In ihrer Werkecke schaffte sie zwischen den Gerätschaften Platz, tackerte eine der auf Vorrat grundierten Nesselbahnen an die Wand, mischte in den Plastiknäpfen ein schmales Spektrum roter, brauner und schwarzer Farben an und richtete die Lampe auf das matt schimmernde Weiß. Lange rührte sie sich nicht, saß nur da und blickte hinaus in die Nacht, wo schon ein heller Streif am Himmel glomm. Dann setzte sie den Pinsel an. Bis drüben am Teich die Sonne über den Erlenhain trat, trug sie schlammig dunkle Schichten auf, deren gespachtelte Krusten keiner der Kunst- und Sachverständigen der Jury, die ihr Bild ausgewählt hatten, durchdrungen zu haben schien, malte im aufscheinenden Morgenlicht mit gehetzter Hand, zusammengekniffenen Augen und halbgeöffnetem, wie im Schrei erstarrtem Mund den Abgang ihres Kindes ins Moor.

Du sinkst augenblicklich ein. Spürst unter dir die träge Last der meterdicken Torfschwämme, den schweren, fetten Leib, der dich umarmt. Ich schließe dich ein, in Wasser, in Erde oder ein Gemenge aus beidem: feuchte Krume, zäher Wurzelfilz, verzweigte Adern über halbverrotteten Ästen wie Knochen, darunter das Herz der Tiefe, breiig, kalt pulsierend, noch vor zweihundert Jahren fürchteten mich die Fenndorfer als schwarzes, schleimiges Tier, das unter den Häusern lebt und ihre Kinder verschlingt. Ein Jahrtausend zuvor legten ihre Ahnen Tonschalen mit Speisen in die feuchten Grabstätten der Verstorbenen, um mich in meinem Totenhunger zu besänftigen. Andere sahen in mir eine fleischfressende Pflanze, der man im Torfstich die Triebe abhacken musste, die nach ihrer Habe griffen, nach ihren Körpern und Seelen. Heute pflügt das Schaufelrad der Torfstechmaschine, die damals auch dein Vater lenkte, bis zu einem Meter tief in meine Eingeweide, die sie zerlegen, dörren und in Soden aufschichten, düstere Pyramiden wie kultische Grabstätten, die einen Sommer lang in der Ebene ragen, bald geplündert und verhökert, einst an Bauern als Brennstoff für ihre klammen Häuser, jetzt an die Schrebergärtner für ihre Rosenstöcke.

Gedränt, zerstochen und abgeplaggt, liege ich als schwarzer Kadaver in der Landschaft, überzogen von eiternden Kratern und Heidegrind, mit einem Bohlenweg als künstlicher Wirbelsäule über meinem mit Schrittmachern am Leben gehaltenen Herzen, geflutet mit Wasser, aus dem sie mit Dämmen und Wallhecken die Jauche filtern, die von den Äckern herübersickert, als hinge ich an der Dialyse. Sie schließen die Ablaufgräben, entbirken die Torfmoosflächen und setzen den Moorfrosch zurück in die Schlenken, der bald wieder verreckt, im Kot der Enten, denen die Dorfteiche zu klein geworden sind. Sie jagen mir die Heidschnucken übers Gesicht, die meine Wunden lecken sollen, abfressen, was dort nicht wachsen darf, Geschwüre aus den angrenzenden Wäldern und Wiesen, Buchensprosse, Gänseblümchen, die allseits wuchernde Quecke, sogar ein krummes Apfelbäumchen musste man fällen, gesät vom Wind, den Picknickgelagen der Wanderer oder von der Losung der Rehe, die dort, wo einst der Sonnentau giftig leuchtete, fette Kleefelder rupfen. Biologen, Ökologen, Tier- und Pflanzenkundler scharen sich um mein Totenbett wie ein Heer von Ärzten, abgesandt zu meiner Wiederbelebung mit kompliziertem Gerät, das den Säuregehalt meiner Körpersäfte misst, den pH-Wert meiner Haut und die Temperatur im Innern, denn trotz ihrer Bandagen, all der Schläuche, Pumpen und Zusätze aus ihren Labors winde ich mich in hohem Fieber, blute ich aus, magere ab und verröchele.

Doch mein Leiden ist so alt wie ihre Angst vor meiner Gefräßigkeit. Zum Durchschiffen zu trocken, für den Fußmarsch zu nass, glaubten vor einem Vierteljahrtausend selbst noch die Gelehrten an mein zwittriges Wesen, das weder Wasser sei noch Land; nicht lebendig noch gänzlich tot, verödet und doch in stetigem Wandel, fruchtlos und zugleich voller wertvoller Zeugnisse aus vergangenen Zeiten, so vermaßen und durchzeichneten sie meinen Körper mit den darin eingewässerten Fossilien und schrieben mich als Auswurf des Meeres in ihre Bücher. Früher war ich das unzähmbare Monster vor ihren Türen, heute bin ich ihr kostspieliges Museum, am Parkplatz steht eine Spendenurne, zum Erhalt der Wege und zur Unterstützung des Naturschutzvereins, das Infoblättchen ist gratis.

Du schlägst um dich, trittst nach mir aus, kämpfst gegen die Vereinnahmung an, erbittert, wie du dich auch damals, an jenem Abend der Kunstpreisverleihung, gegen Marga gewehrt und dir den Kinderanzug vom Leib gerissen hast, wolltest dir dort die Mutter, willst dir hier den Moorspuk vom Hals schaffen, das Schauermärchen vom Versinken und Ertrinken, in das du dich heillos verirrt hast, doch Marga kam nicht raus aus dem Klo, ließ dich halbnackt und den mitleidigen Blicken der pinkelnden Männer ausgesetzt vor der Kabine stehen. Aus diesem Alptraum, Dion, gibt es kein Entrinnen, also halt still, hör auf zu heulen, jetzt bist du tief unten bei mir, dein fast schon vergessener Körper, bald nur mehr formbare Erinnerung aus dunklen Farben, alter Angst und halbbewussten Gedanken wie auf dem lobend erwähnten Gemälde deiner Mutter, dem düsteren Bild einer Fehl- oder Totgeburt, das sie damals in Fenndorf, erinnerte sie sich nun wieder, während sie abermals deine Fäuste auf die Kabinentür einschlagen hörte, tatsächlich fast verkauft hätte, wohingegen sich hier, in der Stiftung, wo die Sammler und Galeristen der Stadt zusammengekommen waren, niemand für ihr Werk zu interessieren schien.

Ein Holländer hatte einen hohen Preis dafür geboten, ausgerechnet einer der Touristen, die in den Wochen nach dem Moorleichenfund um das Haus am Heidedamm geschlichen waren und neugierige Blicke in ihre Werkstatt geworfen hatten. Die Schaulustigen kamen aus dem nahen und fernen Umland und sogar mit Bussen über die Grenze. Sie pilgerten auf dem zugewucherten Gleis, wo einst die Loren fuhren, zu den Gruben im Stich, glotzten ein paar Sekunden lang enttäuscht in das Grab, das von den Baggern der Torfarbeiter längst schon zerwühlt worden war, und irrten dann ziellos durch das Dorf, direkt in die Fänge von Ilse Bloch, der die Moorleiche in diesen Tagen nicht nur das Geschäft, sondern auch die Sternstunde ihres Lebens bescherte, wenn sie ihre Geschichten zum Besten gab, in denen es von Mooropfern plötzlich nur so wimmelte, und die Besucher schaudernd an ihren Lippen hingen, während sie Erfrischungsgetränke und Provianttüten zu erhöhten Preisen über die Ladentheke schob, zusammen mit einer Landkarte der Umgebung, auf der sie die Stellen markierte, wo sie noch andere Ahnen der Dorffamilien ertränkt und versenkt glaubte.

Auch der Holländer war einer von denen gewesen, die vom Moorgrausen nicht genug bekommen konnten. Er war plötzlich in der Scheune gestanden und hatte mit gierigen Augen das Bild betrachtet, an dem sie seit Tagen pinselte, meist nachts oder sobald sie ihren Mann in der Torfgrube wusste. Der Tourist – ein schlaksiger Typ in Wanderschuhen und Regenjacke – hatte auf Englisch um das unfertige Gemälde gefeilscht und ihr schließlich ein Bündel Scheine auf den Tisch geblättert, als plötzlich dein Vater durch die Tür getreten war. Was sie da mache?, fuhr er sie an und musterte den Fremden. Ich arbeite, erwiderte deine Mutter. Ich verdiene für uns, rief er, fegte das Geld vom Tisch und trat es in den Schmutz. Sein Kind, rief er und zeigte auf ihren Bauch, werde von sauberem Geld leben! Dirty money, blaffte er den Holländer an. Der bückte sich, kratzte die Scheine vom Boden, reichte sie deinem Vater und stammelte: No, no, it’s not fake. It’s from the exchange office. Sie drehte sich weg und kritzelte weiter an ihrem Bild. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich im Gesicht ihres Mannes die ebenmäßigen Züge, die sie einmal, als sie noch nicht in die Öde dahinter blicken konnte, begehrenswert gefunden hatte, zur Fratze verzerrten. Er packte sie am Arm und zerrte sie vom Hocker. Was das werden solle?, knurrte er und deutete auf das Gemälde. Dann wirbelte er sie herum und stieß sie zur Tür. Du Monster!, rief er, er habe sein Kind in ein Monster hineingepflanzt, sie erinnert sich, wie er, Dions Vater, selbst in seinem Zorn noch vom Pflanzen und Säen sprach, der Bauer. Der Holländer glotzte, faltete seine Landkarte auseinander und sagte: Yes, monster! Show me, where! Da hatte dein Vater aufgeheult und beide, das Monster und den Monsterjäger, aus dem Scheunentor gestoßen, das in den folgenden Tagen von einem schweren Vorhängeschloss versperrt gewesen war.

In einer Nacht hatte sie mit einem Handtuch über der Faust eine Scheibe in den Fensterquadraten eingeschlagen und den Riegel geöffnet. Das Bild hing unberührt an der Arbeitswand, im geizigen Licht eines Haarnadelmondes, in dem sie, als sie zum Himmel blickte, wie durch eine schwarze, halbtransparente Haut hindurch die verborgene Seite erkennen konnte, die der Erdbegleiter nur denjenigen enthüllt, die zu lange in den Abgrund ihrer Träume starren.

Sie klebte Kartonagen vor die Fenster und rührte in den verkrusteten Näpfen neue Farben an. Schon nach wenigen Pinselstrichen merkte sie, dass die dunkle Erregung, die sie zuvor angestachelt und ihre Sinne geschärft hatte, in Gleichgültigkeit umgeschlagen war. Das Motiv ekelte sie jetzt an, sie fand es pathetisch und in seiner Drastik anbiedernd, ärgerte sich, es nicht an den Holländer verscherbelt zu haben, der ihr eine ordentliche Summe dafür geboten hatte. Sie fetzte die Nesselbahn von der Wand in die Ecke, wo das Bild der Moorkindsleiche bald unter anderen verworfenen Skizzen und unvollendeten Gemälden verschwunden und vergessen war.

Erst zehn Jahre später, als sie für ihre Bewerbung beim Kunstwettbewerb der Hamburger Stiftung aus Mangel an Ideen die Müllberge ihres Ateliers durchwühlte, war es ihr wieder in die Hände gefallen. In ein paar Tagen hatte sie es fertiggestellt, zwar geschickter als damals, doch mehr aus Pflichtgefühl gegenüber ihrem noch immer ausstehenden Erfolg, und außer Dions Vater, der Holländer und vielleicht die Galeristin Ute Hassforther, so dachte sie nun, während sie sich mit einem Ruck von der Kloschüssel erhob, schien bis heute nur der Junge selbst begriffen zu haben, was sich in den Farbschatten des Bildes verbarg: dein von scharfkantigen Balken oder Ästen durchbohrter, von Wurzel- oder Adergeflecht bedeckter und in die einer Nabelschnur ähnliche Schlingpflanze gewickelter Kinderleib, augenlos, ohne Hände und mit einem entrückten, noch zu vollendenden oder bereits wieder vernichteten Gesicht, ein Ausdruck zwischen Schlaf, Vergessen und einer spärlich in die Züge gepinselten Sehnsucht nach Form und Welt, noch im Werden oder schon wieder erloschen, fast, aber nicht ganz tot, bevor du überhaupt zu leben begonnen hast.

Ich will nicht mehr, dass du meine Mutter bist, hörte sie draußen vor der Kabinentür deine Stimme, erschreckend klar und ganz ohne Gehaspel. Als sie endlich aufschloss, hast du in Unterhose vor der Tür gestanden und sie aus geweiteten, in Wut und Tränen schwimmenden Augen angestarrt. Sie stürzte zu dir hin, lass mich!, schlugst du sie weg. In deiner Stimme schwang ein harter und fremder Ton. Sie zog die zertrampelte Hose aus dem Türspalt, zerrte auch das Jackett wieder in Form und versuchte, dich zurück in den Anzug zu packen. Du hast sie festgehalten und ihr in die Hand gebissen. Ihre Ohrfeige knallte durch den kaltweiß gekachelten Raum. Schon im nächsten Moment bereute sie ihren Ausrutscher. Mein armer Liebling, flüsterte sie und beugte sich vor, um die roten Fingerstriemen von deiner Wange zu küssen, doch du hast dich weggedreht und die Zähne gebleckt, so dass sie schon den Hilferuf zu hören glaubte, der im nächsten Moment aus dir herausbrechen und die Menschen in Scharen herbeilocken würde. Fast hätte sie dir die Hand auf den Mund gepresst, bis sie begriff, dass du gar nicht schriest, sondern lächeltest, ähnlich verquält, wie sie selbst einst vor dem großen Spiegel im Modehaus gelächelt hatte, als Siana ihr zeigte, wie man das Leben begrüßt.

