vier.
SOMMER

Von hier draußen kannst du die Insel nicht mehr sehen. Wo das Wasser aufs Land drängt oder das Land sich gegen das Wasser stemmt, begrenzt eine harte Linie deinen Blick, täuscht ein Ende vor. Erst in der unaufhaltsamen Bewegung der Wellen verschwimmt sie. Das leere Bild füllt sich, bildet Zacken und zitternde Gipfel dort, wo die Brandung sich aufbäumt. Dazwischen öffnen sich flüchtige Täler auf einen Streif aus Sand und hellem Gras.

Der Grund verflacht, Spuren zeichnen sich ab: Felsriffe und die Krater der Saugschiffe vom Küstenschutz, die den Sand abpumpen und auf den Strand spülen. Reste zerstörter Holzbuhnen, deren glattgeschliffene schwarze Köpfe in abfallenden Reihen aus dem Wasser starren und bei Ebbe, wenn sie im Wind trocknen, mit ihren zernagten Wirbeln an das halb verschüttete Rückgrat eines vor langer Zeit gestrandeten Wals erinnern. Haufen sternförmiger Betontetrapoden, von Baggern ausgestreut wie Futter für einen Steine fressenden Riesen. Von den untersten Blöcken ragt nur noch die Kuppe aus dem Sand. Darauf, nur für Sekunden sichtbar, die Kriechbahnen der Krebse, ein Saum aus abgestorbenem Seegras und leise klirrenden Muschelschalen, mit jeder neuen Woge zu Bändern und Schleifen geschwemmt, zufällige Muster am Fraßrand des Wassers, wo die unablässige Wanderung für einen kurzen Moment zur Ruhe kommt.

Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Mit den Tabletten im Blut hast du das Gefühl, du selbst zu sein, schon fast überwunden, der alte Schmerz ist nur mehr wie die verblassende Erinnerung an einen schlechten Traum. Jetzt schlage ich dich Stirn voraus gegen einen Felsen, du verlierst das Bewusstsein. Dein Körper gleitet an zottigen Algenbärten entlang auf den Grund, ritzt sich an den Seepocken. Die Miesmuscheln, dicht an dicht in ihrer schwarzen Kolonie, bestarren blicklos dein Sinken. Ein Taschenkrebs flüchtet vor dem fremdartigen Wesen in einen Spalt, äugt dann wieder hervor, zückt die Scheren. Kaum sichtbar im Unterwasserlicht bildet ein Schwarm Jungheringe um deinen Kopf eine schnell zerstiebende Wolke, winzige Münder küssen dich kalt. Das Seegras am Fuß des Riffs bauscht sich, will dich betten, doch ich reiße dich aus dem weichen Sarg und treibe dich weiter, im Sog der Ebbe immer weg von der Insel.

Dein Leib, der an Land stets ein wenig plump wirkte und in letzter Zeit, durch die Gefräßigkeit eines anhaltenden Kummers, noch ungelenker geworden ist, tänzelt nun schwerelos in den trägen Schüben der Wassermassen, bogen- oder zeltförmig, mit dem Gesäß als Gipfel, inwärts gewandtem Gesicht und locker herabhängenden Gliedern, die im Strom aus- und um sich greifenden Finger tastend über dem mal schroffen, mal sandig kahlen Boden, als suchten sie an Steinen und den wogenden Zweigen des Horntangs einen Halt, und selbst noch als deine zufälligen und fast spielerischen Zärtlichkeiten mit dem Grund erlahmen und sich die Finger, auch die Arme und dein in der rhythmischen Bewegung des Wassers scheinbar noch atmender Rumpf, bei Eintritt der Leichenstarre versteifen, wirkt deine ziellose Wanderschaft durch die Tiefen wie die unbeschwerlichste deines soeben erloschenen Lebens.

Erst nach Stunden beginnt die Gewalt. Ich zerre dich über Steine, schleife deinen Körper durch den Sand. Das austretende Blut ist im trüben Schein kaum zu sehen, doch die Tiere haben dich längst gewittert. Krebse zernagen die Haut, Fische kosten von der seltenen Beute, erste Algensporen besiedeln den nahrhaften Wirt. In einem Graben stößt ein Nagelrochen aus dem Schlamm, der ihn tarnt. Aufgeschreckt durch deinen Schatten, schwingt er hoch, auf der flachen, helleren Unterseite zeichnet sich schemenhaft der Umriss der Eingeweide ab. Er umkreist dich, knabbert kurz an der Schulter, schwebt noch eine Weile über dir, seine auf und ab wallenden weißen Flanken wie ein langsamer Flügelschlag, der Flug lautlos, traumhaft, unirdisch, ein Engel der Wassertiefen. Dann dreht er ab, nimmt das letzte Glimmen in deinen Augen, oder was einmal deine Seele war, mit fort.

Dein Gesicht dunkelt ein und quillt auf. Die Fingerbeeren verschrumpeln, platzen, irgendwann streift dir die Strömung die Waschhaut wie einen Handschuh von den Knöcheln. Zwischen dir und mir verschwimmen die Grenzen, ich dringe mühelos in dich ein, durch Anus, Poren und deinen offen stehenden Mund. Deine Adern sind nun kalt und weit, das Blut darin ist fast ausgeschwemmt, die Züge kaum mehr menschlich, aufgebrochen, mit krustigen, von Placken übersäten Lippen, am ähnlichsten noch einer Moräne, dem hässlichsten meiner Bewohner, du bist jetzt einer von mir.

Ein Aal reißt dir ein faustgroßes Loch in die Brust, ein anderer, viel kleinerer, frisst das Auge aus der Höhle, schlüpft dann hinein. In deinem Hirn entsteht ein neues Paradies, besiedelt von Lebewesen, die du selbst im drückendsten deiner Träume nie gesehen hast. Irgendwann steigt dein vom Faulgas gedunsener Leib in die mittleren Wasserschichten auf. Mit den teils schon aufgelösten Gliedern, von denen die Haut in Fetzen hängt, bist du wie ein helles, durchscheinendes Tuch, das ich in Schleifen vorwärtsbewege, mit der steigenden Flut hin zum Land. Dort, in der Brandung, vollführe ich mit dir noch einmal den ekstatischen Tanz des Ertrinkens, nur in umgekehrter Richtung. Bald habe ich genug von dem Spiel und werfe dich in den Sand. Bevor man dich findet, haben die Schnabelhiebe der Möwen dein Gesicht endgültig ausgelöscht.

°

sponsored by www.boox.to

°