hier in Vindobona, ob vorehm oder gemein. Sie stiehlt nicht nur, sie spioniert auch die delikaten und pikanten Heimlichkeiten bedeutender

Bürger aus und preßt mit der Drohung, diese beschämenden Geheimnisse weiterzugeben, viel Gold aus ihnen heraus.

Manche sagen, sie wende dafür die schwärzesten Künste

der Hexerei an. Kein Mensch weiß, wie sie alles

herausbekommt, aber jedenfalls weiß sie so viel über die Magistrate und Legislatoren Vindobonas, daß keiner es

wagt, sie aus der Stadt zu verjagen, auch wenn sie es noch so sehr verdient hätte. Wie dem auch sei, ich hoffe, daß Ihr Euch nun fern von ihr haltet, wo Ihr das wißt.«

»Ni allis«, lachte ich wieder. »Ihr habt meine Neugier eher angestachelt. Ich bin immer begierig, Neues zu lernen. Ein kurzer Blick auf eine Person, die ein solch korruptes

Gewerbe betreibt, könnte sich als lehrreich erweisen.«

4

Der Aufenthalt bei der Widuwo Dengla sollte sich in der Tat als lehrreich erweisen, doch ich würde nur sehr ungern jemandem das weitergeben, was ich dort lernte. An dem

Morgen, als ich an ihrer Tür anklopfte, hatte ich mein Äußeres auf meine neue Rolle und niedrige Abstammung

eingestellt. Ich trug meine ältesten und schäbigsten

Gewänder und hatte ein paar wenige Habseligkeiten in

einem Tuch zusammengebunden. Die verzogene,

zersplitterte Tür wurde einen Spalt breit von einer knochigen, alten Frau, ungefähr in Amalrichs Alter, geöffnet. Ihre Kleidung war etwas besser als die meine, doch keineswegs die einer Patrizierin. Der fahle Teint ihres

Pfannkuchengesichtes war übertüncht mit dicken Lagen von Algen, chiantischer Erde und Mastix. Ihr Haar hätte wohl das erste Grau gezeigt, hätte sie es nicht mit Extrakten aus Ochsenzunge rot getönt.

»Caia Dengla«, begrüßte ich sie respektvoll. »Ich bin neu in Vindobona und suche für einige Wochen eine Unterkunft.

Man hat mir gesagt, Ihr würdet gelegentlich Kammern

vermieten.«

Sie schaute mich von oben bis unten an, sehr viel

eingehender, als ich sie betrachtet hatte. Dann, noch bevor sie meinen Namen wissen wollte, fragte sie: »Kannst du überhaupt bezahlen, Mädchen?«

Ich streckte meine Hand aus, in der ich einige silberne Siliquae hielt. Ihre Augen leuchteten gierig auf, doch sie schnaubte verächtlich: »Gerade genug für eine Woche Kost und Unterkunft.«

Ich verlor kein Wort über den unverschämten Preis,

sondern sagte schüchtern: »Ich hoffe, bald mehr zu

verdienen.«

»Mit Hurerei?« schnappte sie. Offensichtlich hatte sie aber weniger moralische Bedenken, denn sie fügte hinzu: »Falls du vorhast, deinen Freiern hier zu Gefallen zu sein, mußt du mehr bezahlen. «

»Ich bin keine Ipsitilla, Caia Dengla«, sagte ich

zurückhaltend, ohne irgendwelche Verärgerung oder

Belustigung zu zeigen. »Wie Ihr selbst bin ich in jungen Jahren verwitwet. Diese wenigen Siliquae sind alles, was mein Ehemann mir hinterließ. Doch kenne ich mich mit der Verarbeitung von Fellen aus und hoffe, hier irgendwo eine Anstellung zu finden.«

»Komm herein. Wie heißt du, Mädchen?«

»Veleda«, antwortete ich. Dieser aus der alten Sprache entlehnte Name bedeutet »Enthüllerin der Geheimnisse«

und geht auf eine alte germanische Dichterin und Priesterin zurück. Ich hatte mir geschworen, niemals mehr den Namen der Juhiza, die Wyrd geliebt hatte und Gudinand zu Willen gewesen war, zu tragen.

Denglas Haus war zwar bei weitem nicht vergleichbar mit Amalrichs opulenter Herberge, aber von innen sah es sehr viel luxuriöser aus als von außen. Natürlich wurde ich nicht in den guteingerichteten Wohngemächern untergebracht,

sondern mußte mich mit einer im ersten Stock gelegenen, sehr engen und kärglich eingerichteten Kammer begnügen.

Aber für meine Bedürfnisse würde sie genügen.

»Falls du dich über mich erkundigt hast, hat man dir

sicherlich auch gesagt, daß ich stehle«, sagte Dengla ohne jegliches Schamgefühl zu mir. »Gib nichts darauf. Du

brauchst dich um deine Habseligkeiten nicht zu sorgen. Ich bestehle nur Männer. Aber, unter uns Schwestern, tun wir das nicht alle?«

»Ich hatte dazu noch keine Gelegenheit«, murmelte ich

leise.

»Wenn du lange genug bleibst«, sagte sie sehr bestimmt,

»dann werde ich es dir schon noch beibringen. Zur Zeit habe ich leider keine anderen Gäste, an denen du dich versuchen könntest. Aber keine Sorge, es gibt andere Gelegenheiten, und ich werde dich vieles lehren, woraus du Nutzen und Gewinn ziehen kannst und was dir sogar Spaß macht. Du

wirst es nicht bereuen, hier Quartier genommen zu haben, Caia Veleda. Gib mir nun deine Siliquae. Aber denk' daran, nicht einen Nummus werde ich dir zurückerstatten, solltest du vor Ablauf der Woche deine Meinung ändern.«

»Warum sollte ich das?«

Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse: »Einmal, nur ein einziges Mal, habe ich einen Fehltritt begangen und wurde gleich doppelt dafür bestraft. Ich habe Zwillingssöhne, die ich noch nicht loswerden konnte. Sie leben hier.«

»Es macht mir nichts aus, wenn Kinder im Haus sind.«

»Aber mir«, zischte sie. »Hätte ich nur Töchter geboren!

Die wären jetzt in einem Alter, in dem... in dem sie mir Nutzen und Freude bereiten würden. Aber Jungen! Was sind Jungen anderes als kleine Männer? Bestien!«

Da das Prandium schon bald serviert werden würde, stieg ich in meine Kammer hoch, packte meine Sachen aus und

verstaute sie. Dann ging ich hinunter. Ich war nicht sehr überrascht, daß die Witwe, trotz ihrer nach außen

bekundeten Armut, eine Dienerin beschäftigte, die kochte und am Tisch aufwartete. Die Dienerin war eine

dunkelhäutige Frau namens Melbai, etwa so alt wie ihre Herrin und mit einem genauso reizlosen Gesicht, auf das sie aber keine Pflaster und Puder auftrug. Was einer Dienerin natürlich auch nicht angestanden hätte.

Als sie mir vorgestellt wurde, sagte ich, nur um freundlich zu sein: »Melbai? Das ist doch ein etruskischer Name,

oder?«

Sie nickte unwirsch. »Das Wort ›Etrusker› ist lateinisch.

Wir mögen es nicht, wenn man uns so nennt. Wir selbst, deren Rasse viel älter als die der Römer ist, nennen uns Rasna. Ich bin eine Rasna! Versuche, dich das nächste Mal daran zu erinnern, kleine Veleda.«

Ich war sehr verblüfft, eine Dienerin so mit einem

zahlenden Gast reden zu hören. Sie saß auch mit uns am Tisch und kommandierte die beiden Söhne Denglas herum.

Mehrmals hörte ich, wie sie mit ihrer angeblichen Herrin ganz ungezwungen sprach.

Mit der Zeit ging mir auf, daß man Melbai nicht unbedingt als Dienerin bezeichnen konnte, und Dengla nicht unbedingt als ihre Herrin. Aber es dauerte noch, bis mir klar wurde, welcher Art die Beziehung zwischen beiden wirklich war.

Denglas Söhne waren die eigentlichen Diener oder

Sklaven in diesem Haushalt. Robein und Fillipus, noch keine zwölf Jahre alt, waren, wie anders kaum zu erwarten, alles andere als hübsch oder intelligent. Doch sie führten sich bei Tisch und den wenigen anderen Gelegenheiten, da ich sie zu Gesicht bekam, ordentlich auf. Man sah oder hörte sie kaum, denn entweder mußten sie die Befehle ihrer Mutter und Melbais ausführen, oder sie wurden angeherrscht, sie sollten verschwinden.

An meinem zweiten Tag bei Dengla verließ ich das Haus

schon früh morgens unter dem Vorwand, bei einem

Kürschner um Arbeit nachzufragen. Wahrscheinlich hätte ich sogar, wenn ich wirklich gewollt hätte, Arbeit gefunden. Aber alles, was ich wollte, war, die Stadt mit neuen Augen zu betrachten. Es überraschte mich, wie viele Dinge ich als Veleda sah, die ich als Thornareichs übersehen hatte. Jetzt, da ich eine aus dem Volk war und nicht aus herrschaftlichen Höhen herabschaute, konnte ich die Leute bei ihren

Tätigkeiten beobachten, ohne daß sie, was auch immer sie gerade taten, innehielten, um mich zu grüßen und mir den Weg freizumachen oder eine bettelnde Hand

entgegenzustrecken. Jetzt schenkten sie mir keinerlei

Beachtung und fuhren einfach mit ihrem Tagwerk fort.

Als ich an diesem Abend zurückkehrte, erzählte ich

Dengla, daß ich eine Anstellung bei einem Kürschner

gefunden hätte und, da ich in diesem Handwerk so geschickt sei, pro Fell bezahlt werden und also mehr als den üblichen Hungerlohn verdienen würde. Das würde es mir, sagte ich, ermöglichen, die nächste Zeit die Kammer bei ihr zu

behalten. Dengla gratulierte mir ehrlich erfreut - wohl weil diese Nachricht ihrer geldgierigen Natur sehr gelegen kam.

Als ich nach dem Cena sagte, ich würde noch etwas

ausgehen und »Ablenkung suchen« nach diesem Tag harter Arbeit, schenkte sie mir sogar ein wissendes, zustimmendes Lächeln.

Als Frau der gehobenen Gesellschaft hätte ich mich

nachts niemals allein auf die Straße wagen können. Aber als eine aus der Plebecula erfreute ich mich einer sehr viel größeren Freiheit, mich zu welcher Stunde auch immer

wohin auch immer zu begeben Natürlich konnte ich mich

nicht in eine Taverne setzen und Bekanntschaft mit

Zechbrüdern vom Schlage Wyrds schließen. Natürlich

bestand auch die Gefahr, daß Männer mich ansprechen

oder ein Trunkenbold sich an mich heranmachen würde

wenn ich nachts allein durch die fackelbeleuchteten Straßen ging. Aber eine schlagfertige Antwort reichte meist aus, einen Störenfried zu entmutigen. Und sollte das nicht

ausreichen, so würde es mir ein Leichtes sein, ihn mit einer gebrochenen Nase oder einem eingeschlagenen Zahn - und neugewonnenem Respekt vor den Frauen - zu Boden zu

schicken. Aber das gemeine Volk Vindobonas war viel

gesetzestreuer und hilfsbereiter, als es sein Ruf in den besseren Kreisen hätte erwarten lassen. Obwohl ich viele Freunde gewann, traf ich nie jemanden, zu dem ich mich so hingezogen gefühlt hätte wie zu Gudinand. Wann immer ich also fleischliche Gelüste verspürte, verwandelte ich mich in Thornareichs und klopfte bei einer meiner Bekannten in den feinen Vierteln der Stadt an.