Sie folgte deinem Blick und sah in der Tür Ute Hassforther stehen. Ihm ist ein Malheur passiert, sagte sie und deutete zum Pissoir, zu hoch! Die Frau musterte sie und nickte. Wir vergessen oft die Perspektive der Kinder, sagte sie, und einen Augenblick lang schien ihr Gesicht durchsichtig und weich. Dann, als entsänne sie sich wieder ihrer Rolle, die ihr keine Sentimentalitäten erlaubt, vereisten die Züge, sie zupfte eine Fluse vom Rock und ging.

Marga stopfte dich in dein Kostüm zurück. Jetzt hast du’s vermasselt, zischte sie und schloss den obersten Kragenknopf. Dann schob sie dich zur Tür.

Als ihr ins Foyer zurückkamt, stand die Galeristin vor dem Bild deiner Mutter. Die ließ dich schnell los, verlangsamte ihren Schritt und strich über das Kleid, das von dem Gezerre zerknittert war. Dann schlenderte sie wie zufällig hinüber zu Ute Hassforther, zündete sich eine Zigarette an und tat, als betrachtete sie ihr eigenes Werk. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie im Gesicht der Frau eine Braue zuckte, sonst verriet ihre Mimik keinerlei Urteil. Im Rücken spürte sie deine Augen, oder war es Röckers geringschätziger Blick, der jetzt mit einer anderen jungen Frau an der Bar lehnte, sie glaubte alle Augen der herumstehenden Leute auf sich gerichtet, als die Galeristin sich vorbeugte, eine der gespachtelten Stellen genauer betrachtete und schließlich sagte: Nicht schlecht.

Von der anderen Seite spürte sie deinen Blick, bockig, empört, fast ein wenig spöttisch, der gleiche Ausdruck wie an dem Tag, als sie am Bild die letzten Korrekturen vorgenommen hatte und du plötzlich hinter ihr standst, mit geschlitzten Augen und nach unten gezogenen Mundwinkeln. Was siehst du darauf?, hatte sie dich gefragt, abwehrend, schon in Erwartung einer verletzenden Antwort. Du hast die Schultern gezuckt, obwohl du sehr viel und sogar mehr, als dir lieb war, auf der Leinwand erkannt hast. Das blutig-schmierige Gemisch erzeugte einen Zustand der Enge in deiner Brust, ließ dein Herz schneller schlagen und eine Hitzewand wie Fieber in dir aufsteigen. Du gabst dem Gefühl die Farbe Braun, denn Moor- oder Colabraun war, unter all den schmutzigen Umbratönen, die einzige Farbe auf dem Bild, die in das Gewirr eine Art Licht flocht, wie in den Tümpeln, wenn ein Sonnenstrahl in die Tiefe dringt und das Wasser bernsteinfarben färbt, so dass du dort, wo die Schichten weggekratzt oder mit dem Drahtschwamm abgeschliffen waren, eine zarte, pergamentartige, stellenweise fast durchsichtige Struktur entdecktest, die dich an die vertrockneten Häute der Libellenschlupfhüllen aus deiner Sammlung erinnerte, die in Einmachgläsern aufgereiht in deinem Regal stand. Da hast du dich umgedreht und dich, zurück im Haus, in deinem Zimmer verschanzt. Als sie dich zum Abendessen rief, hast du ihr die Exuvie einer Mosaikjungfer auf den Teller gelegt, das schönste und größte Stück deiner Sammlung, das du flehentlich beäugtest, als könnte sich der heikle Moment im Leben der Libelle noch einmal vollziehen, wenn die Larve den Innendruck ihres Körpers erhöht, die Haut aufplatzt und sich das Insekt in die Freiheit zwängt, aus den dunklen Wasserjahren heraus in ihren einzigen Sommer über dem Moor.

Lecker, grinste Marga und blies die Hülle vom Teller, stippte sie aber dann auf den Löffel und hielt sie ins Lampenlicht. Jedes Detail des erwachsenen Tieres zeichnete sich bereits darauf ab, die Segmente des stabförmigen Hinterleibs, sechs lange, dreigliedrige Beine, der Ansatz der vier Flügel, sogar die Mundwerkzeuge. Am Kopf bildeten zwei durchsichtige Blasen den Hohlraum der Facettenaugen, dahinter, am Rücken, war die Hülle geschlitzt, fing den Luftzug in einem winzigen Spalt; die Beinchen begannen zu zittern, als würde sich die leere Libelle jeden Moment in die Luft erheben. Wie ein kleiner Palast, flüsterte Marga, plötzlich fasziniert, und du hast triumphierend genickt. Dann habt ihr euch beide mit angehaltenem Atem über das Kunstwerk gebeugt, einer des anderen Augen gesucht und in diesem Moment wohl das Gleiche gedacht. Plötzlich fiel die Exuvie, vielleicht angetippt von ihrem Atem, vom Löffel und brach auf dem Tellerrand in zwei Hälften. Als du das Häutchen vorsichtig in deine Hand schütteln wolltest, zerbröselte es. hDu hmachst halles hkaphutt!, riefst du, warfst den Kopf in den Nacken und stampftest mehrmals auf den Boden, als könntest du so die Worte aus der Kehle schleudern. Sie zog dich an sich, doch das braune Gefühl sackte in den Bauch und wurde rot, da bist du mit geballten Fäusten von ihr weg und die Treppe hoch. Du hast doch Hunderte davon!, hörtest du sie beleidigt aus der Küche rufen, dann knallte die Tür zu und das Bett gegen die Wand, so dass in der Ritze, in die du hast flüchten wollen, kaum ein Finger mehr Platz fand.

Es heißt Moor?, fragte Ute Hassforther zweifelnd und legte den Kopf leicht schief, während sie das Schildchen mit Titel und Werkangaben des Bildes betrachtete. Marga sah dich nah bei der Galeristin stehen, das Gesicht um Mund und Augen jetzt schmal und hart, alles Kindliche war aus deinen Zügen verschwunden. Auch an jenem Abend, als sie die Larvenhülle zerbrochen hatte, warst du ihr plötzlich so fremd erschienen, viel zu überlegen, fast erwachsen, es hatte ihr Angst eingeflößt. Es war, erinnerte sie sich nun wieder, das erste Mal gewesen, dass du dich im Zimmer eingeschlossen hattest; sie hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass es für die Tür überhaupt einen Schlüssel gab. Mehrmals war sie an die Schwelle getreten und hatte leise geklopft, doch selbst als sie schließlich am Griff rüttelte, blieb es im Zimmer beunruhigend still.

Sie ging ins Bad, schluckte zwei Lexotax, wärmte in der Küche die Reste vom Allestopf auf und stellte einen Teller vor deine Tür. Dann ist sie rüber in die Scheune, ihr waren ein paar Stellen am Bild eingefallen, die sie verbessern wollte. Als sie gegen Mitternacht ins Haus zurückkam, war die Tür noch immer verschlossen und der Teller voll. Verdammter Sturkopf, rief sie, ein wenig vernuschelt, ihre Zunge klebte pelzig von Zigaretten und Wein am Gaumen. Sie hob den Teller auf, taumelte durch den dunklen Flur und stieß sich den Kopf an einer Kante. Eine ganze Flasche Wein war zu viel des Guten gewesen; zwar hatte sie der Alkohol zusammen mit den Lexotax beim letzten Schliff des Bildes mutiger gemacht, sie war nun mit dem Ergebnis zufrieden. Ihre Haut aber fühlte sich jetzt taub an, ihre Schritte waren taperig und die Bewegungen wie ferngesteuert. Als sie ins grelle Küchenlicht trat, sah sie im ausgelöffelten Teller einen mehligen, madigen Haufen. Ihre Hand begann zu zittern, und das Zeug rieselte über den Tellerrand, winzige Beinchen wimmelten ihr übers Gelenk, zerbrochene Flügelchen flimmerten, abgerissene Schwänzchen zuckten herauf, leer glotzten die Blasenaugen aus dem Brei der zerstampften Larvenhüllen. Der Teller zerschellte auf dem Boden, Scherben und Schuppen spritzten. Sie stürzte stöhnend die Treppe hinauf, die ihr plötzlich steil und wackelig erschien wie eine Leiter. Oben rüttelte sie an der Tür. Was bist du denn für einer?, schrie sie und schlug mit der Faust gegen das Holz. Erst nach Sekunden merkte sie, dass sie vorm Eingang zum Dachboden stand. Sie fuhr herum, stolperte treppab und warf sich am Ende des Flurs mit aller Kraft gegen die Tür deines Zimmers, die so leicht und willig aufsprang, als wäre sie nie verriegelt gewesen, dein Reich dahinter den ganzen Abend für sie geöffnet, einladend wie alle Zeit. Sie schlitterte über die herumkugelnden Einmachgläser, fing sich am Bücherregal ab und starrte auf das leere Bett. Ihr Junge steckte in der Ritze zwischen Matratze und Wand, mit angelegten Armen und eingezogenem Kopf, ein langes, dünnes Bündel wie eine zusammengerollte Decke. Was bist du denn für einer, schüttelte sie dich, was hab ich dir denn getan, dass du so geworden bist?

Wie zerbrochen er sich plötzlich anfühlte. Fast körperlos, erinnerte sie sich nun, hatte er in ihren Händen gehangen – und sie schaute von dir zur Galeristin, dann zu ihrem Gemälde, schließlich wieder zu dir, erschrocken und schaudernd, denn ähnlich brüchig und morsch hatte sie sich damals den Leib der Kinderleiche vorgestellt, deren Skelett von den Torfsäuren längst zersetzt worden war, wohingegen das Moor Haut und Gewebe, sogar die Fingernägel so gut erhalten hatte, dass ein Team von Spezialisten nun mutmaßte, es könnte sich um das Opfer einer rituellen Hinrichtung handeln, wie Dions Vater ihr an einem Morgen aus der Zeitung vorgelesen hatte, wo man dem Fund einen ganzseitigen Artikel widmete. Mittels der Radiokarbonmethode, einer Messung von verbliebenem Kohlenstoff im Leichenkörper, hatte man den Todeszeitpunkt des mittlerweile in einem Formalinbad des pathologischen Instituts schwimmenden Jungen auf das zweite Jahrhundert vor Christus zurückdatieren können, in die Eisenzeit, wo man ihn wahrscheinlich stranguliert und dann in einem Kolk versenkt hatte, eine Vorgehensweise, die, wie der Autor mutmaßte, auf ein Kindsopfer hindeute, einen zwar grausamen, aber zu jenen Zeiten nicht unüblichen Ritus zu Ehren oder zur Beschwichtigung der Götter, wobei die Archäologen und Ärzte sich nicht entscheiden wollten, ob die Verletzungen, die man im Genitalbereich des Leichnams hatte nachweisen können, Gewebsrisse und Hautabschürfungen, vom unsachgemäßen Bergungsvorgang durch den Bagger, vom Druck der Erdmassen während der langen Lagerung in drei Metern Tiefe oder aber von einer sexuellen Misshandlung bei oder vor der Opferzeremonie stammten, zumal unter verschiedenen germanischen Völkern der Eisenzeit die Moorhinrichtung eine gängige Ahndung von Sittlichkeitsverbrechen und Kriegsdienstverweigerung, auch von Unzucht zwischen Männern gewesen sein soll, was, so die Wissenschaftler, der sogenannten Strafopferthese entspreche, also die Annahme stütze, dass derartige Opferungen in vorchristlichen Zeiten durchaus von großer sozialer und juristischer Bedeutung gewesen sein könnten, wozu schon der römische Historienschreiber Tacitus in seiner Germania hilfreiche Quellen liefere, Feiglinge und Kriegsscheue und körperlich Geschändete, zitierte der Artikel abschließend die antike Schrift, versenkt man im Sumpf und besonders im Morast, wobei man noch Flechtwerk darüberwirft.

Sie erinnerte sich, wie Dions Vater bei diesem Satz ärgerlich die Zeitung zusammengefaltet und geschnaubt hatte, was das eitle Geschwätz denn bedeuten solle. Sie hatte die Hände um ihren Bauch gelegt, durch den, wie so oft in letzter Zeit, ein leichtes Beben gegangen war, und aus dem Küchenfenster hinüber zum Teich geblickt, wo sich die Dämmerung als schwarze Wand über die Ebene schob. Sie haben ihn vorher gefickt, sagte sie, löschte die Gasflamme unter dem Topf mit der Suppe und stellte einen Teller auf den Tisch. Endlich zurück in der Scheune, hatte sie sich auf das ausrangierte Sofa mit den zirpenden Metallfedern gestreckt, den Kopf zur Seite fallen lassen und lange das erst kürzlich in Angriff genommene Ölbild betrachtet, wo sich auf zu viel Weiß ein paar braune Striche kreuzten, unbeholfen und ziellos; nur Ute Hassforther musste darin eine besondere Begabung erkannt haben. Endlich wandte die sich deiner Mutter zu, musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte: Wo, Marga, haben Sie eigentlich studiert?

Sie zuckte zusammen. Mit ihrer Antwort, dachte sie, würde sie nun alles verderben, die Chance verspielen, auf die sie den ganzen Abend gewartet hatte, denn sie würde keine Akademie und keine Schule nennen, nicht mit Theorien auftrumpfen und Hypothesen über die zeitgenössische Kunst formulieren können. Sie hatte keine Bücher gelesen und sich nicht in das Leben und die Leidenschaften ihrer Vorbilder vertieft, während all der Jahre mit Ausnahme des Füssli-Nachtmahrs nicht einmal ein Vorbild gehabt, nur die Stille, den Staub und den Rost der Erinnerungen in einer Scheune, wo das Regenwasser über die Arbeitswand tropft.

Halt him hMoor, hörte sie plötzlich das vertraute Gehauche hinter sich, drehte sich um und sah dich ganz nah. Dann kommen wir also bald ins Geschäft, junger Mann, sagte Ute Hassforther, schüttelte erst dir, dann deiner Mutter die Hand und steckte ihr eine Visitenkarte zu. Sie solle anrufen – ich darf doch Marga sagen, oder?, lächelte sie und rauschte ab. Marga wartete, bis die Galeristin im Pulk der Gäste verschwunden war, die von der Drehtür hinaus in die Nacht geschaufelt wurden, dann schnappte sie ihr mit gebleckten Zähnen Fotze! hinterher, beugte sich zu dir herab und öffnete den obersten Hemdknopf. Kleider machen Leute, grinste sie, doch ihre Lippen waren dabei schmal und wirkten zerbissen.

◆◆

Lass mir das Bild da! Ute hält ihre Hand fest; ich werde sehen, was ich tun kann.

Nein!

Sie hört ihre eigene Stimme wie einen Schnitt, der alles durchtrennt, die Wirbel zwischen ihren Schulterblättern, wo der Rückenschmerz aufflammt, den letzten Faden, der sie noch an ihre Galeristin fesselt, in Utes Gutmenschgesicht die Maske des Mitgefühls, das schon immer eher Mitleid war, eine endgültige Bewegung, so entschieden und kraftvoll, dass sie zurücktaumelt und ihr aus Utes Augen einen Moment lang die nackte Verachtung – oder ist es doch Neid? – entgegenstarrt. Du solltest aufhören, immer wieder Dion zu malen, sagt sie, räuspert sich, eine Braue zuckt, der Mundwinkel, dann ist in ihrem Mienenspiel wieder alles am rechten Platz. Du stagnierst seit Jahren, fügt sie hinzu, und dem Jungen schade es auch. Das Kunsthandwerk hängt ja immer noch dahinten, nörgelt Daniel, der plötzlich wieder neben ihr steht. Am Montag komme jemand von der Presse, und Röcker blickt genervt in die Runde, da spätestens muss alles fertig sein. Marga dreht sich auf dem Absatz um; in überwältigender Klarheit sieht sie vor ihrem inneren Auge das Bild, wie sie alles hinter sich lässt, das Malen, das Modehaus, Fenndorf und die Mutter in ihr, die all das doch nur notdürftig zusammenhält.

Ich breche deine Hülle auf, durchsäuere die Haut mit meinem eisengelben Wasser. Aus deinem Rachen steigt ein letzter Schwall Luft, weit über dir platzt eine Blase. Du verströmst einen kindlichen, leicht buttrigen Geruch und schämst dich, weil du dich am Morgen nicht gewaschen hast, doch ich nehme dich ohne Zögern in den Mund. Da endlich entspannst du die Muskeln, lässt mich hinein, erinnerst das Sinken nach unten aus einer Zeit ohne Bilder, das Gleiten in ein bewusstloses Dunkel, frei von Angst. Nur die Sprachspuren auf deiner Zunge, die nie den richtigen Klang gefunden haben, schmecken noch bitter, dann vergisst du dein Stottern, all die Kränkungen, die es dir bis zu diesem Moment eingebracht hat, verlierst die Namen aller je empfundenen und nie ausgesprochenen Gefühle. Ich ordne sie, klebe die Fetzen deiner Sätze, ziehe einen nach dem anderen aus dir heraus und lege sie um deinen Körper, Häute aus Wörtern, vielblättrig und schweigend wie ein Buch.

Der Weg nach draußen kommt ihr verdunkelt vor, der Gehsteig vor der Tür schlammig wie der Heidedamm im Frühling, aufgeweicht nach langem Frost. Es regnet noch immer. An der Ecke holt Röcker sie ein. Ihr Gemälde sei doch gar nicht so übel, hört sie ihn hinter sich keuchen. Sie hat das Klackern der Cowboystiefel schon gehört, bevor ihr ein zweiter Stich ins Rückgrat fährt, den Kerl schon gewittert, ehe sein Rasierwasser ihr in der Nase juckt. Jetzt spürt sie seine Hand zwischen den Schulterblättern, eine Geste, die sie nicht aufhält, nur noch entschiedener weitertreibt, der Rückenschmerz ist die Fortsetzung einer schon immer fehlgegangenen Berührung. Sie läuft weiter, kämpferisch und mit Stechschritt in das letzte Bild. Vor ihren Augen scheint es bereits fertig, in der reinsten Farbe, von radikaler Form. Sie wird es ausführen, Strich für Strich, Schicht um Schicht, noch nie ist sie sich eines Zieles so sicher gewesen wie in diesem Moment.

Wohin so eilig? Röcker prescht vor, fällt wieder zurück, unter ihren Füßen der Boden wie ein Rollband, als würde nun endlich das Leben aufholen, all die vertane Zeit. Nach Hause, sagt sie, zu meinem Kind, fast spuckt sie das Wort aus, den Namen ihres Jungen, Dion, den er, Röcker, ja bereits kenne.

Kein Vater, der aufpasst?

Nein.

Nicht mehr?

Noch nie.

Woher sie Ute kenne? Ob sie Zeit für ein Getränk habe? Hinter ihr wirft der Kerl seine Fragen wie Fanghaken aus. Vorm Wagen bleibt sie so abrupt stehen, dass er mit Wucht gegen sie prallt. Kurz schließt er sie unwillkürlich in die Arme; leider sei ihm ihr Name entfallen. Mira, sagt sie, reißt die Kofferraumklappe auf und schleudert das Bild hinein. Daniel späht nach dem Stapel Leinwände, all den Alibis ihres Lebens. Mira?, grinst er, ist das dein Künstlername?

Sie lacht auf, rebellisch und roh, über dieses Bürschchen, sein Gewitzel, über die Armseligkeit ihrer Lügen und darüber, wie leicht ihr plötzlich, endlich angekommen in der Wirklichkeit hinter den Bildern, die Wahrheit fällt. Tatsächlich ist Mira nicht nur ihr Rufname im Modehaus. Schon im Mädchenheim war es ein Synonym für die bessere Zukunft gewesen, Titel der großen Verlockung eines noch weißen und leeren Bildes, das von ihr mit Farben gefüllt werden wollte, mit Körpern und magischen Zeichen. Mira hatte draußen die Großstadt geheißen, die Samstagnacht, in die hinaus sie fast jedes Wochenende geflohen war, zusammen mit ihrer Banknachbarin Ingrid, und sie verspürt eine fast schmerzhafte Sehnsucht beim Gedanken an ihre frühere und im Leben vielleicht einzige wirkliche Freundin, deren Spitzenwäsche und Miniröcke ihr, Marga, wie auf den Leib geschneidert waren, Kurzes und Knappstes, in dem sie sich durch das Waschküchenfenster zwängten, hinaus in den Garten und die glitzernden Straßen. Schon an der nächsten Ecke begannen sie, leise zu singen und sich in Tanzfiguren zu wiegen, denn die Samstagnacht war voller geheimnisvoller Bewegungen und versprach anders zu werden als alle Samstagnächte der Jahre zuvor, keine endlose Wochenendwüste aus Mädchenspielen wie Gummitwist und Mühle, sondern ein weiter, verwunschener Zauberwald, der zwar richtigen Mädchen die richtigen Spiele bot, dafür aber Scheinnamen erforderlich machte, die ihre wahre Herkunft nicht preisgaben, in den Spelunken, Kabaretts und Tanzlokalen mit verlockenden Namen wie Bikini, Kaiserkeller oder Club Fatal, dessen Türsteher die minderjährigen Mädchen, wenn die Lippen rot und die Absätze ihrer Schuhe hoch genug waren, gegen das obligatorische Fünfzig-Pfennig-Stück über Treppen und durch Korridore in die schwitzende Menge schleusten, wo man nie jung genug sein konnte und niemand so hieß, wie er behauptete, niemand der war, der er vorgab zu sein, und weshalb sie, Marga und Ingrid, samstags ab zehn Mira und Gila hießen, und beide zusammen waren sie die zweieiigen Zwillingsschwestern aus Harvestehude, wo die weißen Stadthäuser Palästen glichen und die Ärzte, Professoren und Schauspieler, die dort wohnten, Väter waren, die ihren Töchtern keinen Wunsch abschlagen konnten, und der berühmte Theaterregisseur, den sie sich in ihrer Geschichte zum Vater erkoren hatten, sie also auf dem Weg zur Abendvorstellung in seinem schwarzen Jaguar zum Millerntorplatz gefahren und mit einem leicht besorgten, aber vertrauensvollen Winken ins Leben entlassen hatte, seine Prachttöchter Mira, die Blonde, und Gila, die Schwarzhaarige mit den ungezähmten Locken, die sich so wenig ähnelten und doch in der Samstagnacht einander ergänzten wie die helle und die dunkle Seite des Mondes, der die Zauberklammer war, die sie zusammenhielt, und ausgerechnet ein Kleiderbügel, der ähnlich gekrümmt ist wie das ab- oder zunehmende Himmelsgestirn, später dann auch wie das Geschlechtsteil von Miklos, dem Zuhälter, das sie, Marga, noch einmal an das veruntreute Versprechen dieser Nächte erinnern sollte, ausgerechnet ein sichelförmiger Bügel oder Prügel hatte am Höhepunkt ihrer Zwillingsgeschichte das Band zwischen ihr, Mira, und Gila, der geliebten Freundin, in der Mitte durchtrennt, so dass das Bild, das in den Farben und Verflechtungen der Nacht damals schon fast vollkommen schien, von einem auf den anderen Moment wieder weiß war und von allen Geheimnissen entleert, wüst und ohne die Wunderkraft des Mondes bis zum heutigen Tag.

Sie knallt den Kofferraumdeckel zu, klemmt Röcker fast die Finger ein, die schon in ihren Arbeiten wühlen und sich ihres Talents vergewissern wollten, oder doch ihres Scheiterns? Er springt zurück, packt ihre Hand und legt sie auf sein Schlüsselbein, in die Mulde unterhalb des Kehlkopfs, die Stelle am Körper eines Mannes, die sie anmacht, wenn sich ein Schweiß- oder Samentropfen darin sammelt. Alles andere ist Werkzeug und Routine, das übliche Geschäft: Sie wichst den Freier hoch auf Halbmast, bringt ihn mit der Zunge bis zum Anschlag, krault die Eier. Wenn sie merkt, dass es ihn aufgeilt, arbeitet sie sich weiter vor auf den Damm, wo unterhalb des weichen Knorpels die Prostata sitzt, drückt sacht auf den Schließmuskel, dringt mit einem Fingerglied ein, bis der Vorsaft tropft. Der Typ bettelt ums Finale; sie weiß, dass sich seine Frau oder Freundin kaum Zeit für die meist abgewandte Rückseite nimmt. Wenn sie es ihm danach aus der Schlüsselbeinmulde wischen kann, hat sie einen guten Job gemacht, und er kommt wieder.

Seit einiger Zeit steht im Ankleidezimmer ein Fernsehgerät; bei Typen, die sie ekeln, schaltet sie sich ins Programm. Die Männer beschweren sich selten über den Beilärm, vielleicht gibt ihnen der laufende Fernseher ein vertrautes Gefühl, wie zu Hause im Wohnzimmer. Einmal, erinnert sie sich, war der Krimi so spannend gewesen, dass sie mittendrin aufhörten und gemeinsam den Film zu Ende schauten. Es war ein junger Kunde gewesen, der wusste, was er wollte, und sogar nach ihren Wünschen fragte, nicht übel. Sie lag mit der Schläfe auf seiner Schulter und rauchte. Er hat trotzdem bezahlt, sogar die Überstunde bis zur Aufklärung des Mordes. Eine Zeitlang hat sie gehofft, ihn wiederzusehen; sie würden erst vögeln, dann einen Film schauen oder umgekehrt, zum Sondertarif. Doch er war wohl einer von denen gewesen, die jedes Mal eine andere brauchen und deshalb nie Stammkunde im Modehaus werden, was sie bedauerte; die chronischen Wiederkommer sind meistens auch jene, bei denen der Fernseher mit voller Lautstärke und mit dem Farbregler auf Maximum flimmert und plärrt.

Jetzt würde sie lieber eine Lexotax schlucken, die sie für solche Momente in der Handtasche hat. Sie könnte sich die Pille zusammen mit einer Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger klemmen und mit dem Filter unbemerkt in den Mund schieben, im Modehaus macht sie das manchmal so. Sie bewegt sich nicht. Röcker drückt ihren Finger auf sein Schlüsselbein und zischt beim Atmen durch die Zähne. Ausgerechnet jetzt muss sie an Dions Vater denken, der dort, wo nun ihre Hand liegt, keine Mulde vorzuweisen hatte, nicht einmal eine Kerbe, nichts, worin sich, wenn sie ihn zum Höhepunkt trieb, der Schweißtropfen hätte stauen können. Vielleicht war das schon das Ende der Affäre gewesen oder vielmehr seiner Anziehungskraft, als sie ihm zum ersten Mal das Hemd aufknöpfte und unterhalb des Kehlkopfs alles plan und ohne Verheißung war.

Und jetzt? Sie dreht sich weg, reißt die Fahrertür auf, mit Schwung, weil sie sonst klemmt. Dann fällt sie, plötzlich todmüde, in den Sitz. Im Rücken pocht der Schmerz. Die Heimfahrt, denkt sie, in dieser Haltung, wird die Hölle. Worauf wartest du?, ruft sie nach draußen, und Röcker steigt ein. Sie könnte ihm jetzt das Hemd aufreißen, so dass die Knöpfe über die Armatur springen, wie sie es neulich in einem amerikanischen Film gesehen hat. Also zu dir?, sagt Röcker und wischt sich das Regenwasser von der Stirn. Sie packt ihn beim Schopf und dreht sein Gesicht zu ihr hin; in seiner Blässe wirkt er für einen Moment schmal und verschreckt, dann hat er die Lage wieder im Griff und schnappt nach ihrem Mund. Im Auto ist mir zu amerikanisch, sagt sie und stößt ihn zurück in den Sitz.