Nach einer Woche »Arbeit« beglich ich den Wucherpreis, den ich Dengla für die nächste Woche schuldig war. Zufällig hatte ich die Nacht davor nicht in meiner Kammer, sondern bei einer sehr jungen Clarissima verbracht, deren Eltern nicht in der Stadt waren. Dengla bedachte mich mit einem anzüglichen Lächeln und der schlüpfrigen Bemerkung, daß sie es in Ordnung finde, daß ich mein Auskommen mit einer

»Nebenbeschäftigung« aufbesserte. »Ich bin keineswegs

der Ansicht der tugendhaften Leute, die nur zu gerne daran glauben, daß eine Ipsitilla ihren Körper verkauft. Eine Ipsitilla gibt sich nicht mehr als irgendeine beliebige Dame her. Sie wird mit Geld dafür belohnt, sich selbst aus freien Stücken herzugeben, ganz genauso wie die sittenstrengste,

verheiratete Frau. Denk' daran, wenn du dich jemals deiner selbst schämen solltest, junge Veleda. Ich tue es, denn auch ich habe mich einmal, ganz genau einmal, gehen lassen. Mit einem haarigen Sueben namens Denglys. Dieses eine Mal

reichte, um mir die Männer auf immer und ewig zu verleiden.

Natürlich nahm ich alles, was ich in seinen Taschen fand, als ich mich von ihm wegstahl. Später entschloß ich mich, selbst seinen Namen zu nehmen. Ein Name, der mehr hermacht« -

sie kicherte gekünstelt - »als die anderen

Namen, die ich zuvor trug. Was mir wirklich blieb von

dieser einen Ausschweifung sind die da.«

Sie deutete auf ihre Zwillingssöhne, die erschreckt

zusammenfuhren.

»Falls du aber nicht mit Fruchtbarkeit geschlagen bist, Veleda, und keinen Abscheu vor Männern empfindest, dann vergnüge dich mit ihnen, soviel du willst. Achte jedoch darauf, auch noch den letzten Nummus aus ihnen

herauszupressen. Die Priester, Prediger und Philosophen, natürlich alles Männer, wollen, daß alle, und besonders alle Frauen, die sieben Kardinaltugenden als unverletzliches Erbe verehren, das von der Mutter an die Tochter

weitergegeben wird. Aber wir Frauen wissen es besser. Die Tugenden taugen nur zum Versteigern, entweder an den

ersten oder an den höchsten Bieter. Ich für mein Teil

weigere mich, gewinnbringende Handlungen als unmoralisch zu betrachten. Und dir, Veleda, will ich beistehen, als wärst du meine eigene, liebste Tochter. Ich kenne Tricks, die dich noch schöner werden lassen und so den Preis deines

Körpers in die Höhe treiben. Beispielsweise solltest du ein in Thymianöl getränktes Tüchlein mit dir tragen, wenn du

nachts ausgehst. Triffst du einen möglichen Freier,

schwenke das Tüchlein vor deinem Gesicht. Sofort werden deine Augen glänzend und leuchten einladend. Außerdem -«

»Mein Körper ist keine Ware, Caia Dengla«, unterbrach

ich ihren Redefluß. »Ich verdiene jeden Nummus durch

ehrbare Arbeit. Und sollte ich jemals Mutter werden, wäre ich stolz, zwei so liebenswerte Söhne mein eigen zu

nennen.«

»Liebenswert!« schnaubte sie. »Hätte ich zwei Töchter, ja, die würden mich jetzt voller Wollust lieben.« Dabei schnalzte sie mit der Zunge. »Aber die da? Von ihrer Geburt an, da ich mich dazu hergeben mußte, ihnen Amme zu sein, stieß mich ihr Anblick zurück. Zwei kleine, an meinen Brustwarzen saugende Männlein igitt! Doch ich konnte sie nicht

verkaufen, weder als Eunuchen, dafür waren sie nicht

hübsch genug, noch als Sklaven, dafür waren sie nicht

intelligent genug. Bacchus sei Dank, bald haben sie ihr zwölftes Jahr erreicht, und ich werde sie endlich los sein.«

Dengla glaubte einfach nicht, daß ich alles andere als eine billige, sich an Straßenecken die Beine in den Bauch

stehende Dirne war, um so weniger, als ich wenigstens eine Nacht pro Woche nicht nach Hause kam. Nach der lüsternen Art und Weise, wie Dengla von ihren nicht vorhandenen

Töchtern sprach, neigte ich , anzunehmen, sie und Melbai seien lesbische Schwestern. Doch sah ich sie nie einander zärtliche Blicke zuwerfen, verliebt miteinander sprechen oder sich gar berühren. Und, soviel ich wußte hielten sie sich auch nie längere Zeit allein in einem Raum auf. jeden

Freitagabend jedoch gingen sie gemeinsam aus und blieben über Nacht weg. Was sie in dieser Zeit trieben, interessierte mich nicht im geringsten, und auch Dengla bot mir keine weiteren Ratschläge bezüglich meiner eigenen nächtlichen Ausflüge mehr an. So verliefen die nächsten Wochen meiner Doppelexistenz ruhig und ohne Zwischenfälle.

In der Karwoche besuchte ich mehrere Male die arianische Kirche in Vindobona, um herauszufinden, worin der

Gottesdienst der arianischen Christen sich von dem der Katholiken unterschied. Der Priester, Tata Avilf, war ein Ostgote. Alle ihm beistehenden Diakone, Subdiakone und Akolythen gehörten der einen oder anderen germanischen Nation an. Nicht im entferntesten ähnelten sie irgendwelchen tobenden Barbaren, sondern sie verrichteten die Rituale so gütig, farblos und eingefahren, ja lethargisch, wie jede vergleichbare Gruppe katholischer Geistlicher.

Am Osterfeiertag sollten fünf Täuflinge in die christlichen Mysterien eingeweiht werden. Der Priester vollzog die Taufe genauso, wie ich es so oft in der Kapelle von St. Damian gesehen hatte. Nur wurde hier jeder Täufling dreimal in das Taufwasser getaucht, nicht nur einmal wie bei den

Katholiken. Am Samstag nach Ostern bat ich Tata Avilf um eine Audienz. Ich gab vor, eine Katholikin zu sein, die mit dem Gedanken spielte, zum Arianismus überzutreten, und bat ihn, mir den Unterschied der Taufzeremonien zu

erklären.

»Meine Tochter«, fing er an, »in den frühen Tagen des

Christentums wurden alle Täuflinge dreimal in das

Taufwasser getaucht. Erst als der Arianismus aufkam,

änderten die Katholiken ihre Liturgie und machten daraus ein einmaliges Eintauchen. Aus dem einfachen Grund, weil sie ihren Glauben von dem unseren abheben wollten. Aus demselben Grund ging die Kirche auch vor langer Zeit dazu über, den Sabbat am Sonntag, statt wie die Juden

samstags, zu begehen und Ostern nicht auf ein bestimmtes Datum festzulegen, um es von dem an einem festen Datum gefeierten jüdischen Passah-Fest zu unterscheiden. Aber wir Arianer legen auf solche Unterschiede keinen Wert. Jesus, so glauben wir, wünschte, daß seine Anhänger

Großherzigkeit und Toleranz praktizieren und nicht in

Sektierertum verfallen. Caia Veleda, solltest du dich in dieser Minute entscheiden, zum Judaismus zu konvertieren, oder dich gar dem Heidentum unserer Vorfahren zuwenden, so

würde ich dir viel Glück auf deinem Weg wünschen und dich ziehen lassen.«

»Aber«, wandte ich erstaunt ein, »der Heilige Paulus hat doch gesagt: ›Predige das Wort, stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre (...) tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, richte dein Amt redlich aus.‹ (l.Timotheus 4,2

und 4,5) Wollt Ihr nicht einmal versuchen, mich davon

abzuhalten, der christlichen Kirche den Rücken zu kehren?«

»Ne, ni allis. Solange du ein tugendhaftes Leben führst, meine Tochter, und niemandem Schaden zufügst, glauben

wir Arianer, daß du dem gehorchst, was der Heilige Paulus

›Das Wort‹ nannte.«

Als ich nach dem Gespräch mit Tata Avilf durch die

Straßen wanderte, sah ich zufällig Dengla und Melbai aus einem dem Bacchus geweihten Tempel herauskommen. Die

vielen Frauen und wenigen Männer, die aus dem Tempel

kamen, verbargen ihre Gesichter unter ihren Gewändern

und blickten sich vorsichtig um, bevor sie zu zweit oder zu dritt über die Straße huschten und eilig verschwanden. Aber an ihrem roten Haar erkannte ich Dengla. Diese

Vorsichtsmaßnahmen waren nicht unangebracht. Denn

selbst unter den unbekehrbarsten Heiden galt die Anbetung des Bacchus seit langem als lästerlich und abstoßend. Die Außenwände des Tempels waren von mißgünstigen

Passanten mit obszönen Versen und wüsten Flüchen

beschmiert worden.

Jetzt erinnerte ich mich, daß Dengla tatsächlich einmal den Namen Bacchus' angerufen hatte. Bekanntlich sahen

die Römer in den Etruskern, oder Rasna, die sie von der italienischen Halbinsel vertrieben hatten, ein

abergläubisches und der Magie ergebenes Volk, und auch von den wenigen Rasna, die heute noch versprengt leben, hielten sie nicht viel mehr. Dengla und Melbai waren also Bacchantinnen. Hier verbrachten die beiden ihre freitäglich Nächte. Aber was für ein Gottesdienst war es, dem sie und die anderen Bacchantinnen sich eine ganze Nacht lang

hingaben?

»Das willst du wohl gerne wissen?« fragte mich Melbai, als wir alle drei ins Haus zurückgekehrt waren. »Ich habe

bemerkt, daß du uns gesehen hast, als wir den Schrein

verließen, Kleine. Viel geiles Volk giert danach, zu wissen, was in unserem Tempel vor sich geht. Und du auch, wage ich zu behaupten. Wie es sich fügt, bin ich eine Priesterin der bacchantischen Gemeinschaft und kann dich dort

einführen. Wer weiß, vielleicht gefallen dir die Riten so sehr, daß du initiiert zu werden wünschst.«

»Eine geringe Gottheit«, sagte ich unbestimmt, »dieser weinselige Bacchus. Ich weiß, daß alle seine Anhänger

Frauen sind. Was sollte er mir schon groß anzubieten

haben?«

»Er ist, Veleda, mehr als nur der Gott des Weines«, warf Dengla ein. »Er ist auch der Gott der Jugend, der

Festlichkeiten und der Sinnenfreude. Wir Bacchantinnen trinken zwar viel Wein, aber es sind die Musik, das Tanzen und das Singen, die uns wirklich berauschen. Wir erreichen einen Zustand, den die Griechen als ›Hysterikä zelos‹

bezeichnen, die Raserei der Gebärmutter. Doch es erfasst mehr als nur den Schoß, der ganze Körper und alle Sinne werden mitgerissen. Eine Frau kann dabei eine solche

ekstatische Wildheit und Stärke entwickeln, daß sie mit bloßen Händen ein Zicklein für das rituelle Opfer in zwei Hälften zu reißen vermag.«

»Das klingt entzückend«, versetzte ich.

»Nicht alle Anhänger sind Frauen«, fuhr Dengla fort, als ob ich nichts gesagt hätte. »Früher war das wohl so, aber vor einigen Jahrhunderten hatte eine campanische Frau eine Erscheinung, in der Bacchus ihr auftrug, ihre beiden

erwachsenen Söhne einzuführen. Seitdem gibt es auch

Männer in den bacchantischen Gemeinschaften. Du mußt

gesehen haben, Veleda, wie sie mit uns den Tempel

verließen. Aber vielleicht sollte man sie nicht ganz als Männer bezeichnen. Die Priester unter ihnen sind

Eunuchen, von Denen sich einige sogar freiwillig kastrieren ließen, um in diesen Stand erhoben zu werden. Die anderen männlichen Verehrer des Bacchus sind ohne Ausnahme

Homosexuelle.