Lieber französisch? Er kenne da ein Stundenhotel am Steindamm. Sein Grinsen friert fest. Bei mir zu Hause geht nicht, schiebt er schnell hinterher, sie sagt: Schon klar, und steckt den Zündschlüssel ins Schloss. Der Gedanke, ihn nach Fenndorf zu bringen, stachelt sie an. Sie würde mit ihm Wein und Zigaretten bei Ilse Bloch kaufen und das Kleingeld aus seiner Jeanstasche wühlen. Eine halbe Stunde später hätte sich die Neuigkeit im ganzen Dorf herumgesprochen, keine Verleumdung dieses Mal, nein, die schlichte Wahrheit. Mit einem Gefühl des Triumphes – oder wäre es, nach all der Heimlichtuerei, endlich Erleichterung? – würde sie ein paar Minuten später Röcker in der Küche wie im Film das Hemd aufreißen, die Knöpfe beobachten, die über den Boden springen, und dabei Dion zunicken, der in der Tür steht und sie fragend anstarrt. Sie zerrt ihrem neuen Liebhaber die Hose auf die Schenkel, dreht dem Jungen seine Rückansicht hin und sagt: Gefällt dir dieser Arsch?

Schon am nächsten Tag, denkt sie, hätte er es verschmerzt, würde wieder Libellenlarven sammeln und etwas über das Leben gelernt haben, über seine Mutter und seinen Vater, der auch ein Freier gewesen war, ins Modehaus geschleppt von einem der Stammkunden, einem zwielichtigen Hamburger Exporteur, Rasmussen, glaubt sie sich an den Namen zu erinnern, der mit ihm, Dions Vater, einen Vertrag abgeschlossen und zur Feier des Tages etwas hatte springen lassen, drei Mädchen und zwei Flaschen Champagner à hundertfünfzig Mark das Stück, das Gesöff, nicht die Hure, die doppelt so teuer war, was wieder Zoff zwischen Siana und dem Händler gegeben hatte, der stets versuchte, den Preis zu drücken, also hatte Siana, die, je nach Durst und Stimmung ihrer Kunden, an den Getränken oft besser verdiente als mit den Mädchen, sie, Mira, als Gratisbonus draufgeschlagen, mit der Bedingung, noch mindestens eine Flasche zu ordern, und Rasmussen hatte den Korken knallen lassen und seinem neuen Geschäftspartner auf die Schulter geklopft, der ihm die Torfsoden liefern sollte, die Rasmussen nach Spanien zu verschiffen plante, wo die Bauern ihre ausgelaugten Tomatenfelder mit Erde aus Fenndorf salzen sollten, tatsächlich salzen, erinnert sie sich an seine Worte, den Spaniern salzen wir die Tomaten und euch die Mösen, hatte er gerufen und sie in die Arme von Dions Vater gestoßen, der verschüchtert in der Ecke stand. Das Geschäft war dann an den Zollbestimmungen gescheitert, weil Rasmussen mit illegalen Exportpapieren operierte, doch da war sie schon längst mit ihrem Freier, jetzt Verlobten, auf dem Weg nach Fenndorf gewesen.

Sie wollten, wie es typisch ist für Verliebte, einen Abstecher zur Küste machen, doch waren sie nur bis in die Marsch gekommen, weil dem nagelneuen Wagen irgendwo fern jeder Tankstelle das Benzin ausgegangen war, und auch ihrer Liebe, die wie der spanische Torfkontrakt ein Kuhhandel war, sollte bald der Saft ausgehen, der gerade noch ausgereicht hatte, ihr ein Kind in den Unterleib und das Kapital seines Erzeugers ins Leben zu pflanzen, ein verrottetes Haus im Moor und den Traum vom Glück einer jungen Mutter.

Ilse Bloch, damals selbst noch oder schon wieder schwanger, hatte umständlich die Packung Trockenmilch nach dem Preis abgesucht, die Marga in ihrem Laden kaufte oder hatte kaufen müssen, obwohl das Verfallsdatum schon überschritten war, weil im Dorf keine Mutter je zur Trockenmilch griff, im Gemischtwarenladen unter den Augen der Besitzerin, wo Trockenmilchmütter nur jene Frauen sind, denen die eigene Wohlgeformtheit wichtiger ist als das Wachsen und Werden ihres Kindes, das sie, die Neue im Dorf, kaum Witwe und schon wieder süchtig nach den Blicken der Männer auf ihren Brüsten, nicht an ebensolchen, sondern mit einem wässrigen Milchpulvergemisch abspeist, so oder ähnlich mag die Krämerin gedacht haben. Dabei hatte sie, Marga, in den ersten Wochen, die sie noch heute schmerzhaft genau erinnert, von früh bis spät und sogar nachts die Milch abgepumpt und über der Pumperei kaum mehr Kraft gefunden, das aus ihrem Leib Herausgepumpte in den leibarmen und von Tag zu Tag leibärmer werdenden Säugling, der aber nicht saugen wollte, wieder hineinzupumpen, per Schnuller aus den Fläschchen, die sich auf dem Tisch türmten, weil sie Saugstutzen an- und abdockte, als wäre ihre Küche ein Kuhstall und die Pumpvorrichtung eine Melkmaschine, die nicht nur ein einziges Menschlein, sondern ein ganzes Dorf abzufüttern und satt zu kriegen hatte, das Dorf, genauer gesagt, die nach Klatsch und Tratsch gierenden Kundinnen von Ilse Bloch, die ihre, Margas, Pumperei für mütterliche Schlamperei und das Kind der Trockenmilchmutter jetzt schon für seelisch verkrüppelt und lebensuntauglich hielten. Und tatsächlich, auch das sieht sie nun wieder ins Große und Groteske verzerrt vor Augen, lag der Junge meist reglos vor, nie zwischen ihrem tröpfelnden und unter bald unerträglichen Schmerzen die nahrhaften Tropfen aus sich herauseiternden Busen, weil du, Dion, ich muss dich hier daran erinnern, den Kopf weggedreht und die Lippen zusammengepresst hast, als wäre es bereits die Milch gewesen, die warme, weiche und fette, die dir das Wort im Mund verätzt und zersetzt hatte, bevor du überhaupt einen Ton aus dir herausgebracht hast, eine frühe Verweigerung, vielleicht Trotzreaktion, von der du nichts mehr weißt und auch niemals etwas erfahren würdest, wenn ich dir nicht an dieser Stelle die Qualen deiner Mutter ins Bewusstsein rufen würde, meine Pflicht der Wahrheit gegenüber, bevor hier unten, zwischen Torf und Schlamm, in deinem von den Säuren bereits angegerbten, bald ledrig werdenden Körper alles Wissen endgültig verdämmert, während sich um dich herum die Abfälle und Exkrete deiner verloschenen Lebenszeit, Legenden, Mutmaßungen, sogenannter Dorfschnack, zurückbleibende, jetzt unlösbar gewordene Rätsel, Jahr für Jahr aufstauen und verdichten, in Schichten aus Erde, totem Wollgras, Wasser und wieder Erde, mit der Mumie deines Leibes als Kern in einem Grab aus Halbverrottetem und längst Vergessenem, Tatsachen, die dir, dem heute Dreizehnjährigen, wenigstens einen Teil der Schuld an der ganzen Misere aufbürden sollen, denn Fakt ist, dass du, damals ein Säugling und obgleich noch frei von Kränkungen, Groll oder sogar Rachsucht, Marga in ihren Mühen und Kämpfen, dein bleiches und mageres Körperchen zu Farbe und Kraft zu bringen, buchstäblich hast hängenlassen mit ihrer schweren Last aus verschmähter Mutterliebe und einer Milch, die an deinem Mäulchen vorbeirann, wie sehr sie dich auch kitzelte und kirrte, es gibt in ihrer Erinnerung kaum einen Moment, in dem ihr dieses Mutterglück gelang, von dem so viele Frauen schwärmen, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kind an ihre Brust legen, Dion nämlich, und sie sieht ihren Jungen wieder mit großen, irgendwie leeren Augen dort liegen, stülpte nur immer, nach endlosen Verführungsmühen, das kraftlose Mundloch auf den Nippel, nuckelte ein wenig herum und drehte sich weg; er schrie dabei nicht einmal, er ließ sie einfach abblitzen und starrte irgendwohin.

Sie pumpte und hoffte weiter auf ein Wunder. Irgendwann wickelte sie das halb verhungerte Menschenbündel in das Mäntelchen, das ihr Marianne zusammen mit ein paar anderen ausgedienten Stramplern und Schlafsäcken geschenkt hatte, stieg vorm Laden von Ilse Bloch in den Bus und fuhr nach Zeeve zum Arzt, der eine fortgeschrittene Drüsenentzündung und bei ihrem Kind einen verminderten Saugreflex diagnostizierte, eine Funktionsschwäche der Mundmuskulatur, die, beruhigte er sie, bei Säuglingen manchmal auftrete, sich aber schon bald auswachsen würde, ohne Auswirkung auf den Sprechapparat. Er riet ihr, sofort abzustillen. Sie verließ erleichtert die Praxis und besorgte sich in der nächsten Apotheke die verordneten Medikamente, dann endlich war Ruhe.

Trotz all der Unkenrufe aus dem Dorfladen hat sie es schließlich auch ohne Mann geschafft, ohne Vatermumm und Muttermilch das Kind durchgebracht, und sich mit ihrem Jungen im Laufe der Jahre sogar eine Art Glück zurechtgezimmert, das zwar droht in Lügen zu versinken wie das ganze Haus im morastigen Boden, sie aber doch, in so manchem Moment, für die große Pleite mit seinem Vater entschädigt. Sie erinnert sich noch, wie sie sich damals geschworen hatte, nie wieder einen Mann in dieses Haus zu holen. Jetzt mustert sie Röcker auf dem Beifahrersitz. Der Junge würde misstrauisch, vielleicht sogar eifersüchtig sein. Also würde sie zunächst ein Essen bereiten, keinen Allestopf, sondern Pommes frites und Steaks vom Grill, den die beiden Männer zusammen anheizen, zur ersten Kontaktaufnahme. Danach würden sie klapperjassen, Dions Lieblingskartenspiel, das aber oft im Streit endet, sogar mit Türenknallen, weil sie im Klapperjass, noch aus der Zeit im Mädchenheim, alle Tricks kennt und meistens gewinnt.

Heute Abend aber, so formt sich nun vor ihren Augen das Bild von der neuen Familie, wird sie auf begriffsstutzig machen, ganz Frau in der Männerrunde, und sie grinst in sich hinein. Erst würde der Junge, dann Röcker den Sieg davontragen, so dass die beiden sich solidarisieren, sie aber auf ihrem Platz schmollt und Dion sie irgendwann mit dem Fuß antippt und eine Schnute zieht, vielleicht, Part aus seinem Alter-Mann-Spiel, dabei die Lippen einsaugt, ein Versöhnungszeichen, das sie wieder zum Lächeln bringt und die Stimmung so auflockert, dass der Junge, der bisher wortlos dagehockt hat, endlich den Mund aufkriegt, wobei Röcker geduldig auf das Ende der Sätze wartet und nicht betreten wegschaut, wenn Dion beim Erklären der komplizierten Terzfolgen nicht über das entscheidende Wort hinwegkommt, so viel sollte sie von ihm, dem neuen Mann im Haus und Stiefvater des Jungen, erwarten können. Röcker und sie würden am Ende des Abends zu viel Wein getrunken haben, du aber, Dion, um ihr Bild hier aus deiner Sicht zu vervollständigen, hast zwei Flaschen Zitronenlimonade intus und wachst kurz nach dem Einschlafen vom Pinkeldruck auf.

Aus der offenen Schlafzimmertür fällt ein Lichtkegel auf den Flur. Schatten darin, die sich mit leisem Geraune über Boden und Türrahmen krümmen. Du schiebst dich an der Wand entlang, siehst vor dem hellen Fleck deinen Körper als dünne Säule, die in das Gewirr der anderen ragt. Die drückende Blase jetzt ein brennender Schmerz. Du glaubst, es nicht mehr halten zu können, presst zusammen und spähst ums Eck. In der gleichen Position, sie auf dem Rücken, er mit Hohlkreuz über ihr, halb im Liegestütz, hast du Hannes, Lamberts ältesten Sohn, und Daniela, die Bloch-Tochter aus deiner Klasse, am Teich gesehen, irgendwann im Frühsommer, als du mit einem Marmeladenglas voll frischer Libellenschlupfhüllen den Heimweg antratst. Auch bei Hannes dehnte sich die Unterhose zwischen den Fußknöcheln, auch er stieß diese halbverschluckten, wenig lustvollen, eher kläglichen oder von den zusammengebissenen Zähnen verzerrten Laute aus. Du hast den Kopf vorsichtig aus dem Erlengebüsch gereckt, doch im selben Moment drehte Daniela das Gesicht seitlich ins Gras, während sie ihre Hand auf seinen Rücken schob, hin zum Steißbein, wo nun auch Margas Hand liegt und die Bewegungen des Mannes steuert, der heute in euer Haus gezogen ist. Da bist du schnell runter ins Gestrüpp, doch Daniela hatte dich bereits entdeckt, ließ einen spitzen Schrei fahren und versetzte Hannes einen Stoß, der zurückschreckte, wobei sein eckig wirkendes Geschlecht aus dem Mädchen heraus gegen seinen Bauch schnalzte, wie auch du nun zurückgeschreckt und hochgeschnalzt bist, einer Sprungfeder gleich aus dem Unterholz heraus durch die Binsen auf die Wiese, wo Daniela schon die Jeans hochzerrte und du Spanner! herüberblaffte, doch du bist weiter, in einem Zickzack blitzartig dir in den Leib stechender und dich stachelnder, dir gelb und gefährlich erscheinender Gefühle wie durch ein Gewitter, in das hinein Daniela von drüben die übelsten Beschimpfungen krachen ließ, und mit Blitzen im Bauch und Donner im Kopf bist du nach Hause gestürzt, an Marga vorbei in dein Zimmer aufs Bett und direkt in die Ritze.

War es nur eine akustische Täuschung gewesen, in Wahrheit das Dröhnen des Blutes in den Ohren oder sogar ein lautgewordener Gedanke? Auf deiner Flucht war dir, als hättest du für einen Moment, zwischen dem Geplärr des Mädchens, die tiefe, ruhige Stimme von Hannes gehört, der etwas zu Daniela sagte, das dich für den Bruchteil einer Sekunde zögern ließ, bevor du über den Graben gesprungen bist, der das feste vom unsicheren Land trennt, wo noch kurz der Hall des Satzfetzens zitterte, der dich in diesem Moment auf eine unheilvolle, fast erschütternde Art mit Hannes verbündete, und du schiebst dich langsam aus dem Dunkel hinter der halb offen stehenden Tür, lass ihn, der wird nichts sagen, das waren, du bist dir jetzt ganz sicher, seine Worte gewesen, und in dieser plötzlichen Gewissheit, etwas gesehen zu haben, was nur für dich bestimmt war, trittst über die Schwelle ins Licht.

Sie packt Röcker um die Hüften, hievt ihn herum und grätscht sich auf ihn; so kann sie, wenn sie das Becken kreist, Abstand, Tempo und Tiefe bestimmen. Sie legt ihm eine Hand unter die Gurgel, wo der Schweiß in die Mulde rinnt, wirft den Kopf zurück und stößt einen langen, dunklen Seufzer aus, hinüber zum Flur. Im Türloch steht ihr Junge, schwarz, fast unkenntlich, eingegossen in den Schatten. Nur seine Augen, oder ein Licht darin, stechen hervor, in sie hinein, in Brust, Bauch und Unterleib, sie zwingt seinen Blick in ihr Gesicht.

Nur widerwillig schaust du auf. Sie lächelt dir zu, in der Art, wie sie morgens beim Schwimmen unter dem abgespaltenen Ast plötzlich herüberzwinkert, nachdem sie lange ins Wasser geblickt hat; sie mag diese Stelle im Teich, wo die Spiegelungen der Erlen vom Ufer zusammenlaufen und je nach Himmelsfarbe und Bewölkung ein anderes Bild auf die Wasseroberfläche werfen.

Sie dreht Röckers Gesicht ins Kissen und seinen Blick von dir weg, dann beginnt sie zu stöhnen, lauter, zuletzt fast schreiend, wobei sie dich mit Augen fixiert wie eine ihrer unsichtbaren, in Gedanken aber schon vollkommenen Figuren auf dem blanken Papier, bis sie ihren Jungen fast weiß vor dem schwarzen Flur sieht, wie auf einer Art Röntgenaufnahme, die das vorher Verborgene und vom Fleisch Geschützte aus dem Inneren herausschält. Nur hier unten bei mir, in der Tiefe des Moors, wo der Körper sich in entgegengesetzter Richtung zum Tod, nicht von der Haut, sondern vom Herzen her auflöst, findest du plötzlich eine Stimme für das, was dir bisher unaussprechbar im Hals gesteckt hat. Am Gipfel ihres Schreis stolperst du ins Bad und vors Klo, doch wie sehr du auch drückst und quetschst, der Pinkelstrahl spritzt steil gegen den Spülkasten.

Am nächsten Morgen, so könnte das Familienbild bei Tageslicht aussehen, sitzt ihr beim Frühstück wie Eltern und Kind in jeder anderen Küche; Marga im Bademantel und rauchend an ihrem Platz, du wie immer mit der Cornflakesschüssel daneben, und auf dem Stuhl gegenüber, der im Gegensatz zu den übrigen, mit Zeitungen und Krimskrams überhäuften, stets leer war, als hätte sie ihn für einen Gast zurechtgerückt, der nie gekommen ist, verschlingt nur in Shorts und mit nacktem Oberkörper Daniel Röcker seine Brote. Er greift nach der Butterschale, du schiebst sie weg. Er greift noch einmal, du schiebst sie weiter. Gönnst du mir nicht die Butter auf dem Brot?, sagt er und grinst. Du zuckst die Schultern und blickst zu Marga. Die schneidet mit dem Messer ein dickes Butterstück ab und legt es sich auf die Zunge. Ihre Backen blähen sich, du sagst: hIhgitt, als sie von Daniels Teller die Stulle angelt und den Butterbrei draufspuckt. Daniel zieht eine Ekelfratze. Marga rückt näher an dich heran. Mein Haus, mein Kind, meine Butter, sagt sie, und du nickst und steckst erst ihr, dann dir einen Löffel Cornflakes in den Mund.

Daniel glotzt herüber, der erste Blick entsetzt, der zweite sichtlich eingeschüchtert, der letzte wieder kühn, ganz wie vom Hauptgewinner; er nimmt die Brotschnitte, leckt den Butterbrei ab und schluckt. Unterm Tisch spürst du ihren Zeh, der dich antippt, dann schiebt sich ihre Wade an dein Bein und dazwischen Daniels nackter Fuß. Der wandert hoch und verirrt sich in deinen Schoß. Du blickst an dir herab und siehst die Zehen heraufgrinsen wie Zwerge mit dreckigen Mäulern und einem spärlichen schwarzen Haarschopf. Hast du diese fünf nicht schon einmal gesehen, irgendwann früher, als kleines Kind? Einen Fuß, der breit und hoch vor dir aufragte, aus der Froschperspektive stieg die Zehenreihe steil bis zum großen Zeh an, und auf den Knöcheln sahst du einzelne Haare sprießen. Du bist darauf zugelaufen – oder zugerobbt? –, du erinnerst dich nicht an die Art der Bewegung, nur an ihr Ziel, das dieser Fuß gewesen ist, mit dem du, als du endlich angekommen warst, lange gespielt hast. Die Zehen waren zappelnde bärtige Männchen, die sich nicht fangen ließen, der Spann das Haus, aus dem sie lugten, die schrundige Sohle der Garten und der Fußknöchel ein Berg, hinter dem die Welt begann. Dann hob dich jemand hoch, und du glaubst, dass du zu heulen begonnen hast. Den Fuß hast du nie wiedergesehen, doch du bist dir sicher, dass es der Fuß deines Vaters gewesen ist, Margas Behauptung, er sei vor deiner Geburt gestorben, zum Trotz. Oder hast du die Zehenmännchen doch nur erfunden, damit dein Vater, wenn schon kein Gesicht, wenigstens Füße hat, echte Vaterfüße mit ungeschnittenen Nägeln, Sockenflusen zwischen den Zehen und schwarzen Härchen darauf, Füße wie die von Daniel Röcker. Daniel als Vater fändest du gar nicht übel. Er kann einigermaßen gut jassen, fährt, wie er behauptet, lieber Motorrad als Auto und ist jünger als alle anderen Väter im Dorf. Du beugst dich hinunter und schnupperst am großen Zeh, glaubst, dich jetzt sogar erinnern zu können, dass auch damals der Fuß deines Vaters nach altem Putzlappen gerochen hat.

Marga prustet los. Ihr spinnt doch, ruft Röcker, wirft das Butterbrot hin und springt auf. Außerdem müsse er los, und er steigt in die Jeans, die umgestülpt auf dem Küchenboden steht wie eine rätselhafte Skulptur. Fragt, ob er den Wagen nehmen könne. Marga hascht nach der angebissenen Butterstulle, beißt ab und kaut ein Nein. Sie blickt auf die Uhr, der Bus gehe in zehn Minuten. Miststück, knurrt er herüber, dann ist er aus der Tür.

Soll er wiederkommen?, fragt sie in die Zigarettenrauchwolke, während ihr nebeneinander auf der Veranda steht. Daniel, den du schon fast zu mögen begonnen hast, nicht wegen der Füße, eher wegen des Motorrads, seines Versprechens, mit dir ans Meer zu fahren, und weil er dich nicht wie Marga mein Junge, sondern einfach Kumpel genannt hat, der Mann, der dein neuer Vater hätte werden können, ist nur noch ein verschwommener Punkt am Ende des Heidedamms, der zwischen den langen Häuserschatten auf der Dorfstraße bald zerfließt. Die Sonne steht tief, buttergelb über der tauglitzernden Ebene. Der Regen ist in der Nacht abgezogen, der Himmel jetzt wolkenlos, das Moor überwölbt von einem hohen, pastellblauen Zelt mit gläserner Luft und dem Geruch von Erde und nassem Laub. Doch das Licht ist ein anderes als noch in den Tagen zuvor, hat an Leuchtkraft verloren, als hätte der Regen alle Farben ausgewaschen, die jetzt von einem Grau- oder Braunstich wie infiziert sind, und selbst an den rotglänzenden Äpfeln drüben im Baum, die du längst hättest abernten sollen, nagt schon der Herbst als diese Art Müdigkeit oder Mattheit, ein allgegenwärtiger Schatten, der sich ab September aus den Wäldern, Wiesen, Früchten und letzten Blumen, aus der Mitte des Sommers heraus durch die Dinge langsam nach außen frisst.

hWillst hdu, hdass her hwiederkommt?, hauchst du, und Marga blickt dich lange an. Er hat ein gutes Gesicht, der Junge, denkt sie, schmal geschnitten wie das seines Vaters, doch mit viel feineren Zügen, ohne diesen bäurischen Einschlag, der seine Schönheit als Schlichtheit entlarvte, wenn sie sich leidenschaftlich stritten oder liebten und sein ebenmäßiges Gesicht sich in jäher Gefühlsaufwallung verzerrte, beides Momente, in denen sie spürte, dass sie den Mann, mit dem sie gerade zankte oder schlief, nicht liebte, weil sie so nah und nackt seine plötzliche Hässlichkeit nicht ertrug.

Soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst, sagt sie, und du fragst dich, wo dieses Land eigentlich liegt, in deiner Vorstellung ein staubiges, verbranntes oder sogar brennendes unter einer zornglühenden Sonne, wohin der Volksmund die Menschen schickt, die man nicht mehr um sich haben möchte. Sie wickelt den Gürtel des Bademantels fester um den Finger, zieht den Knoten auf. Immerhin konnte er klapperjassen, sagt sie und tritt zurück in die Diele. hAber hich hkanns hbesser, erwiderst du, der Satz dauert und dauert, hängt in der Mitte hartnäckig am K fest, die Pointe hat sie verpasst; als du dich umdrehst, steht sie mit offenem Bademantel auf der zweiten Stufe und blickt über dich hinweg in die Ebene, hinüber zum Teich, und für einen Moment ist dir, als blinzelte sie dort irgendwem zu. Dann lässt sie, wie sonst am Ufer, kurz bevor sie ins Wasser steigt, den Stoff über die Schultern rutschen, streckt die Hand nach dir aus und sagt: Kommst du?

Doch noch hat sie das Bild nicht begonnen; hier, in Hamburg, mit der Hand am Zündschlüssel, im Schlepptau den Maler, ist es weniger als eine Idee. Auch beim dritten Versuch tut der Motor keinen Mucks. Was das für eine Hure von Auto sei?, sagt Röcker und blickt sich im Wagen um. Sie zieht schnaubend den Schlüssel aus dem Anlasser. Kennst du dich aus? Er zuckt die Achseln. Sein Vater sei Kfz-Meister gewesen, als Kind habe er Autos gehasst, fahre deshalb jetzt Motorrad. Ich habe zwischen den alten Karren spielen müssen, plappert er, weil ums elterliche Haus kein Garten, nicht einmal ein Hof gewesen sei, und sie verbeißt sich ihren Ärger, seine Kindheitsgeschichte ist wahrlich nicht das, was sie jetzt von ihm will. Ich hätte gerne einen Vater gehabt, der mir zeigt, wie man Autos repariert, blockt sie ihn ab und schlägt fluchend gegen das Lenkrad, doch Röcker räkelt sich nun tiefer in den Sitz und zurück in seine Vergangenheit, scheint sie mit seiner Verletztheit kapern zu wollen. Noch heute stoße ihm der Geruch von Benzin und durchgebrannten Kabeln übel auf, vor allem aber würge ihn die Erinnerung an seinen Vater, der ihn, den Zehnjährigen, zwang, mit der Hand einen Eimer Altöl, den er beim Spielen umgekippt hatte, also das Altöl mit der Hand in den Eimer zurückzuschaufeln, mit diesen Händen, und er senkt bedeutungsvoll die Stimme und präsentiert seine feingliedrigen Finger, die ihr schon damals, bei der Preisverleihung, aufgefallen waren als die Hände eines Menschen, der nicht zupackt, sondern formt. Sie rutscht gegen die Türverkleidung, schließt die Augen. Ich habe geheult, hört sie ihn dicht an ihrem Ohr flüstern, aber der Vater habe ihm, dem Jungen, wieder einmal mit dem Heim gedroht, wenn auch nur ein einziger Spritzer Öl auf dem Boden zurückbleibe. Weißt du, was ein Heim ist?, unterbricht sie ihn müde, ihre Mutter habe sie, Marga, als Baby vor der Tür eines Kinderheims abgelegt, mit einem Fünfmarkstück in der Faust. Sie öffnet die Augen, sieht in Röckers Gesicht einen Ausdruck, als hätte sie soeben chinesisch gesprochen. Internat, verbessert er, ich sollte ins Internat. Das Altöl, das er, Röcker, unter den Augen des Vaters vom Boden kratzen musste, hat sich nicht wegkratzen lassen, es sei flüssiger gewesen als Sand, doch zäher als Wasser und bildete zwischen meinen Fingern, seufzt er, Blasen und Löcher, und er schaut sie dabei durchdringend an, tatsächlich wie der kleine ausgeschimpfte Junge, da habe er, fährt er nach einer die Pointe hinauszögernden Atempause fort, in den Ölpfützen auf dem Werkstattboden plötzlich ein Bild gesehen, das Gesicht einer Frau, und einen Monat später sei er im Heim gewesen. Internat, verbessert sie, ja, einem musischen, nickt er, das war meine Rettung, und wohl der Grund, denkt sie, warum er nun dieses Frauengesicht aus dem Motoröl der väterlichen Autowerkstatt in allen Farben und Tönen auf Leinwände schmiert. Und weiter?, fragt sie.