»Das wird ja immer besser«, spottete ich.

»Ja, es macht Spaß, ihnen zuzusehen«, kicherte Dengla.

»Es ist ein Fehler, Bacchus als geringen Gott zu

bezeichnen« warf Melbai ein. »Erst heutzutage wird er so schmachvoll verleugnet. Vielleicht weißt du ja, daß die Griechen ihn lange als Dionysos geschätzt haben. Aber daß wir Rasna die gleiche Gottheit unter dem Namen Fufluns anbeteten, wirst du kaum wissen. Und die Zeremonien sind noch weit älter, denn schon die Ägypter verehrten ihn vor Urzeiten, lange vor Fufluns, Dionysos und Bacchus, in der Gestalt der Göttin Isis.«

Schon wieder eine Göttin mit wandelbarem Geschlecht,

dachte ich. Vielleicht sollte wenigstens ich, als Bruder-Schwester Mannamawi, Ihm-Ihr meinen Respekt erweisen.

»Nächsten Freitag«, sagte Dengla eifrig, »feiern wir die heiligste Nacht unseres Jahres, das alljährliche Dionysia Arkhiöteza, das Bacchanal. Eine einmalige Gelegenheit für dich, Veleda.«

Überrascht erwiderte ich: »Hat nicht der Senat das

Bacchanal schon vor langer Zeit verboten?«

»Ja, ein Edikt wurde wohl erlassen«, sagte Dengla

verächtlich. »Aber damit sollten nur die Heuchler befriedigt werden. Die Bacchanten mußten sich lediglich etwas

zurückziehen. Die Feiern haben niemals aufgehört, und die Mächtigen haben auch überhaupt kein Interesse daran.«

»Denn hier«, sagte Melbai, »können jene ihre Gefühle,

Lüste und Triebe ausleben, die der Hysterikä zelos

zuneigen. Gefühle, deren Ausbruch ansonsten

möglicherweise die öffentliche Ordnung gefährden könnten.«

»Zudem«, und dabei deutete Dengla auf ihre ängstlich

zusammenzuckenden Zwillinge, »feiern Fillipus und Robein am kommenden Dienstag ihren zwölften Geburtstag. Und so haben sie das große Glück, am nächsten Freitag, der nicht irgendein Freitag ist, sondern der der Großen Dionysia, initiiert zu werden. Ehre das Ereignis mit deiner Gegenwart, Veleda. Du scheinst die Bälger ja ein bißchen ins Herz geschlossen zu haben. Es wird das letzte Mal sein, daß du sie siehst, es sei denn, du kommst noch öfter in den

Tempel.«

»Ihr schickt Eure eigenen Söhne zu den Homosexuellen?«

»Was mehr könnten die Jungen erwarten? Sie werden ihr

Leben dem Dienst an Bacchus widmen.«

»Was für ein Dienst?«

»Das wirst du sehen, wenn du zu dem Bacchanal

kommst.« Und ich kam.

5

In den letzten Wochen hatte ich einige meiner besseren Gewänder und weniger wertvolle Schmucksachen in das

Haus der Witwe gebracht. Jedesmal gab ich vor, sie von meinem Lohn erstanden zu haben. Am Freitag des

Bacchanals, besorgt um mein Äußeres wie jede andere

junge Frau, die in einen ihr unbekannten Kreis eingeführt wird, wandte ich mich an Dengla: »Für einen Anlaß wie

diesen wäre es wohl angezeigt, mein bestes Gewand

anzulegen.«

»Falls es dir beliebt«, sagte sie gleichgültig. »Aber es macht keinen Unterschied. Du wirst es ohnehin ablegen, bevor die Nacht vorüber ist.«

»Ach ja?« fragte ich etwas alarmiert.

»Stell dich nicht so an. Warum zieren sich Mädchen deiner Sorte so sehr, wenn sie einmal nicht auf der Straße

stehen?«

»Ich habe es Euch schon einmal gesagt, Caia Dengla, ich bin keine Hure.«

»Und ich habe dir gesagt, du brauchst meinetwegen keine Maskerade zu veranstalten. Ich weiß sehr wohl, daß kein Kürschner so viel bezahlt, daß du dir dieses ›beste Gewand‹

da hättest leisten können. Es ist mir auch egal, ob du es gestohlen hast, solange du mich nur nicht bestiehlst. Ich selbst habe meine besten Gewänder und viele andere

wertvolle Dinge auf diese Art und Weise erworben. Wie dem auch sei, niemand wird verlangen, daß du dich während der Riten entkleidest, obwohl es sehr verdächtig und unhöflich wäre, wenn du es nicht tun würdest. Solltest du die

römischen Traditionen schätzen, so kannst du eines deiner Unterkleider anbehalten. An den, uhm, Riten selbst mußt du nicht teilnehmen, wenn du nicht willst. Viele unserer

treuesten Anhänger kommen nur zum Zuschauen und

scheinen dabei einen unglaublieh hohen Grad der Hysterikä zelos zu erreichen. Falls du dich noch umziehen willst, Veleda, dann tu es jetzt. Wir werden uns bald auf den Weg machen müssen. Melbai, die als Priesterin noch ihre

Gewänder anlegen muß, ist schon vorausgegangen. Ich

hole die Zwillinge. Halte du den einen fest am Arm, ich kümmere mich um den anderen. Vielleicht versuchen sie

sonst zu fliehen. Die kleinen Schwachköpfe sind so

verschreckt wie zwei Kätzchen vor dem Wolfsbau.«

Nun, das lateinische Wort für Wolf, »Lupa«, bedeutet

eigentlich »Wölfin«, steht im Volksmund aber auch für

»unkeusche Frau« - womit den Wölfen ein grobes Unrecht zugefügt wird Die »Kätzchen« hatten also allen Grund,

ängstlich zu sein. Ich zog meine besten Unterkleider und das amiculum, ein Obergewand, an und legte mein kleidsamstes Schmuckstück, das gewundene Brustschild aus Haustaths, an. Dann nahm ich gehorsam einen der Zwillinge an der

Hand und machte mich mit Dengla und dem anderen

Knaben auf den Weg zum Tempel.

Das Tempelinnere war nur spärlich beleuchtet, nur jeweils eine Fackel war an den Seitenwänden des geräumigen,

hohen Gewölbes befestigt. Genug Licht, um zu erkennen, daß die Einrichtung vorwiegend aus weichen Liegen

bestand. Mindestens zehn davon standen willkürlich

angeordnet auf einem offenen Platz in der Mitte des

Mosaikfußbodens.

Am Kopfende des Raums stand ein immenser

Marmortisch, daneben eine Liege, auf der einige Frauen saßen und leise Musik spielten. Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten, sah ich, daß eine von ihnen

eine Leier zupfte, die zweite ein Sistrum schüttelte, eine dritte sanft auf eine Trommel schlug, die vierte auf der Panflöte spielte und die fünfte auf einer Flöte blies. Alle fünf Frauen waren nackt.

Die bacchantischen Zeremonien waren offensichtlich nicht strikt reglementiert. Als wir vier ankamen, war der Raum schon gut gefüllt, und auch nach uns traten noch mehr

Anhänger des Bacchus ein, meistens kamen sie allein oder in Pärchen, fast ausschließlich Frauen, höchstens zehn oder zwölf Männer darunter. Alle Neuankömmlinge gingen, noch bevor sie sich nach einem Sitz umsahen, zu dem

Marmortisch und füllten sich einen Becher oder einen Kelch mit Wein. Es wurde so schnell und viel getrunken, als müsse alle Scheu und Zurückhaltung im Wein ertränkt werden.

Dengla trank soviel wie jede andere, drängte den Zwillingen viele Becher auf und trieb auch mich zum Trinken an. Um nicht aufzufallen, nahm auch ich einen Becher und füllte ihn mehrmals wieder auf, goß jedoch heimlich den größten Teil des Weins in eine der über den Raum verteilten

Blumenvasen.

Um nicht ungehörig zu erscheinen, hielt ich meine

neugierigen Blicke im Zaum . Aber es war offensichtlich, daß nicht alle Bacchantinnen dem niederen Volk entstammten.

Aus den Augenwinkeln konnte ich einige gutgekleidete

Frauen sehen, die ich als Thornareichs bei Banketten und Feiern kennengelernt hatte. Sie gehörten zu jenen Frauen, denen ich nichts als Verachtung entgegenbrachte: einfältige Weiber, die unablässig Rat bei ihrem Astrologen suchten. In einem älteren, überaus beleibten Mann erkannte ich erstaunt den Präfekten Maecius.

Also brauchte sich die Widuwo Dengla nicht der

schwarzen Magie zu bedienen, um die Geheimnisse der

Privilegierten zu erfahren. Für ihre erpresserischen

Absichten reichte es aus, Maecius und diesen

hochgeborenen Damen (und wohl noch weiteren Mitgliedern der Nobiliät, die ich noch nicht gesehen hatte) damit zu drohen, ihre Teilnahme an den Bacchus-Riten öffentlich zu machen. Melbai hatte mir zwar warnend mitgeteilt, daß die heiligste Regel der bacchantischen Gemeinschaften es

verbiete, Nichteingeweihten zu entdecken, was hinter den Tempeltüren vor sich ging. Vielleicht hielten sich Melbai und die anderen daran, aber ich war sicher, daß Dengla dazu bereit war, jede Regel zu brechen, wenn es ihr zum Vorteil gereichte.

Nach einer Weile hielten die fünf Frauen mit ihrem Spiel inne, und die gemurmelten Gespräche verstummten. Dann

hoben die Frauen erneut an zu spielen, nur lauter, schrill und mißtönend, wohl eine Hymne an Bacchus. In der Wand

hinter dem Marmortisch öffnete sich eine Tür, aus der drei Priester und elf Priestennnen, darunter Melbai, traten. Alle zogen verschreckte, laut meckernde Geißlein an einer Leine hinter sich her. Die Bacchanten empfingen sie mit lauten Rufen, als sie den Raum durchschritten. Allerdings schritten sie weniger feierlich einher, als daß sie in ihrer - wirklichen oder vorgeblichen - Trunkenheit durch den Raum wankten und über die kleinen Ziegenböcke stolperten.

»Immer vierzehn Ehrwürdige«, lallte mir Dengla, die sich wegen des Lärms nahe herüberbeugte, ins Ohr. »Denn als Bacchus ein Säugling war, zogen ihn die vierzehn Nymphen von Nysa auf. Und wir opfern ihm Geißlein, weil er die weintraubenfressenden Ziegen verabscheut.«

Die vierzehn Ehrwürdigen trugen Kronen aus Efeu- und

Weinblättern. Auf ihren Schultern lag ein Umhang aus

Pantherfell, davon abgesehen waren sie nackt. Die fast vollständig entblößten Priesterinnen boten dem Auge

allerdings wenig. Sie alle waren mehr oder weniger in

Melbais Alter und äußerlich ebenso wenig anziehend wie sie. Zwei der Priester waren ohne Zweifel Eunuchen, bleich, fett und schwabbelig. Der andere mußte einer der Männer sein, die sich in fortgeschrittenem Alter freiwillig hatten kastrieren lassen, denn er war sehr mager. Dabei war er schon so alt, daß man sich fragte, warum er sich überhaupt noch der Mühe einer Kastration hatte unterziehen müssen.