Ihm jetzt doch das Hemd aufreißen, hier, im Auto, unter den Augen der vorüberziehenden Passanten? Das Knopfloch wird sich flicken lassen, denkt sie, seine Freundin wird es nähen, oder die Mutter, wenn er noch eine hat, denn auch ihr, Marga, haben sie den Rücken wieder zugenäht, die Mütter und Erzieherinnen ihrer Kindheit beziehungsweise Doktor Mellrich, der Diakoniearzt, der bei den Mädchen für alles zuständig war, was schnell heilen musste, für Masern und Mumps der Kleinen, später die Mandelentzündungen, dann die Beschwerden mit der Menstruation; sie hat, erinnert sie sich, schon mit elf geblutet, mitten im Mathematikunterricht, was die Lehrerin sehr beschämte. Dann wieder geblutet mit sechzehn, irgendwann nachts im Hinterzimmer des Club Fatal, doch da hat Gila ihr geholfen. Ein halbes Jahr später noch einmal, unter den Augen und Händen von Nachtschwester Marita und mit dem heftigen Wunsch, Gila würde ihr beistehen, doch die war weg und der Kleiderbügel steckte ihr zwischen den Schulterblättern, nicht der Bügel, aber der dazugehörige Haken, auf den es ankam, nicht umsonst waren die Kleiderbügel im Diakonissenheim ausnahmslos aus Holz. Draht hätte sich auf dem Rücken verbogen, Plastik wäre vielleicht gebrochen, Draht- und Plastikbügel hätten, wenn sie aneinanderstießen, nur leise geklirrt, nicht aber weitschallend geklappert wie die Holzkleiderbügel an den Garderobenständern, die überall in den Korridoren des Heims aufgestellt waren, obwohl selten etwas daran hing, ein verlorener Schal manchmal, eine vergessene Mütze oder der Mantel einer Tante, die zu Besuch gekommen war. Meist verharrten die Bügelhölzer nackt und reglos an ihren Haken, begannen aber im Luftzug einer geöffneten Tür oder unter den Erschütterungen der Fußtritte auf den alten Dielenböden gegeneinanderzuschlagen, unüberhörbar selbst in den abgelegenen Zimmern des evangelischen Kinderheims, das sich nach außen, zur Stadt hin, offen und ohne Gitterzaun präsentierte, im Innern aber von einem fein austarierten Alarmsystem überwacht wurde, das zu gegebenem Anlass die Diakonissen in den Abwehrkampf rief, die Hornissen, wie die Mädchen die Heimschwestern nannten, die nachts – und bei dieser Phantasie hatte sie sich mit Gila vor Lachen gekrümmt – heimlich in den Speisesaal ausschwirrten und im Akkord die Kleiderbügel fertigten, nach dem Vorbild der echten Stechinsekten, die sich ihre Nester als labyrinthartige Paläste bauen, indem sie Holz zu einer Art Pappmaché zerkauen, und sie kicherten noch immer über die bizarre Nonnenfarce, während sie mit den Stöckelschuhen in der Hand an der Tür zum Speisesaal vorüberschlichen, hinter der, wie man sich im Heim erzählte, die Diakonissen an den Tischen, wo mittags die Mädchen den Kartoffelbrei löffelten, das Feuerholz mit göttlicher Spucke zu den Kleiderbügeln vermümmelten, in die Doktor Mellrich, im letzten Fabrikationsschritt, die Drahthaken steckte, um die fertigen Wächter anschließend zum Aushärten an den Garderobenstangen aufzuhängen. In jener Samstagnacht aber hatte dort ungewöhnliche Stille geherrscht, denn sie, Marga und Ingrid, in ihrer Alltagskleidung noch die unauffälligen Heimmädchen, hatten vorgesorgt und schon am Abend hier einen Schal, dort eine Mütze sorgsam platziert, was das Geklapper dämmen sollte, so dass es nicht bis zum Dienstzimmer dringen würde, wo Nachtschwester Marita über ihrem Rätselheft oder den Personalakten saß.

Doch wie es solche Heimgeschichten verlangen, hatten sie es versäumt, die Mangelküche zu präparieren. An den Waschtagen trockneten dort, auf unzählige Bügel gezogen, die diakonischen Ordensblusen, samstags aber, wenn auch im Heim die Hausarbeit ruhte, baumelte nur manchmal eine einzelne vergessene oder von der Näherin noch auszubessernde Tracht im Luftzug vom hoch in die Wand eingelassenen Kellerfenster. Sie erinnert sich noch genau an das Tacken wie von einer sich immer schneller drehenden Uhr, ein Geräusch, das sie auch heute noch im Innern durchzuckt, wenn sie sich, wie jetzt, auf der Schwelle glaubt, zwischen den Gedankenfetzen einer Idee und der möglichen Form ihrer Verwirklichung, auf dem Weg von hier nach dort, heraus aus der verworrenen und kaum zu durchblickenden Wirklichkeit in die wohlbedachte, wenn auch nicht minder chaotische Anordnung eines Bildes, oder umgekehrt, von der einen Verwirrung in die andere. Es ist der Moment, in dem sie etwas Dumpfes und Starres verlässt, sich aus einem schier uferlosen Zustand von Gleichgültigkeit heraus zu einem Körper entfaltet, der scharf abgegrenzt und von fiebrigen Nerven überzogen ist, und dieser Wunsch nach Reizen und Berührung, der Hunger nach der Samstagnacht draußen und ihren Lichtern und Leibern, war es, so glaubt sie heute, warum sie in ihrer Eile und Euphorie vergessen hatten, die Bügel an den straffgespannten Leinen der Mangelküche, wie sie es sonst immer getan hatten, so anzuordnen, dass selbst in einem durchs Fenster brechenden Sturm kein Holz das andere berührte.

Als sie nacheinander durch den engen Schacht ins Freie krochen, tönte von hinten das leise Tack-Tack, und sie, Marga, schon fast Mira, drehte sich noch einmal um und sah das nickende und grinsende Wächterheer, doch da war sie schon draußen im Leben und wollte nicht mehr zurück. Ihr Plan vom endgültigen Ausbruch aus dem Heim war nahezu perfekt gewesen. Mittlerweile winkten die Türsteher des Club Fatal sie aus der Schlange nach vorne, weil Gila mit einem von ihnen ging. Sie ging auch mit den anderen, doch das wusste nur sie, Mira, die Zwillingsschwester. Sie schworen sich, keinen Schritt im Leben mehr ohne die andere zu tun, und den Schwur setzten sie um, in jeder Minute der Samstagnacht. Im Hinterzimmer schlief der Türsteher erst mit Gila, dann drehte er sich auf der Pritsche um und schlief mit ihr. Sie rutschten gerade noch rechtzeitig zum Gottesdienst durchs Waschküchenfenster, Gila warf die Bluse über und knöpfte sie in der Eile schief zu, über der Brust prangte ein Knutschfleck. Beim Gottesdienst konnten sie sich das Kichern nicht mehr verbeißen, Strafe: zwei Wochenenden Hausarrest. Egal, es gab ja das Fenster. Der Türsteher hatte versprochen, ihnen eine Anstellung an der Bar zu besorgen, auch Schönheitstanzen auf der Bühne wäre möglich gewesen, und sie tanzten gut. Stets bildete sich ein Kreis um sie, nicht nur die Männer johlten und klatschten, wenn sie zu I love you, Baby die Tote Frau beim Rock ’n’ Roll mimten oder sich zu Freddys Heimweh küssten. Der Besitzer, erinnert sie sich, einer um die vierzig, der nichts anbrennen ließ, aber, wie es unter den Kellnerinnen hieß, nicht unübel sei, lud sie in ihrer letzten Samstagnacht zu einer Flasche Champagner ein. Er fummelte mit ihr, Mira, an der Bar, dann verschwand er für den Rest der Nacht mit Gila, die sich, bevor sie ihm ins Büro folgte, noch einmal zu ihr umdrehte und den Daumen in die Luft streckte. Sie war eifersüchtig gewesen, doch nicht auf Gila, sondern auf ihn.

Ein Typ spendierte ihr an der Bar mehrere Whisky-Cola. Bevor sie mit ihm ging, streckte sie die Hand aus. Er glotzte sie entgeistert an, legte aber dann einen Zehner hinein. Sie zog die Hand nicht zurück, er knüllte widerwillig einen weiteren dazu. Erst in der Morgendämmerung kam sie zurück, Gila saß betrunken an der Bar. Die Freundin rutschte vom Hocker, packte sie an den Schultern und schüttelte sie; was das solle, sie hätten sich doch versprochen, alles zusammen zu machen! Die Konsonanten kriegte sie nicht mehr hin, das Kajal um ihre Augen war verschmiert. Hatte sie geweint? Sie zeigte Gila grinsend das Geld, doch die schlug es ihr aus der Hand. Übrigens sollen wir zum Vortanzen kommen!, zischte sie und rannte auf die Straße. Es war ihr erster Streit gewesen, ein Riss des Tageslichts im Wunder der Nacht.

Der zweite folgte wenige Minuten später im Waschküchenfenster. Draußen war es schon hell. Der Mond stand als blasses Ei am Himmel, wirkte fleckig und zerknautscht. Sie sprang aus dem Schacht in den Keller und Schwester Marita direkt vor die Füße. Gott sieht alles, rief die und ratschte einen Kleiderbügel von der Leine, dahinter schwangen die hundert, begannen zu klatschen wie vor Stunden die tanzende Menge nach ihrem Twist. Wenn du schreist, kriegst du es doppelt, sagte die Diakonisse, da beugte Magret sich vor und biss in die Lehne des Stuhls, während Gila, die draußen Schmiere gestanden hatte, ein letztes Mal über das Mäuerchen und hinüber auf die Straße setzte, wo Gottes Blick endete und das Leben begann, wie laut in diesem Moment die Kleiderbügel auch zur Umkehr schlugen.

Doktor Mellrich nähte meist ohne Betäubung; die Platzwunden von Pausenhof und Tartanbahn, die Messerschnitte an den Fingern der ungeschickten Mädchen vom Küchendienst, die Stigmata der Wunder. Sie schrie so laut, dass die Krankenschwester ihr die Hand auf den Mund presste. Magret biss zu. Die Diakonisse packte sie an den Haaren, drückte sie auf die Liege und hielt Arme und Füße fest, während Doktor Mellrich ihr den Schlüpfer auf die Schenkel zerrte. Sie spürte seinen Finger wie ein Stück Metall. Sie habe mit ihrer Vermutung recht, sagte er zur Krankenschwester und zog die Hand heraus, Hymen nicht tastbar. Sie fuhr hoch und spuckte dem Arzt ins Gesicht.

Die Samstagabende ihres letzten Heimjahres verbrachte sie in der Mangelküche, wo sie die Ordensblusen zu bügeln hatte, oft fünfzig Stück hintereinander. Die Kleiderbügel hingen still. In den Schacht hatte man ein Gitter eingelassen. Den Mond sah man von hier aus nicht. An langen Sommerabenden fiel das Licht der untergehenden Sonne durchs Kellerfenster und warf die Schatten der Eisenstäbe auf die weißen Kacheln, Linien und Kreuze, die durch den Raum krochen, sich langsam krümmten und mit dem Fugenraster komplizierte Figuren formten, bis die Muster vor der Mangel verloschen, und nur weil sie irgendwann angefangen hatte, in den Bügelpausen die Wanderschaft der Schattenbilder auf Papierbögen nachzuzeichnen, hat sie, so glaubt sie heute, an diesen taubstummen Samstagabenden den Glauben an die Zukunft nicht gänzlich verloren.

Ein Jahr später, nach ihrer Entlassung, war sie wieder zum Club Fatal gegangen. Der Türsteher, mit dem sie damals geschlafen hatte, stand am Eingang und winkte die hübschesten Mädchen aus der Schlange herein, auch sie. Es war, erinnert sie sich, einer mit ausgeprägtem Schlüsselbein gewesen, sie hatte damals ihren Kopf darauf gelegt, Gila war von der anderen Seite gekommen, bis sich ihre Nasenspitzen berührten, und sie hatten sich angegrinst, während ihre Gesichter sich auf der haarigen Brust hoben und senkten. Jetzt erkannte der Typ sie nicht mehr. Sie stellte sich als Mira vor und fragte nach Gila, doch beide Namen sagten ihm nichts.

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Sie geht voraus, gibt die Richtung vor und hat doch kein Ziel, nur das Gefühl, laufen zu müssen, immer an gegen den Rückenschmerz. Und das Auto?, ruft Röcker von hinten. Bringen wir nachher zu deinem Vater. Ha, sagt er und holt auf, der sei schon längst tot, hopsgegangen über einem Benz. Sie spürt die Erschöpfung, die Müdigkeit oder Verletztheit ihres Körpers, der sich an ihn lehnen will, Berührungen fordert, die nicht fehlgehen, sie nicht kalt von hinten erwischen. Trinken wir was, sagt er und deutet auf eine vorüberfliegende Bar, oder ist sie es, die an der Möglichkeit zur Ein- und Umkehr vorüberfliegt? Das Bild, dem sie entgegenhastet, zerfließt vor ihren Augen, wenn sie ihren Blick nur ein wenig vom Fluchtpunkt weg und hin zu den Rändern bewegt, wie das anvisierte Objekt am Rand des Sichtfelds einer Lupe – fast, denkt sie und sagt: Lassen wir den Drink aus, hätte sie sich die Chance eingeräumt, innezuhalten, es dieses Mal anders zu machen, sich tatsächlich auf Röcker einzulassen, ihn vielleicht sogar zu mögen oder, wenn er sie abermals enttäuscht, ihn einfach nur auszuhalten. Das Bild würde vorüberziehen, übergehen in das nächste, sie könnte es betrachten, über seine Unvollkommenheit zuletzt lachen. Sie geht weiter, durch den Regen über Gehsteige und Straßenmüll immer hinein in den grauen Dunst, der sich zwischen den Häuserzeilen zu einer frühen Dämmerung verdichtet. Sie hat diesen Plan. Sie wird ihn umsetzen, zur Perfektion treiben und ihn, sollte er sich nicht ihrem Willen beugen, mit der gleichen Wucht zerstören. Auch Röckers irgendwie römisch geschnittenes Gesicht scheint ihr ein Januskopf, der sich nach dem Fick umdrehen wird und ihr, während sie schon den Koffer packt, die Fratze zeigt, und genau darauf hat sie es abgesehen. Sie will die Verzerrtheit, seine Lächerlichkeit, das große Bild am Ende dieses ziellosen Marschs.

In einer Gasse auf dem Kiez packt er sie am Arm, bringt sie zum Stehen. Das ist doch Scheiße, keucht er, noch mal so eine schnelle Nummer irgendwo. Er schaut sie jetzt von unten herauf an, vorwurfsvoll – oder doch flehend? Das dunkle Haar klebt ihm auf der Stirn, aus den Barthaaren perlen die Tropfen. Dass es ihm leidtue, quengelt er. Was?, erwidert sie ungeduldig. Die Sache damals auf dem Klo? Nein, sagt er, jetzt sichtlich beleidigt, das mit dem Baby und dem Fünfmarkstück. Sie lacht auf, ein paar Passanten drehen sich um; sie kann, sie will jetzt nicht mehr aufhören. Spinnst du?, fragt er. Der Regen strömt ihr in den aufgerissenen Mund, brennt in den Augen, oder ist es der zerfließende Puder? Sie wäre statt in die Galerie besser gleich ins Modehaus gefahren, und sie blickt auf die Uhr, kurz vor drei. Schiereisen ist unerlöst wieder nach Hause, jetzt winken die Herren von der Hansawerft und der japanische Schiffsschraubenbauer ungeduldig mit ihren Dollars, und Siana hat vermutlich eine andere vorgeschickt, und das, so dreht es sich in ihrem Kopf weiter, wird das Ende meiner Karriere im Modehaus sein. Sie kramt ein Tempo aus der Handtasche und wischt sich über Augen und Mund, mit dem Regenwasser auf ihren Lippen geht die Lexotax gut runter.

Meine Mutter, sagt sie, ist bei meiner Geburt gestorben; nur langsam beruhigt sich ihr Atem. Es habe Komplikationen gegeben, außerdem wieder Bombenalarm, dreiundvierzig, alle Rettungskräfte seien im Einsatz gewesen. Sehr witzig, versucht Röcker seine Gekränktheit zu überspielen, und dein Vater? Gott ist mein Vater, droht sie und grinst, das habe man ihr im Heim gepredigt. Er deutet achselzuckend erst in den immer stärker werdenden Regen, dann auf den Schaukasten des kleinen Lichtspieltheaters, das ein paar Schritte weiter mit Filmplakaten um Besucher wirbt. Kino?, fragt er, und Marga will protestieren, doch da steht er schon am Kartenschalter und lässt die Münzen auf das Zählbrett klirren.

Sie kaufen Süßkram, kaufen Cola, legen ihre Ellenbogen auf die Armlehne. Der Film, dessen Nachmittagsvorstellung bereits begonnen hat, heißt Der letzte Tango in Paris und ist kein Tanzfilm, wie sie anfangs dachte, sondern laut Röcker ein handfester Skandal. Während der ersten halben Stunde bewegt er sich auf seinem Sitz so gut wie nicht. Sein linker Arm ruht auf der Lehne, der Blick ebenso starr auf der Leinwand, nur mit der rechten Hand führt er ab und zu den Colabecher an den Mund, die Tüte mit den Süßigkeiten ist unterm Sitz verschwunden. Sie hat einmal, weil sie plötzlich Hunger verspürte, danach geangelt, blind ins Dunkel zwischen seinen leicht gespreizten Beinen, dabei ist ihr der Becher weggerutscht und Röcker, wegen des Colaschwalls, zurückgeschreckt, danach hat sie jeden weiteren Annäherungsversuch aufgegeben. Jetzt klebt der Boden, kleben ihre Füße unter dem Sitz und die in ihrem Plan enggetaktete Zeit, die ihr bis zur Abfahrt des letzten Busses noch bleibt, zäh an dem Kerl, der neben ihr an seinem Strohhalm nuckelt, obwohl der Becher schon leer ist. Auf der Leinwand wälzt sich ein bulliger, bereits ergrauter Amerikaner, der einmal, denkt sie, nicht übel gewesen sein muss, mit ähnlichen Schmatz- und Gurgelgeräuschen auf die kleine Französin. Sie ergibt sich in die Flut der orangenen und roten Bilder, Farben wie von einem endlosen Sonnenuntergang, was sie nicht nur in der Malerei heikel findet, auch im Film bereiten ihr orangerote Sonnenuntergänge Unbehagen.

Scarlett O’Hara, erinnert sie sich, schwor in Vom Winde verweht, dem Kassenschlager, den sie damals mit Gila zum Auftakt einer ihrer Nächte gesehen hatte, vor einem solchen Sonnenuntergang dem Unglück ab, das sie, die Hauptfigur, eine Filmüberlänge lang verfolgt hatte: Sie, Marga, falsch, Mira, hatte später vor dem Kino wie Scarlett O’Hara beziehungsweise ihre Darstellerin Vivien Leigh die Faust zum Himmel gehoben, der aber nicht wie im Film ein zürnendes, schwarzglutiges Firmament, sondern ein trüber Hamburger Regenhimmel gewesen war, ich schwöre bei Gott, hatte sie gerufen, wie zuvor die Heldin vor dem heroisch flammenden Horizont, und Gila lachte, stieß ebenfalls die Hand in die Luft, gemeinsam gelobten sie mit den finalen Worten des Films: Ich werde nie wieder hungern!, zu den tropfenden Dachrinnen hinauf und ins Gesicht eines alten Mannes, der mürrisch aus einem Fenster glotzte. Dann waren sie feixend zum Tanzlokal und in die Arme der Türsteher gerannt, hinein in das große Fressen der Nacht.

Jetzt hat sie von ihrem Friseur in Zeeve erfahren, dass die Schauspielerin trotz dieses Schwurs und seines großen Erfolgs an den Kinokassen an ihren Depressionen elendig zugrunde gegangen ist, in Ruhm und Luxus sozusagen verhungert, seufzte der Haarschneider, der sich in den Leben und Leiden großer Frauen gut auskennt, und sie hat triumphierend genickt und an ihr Gefühl von Freiheit und Glück denken müssen, als sie mit Gila durch den Kiez gestöckelt war und die Blicke genossen hatte, begehrliche Blicke in rotem und orangenem Schein, Lichter, die, wie sich später im Modehaus mit seinen ähnlich flackernden Lämpchen herausstellte, die Farben der Leere sind, der Langeweile und Ernüchterung, rotorange und nicht, wie es naheliegt, schwarz und weiß.

In Schwarzweiß nämlich würde ihr der Film besser gefallen, klare Linien, harte Schatten, Grenzen, die nicht aufgelöst werden können. Schwül und rotlichtschwanger aber auch die Geschichte, eine, wie sie nur ein Mann erzählen kann, von einem heruntergekommenen Amerikaner in Paris, der auf Sex ohne Gefühle steht, schmutzigen, leeren Sex in einer schmutzigen, leeren Wohnung, aber wieso? Aha, sie war zu ungeduldig mit ihren Fragen, denn nun kommt die Schlüsselszene, die Frau des Amerikaners ist kurz zuvor durch Selbstmord aus dem Leben geschieden, der Mann seitdem vor Trauer kalt und starr, was eine der nächsten Szenen veranschaulicht, auf dem rotorangenen Boden der im Pariser Sonnenuntergang flirrenden Wohnung, wo der Amerikaner jetzt den Arsch seiner Geliebten mit einem Stück Butter geschmeidig macht, und ihre Hand rutscht von der Sessellehne auf Daniels Knie, doch die Knie schnappen nicht zu, nur die Faust, die ihre Hand aufs Polster zurückschiebt und fest umklammert, als wären sie beide wieder sechzehn und dieser Kinobesuch das große Versprechen, all das gemeinsam durchzustehen, was der Film am Ende nicht mehr zeigen wird, erschlaffte Gesichter und Geschlechter, Zank und Frust, das Schwarz und Weiß nach dem Sonnenuntergang.

Vivien Leigh, entsinnt sie sich der Worte ihres Friseurs, sei erst hinauf in den schillernden Zenit des Erfolgs, dann hinunter in die dunkelste Nacht, also Gemütshölle, aus der sie selbst die Elektroschocks, die man ihr in der Nervenklinik zahlreich verabreichte, nur für kurze Zeit herausblitzen konnten, wobei er nicht blitzen, sondern herausholen oder etwas Ähnliches gesagt hatte, aber Marga der Gedanke an einen erst kürzlich verstorbenen jungen Mann aus der Umgebung wie ein Blitz durch den Kopf gezuckt war: Kar-Kar, der Neffe von Marianne Lambert, der also auch mit ihr, Marga, entfernt verwandt war und in Wirklichkeit Karsten Karmstedter hieß, im Nachbardorf Kleenze lebte und zwölf Jahre älter als Dion, aber auch ein Stotterer gewesen ist, der, weil er bei seinem Namen immer nur bis zur ersten Silbe kam, von allen Kar-Kar gerufen, also schon als Kind zum Krüppel herabgespöttelt, erst zum Sprech-, dann, später, durch die üblen Nachreden seiner Bekannten und Verwandten, zum sogenannten Seelenkrüppel verhunzt wurde. Erst, so tratscht man im Dorf, sei Karsten Karmstedter in Hamburg an die Männer, dann, wegen einem dieser Männer, in der Nervenklinik an die Elektrokabel gekommen, dazwischen fast unter die Räder eines D-Zugs, der Knecht des Bauern Lambert nämlich hatte Kar-Kar eines Abends vom Bahndamm am nördlichen Moorrand regelrecht herunterprügeln müssen, so fest entschlossen sei der Unglückselige gewesen, sich vom Eilzug Hamburg–Bremen den von der Männerliebe verwirrten Kopf abtrennen zu lassen, der aber nun – Gott sei Dank!, hörte sie, Marga, bei einem Einkauf Ilse Bloch im Laden sagen – durch die Elektro-Behandlung wieder ins rechte Lot gerückt worden sei, nicht gerückt, geschockt, hatte Marga gedacht und hinüber zur Kasse gelauscht, wo die Bloch erzählte, Kar-Kars in widernatürlichen Liebesphantasien wuchernder und beinahe zerplatzter Kopf sei nun wieder repariert. Exekutiert der geliebte Mann, der darin wie ein Stachel festgesessen haben musste, dachte Marga, die Sprachstörung angeblich auch, denn Kar-Kar, so die Bloch weiter zur Kundin, spreche nun in der Anstalt kein Wort mehr, nicht einmal mit der eigenen Mutter, Siegried Karmstedter, Marianne Lamberts Schwägerin, die er anscheinend nicht mehr erkennt, wenn sie ihm sonntags seinen Lieblingskuchen bringt, den Bienenstich.

Da ist sie mit leerem Korb raus aus dem Laden und im Laufschritt nach Hause zu ihrem Jungen, den sie in der Küche fest an sich gedrückt und dessen Hand sie umklammert hat, ähnlich verstört oder beschämt, wie Daniel Röcker nun ihre Hand zu bearbeiten beginnt, als im Film der Amerikaner die Französin an den Handgelenken packt und sie zwingt, während er rückwärtig in sie eindringt, die von ihm so genannten Kernsätze nachzusprechen, die der am Boden kriechenden und keuchenden Frau erklären, warum sie von nun an arschgefickt werden will oder muss, und tatsächlich heult und winselt sie nun etwas von einem Kind, das, so der Kernsatz, so lange gefoltert wird, bis der Wille gebrochen ist und die Freiheit gemordet, und wieder muss sie dabei an Kar-Kar denken, wie er, bevor ein anderer Zug auf einem anderen Bahndamm seinen Kopf wenige Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus doch noch erwischt und von seinen Qualen erlöst hatte, stumm in seinem Stuhlkreis neben all den anderen Elektrogeschockten gesessen haben muss, die den Farben, Filmen und Sonnenuntergängen endgültig abgeschworen und sich dem Schwarz und dem Weiß ergeben haben, dem Schwarz traumloser Nächte und dem Weiß ebenso bildloser Wände in der geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt, wo Siegried Karmstedter ihrem Sohn verzweifelt den duftigen Bienenstich in den Mund zu schieben versucht, der endlich, wie es schon immer ihr Herzenswunsch gewesen ist, nach all den Mühen, das verstockte und verirrte Kind mit Beharrlichkeit, mütterlicher Liebe und medizinischen Therapien aufs rechte Gleis zu setzen, nicht mehr bockt und krampft, da ist sie hoch aus dem Kinosessel und über die ineinander verknoteten Arme und Beine der Liebespärchen in ihren rotorangenen Logen raus ans Licht.

Der Himmel ist weder noch, als sie aus dem Foyer ins Freie taumelt, nicht schwarz, nicht weiß; der Tag scheint ihr in allen Belangen auf halber Strecke hängengeblieben, über ihr das Regenband. Sie geht an den Häusern entlang, auf die dröhnende Holstenstraße zu, von der auf der anderen Seite die Kleine Marienstraße abzweigt, wo das Modehaus liegt, es wird nun keine Umwege mehr geben. Nach zwei Minuten hat Röcker sie eingeholt. Was ist los?, ruft er atemlos und packt sie am Arm. War doch spannend! Sie schleift ihn mit sich wie ein trotziges Kind.