Die vierzehn Ehrwürdigen schwenkten einen langen Stab, den Dengla als »Thyrus« bezeichnete. An seiner Spitze stak ein Tannenzapfen.

Über das Geschrei, das Meckern der Zicklein und die

mißtönende Musik hinweg rief ich Dengla zu: »Ich weiß, daß der Panther dem Bacchus heilig ist, deshalb die Felle. Aber wofür stehen die Tannenzapfen?«

Sie rülpste und sagte: »Für den Akt des Aufreißens.«

Dann kicherte sie betrunken vor sich hin.

Als die Prozession der vierzehn Priester und Priesterinnen wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen war, traten

alle bis auf den alten Mann zurück, der sich nur mit Mühe vor dem Marmortisch aufrecht halten konnte. Die Musik

wurde leiser, und nach und nach verstummten auch die Rufe aus der Versammlung. Der Priester schenkte sich einen

Becher randvoll mit Wein ein und nahm einen langen,

herzhaften Schluck, bevor er anfing, die Exerzitien des Bacchus-Kults zu zelebrieren.

»Euoi Bacche! lo Bacche!« gellte seine Stimme durch den Raum. Er predigte größtenteils auf Griechisch, eine

Sprache, die ich nicht allzu gut beherrschte. Aber seine Zunge war so schwer vom Wein, daß wohl auch ein Grieche seiner Rede kaum hätte folgen können. Andere Teile seiner Predigt hielt er in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, wahrscheinlich die der Rasna oder ägyptisch. Die einzige Äußerung, die er in lateinisch von sich gab,

überraschte mich, denn es war ein Zitat aus der Bibel, aus dem Buch Lukas.

Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht genähret haben!

Das war die einzige Stelle, auf die die Kongregation

reagierte. »So sei es!« und »Gesegnet seien sie!« riefen die Frauen in verschiedenen Sprachen.

Der Priester brabbelte noch eine Zeitlang, bis er mit den Worten schloß: »Und nun lasset uns singen und tanzen und feiern und trinken. Euoi! lo!« Damit warf er seinen

Pantherfell-Umhang zu Boden und stürzte in die Mitte des Raumes, wo er anfing, wild zuckend zu tanzen, während die Musik zu übermütigen lydischen Gesängen anschwoll. Die beiden dicken Eunuchen-Priester und fünf oder sechs der Priesterinnen, unter ihnen Melbai, rissen sich die

Pantherfelle vom Leib, überließen den anderen

Priesterinnen die Aufsicht über die an ihren Leinen

zerrenden, lautstark meckernden Geißlem und begannen zu tanzen. Jetzt drängten auch die Weinseligeren unter den übrigen Teilnehmern nach vorne, begierig, an der Tollerei teilzuhaben. Alle tanzten so wild und hemmungslos wie der alte Priester, aber nur wenige besser. Nach und nach

entkleideten sie sich und riefen dabei ihren Gott an:

»Bacchus!«, »Dionysos!« oder»Fufluns!«

Dengla streifte ihren Übermantel ab und sprang in die

Menge, wo auch sie tanzte, tobte und sich ihrer restlichen Kleidung entledigte. Ihre entblößten Beine waren

stumpenhaft kurz, aber ihre Füße lang und schmal. Bei

jedem Schritt klatschten sie auf den Steinboden, was ein Geräusch erzeugte, das selbst über dem allgemeinen

Tumult noch hörbar war. Auch die anderen Tänzerinnen und Tänzer, so alt oder noch älter als Dengla, boten keinen sonderlich berauschenden Anblick. Abgesehen von Fillipus und Robein war ich die jüngste Person im Tempel und, ohne angeben zu wollen, bei weitem die hübscheste. Obwohl ich noch angezogen war, starrten mich mehrere Frauen an,

winkten mir zu und machten Zeichen, ich solle mich zu ihnen gesellen.

In dem gedämpften Licht konnte ich nicht sehen, ob an

den tanzenden Frauen irgendwelche Anzeichen sexueller

Erregung, angeschwollene Brustwarzen etwa, sichtbar

waren. Die wilden Zuckungen und Gesänge konnten

ebensogut als Störung des Geistes wie als Erregtheit des Fleisches ausgelegt werden. Dasselbe galt für die Männer, von denen, das konnte ich im Licht der Fackeln deutlich erkennen, noch keiner ein Fascinum entwickelt hatte. Der Präfekt Maecius zum Beispiel hatte sich bisher damit

begnügt, mit samt seinen Gewändern auch jegliche Würde abzulegen. Schwerfällig bewegte er seine wulstige,

talgartige Schwarte hin und her, aber was da unter seinem schwabbelnden Hängebauch hing, war ungefähr so

aufreizend wie ein Ohrläppchen.

Wann immer die Tänzer in Reichweite des Marmortischs

gelangten, griffen sie sich eine Handvoll Weintrauben.

Traubensaft und Kerne spritzten aus ihren Mündern, wenn sie sangen. Wer erschöpft war, löste sich aus der tobenden Masse und stärkte seine Lebensgeister mit einem Schluck Wein. Manche legten sich dazu einfach unter das Faß und ließen den Wein direkt in ihren Mund laufen. Bald schon war der Boden rutschig und glatt, und mehr als nur ein Tänzer fiel, sehr zur Belustigung der anderen, auf den Boden.

Nur wenige Frauen, und keine Männer, lagen noch auf

den Liegen. Sie schienen es zufrieden zu sein, wie ich selbst, nur zu beobachten. Im Gegensatz zu mir aber waren sie alle entkleidet. Nur drei oder vier Frauen hatten, dem römischen Stil entsprechend, ein Kleidungsstück

anbehalten, ein Brustmieder, einen Hüftgürtel oder einen knappen Lendenschurz. Da sie mir und den Zwillingen

aufgebrachte Blicke zuwarfen, lehnte ich mich zu den beiden hinüber und sagte mit den Worten des Heiligen Ambrosius:

»Si fueris Romae, Romano vivito more...« Wahrscheinlich verstanden sie kein Latein, aber als sie sahen, wie ich mich auszog, taten sie es mir nach. Ich behielt mein Hüftband an, um das Zeugnis meiner Männlichkeit zu verbergen. Um die Verkleidung unverdächtiger erscheinen zu lassen, hatte ich ein dekoratives Band aus feinstem Leinen, bestickt mit farbigen Glasperlen, umgeschnallt. Damit meine kleinen Brüste möglichst groß erschienen, entspannte ich meine Brustmuskeln und drückte mein Kreuz weit nach vorne

durch.

Jetzt, da ich und die Zwillinge nackt waren wie es sich gehörte, starrte uns niemand mehr an. Alle Blicke waren nach vorne gerichtet, wo das erste - und einzige - rituelle Blutopfer, das ich je miterlebt hatte, vollzogen wurde. Dengla und viele ihrer Mittänzerinnen hatten aufgehört zu tanzen und stürzten sich jetzt wie die Furien auf die festgebundenen Zicklein, deren Leiber sie mit bloßen Händen in Stücke rissen und dann verschlangen.

Um die Fleischfetzen entbrannte ein wilder Kampf. Alles, ganz gleich ob es ein zur Unkenntlichkeit zertrampeltes Stück Fleisch oder der deutlicher erkennbare Fiesel eines der Zicklein war, wurde roh hinuntergeschlungen und dann mit Wein nachgespült. Die Zwillinge gaben seltsame,

erstickte Geräusche von sich. Als ich mich ihnen zuwandte, sah ich, daß sie von Würgekrämpfen geschüttelt wurden und sich in die Weinlache erbrachen.

Auf alle anderen wirkte das bestialische Gemetzel

offensichtlich sexuell stimulierend. Maecius griff sich einen der Eunuchen-Priester und zog ihn zu einer Couch. Dort, ohne großes Vorspiel, sprang er ihn von hinten an und

zwängte sein Glied in den Anus des Priesters. Die anderen Männer taten es den beiden gleich. Die Frauen, wie ich vermutet hatte ausnahmslos Lesbierinnen, bereiteten sich nicht auf die warme, weiche und zärtliche Weise Vergnügen, wie ich es mit Deidamia getan hatte, sondern verwendeten lange Olisboi zum Umschnallen - künstliche, aus Holz

gefertigte Penisse, zum Teil enorm riesig oder grotesk geformt - mit denen sie sich gegenseitig fast vergewaltigten.

Jetzt verstand ich, was Dengla mit »Aufreißen« gemeint hatte.

Während dieser Orgie hatten die fünf Musikantinnen auf ihren Instrumenten eine langsame, süße - beinah schon

widerwärtig süßliche - phrygische Weise gespielt, wohl um die erotischen Gefühle der Bacchantinnen zu beleben. Als sie abbrachen, ergriff der älteste Priester das Wort. In der bombastischen Manier eines Praeco, der die Spiele in einem Amphitheater ankündigt, verkündete er: »Ich erflehe heilige Stille! Wir werden nun Zeugen und Teilnehmer eines

wahrlich bedeutenden Ereignisses werden in dieser

heiligsten und feierlichsten der bacchantischen Nächte!«

Fast alle schwiegen, aber einige Paare kopulierten weiter, und ihr Stöhnen, Ächzen und Grunzen war über der Stimme des Priesters deutlich hörbar, der lauter fortfuhr: »Ich bin stolz, euch verkünden zu können, daß zwei junge männliche Novizen in dieser Nacht dem Gott geweiht und in seine

Gefolgschaft initiiert werden. Es ist die Bacchantin Dengla, die uns ehrt, indem sie Bacchus ihre eigenen Söhne weiht.«

Die neben mir sitzenden Zwillinge wimmerten erbärmlich und klammerten sich an mir fest. Die Musikantinnen legten die leichteren Instrumente zur Seite und griffen zu Trommeln und Becken.

»Ihre Mutter selbst wird die Zeremonie der Initiation

vollziehen«, fuhr der alte Mann fort, »und zwar in der traditionellen Weise, die von der kampanischen Bacchantin eingeführt wurde. Jener Bacchantin, die wir immer noch dafür anerkennen und verehren, ihre eigenen Söhne dem

Bacchus geweiht zu haben! Schenkt diesem großartigen

Ereignis eure Aufmerksamkeit!«

Alle Bacchanten, die nicht irgendwie anders beschäftigt waren, applaudierten, trampelten mit den Füßen und

brüllten: »Euoi Bacche! lo Bacche!« Ich fragte mich, ob ich nicht besser die Zwillinge bei den Händen nehmen und

fliehen sollte. Aber wahrscheinlich würde es Fillipus und Robein in diesem Tempel besser ergehen als bei ihrer

Mutter. Vielleicht würden sie, angesichts ihrer

Beschränktheit, ihr Leben als käufliches Fleisch für die Fratres Strupri (denn das war unzweifelhaft das Schicksal, das sie hier erwartete) mit der Zeit sogar genießen. Um ehrlich zu sein, ich empfand mehr Mitgefühl für die

bestialisch hingeschlachteten kleinen Ziegen, die groß und kräftig hätten werden und jemandem von Nutzen hätten sein können.

Ich hatte genug von dem Bacchanal gesehen und

verspürte keine Lust, der Initiation der Zwillinge durch ihre Mutter, die jetzt einen Olisbö in ihre Hand nahm,

beizuwohnen. Ich wollte dieses Schlangennest so schnell wie möglich verlassen und war wild entschlossen, mich von niemandem zurückhalten zu lassen. Aber niemand

versuchte mich zurückzuhalten, alle starrten wie gebannt auf Dengla, den Olisbö in ihrer Hand und auf die Zwillinge. Nur wenige bemerkten, wie ich mich anzog, und warfen mir leicht tadelnde Blicke zu. Das Tor des Tempels war zwar

wohlweislich verriegelt worden, aber der Riegel ließ sich leicht öffnen, und ich schlüpfte erleichtert in die Nacht hinaus.

6

Ich eilte durch die verlassenen nächtlichen Straßen zurück in das Haus der Witwe. Ich wollte verschwinden, ehe sie oder Melbai zurückkehrten. Hastig wusch ich mein Gesicht und schlüpfte in die Kleider Thornareichs, die ich unter den Gewändern Veledas verborgen hatte. Dann raffte ich alles zusammen, was mir gehörte, und verließ so rasch wie

möglich das Haus.

Es dämmerte erst, als ich an der Herberge von Amalrich dem Knödeldicken ankam, aber einige der Diener waren

bereits auf und geschäftig. In meiner herablassenden Thorn-Manier befahl ich ihnen, mir ein Morgenmahl zu bereiten, dann brachte ich meine Sachen in meine Gemächer. Als ich wieder nach unten kam, war der Tisch schon gerichtet.

Während ich Wein von Cephalos nippte, sassinischen Käse, eingelegte Feigen von Cannes und eine Stange feinen

weißen Brotes aß, dachte ich darüber nach, was ich in

letzter Zeit über die Welt, die Menschen und die Götter gelernt hatte.

Von den verschiedenen Gottheiten, die mir vorgestellt

worden waren, war Bacchus sicherlich der widerwärtigste.

Der Liebling der Soldaten, Mithras, schied, da der

Mithraismus Frauen ausschloß und ich auch eine Frau war, von vornherein aus. Die einzige Gottheit, deren Weg ich bisher gekreuzt hatte und die mir zusagte, war der Gott der arianischen Christen. Ein Gott, der sich nicht darum zu kümmern schien, ob ein Mensch ihn oder eine andere

Gottheit anbetete, solange nur dieser Mensch kein

unehrenhaftes Leben führte.

Ich hing noch immer meinen Gedanken an die Götter

nach, als Amalrich den Raum betrat. Obwohl ich mich jetzt, mit einem guten Mahl im Bauch und nach einer Nacht ohne Schlaf, sehr müde fühlte, raffte ich mich wieder auf.

»Kommt, setzt Euch zu mir, Amalrich«, lud ich ihn ein.

»Helft mir, diesen guten Cephalener aus Eurem Keller zu leeren.«

»Thags izvis, Euer Hoheit, nur zu gerne.« Er streckte sich auf der Liege neben mir aus und wies einen Diener an, ihm einen Becher zu bringen. »Es ist eine Weile her, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen.«

»Ich war... beschäftigt«, sagte ich und dachte, es könnte nicht schaden, meine Erklärung um der Glaubwürdigkeit

willen noch ein wenig auszuschmücken. »Ich habe alle Teile Eurer einladenden Stadt in Augenschein genommen, auf der Suche nach Unternehmungen, in die ich lohnende

Investitionen tätigen könnte.« Amalrich schenkte sich etwas Wein ein und sagte: »Verzeiht meine Anmaßung, Herr, aber angesichts der neuen und sehr beunruhigenden

Verhältnisse im Imperium wäre es vielleicht ratsam, Ihr würdet Euer Geld unter Eurem Nachtlager verborgen

lassen.«

»Tatsächlich? In letzter Zeit habe ich mich kaum um

Staatsangelegenheiten gekümmert, viel zu sehr war ich mit meinen eigenen beschäftigt. Nicht einmal die an mich

gesandten geheimen Botschaften habe ich entschlüsselt.

Die Leute, mit denen ich Umgang hatte, ich meine, mit

denen ich sprach, nun, wir berührten keine weltbewegenden Angelegenheiten. Was ist so neu und beunruhigend,

Amalrich?«

»Ihr müßt in der Tat«, sagte er mit Verschwörermiene,

»äußerst, ahm, einladende Teile unserer Stadt erkundet haben. In anderen Teilen der Welt spricht man nur über eine Sache: Über den neuen Cäsar in Ravenna.«

»Was? Schon wieder ein neuer Cäsar?«

»Ja. Ein gewisser Julius Nepos hat Glycerius vom Thron gestürzt. Glycerius wurde für seinen Verlust mit dem Amt des Bischofs von Salona, einer Stadt in Illyricum,

entschädigt.«

»Jesus! Glycerius! Zuerst Soldat, dann Cäsar. Und jetzt Bischof? Und wer in aller Welt ist Julius Nepos?«

»Ein Günstling des Cäsar Leo in Konstantinopel. Nepos

und Leo waren durch eine Heirat verwandtschaftlich

miteinander verbunden.«

»Waren? Sind sie es nicht mehr?«

»Wie könnten sie?« Amalrich schüttelte ungläubig den

Kopf. »Habt Ihr nicht einmal den Aufschrei vernommen, als die Nachricht von Leos Tod die Runde machte?«

»Credat Judaeus Apella!« rief ich aus. Das war eine

Bemerkung, die ich bei meinen hochgestellten Bekannten aufgeschnappt hatte. pas hieß soviel wie: »Das soll Apella der Jude glauben!« Oder, mit anderen Worten: »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

»Glaubt es, glaubt es«, verlieh Amalrich seiner Aussage Nachdruck. »Ich sagte Euch bereits, es sind unruhige

Zeiten. Eine Katastrophe jagt die andere.«

»Jesus!« wiederholte ich. »Leo war, so glaube ich

zumindest, Zeit meines Lebens Herrscher des östlichen

Reiches. Und ich glaubte, so werde es ewig bleiben.«

»Es regiert immer noch ein Leo über Konstantinopel, sein Enkel, Leo der Zweite. Doch der ist noch ein Kind von kaum fünf oder sechs Jahren, also wird ein Regent für einige Zeit die Regierungsgeschäfte in die Hand nehmen. Unterdessen, solltet Ihr auch dies nicht gehört haben, starben die beiden Brüder, die über Burgund herrschten, Gundiok und

Chilperich, im selben Frühling.«

»Gudisks Himnis«, murmelte ich. »Diese beiden haben

nun wirklich mein ganzes Leben lang regiert, das weiß ich genau.«

»Ihre Söhne haben gemeinsam die Herrschaft

übernommen, Gundobad in Lugdunum und Godegisel in

Geneva. Und was haltet Ihr von dieser Nachricht? Der König der Ostgoten, Theudemir, ist ebenfalls gestorben. Nicht an Altersschwäche wie die anderen, sondern an einem Fieber.«

»Auch das ist mir neu. Und trägt auch sein Tod zu dem

beunruhigenden Zustand des Imperiums bei?«

»Oh väi, natürlich tut er das! Theudemir wurde seit Jahren von Leo dem Ersten dafür bezahlt, den Frieden entlang den nördlichen Grenzen des östlichen Reiches

aufrechtzuerhalten. Eigentlich war es jedoch eher eine Art Lösegeld, um die Ostgoten davon abzuhalten, selbst

allzuviel Unruhe zu stiften. Das besorgte Theudemir. Aber er wehrte auch Invasionen und Überfälle ausländischer

Stämme und Nationen ab.«

»Ja«, sagte ich. »Man hat mir von Theudemirs Fähigkeiten auf diesem Felde schon berichtet.«

»Jetzt, da sowohl das westliche als auch das östliche

Reich im Umbruch sind, von den Cäsaren bis hinunter zum gemeinen Volk, und die Ostgoten ohne König dastehen,

könnte es sein, daß die fremden Stämme, die so lange in Schach gehalten wurden, ihre Zeit für gekommen sehen.

Einer hat schon losgeschlagen. Babai, König der

Sarmaten.«

»Ich habe von diesem Volk schon gehört«, sagte ich. »Wo hat Babai zugeschlagen?«

»Die Sarmaten haben Singidunum, eine befestigte Stadt

an der nördlichen Grenze des Reichs, eingenommen. Aber hoffentlich nicht für lange. Das Wort geht um, daß

Theudemirs Sohn seinem Vater auf den Thron der Ostgoten gefolgt ist. Vielleicht hat er von seinem Vater nicht nur den Namen, sondern auch den Mut geerbt? Man sagt, er führe die Ostgoten, um Singidunum zu belagern und zu befreien.«

»Du wirst mich im Kampf finden.« Deutlich erinnerte ich mich an Thiudas Worte. »Und ich lade dich ein, an meiner Seite zu kämpfen.«

»Wo ist dieses Singidunum?« verlangte ich von Amalrich zu erfahren.

»In Moesia Prima, Euer Hoheit. Weit flußabwärts an der Donau«, er deutete die Richtung an, »wo die Donau zur

Grenze zwischen Moesia Prima und dem in Barbarenhände

gefallenen Dakien wird. Etwa dreihundertundsechzig

römische Meilen von hier.«

»Man würde also wohl über den Fluß am schnellsten

dorthin gelangen?«

»Ja. Kein Mensch, der bei Verstand ist, würde sich auf dem Rücken eines Pferdes auf den Weg durch ein wildes

Land, bevölkert mit feindlichen Stämmen...« Er brach ab und sah mich fragend an: »Ihr denkt doch nicht etwa daran, nach Singidunum zu gehen?«

»Doch, das tue ich.«

»Dort tobt ein Krieg! Dort werdet Ihr kein lohnendes Objekt für Eure Investitionen finden. Keine Annehmlichkeiten und Ablenkungen, wie Ihr sie hier genossen habt. Nichts

Schönes - und wenn ich mir die Freiheit herausnehmen darf und niemand Schönes - das, wie Ihr es ausgedrückt habt, zu erkunden sich lohnen würde.«

Ich lächelte. »Es gibt wichtigere und aufregendere Dinge als bloßes Gesellschaftsleben. Einladender als Müßiggang, Unterhaltung, einladener selbst als schöne Frauen.«

»Aber... aber...«

»Was ich jetzt brauche, ist ein erfrischender, langer Schlaf.

Bevor ich mich jedoch zurückziehe, will ich einen

Bogenmacher aufsuchen und einen Vorrat an Pfeilen

erstehen. Während ich das tue, würdet Ihr, Amalrich,

jemanden an den Hafen schicken und einen Bootsmann

anheuern, der willens ist, mich nach Singidunum zu bringen?

Oder, sollte niemand so mutig sein, wenigstens bis kurz vor die Stadt. Der Kahn oder die Schute müssen groß genug

sein, um ein Pferd mitnehmen zu können. Sorgt dafür, daß das Boot ausreichend Vorräte mit sich führt, Verpflegung für mich und die Fährleute und genug Futter für Velox. Nicht nur Heu, sondern auch Korn. Auf ihn warten große

Anstrengungen. Wurde er auch jeden Tag ausreichend

bewegt, während ich hier war? Er wird auf der Fahrt lange still stehen müssen.«

»Euer Hoheit, ich bitte Euch!« protestierte Amalrich, tief getroffen.

»Ich weiß, ich weiß. Die Frage war überflüssig.

Entschuldigt mich. Ich bin sicher, Ihr habt alles Nötige veranlaßt. Bevor ich aber gehe, rechnet bitte zusammen, was ich Euch schulde.«

Ich verließ Vindobona aus freien Stücken, niemand hatte mich gezwungen, noch war die Entscheidung einem

momentanen Gefühl entsprungen. Aber ich begrüßte den

Anlaß. Weder Thornareichs noch Veleda würden es

bedauern, Vindobona zu verlassen. Ich legte keinen Wert darauf, dieses Weibsstück Dengla wiederzusehen. Was die Frauen und Mädchen anging, die meine Freunde, oder auch mehr, geworden waren... nun, wo immer ich auch hinging, würde es gewiß noch mehr von ihnen geben.

Ich war bereit und begierig darauf, wieder zu reisen. Und ich freute mich darauf, meine Freundschaft mit Thiuda

aufzufrischen und endlich unter meinesgleichen, unter

Goten, leben zu können. Und ihrem - meinem - neuen König meine Gefolgschaft anbieten zu können. Schon lange

brannte ich darauf, endlich in einem richtigen Krieg zu kämpfen. Ohne den leisesten Zweifel und ohne einen Blick zurück begrub ich meine Existenz als Thornareichs und -

zumindest vorläufig - als Veleda. Es war Thorn, der in der Morgendämmerung des nächsten Tages einen Kahn bestieg

und alsbald von den auf der Donau liegenden Morgennebeln verschluckt wurde.

Unter Goten

1

Unsere Reise stromabwärts verlief angenehm geruhsam.

Die Donau machte nach Vindobona zunächst einen Bogen

nach Osten, um dann ein paar Tage später wieder nach

Süden zu fließen. Sie trug mich, Velox und die Bootsleute schnell in den goldenen Sommer hinein, der sich immer

weiter nach Norden ausbreitete.

Unterwegs kamen wir nur an zwei größeren Siedlungen

vorbei, die beide am rechten Flußufer lagen. Die erste befand sich in der Provinz Valeria kurz nach der Stelle, wo die Donau den großen Bogen nach Süden macht. Es

handelte sich um die ehemalige Grenzstadt Aquincum, von der nur noch zerfallene Ruinen übriggeblieben waren. Wie der Bootsführer Oppas mir erklärte, war Aquincum im

Verlaufe der letzten hundert Jahre so oft von plündernden Hunnen und anderen barbarischen Horden verwüstet

worden, daß Rom seine zweite Reservelegion Adiutrix aus der Festung abgezogen hatte; daraufhin hatten auch die einst so zahlreichen Einwohner die Stadt verlassen.

Die zweite Siedlung, an der wir vorüberfuhren, war der Kriegshafen Mursa an der Einmündung der Dräu in die

Donau. Mursa bestand lediglich aus Kais, Piers,

Trockendocks, Werkstätten, Warenlagern,

Getreidespeichern und vielen tristen Baracken. Ein

Wachposten gab uns von einem Turm aus energische

Fahnenzeichen. Die Bootsleute steuerten uns in die Nähe des Turms und hielten den Kahn dort an. Der Posten lehnte über die Brüstung, um uns auf Geheiß des Flottenführers den Rat zu geben, nicht weiter stromabwärts zu fahren.

Weiter südlich, sagte der Posten, drohten Gefahr und

Chaos. Die wilden Sarmaten, die am anderen Ufer der

Donau über Altdakien herrschten, und die Ostgoten aus

Moesia Prima am diesseitigen Ufer kämpften um die

strategisch wichtige Stadt Singidunum, die vielleicht schon bald der Ruinenstadt Aquincum gleichen würde. Die Römer hatten ihrer pannonischen Flotte deshalb befohlen, den Donauabschnitt zwischen Mursa und dem Eisernen Tor,

einer weiter stromabwärts gelegenen Flußenge, nicht mehr zu befahren. Von jenseits der Flußenge bis zum Schwarzen Meer, so der Posten, stünden alle Schiffe natürlich unter dem Schutz der mösischen Flotte; auf den fünfhundert

römischen Meilen von hier bis zum Eisernen Tor sei die Donau jedoch ungeschützt, und jedes Handels-, Fracht-oder Passagierschiff befahre diesen Teil des Flusses auf eigenes Risiko.

Singidunum, das Ziel meiner Reise, lag ziemlich genau in der Mitte dieses Abschnitts. Während des Wortwechsels mit dem Wachposten hatte ich begonnen, mein Kurzschwert mit einem Wetzstein zu schleifen. Mechanisch fuhr ich mit dem Stein über die Klinge. »Wenn andere Schiffe diesen Rat befolgen und sich verstecken«, sagte ich zu Oppas, »dann bleibt ihre Fracht liegen und verdirbt vielleicht sogar. Du würdest für ihre Beförderung auf dem Rückweg wohl einen guten Preis erhalten.«

»Balgsdaddja!« grunzte er. »Und dann wird sie mir von

Piraten gestohlen, bevor ich sie sicher flußaufwärts gebracht habe, oder mein Boot wird unter mir versenkt. Nein, nein, unter den gegebenen Umständen wäre es tollkühn,

weiterzufahren.«

»Vergiß nicht, daß ich dich für meine Fahrt bereits bezahlt habe«, erinnerte ich ihn ruhig.

»Aber wenn meine Männer und ich keine Fracht

zurückbringen und dafür bezahlt werden, vorausgesetzt, wir kommen überhaupt lebend zurück, dann habe ich dir nur die Hälfte dessen abverlangt, was ich hätte fordern sollen.«

»Davon war nicht die Rede, als wir unseren Vertrag

schlössen«, sagte ich noch immer gelassen und schliff

weiterhin mein Schwert. »Außerdem war mein Geldbeutel so gut wie leer, nachdem ich dir den vereinbarten Preis bezahlt hatte« - das war nicht gelogen -»also halte dich jetzt auch an unseren Vertrag.«

Obwohl ich nicht mehr den edlen Thornareichs spielte,

machte ich gelegentlich noch von dem nützlichen Trick

Gebrauch, den ich in dieser Rolle gelernt hatte: Ich tat ganz einfach so, als sei ich eine hochgestellte Persönlichkeit, deren Anweisungen selbstverständlich zu befolgen seien.

Die meisten Leute gehorchten dann auch.

Ich sagte also: »Ich werde dir in einer Hinsicht

entgegenkommen: Ihr könnt mich kurz vor Singidunum an

Land setzen, dann kommt ihr der Gefahr nicht allzu nahe.

Eine Einschränkung muß ich jedoch machen: Ich muß die

Stadt zumindest aus der Ferne sehen können, bevor ich das Boot verlasse. Ich lasse mich nicht in irgendeinem

entlegenen Wald an Land setzen.«

Es war früher Morgen, als wir um eine Landzunge fuhren und die Bootsleute ihre Stangen in den Grund des Flußes bohrten, um den Kahn anzuhalten. Oppas deutete wortlos in die Ferne. Zu unserer Rechten befand sich der Hafen

Taurunum, der ähnlich aussah wie Mursa, nur daß seine

Piers menschenleer waren und an seinen Docks keine

Schiffe lagen. Hier mündete die Sawe von rechts in die Donau und verbreiterte diese auf das Doppelte. An der

Stelle des Zusammenflusses konnte man auf der

gegenüberliegenden Uferseite in einiger Entfernung im

Morgennebel die Stadt Singidunum erkennen.

»Ihr könnt mich jetzt ans Ufer setzen«, sagte ich zu

Oppas, »aber ich habe nicht vor, durch die Donau oder die Sawe zu schwimmen.«

»Väi! Soll ich dich vielleicht am Ufer direkt vor Singidunum absetzen? Ich weigere mich strikt, so nahe an die Stadt heranzufahren!«

»Also gut, sage deinen Männern, sie sollen die Sawe ein Stück hinauffahren. Dann laß mich so weit von der Stadt entfernt ans Ufer, wie es dir vernünftig erscheint.«

Die Bootsleute murrten und fluchten, weil sie sich zum ersten Mal auf dieser Fahrt wirklich anstrengen mußten, aber sie taten, was Oppas ihnen mürrisch befahl. In der Zwischenzeit zäumte ich Velox auf, legte ihm den Sattel über und belud ihn mit meinen Habseligkeiten. Dann gürtete ich mein Schwert und hängte mir Bogen und Köcher mit

neuen Pfeilen um. Zwei bis drei römische Meilen

flußaufwärts erreichten wir eine Stelle, wo das Ufer der Sawe flach abfiel. Der Kahn glitt zum Ufer, und Oppas ließ die Seitenrampe ins flache Wasser hinab. Über sie führte ich Velox zürn Ufer hinüber. Ich selbst ging dabei rückwärts, damit ich die Männer nicht im Rücken hatte.

»Thags izei, meine Reisegefährten«, rief ich ihnen zum Abschied noch fröhlich zu. »Die von mir gekauften Vorräte sind noch nicht ganz aufgebraucht, aber als Dank für eure unschätzbaren Dienste überlasse ich euch diese

Köstlichkeiten zum Verzehr.«

Sie knurrten nur wütend, und Oppas holte die Rampe mit einem Ruck wieder ein. Die Männer zogen ihre Stangen aus dem Schlamm, und das Boot trieb auf der Sawe zurück in Richtung Donau. Ich wartete, bis ich sicher war, daß keiner der Männer versuchen würde, mir zum Abschied ein

Wurfgeschoß nachzuschleudern, dann führte ich Velox das Ufer hinauf in den Wald. Als wir auf einen Fußpfad

gelangten, der parallel zum Fluß verlief, stieg ich in den Sattel und steckte meine Stiefelspitzen in das Fußseil. Jetzt war ich für jeden Krieg und jedes Abenteuer gerüstet. Velox schnaubte ungeduldig, und ich ließ ihn in leichtem Galopp auf Singidunum zulaufen.

Noch bevor ich dort anlangte, bot sich mir ein

faszinierender Anblick. Velox trug mich zur Spitze eines bewaldeten Bergkamms, wo mit einem Mal der Wald

aufhörte. Ich hielt an. Tief unter mir öffnete sich ein Tal, in dem etwas Merkwürdiges vor sich ging. Von ein paar

vereinzelten Baumgruppen abgesehen, war das Tal nur mit Gras und niedrigen Büschen bewachsen; ich konnte also

deutlich erkennen, was sich ungefähr drei Stadien unter mir ereignete. In zwei gegenüberliegenden, knapp dreihundert Schritte voneinander entfernten niedrigen Wäldchen hatte jeweils eine Gruppe von Männern Deckung bezogen.

Zwischen den beiden Gruppen flogen ununterbrochen Pfeile hin und her. Ich konnte nicht ausmachen, wieviele Männer an dem Kampf beteiligt waren, aber ich zählte ungefähr zwanzig Pferde in voller Kriegsausrüstung, die jeweils auf der geschützten Seite der Wäldchen angebunden waren.

Schließlich schien die eine Partei des vergeblichen

Schußwechsels müde zu werden. Ungefähr zwanzig Männer

stürmten aus der Deckung hervor und griffen mit gezogenen Schwertern an. Zwei von ihnen wurden sofort von Pfeilen getroffen. Sie stürzten zu Boden und krümmten sich. Die Männer der Gegenseite wagten es nicht, ihre Deckung zu verlassen und sich den Angreifern in einem offenen

Schwertkampf zu stellen. Sie schössen auch keine Pfeile mehr ab, sondern tauchten plötzlich am hinteren Ende des Wäldchens auf, sprangen auf ihre Pferde und flohen in die entgegengesetzte Richtung.

Damit wußte ich, wer die Ostgoten und wer die Sarmaten waren. Ich konnte es aus der Tatsache schließen, daß die eine Gruppe sich nicht auf einen Schwertkampf einlassen wollte. Die Angreifer schwangen die schrecklichen

Krummschwerter der Goten, vor denen bereits die tapfersten Feinde die Flucht ergriffen hatten. Ich konnte auch

erkennen, daß die Männer, die flohen, Schuppenpanzer aus Pferdehufspänen trugen, wie sie mir der alte Wyrd als

Erfindung der sarmatischen Krieger beschrieben hatte. Die Fliehenden waren also auch meine Feinde.

Ich trieb Velox an und galoppierte schräg den Kamm

hinunter, um den Sarmaten den Weg abzuschneiden, bevor sie die freie Fläche überqueren und in den umliegenden Wäldern verschwinden konnten. Als ich in ihre Nähe kam, drehten sie sich um und sahen überrascht zu mir herüber, einem einsamen Reiter ohne Rüstung und von

undefinierbarer Herkunft. Aus ihrer Neugier wurde bald Zorn, Verblüffung und Angst, als ich aus dem Galopp Pfeile auf sie abzuschießen begann.

Keiner der Sarmaten machte auch nur den Versuch, einen Pfeil auf mich zu schießen; damit hatte ich auch nicht gerechnet, denn außer den Hunnen, die mit ihren

Säbelbeinen beim Reiten wahrscheinlich mehr Halt haben, war es noch keinem Krieger gelungen, vom Rücken eines

galoppierenden Pferdes aus ein Ziel zu treffen. Oder

vielleicht sollte ich besser sagen, keinem Krieger außer den Hunnen und mir, da mich das Fußseil, das ich erfunden

hatte, fest und sicher im Sattel hielt. Außerdem hatte mir Wyrd erklärt, nur wenn man mit einem hunnischen Bogen

wie dem, den ich von ihm geerbt hatte, auf ein weit

entferntes Ziel schieße, habe der Pfeil genug Wucht, um einen sarmatischen Schuppenpanzer zu durchdringen.

Die fliehenden Männer hätten anhalten, absteigen und

dann auf mich schießen können. Auf diese Weise hätten

sich ihre Chancen, mich zu treffen und zu töten, beträchtlich erhöht, da ich ja keine Rüstung trug. Als ich mich im Sattel umdrehte und zurücksah, begriff ich jedoch, warum sie das nicht taten. Vier Ostgoten hatten sich auf ihre Pferde geschwungen und ritten nun geradewegs auf mich zu. Sie hielten lange Wurfspeere in den Händen. Sie trugen keine Schuppenpanzer, sondern feste Lederharnische an denen

gesteppte Lederröcke befestigt waren. Über niedrigen

Stiefeln trugen sie gepolsterte, kreuzweise mit Riemen geschnürte weiße Beinkleider. Ihre Helme liefen nicht

konisch zu wie die der Sarmaten, sondern ähnelten eher den römischen Helmen; allerdings hatten sie breitere

Wangenlappen, und am vorderen Rand setzte ein flaches

Stück Metall an, das die Nase schützte. Alles, was man vom Gesicht eines ostgotischen Kriegers sehen konnte, waren die wilden blauen Augen und der wallende gelbe Bart. Ich zügelte Velox und wartete auf die Männer.

Einer von ihnen gab den drei anderen ein Zeichen, worauf diese ihre Lanzen in die Sarmaten bohrten, die ich vom Pferd geschossen hatte, um sicherzugehen, daß sie auch wirklich tot waren. Der andere brachte sein Pferd neben mir zum Stehen und senkte seine Lanze in die Halterung am

Sattel, um mich begrüßen zu können. Zum Gruß erhob er

den rechten Arm und hielt dabei die offene Hand steif

ausgestreckt. Er ballte also nicht wie die Römer die Faust.

Ich hielt ihn für den Anführer der Truppe, da sein Helm mit Ornamenten verziert war; außerdem trug er auf den

Schultern seines Harnischs jeweils eine reich mit Juwelen besetzte Fibel in Form eines sprungbereiten Löwen. Ich erwiderte seinen Gruß auf dieselbe Weise, woraufhin er mich eine Zeitlang eingehend musterte.

Er war eine stattliche, mächtige Erscheinung, wie er mit Helm und Bart und in seiner prächtigen Rüstung aufrecht auf dem Rücken seines durch eine gepolsterte Decke

geschützten Pferdes saß. Unter seinem Blick fühlte ich mich klein und verletzlich, so wie sich die kleinen Tiere des Waldes gefühlt haben müssen, die weit entfernt von ihren Höhlen oder einem nahegelegenen Schlupfwinkel meinem

jagenden Adler Juikabloth ins Auge fielen. Dann jedoch wich die furchteinflößende Miene des Kriegers plötzlich einem Lachen, und er sagte: »Zuerst dachten wir, du seist ein durch die Gegend ziehender Hunne, und zwar einer, der

verrückt geworden ist, weil er allein und ohne Rüstung anzugreifen wagt. Dann sahen wir jedoch das Fußseil, das dich in die Lage versetzt, während des Reitens den Bogen zu benutzen, was du dann auch so geschickt wie ein Hunne getan hast. Ich habe mich früher einmal über dein Fußseil lustig gemacht, aber ich werde es nie wieder tun.«

»Thiuda!« rief ich aus.

»Wailagamotjands! Willkommen in den Reihen unserer

Krieger Thorn. Ich habe dir angeboten, dich uns

anzuschließen. Das hast du getan, und du hast dich seit deiner Ankunft wirklich wacker geschlagen.«

»Das scheinst du ebenfalls getan zu haben«, sagte ich,

»da du offensichtlich inzwischen ein Anführer geworden bist.

Auch dein Bart ist seit unserem letzten Zusammentreffen bewundernswert gewachsen.«

»Wir beide haben uns sicher viel zu erzählen. Komm, reite mit mir in die Stadt, dann können wir uns unterwegs

unterhalten. Warst du die ganze Zeit über in Vindobona?

Wenn ja, dann hat der edle Thorn dort wohl sehr viel

Gastfreundschaft genossen.«

»Das hat er, danke«, sagte ich lächelnd. »Anders kann

man es nicht sagen. Mein Dank gilt dir. Es wäre mir dort nicht so gut gegangen, wenn du mir nicht den Weg geebnet hättest. Aber ich würde lieber hören, was du alles erlebt hast. Hast du deinen Vater gefunden? Begleitet er dich auf diesem Feldzug?«

»Ja, ich habe ihn gefunden, aber er ist nicht bei mir. Ich bin froh, daß ich ihn noch gesehen habe. Ein Fieber hatte ihn befallen, und er starb kurze Zeit darauf.«

»Väi, Thiuda, das tut mir leid.«

»Mir auch. Er wäre viel lieber im Kampf gestorben.«

»Reitest du deshalb als Kundschafter aus, weil du den

Kampf suchst? Bist du deshalb nicht bei den Truppen, die Singidunum belagern?«

»Nein, das Kundschaften gehört zur Belagerung. Wir sind nur sechstausend Mann, und König Babai verfügt in der

Stadt über neuntausend Sarmaten. Außerdem mußten wir

sehr schnell hierher reiten und konnten daher nicht mehr Waffen mitnehmen, als wir tragen konnten. Wir haben kein Belagerungsgerät, keine Belagerungstürme und keine

Rammböcke dabei, um Singidunum im Sturm zu nehmen.

Es war deshalb das Beste, die Stadt samt Babai und seinen Männern einzuschließen. Und damit sie nicht zur Ruhe

kommen, lassen wir in unregelmäßigen Abständen Pfeile, Steine und Brandkugeln auf sie niederhageln. Daneben

erkunden wir die Gegend, um zu verhindern, daß Babai von irgendwoher Verstärkung erhält oder wir von hinten

angegriffen werden. Im Augenblick können wir sonst nichts tun.«

»Bithus contra Bacchium«, sagte ich. Das war eine weitere modische Redewendung, die ich bei meinen vornehmen

Bekannten in Vindobona gehört hatte. Die beiden Namen

bezeichneten zwei berühmte Gladiatoren früherer Tage, die gleich alt, gleich stark und gleich geschickt waren, so daß keiner den anderen besiegen konnte. Thiuda hätte sich über meine freche Bemerkung ärgern können, er mußte jedoch

meiner Einschätzung zustimmen.

»Ja«, knurrte er, »und es ist gut möglich, daß es noch verdammt lange so bleibt oder, noch schlimmer, daß wir nicht lange genug durchhalten. Unsere Vorräte an

Nahrungsmitteln und anderen notwendigen Dingen sind

nicht allzugroß, während die Sarmaten über Korn und

Getreide im Überfluß verfügen. Wenn wir nicht bis zum

Eintreffen des Nachschubs aus dem Süden durchhalten,

müssen wir uns möglicherweise zurückziehen. In der

Zwischenzeit lagern unsre Haufen vor der Stadtmauer, oder sie streifen zu Pferd durch die Gegend. Du weißt ja, wie sehr mich untätiges Herumsitzen aufreibt, deshalb versuche ich, mit jedem Spähtrupp mitzureiten. Wie du gesehen hast, gibt es ab und zu etwas für uns zu tun.«

»Ich konnte nur vom Fluß aus einen kurzen Blick auf

Singidunum werfen«, sagte ich. »Die Stadt sah nahezu

uneinnehmbar aus. Wie haben die Sarmaten es überhaupt

geschafft, sie zu erobern?‹

»Durch einen Überraschungsangriff«, sagte Thiuda

verstimmt. »Sie war nur mit einer ausgedünnten Garnison römischer Truppen besetzt. Allerdings hätten diese paar Mann zusammen mit den Bewohnern in der Lage sein

sollen, eine so günstig gelegene und stark befestigte Stadt zu halten. Der Legat der Garnison muß entweder ein

unfähiger Trottel oder ein wirklicher Verräter gewesen sein.

Er heißt Camundus, und das ist kein römischer Name; er ist also fremder, womöglich sogar sarmatischer Abstammung.

Wer weiß, ob er nicht schon länger heimlich mit König Babai paktiert. Aber egal, ob Camundus ein Narr oder ein

Überläufer ist, wenn er sich noch in der Stadt aufhält, bringe ich ihn und Babai um.«

Insgeheim hielt ich Thiudas Worte für etwas überheblich.

Er tat so, als habe er allein die Verantwortung für den ganzen Feldzug der Ostgoten gegen die Sarmaten. Ich

sagte jedoch nichts, und da er mich mit Fragen überhäufte, berichtete ich ihm so manches, was ich in Vindobona erlebt hatte. Natürlich schilderte ich ihm nur was Thornareichs getan hatte; von Veleda erzählte ich nichts. Schließlich hatte unsere kleine Schar den Stadtrand von Singidunum erreicht.

Wir befanden uns am Fuß des Hügels, der am Ufer aufragte.

Jetzt, wo ich Singidunum aus der Nähe sah, konnte ich mir eine bessere Vorstellung von den Schwierigkeiten machen, die die Ostgoten bei der Belagerung hatten.

Wie in Vindobona und den meisten anderen Städten

stellten auch in Singidunum die Außenbezirke den ärmeren Teil der Stadt dar. Hier befanden sich die Häuser der

einfacheren Bewohner, kleine Werkstätten, Lagerhäuser, Märkte, billige Garküchen und ähnliches. Die Festung der Garnison, die vornehmeren öffentlichen Gebäude, die

besseren Handelshäuser, die luxuriöseren Tavernen und

Herbergen sowie die Residenzen der reicheren Bevölkerung lagen oben auf dem Berg. Wie ich bereits gesagt habe, war der gesamte Hügel von einer Mauer umgeben, und jetzt

konnte ich auch sehen, daß die Mauer aus fest

zementierten, riesigen Steinblöcken bestand und

unbezwingbar hoch war. Als Thiuda, seine Männer und ich vom Flußufer aus die Hauptstraße hinaufritten, konnte ich weder einen Dachfirst noch irgendeine Kuppel oder

Turmspitze über der Mauer hervorragen sehen. In die Mauer war zudem nur ein einziger Zugang eingebaut, auf den die Straße, die wir hinaufritten, geradewegs zuführte. Das große, gewölbte, doppelte Tor bestand zwar nur aus Holz, war jedoch aus extrem dicken Balken gezimmert, die

wiederum von äußerst massiven Eisenbeschlägen

zusammengehalten wurden; zudem war es über und über

mit verstärkenden Eisenbossen versehen und sah daher

nicht weniger unzerstörbar aus als die Steinmauer.

Unter den Menschen, die die Straßen bevölkerten,

befanden sich ebenso viele Ostgoten wie Stadtbewohner.

Das alltägliche Leben schien in Singidunum seinen

gewohnten Gang zu nehmen; mir fiel jedoch auf, daß keiner der Stadtbewohner uns ein Lächeln oder einen Gruß

zukommen ließ, als wir vorbeiritten. Als ich Thiuda

andeutete, daß ich nicht den Eindruck hätte, als ob uns die Bevölkerung jubelnd als willkommene Befreier begrüßte, sagte er:

»Nun, das ist verständlich. Wenigstens haben sie nicht allzuviel dagegen, daß wir uns in ihren Hütten einquartiert haben. Viel mehr können sie uns nicht anbieten. Babai hat ihre Speisekammern, Keller und Läden geplündert und all ihre Nahrungsvorräte in den Stadtteil hinter der Mauer mitgenommen; die Leute hier sind also genauso hungrig wie wir. Ich weiß nicht, ob der reichere Teil der Bevölkerung innerhalb der Mauer sonderlich begeistert darüber ist, die Sarmaten beherbergen zu dürfen; die Leute hier unten sind jedenfalls gleichermaßen zornig auf Babai, weil er ihre Stadt eingenommen hat, auf Camundus, weil er es dazu kommen

ließ, und auf uns, weil wir nicht in der Lage sind, viel zur Verbesserung der Situation beizutragen.«

Ich sagte mit der angemessenen Bescheidenheit: »Ich

bezweifle, daß ich noch irgend etwas tun kann, was nicht schon geschehen ist, aber ich bin gerne behilflich, wo ich nur kann. Wenn man uns zu deinem Oberbefehlshaber

vorlassen würde, dann könnte dieser mir vielleicht einen Posten zuweisen...«

Thiuda grinste und sagte: »Du hast bereits deine

Feuertaufe im Kampf bestanden, Thorn. Du solltest nicht allzu erpicht darauf sein, mit Blut beschmiert zu werden. Laß mich dich zuerst unserem Waffenmeister Ansila vorstellen, damit er dir und deinem Streitroß die richtige Ausrüstung verpassen kann. In der Zwischenzeit muß ich meine

verwundeten Männer zum Lekeis begleiten und dafür

sorgen, daß sie gut verarztet werden.«

Wir hielten also an der Werkstatt eines einheimischen

Waffenschmieds an. Er arbeitete unter der Aufsicht eines stämmigen, rauschebärtigen Ostgoten mittleren Alters, zu dem Thiuda sagte:

»Gustos Ansila, das ist Thorn, mein Freund und

gleichzeitig ein neuer Rekrut. Laß seine Maße für eine komplette Ausrüstung nehmen - mit Helm, Rüstung, Schild, Lanze und allem, was ihm sonst noch fehlt. Sein Pferd muß ebenfalls ausgestattet werden. Sorge dafür, daß der

Schmied sich sofort an die Arbeit macht. Anschließend

zeigst du Thorn meine Wohnstätte. Habäi ita swe!« Ansila grüßte wortlos und Thiuda sagte zu mir: »Ich werde dich später dort treffen, dann können wir uns weiter unterhalten.«

Kurz darauf war er verschwunden.

Während der Schmied mit einem Stück Schnur den

Umfang meines Kopfes und meiner Brust, die Länge meiner Beine und so weiter maß, beäugte der Wachmann Ansila

mich neugierig und sagte schließlich:

»Er nannte dich seinen Freund.«

»Ach, als wir uns zum ersten Mal trafen, waren wir beide nur einfache Waldbewohner«, sagte ich beiläufig.

»Was, ihr beide wart nur einfache Waldbewohner?«

»Ich muß zugeben, daß Thiuda es seitdem in der Welt

weit gebracht zu haben scheint«, fuhr ich fort. »Er gibt Befehle, als ob jeder an dieser Belagerung beteiligte Mann unter seinem Kommando stünde und nicht nur eine einzige Schwadron.«

»Du weißt also nicht, wer unser Befehlshaber ist?«

»Nein... warum?« sagte ich und wurde mir dabei bewußt, daß ich darüber noch gar nicht nachgedacht hatte. »Ich hörte, daß euer König Theudemir vor kurzem starb, weiß jedoch nicht, wer sein Nachfolger wurde.«

»Theudemir - so sprechen die Alemannen und die Leute

aus Burgund seinen Namen aus«, sagte Ansila auf eine

schulmeisterliche Art, die mich an meine Klosterlehrer erinnerte. »Wir nannten unseren König Thiudamer, wobei die Nachsilbe mer natürlich ›der Bekannte‹ oder ›der Berühmte‹ bedeutet; Thuidamer heißt also: der Berühmte aus dem Volk. Er wäre berechtigt gewesen, seinem Namen die ehrenvolle Nachsilbe reikhs hinzuzufügen, die ›der Herrschende‹ bedeutet. Viele Jahre lang regierte er jedoch zusammen mit seinem Bruder Wala über uns Ostgoten,

daher nannten sie sich bescheiden Thiudamer und

Walamer, was soviel heißt wie: der Berühmte aus dem Volk und der Berühmte von den Auserwählten. Auch als Walamer in der Schlacht umkam, war sein Bruder immer noch so

bescheiden, daß er sich weigerte, seinen Namen zu ändern und sich einen höheren Titel zuzulegen. Nun aber, nachdem Thiudamer gestorben ist und sein Sohn der einzige und

alleinige König...«

»Moment mal«, sagte ich - langsam begann ich zu

begreifen -»wollt Ihr damit sagen, daß mein Freund

Thiuda...?«

»... der Sohn und Nachfolger Thiudamers ist und auch

dessen Namen trägt. Er ist der König der Ostgoten und

natürlich auch unser Oberbefehlshaber. Er ist Thuidareichs, der Herrscher des Volkes. Oder wie man diesen Namen in deinem Dialekt oder in deiner Sprache auch immer

aussprechen mag. Die Römer und die Griechen nennen ihn zum Beispiel Theoderich.«

2

Das Haus, das Theoderich in Singidunum zu seiner

Residenz und zu seinem Feldherrenquartier erkoren hatte, lag in der Nähe der Mauern zur Innenstadt. Nachdem ich Velox dort angebunden hatte, wo auch die anderen Pferde der Truppe standen, näherte ich mich dem Gebäude zu Fuß und sah, daß gerade wieder eines der Störmanöver im

Gange war, mit denen die Ostgoten immer wieder ihre

Feinde zu zermürben versuchten. In Reihen aufgestellte Krieger schössen entweder gewöhnliche Pfeile oder solche mit brennenden Spitzen ab; andere benutzten Schleudern, um faustgroße Steine oder brennende Bälle aus

ölgetränktem Flachs auf der anderen Seite der Mauer

niedergehen zu lassen. Von den Zinnen und Türmen des

Festungswalls kamen als verächtliche Antwort nur ein paar vereinzelte Pfeile zurück.

Das Haus Theoderichs war weder besser noch schlechter

als die Häuser, in denen die niedrigsten Ränge seiner

Krieger einquartiert waren; es entging mir allerdings nicht, daß zu der Familie, die das Haus bewohnte, eine schöne, junge Tochter gehörte, die jedesmal errötete, wenn sie den König anschaute oder er sie. Die Mitglieder dieser Familie waren die einzigen Bediensteten Theoderichs. Er hatte es offensichtlich nicht nötig, sich mit einem sklavischen Gefolge von Höflingen, Dienern, hohen Kriegern oder sonstigem

Anhang dieser Art zu umgeben. Einige an der Eingangstür postierte Krieger dienten als Kuriere, wenn Nachrichten zu überbringen waren, und ab und zu betrat ein Zenturio oder ein Dekurio das Haus, um Bericht zu erstatten oder Befehle zu empfangen. Keine Wachen oder diensteifrigen Lakaien hinderten mich daran, zu ihm hineinzugehen, und es fanden auch keine Empfangszeremonien statt.

Als ich den einfachen Raum betrat, in dem er saß, kniete ich dennoch unwillkürlich mit einem Bein vor ihm nieder und beugte mein Haupt, obwohl er Helm und Rüstung

inzwischen abgelegt hatte und auch keinerlei militärische oder königliche Insignien trug, sondern wie ich in eine ganz gewöhnliche Tunika und Hosen gekleidet war.

»Vái was soll denn das?« protestierte er lachend.

»Freunde knien doch nicht vor ihren Freunden nieder.«

Ohne meinen Kopf zu erheben, sagte ich zu dem

Fußboden aus festgestampfter Erde: »Ich weiß wirklich

nicht, wie man einen König begrüßt. Ich bin noch nie zuvor einem begegnet.«

»Als du mir zum ersten Mal begegnet bist, war ich kein König. Laß uns auch weiterhin so ungezwungen und

kameradschaftlich miteinander umgehen, wie wir es damals taten. Steh auf, Thorn.«

Ich erhob mich und schaute ihm von Mann zu Mann ins

Gesicht; dennoch wußte ich, daß er inzwischen nicht mehr der Thiuda war, der sich einst meiner angenommen hatte, und ich glaube, daß ich das auch erkannt hätte, wenn ich nicht über seine wahre Identität unterrichtet worden wäre. Er trug zwar keine königlichen Gewänder, aber sein Gesicht und seine Haltung strahlten eine ganz neue Königswürde aus. Seine blauen Augen konnten immer noch so fröhlich und schelmisch dreinblicken wie damals, als er lauthals seinen »Herrn Thorn« pries, aber ebensooft verfinsterten sie sich vor Nachdenklichkeit oder funkelten hitzig, wenn er von Kampf und Eroberung sprach.

Unwillkürlich schoß mir mit einem Mal der Gedanke durch den Kopf: »Ach, könnte ich doch nur eine Frau sein!« Einen Moment lang war ich ausgesprochen neidisch auf das

errötende Bauernmädchen, das den Sims des einzigen

Fensters im Raum gerade mit einem Wedel aus

Gänsefedern abstaubte. Entschlossen unterdrückte ich den Gedanken und meine Gefühle und fragte Theoderich:

»Wie also soll ich dich angemessen ansprechen? Ich

möchte unsere Freundschaft nicht mißbrauchen und dir in Gegenwart deiner Männer den gebührenden Respekt zollen.

Wie redet ein normaler Sterblicher einen König an? Mit Euer Majestät? Mit Sire? Mit Mein Herr?«

» ›Armer Teufel‹ wäre wohl am passendsten«, sagte er

humorvoll, jedoch schwang in seiner Stimme auch eine Spur von Ernst mit. »All die Jahre, die ich am Hof von

Konstantinopel verbracht habe, nannte jeder mich

Theoderich, daher habe ich mich an diesen Namen

gewöhnt. Mein Erzieher überreichte mir zu meinem

sechzehnten Geburtstag sogar dieses goldene Siegel, damit ich meine Briefe, Befehle oder andere Schriftstücke mit einem Monogramm dieses Namens versehen konnte. Ich

halte es in Ehren und benutze es immer noch. Hier, siehst du?«

Er saß auf einer Bank an einem aus rohen Brettern

gezimmerten Tisch, der mit Urkunden voller Notizen übersät war. Auf eines dieser Dokumente ließ er Talg von einer Kerze niedertropfen drückte sein Siegel hinein und zeigte es mir.

Ich hatte bereits erkannt, daß das auf der zweiten Silbe betonte Wort »Theoderich« in einer Umgebung entstanden sein mußte in der eigentlich Griechisch und Lateinisch gesprochen wurde. Man hatte versucht, die Lautung des

fremden Namens Thuidareichs so getreu wie möglich