Hat dir das gefallen?, fragt sie.

Was?

Wie die Nutte dem Kerl den Finger in den Arsch steckt.

Sie schüttelt ihn ab und eilt weiter. Das sei doch keine Nutte gewesen; er holt auf, marschiert vor ihr her, lässt sich jetzt nicht mehr abhängen. Auf der Holstenstraße läuft sie fast vor ein Auto, der Fahrer zeigt ihr den Vogel. Rot, sagt Röcker, deutet zur Ampel und hebt entschuldigend die Hand. Stimmt, grinst sie und springt zurück auf den Gehsteig, Männer glauben, nur Nutten macht so etwas Spaß. Er schiebt sie zum Zebrastreifen, wo die Fußgänger auf grünes Licht warten, eine Horde Touristen in Regencapes, eine Frau mit Kinderwagen und ein Mann mit auffällig unbeteiligten Augen; sie kennt den welt- und lichtscheuen Blick der Kerle, die gerade aus einem Striplokal oder Sexkino kommen.

Und was sie selbst denke, als Frau? Röcker tritt von einem Bein aufs andere, als könnte er es nun kaum abwarten, über die Straße zu gelangen, endlich hin an ihr Ziel. Sie lacht auf, zischt den Laut eher zwischen den Zähnen hervor; früher kam manchmal ein Kunde ins Modehaus, ein passabler Typ, erinnert sie sich, der, so könnte man meinen, es nicht nötig hat, zu einer Käuflichen zu gehen. Doch bei den Frauen, die er nicht bezahlen muss, ist er wohl nie, anders konnte sie es nicht erklären, auf seine Kosten gekommen. Statt der üblichen Nummer, abwichsen, blasen oder Doggy, sollte sie ihm zunächst ausgiebig den Hintern waschen, nicht aufreizend und auf keinen Fall nackt: Als sie sich das erste Mal wie gewohnt dabei entblößte, hat er sich umgedreht und ist wortlos und mit hochrotem Kopf aus der Tür. Erst später begriff sie, was und wie er es wollte. Sie schubste ihn, ganz strenge Mutter, ins Bad und übers Bidet, wo sie ihm die Kimme einschäumte, mit einem Frotteelappen und milder Waschlotion, routiniert und ein wenig gelangweilt, wie einem Kind; Dion hatte sie bis zur dritten Klasse abgewischt, wegen seiner seltsamen Marotte mit dem Klogeschäft. Wenn sie ihn aufforderte, selbst Hand anzulegen, erstarrte er zusammengekauert auf der Schüssel, voller Angst, bei der kleinsten Bewegung ins Rohrloch hinabzustürzen. Also tat sie es mit viel Bedacht, um ihn zu beruhigen, der Freier aber wurde nervös, wenn sie zu behutsam vorging, rutschte auf dem Beckenrand herum und raunzte sie an. Durch die Seife waren ihre Finger gut geschmiert. Sie war noch kaum bis zum zweiten Glied drin, da tropfte er schon grunzend in den Schaum, ohne dass sie seinen Schwanz auch nur gestreift hatte. Der Hunderter war schnell verdientes Geld, sie musste danach nicht einmal duschen.

Vielleicht war ihr deshalb von den Spagaten und Verkrümmungen des Pariser Tangos endgültig übel geworden, als die Französin mit dem Finger rückwärtig im Amerikaner steckte, der, derart aufgespießt, einen weiteren sogenannten Kernsatz aus sich herauspresste, wirres Geschwätz, das sie, die Geliebte, ermunterte, eher nötigte, sich von einem Schwein ficken und dabei ankotzen zu lassen, eine Phantasie, an der die junge, schöne Frau tatsächlich entflammte, fast weinend in ihrer Erniedrigung und sich im Arsch des Amerikaners buchstäblich windend nach der Liebe mit einem sich übergebenden und dabei verreckenden Schwein, wobei sie, Marga, an die Donnerstage hat denken müssen, den Schlachttag bei Lamberts, wenn mittags das Todeskreischen über den Heidedamm schallt, markerschütternde Laute aus den Kehlen der panischen Tiere, die vom Knecht in die Halle getrieben werden, wo sie kopfüber an bewegliche Haken gebunden, an einem Gestänge aufgereiht und über einer Wanne von einem sichelförmigen Messer aufgeschlitzt werden, das früher noch der Schlachter selbst führte, das heute aber von einer Maschine gesteuert wird. Vorher wird die Stromzange an die Schläfen der Tiere gelegt, die sich nicht, wie vom Regisseur fälschlicherweise ins Drehbuch geschrieben, im Stress der Todesprozedur übergeben, sondern angeblich schmerzlos dahinschlummern, Fazit: Schweine, das kann sie, Marga, als langjährige Beobachterin des Lebens und Sterbens auf Spaltenböden bezeugen, erbrechen sich nicht, dafür hat die Natur sie zu Schweinen gemacht, die alles verwerten und in Fett und Fleisch verwandeln, und sie drängt Röcker neben den Mann, in dessen Augen noch immer das billige Licht der Koberfenster blinkt.

Ob er schon mal bei einer Prostituierten gewesen sei?, fragt sie und hebt den Zeigefinger mit dem spitzgefeilten Nagel. Erschrocken beginnt das Kind im Wagen zu plärren, die Mutter wühlt es heraus und drückt es an ihre Brust. Röcker schnappt den Finger aus der Luft und legt ihn sich abermals auf den Hals. Die Mutter dreht ihr Kind weg, hin zu den Touristen, die auf Bayrisch herüberblödeln, doch das Baby kreischt nun wie vom Teufel geschreckt, und auch Röcker wirkt jetzt abgekämpft vom ziellosen Zickzacklauf durch den Regentag, immer herum um die entscheidende Berührung. In seinem blassen Gesicht geistern die Schatten und Scheinwerferlichter der Straße. Obwohl es noch Nachmittag ist, kurz nach vier, stellt sie mit einem schnellen Blick auf die Uhr fest, scheint es bereits zu dunkeln wie im Winter.

In einer halben Stunde muss sie den Jungen anrufen. Die Ampel steht hartnäckig auf Rot, die Zeit auf der Pausetaste, aus dem Stillstand ragen die Häuser von Altona, türmen sich nach Süden zur Elbe hin und im Westen immer weiter Richtung Meer, das, denkt sie, ein besseres Ziel gewesen wäre, in einer knappen Stunde zu erreichen, vielleicht hätte sich an der Küste die Wolkendecke gelichtet, sich dazwischen sogar die Sonne gezeigt. Ein Spaziergang am Strand, eine Fahrt durch die Salzwiesen auf seinem Motorrad, dicht an ihn gepresst mit dem Knattern des Windes in den Ohren und dem leisen Knirschen der Lederjacke, während sie den Kopf gegen seinen Rücken lehnt und ihre Hände unter die Kleidung und über seine Brust hinauf bis zur Schlüsselbeinmulde wandern, wo später, wenn sie nebeneinander ausgestreckt auf dem Bett irgendeines Fremdenzimmers liegen, ein Tropfen glitzert. Irgendwo draußen summt eine Landmaschine, drinnen der Heizlüfter und noch tiefer im Innern das Blut in den Ohren.

Hatte sich ein solches Bild von einem Liebesausflug ans Meer nicht schon einmal als Trug und Täuschung erwiesen, die so lange mit sehnsuchtsvollen Gedanken beackerte Vorstellung sich plötzlich aufgelöst in einer Nebelnacht über der Marsch? Sie beugt sich vor und schnappt nach Röckers Mund, der erschrocken zurückzuckt, nicht der Mund, aber der ganze Kerl gegen die Frau, die ihr noch immer brüllendes Kind in den Wagen packt und davonkurvt, an Röcker vorbei, der einen Schmerz- oder Hohnlaut zischt und sich mit der Hand über den Mund fährt.

Auch Dions Vater, erinnert sie sich, hatte sie den Kuss, den sie für den nächtlichen Strand hatte aufheben wollen, für einen Sternenhimmel vielleicht mit rasch am Firmament verglühenden Wünschen, auf die Lippen mehr gebissen als gedrückt, am Straßenrand irgendwo hinter Itzehoe, wo der Motor verröchelte und er, Dions Vater, der stets Wortkarge und im Gespräch eher Ungeschickte, plötzlich, als hätte er den Benzintank für einen solchen Moment der Ausweglosigkeit absichtlich leergefahren, ihr die Arbeit im Modehaus aus- und die Buchhalterei auf dem Bauern- und Torfstecherhof einzureden begann, eine qualvolle halbe Stunde lang Hamburg aus ihrem Kopf heraus- und Fenndorf hineindiskutierte, bis sie erschöpft die Tür aufstieß und ihn aus dem Wagen bugsierte, durch die Nebelbänke über ein Feld, das regensatt unter ihren Schuhen schmatzte, als wollte es ihr einen Vorgeschmack auf ihre Zukunft im Moor geben, und sie zog den Mann, der sie mit Eheversprechen und Glücksverheißungen aufzuhalten versuchte, zu einem Gasthof auf der anderen Seite des Ackers, wo noch ein Licht brannte und sie in einem kalten Bett mit steifer Wäsche ihren Kopf auf seine Brust legte und die Nase gegen die Gurgel drückte, als könnte sie die Mulde dort doch noch graben. Immerhin, dachte sie, hatte er ihr ein eigenes Atelier versprochen, hundert Quadratmeter in der Scheune nur für dich und deine Arbeit, lockte er noch einmal und löschte die Nachttischlampe. Sie rutschte an ihm herunter, knipste das Licht wieder an und zeigte ihm, was sie im Gegenzug zu bieten hatte; malen und dazwischen mit einem Mann schlafen, den sie begehrte, der sie aber dafür in Ruhe ließ, mehr hatte sie von ihrer Zukunft nie gewollt, ein Plan, der ihr nun perfekt schien, eine Nacht lang, wenige Kilometer vor der See, die heranrollte und zurückschäumte, Wellen, die sich auftürmten, brachen, wieder in sich selbst versiegten und dabei jedes Mal einen Schwall Sand mitrissen, ein Stück Land abtrugen, es woanders wieder anschwemmten und in der immergleichen Bewegung des Aufbegehrens und Erschlaffens, Erinnerns und Vergessens ein wenig näher herankamen an das sich liebende Paar, das hier, weit hinter den Deichen und im ängstlichen gegenseitigen Belauschen ihrer Gedanken, von der Brandung draußen, dem Rufen und Warnen des Meeres, nichts hörte.

Rückblickend, so glaubt sie heute, muss es die Nacht gewesen sein, als sie mit ihrem Jungen schwanger wurde. Sein Vater zog am Morgen mit einem Benzinkanister los. Auf der Rückfahrt sprach er wie gewohnt kein Wort, nur sein stummes Gesicht flehte hinaus in die herabdrängenden, niederzwingenden Wolken und manchmal mit einem langen Seitenblick zu ihr hin, so dass der Wagen an einer Ampel beinahe in die Stoßstange des Vordermanns gekracht wäre. Dein Stolz bringt mich noch um Kopf und Kragen, fluchte er und ließ die Hupe gellen, was er damit meinte, weiß sie bis heute nicht, die Ampel sprang erst eine halbe Minute später auf Grün. Doch sie hat seine Not ernst genommen und ist noch am selben Tag mit ihm nach Fenndorf gegangen.

Wollen wir dein Motorrad holen?, fragt sie Daniel Röcker. In der Werkstatt, zuckt der die Achseln. Da stürmt sie los auf die Straße, bleibt erst wieder vor der Hofeinfahrt in der Kleinen Marienstraße stehen, schaut zurück, schüttelt den Phantomschmerz im Rücken endgültig ab. In Röckers langsam näher kommenden, bernsteinfarbenen, zweifellos schönen Augen sieht sie erst das draufgängerische Blitzen des Erfolgsmalers, dann, als er neben ihr steht, das Misstrauen, die Zweifel, all die Fragen. Ich bin jetzt da, sagt sie mit einem Wink in die Einfahrt, und er: Ich auch.

Vom Kino bis in den Hinterhof, wo zwischen Mülltonnen und unverputzten Garagen der Wareneingang des Modehauses liegt, sind es keine fünfhundert Meter und mit der Wartezeit an der Ampel höchstens fünf Minuten gewesen, und doch zittern auf der Türschwelle ihre Beine, als hätte sie eben nicht nur den Kiez, sondern einen ganzen Kontinent durchquert, zittert und zuckt das so lange gemalte und leidenschaftlich verfolgte Bild vom Wunderleben noch einmal auf und erlischt.

◆◆

Entschlossen kam am Morgen der Herbst ins Dorf und setzte mit seinen Farben die Obstgärten, Friedhofsbuchen und Rabatten in Brand. Bis Mittag noch malte er den Wassergesichtern der Kopfweiden schlampige Laubbärte, doch kaum über den Graben hinweg, verlässt ihn die Lust. Er zündelt ein wenig in der Rosmarinheide, schafft in den welkenden Blüten nur ein gewöhnliches Braun. Hier und da setzt er noch ein paar rote Tupfer, die winzige Moosbeere, eine in Frucht stehende Eberesche, am Rand der ersten Schlenke, hinter dem Feld aus vertrocknetem Adlerfarn, wollen die Sonnentaublätter einfach nicht leuchten. Verdrossen kippt er sein Schlammgemisch über den Schwingrasen aus und eine Menge Schwarz in die Mulden und Spalten. In der Nässe nistet sich die Fäulnis ein, ohne sich des Überfälligen anzunehmen. Die Pflanzen verdämmern in einem Halbschlaf unschlüssiger Vergänglichkeit. Früchte, wenn überhaupt gestreut, verrotten zwischen den Binsen, ohne Samen zu säen, und was doch tiefer in die Erde gelangt, wird von der Torfsäure versteinert. Bei den Gruben sacken die vergessenen Soden in sich zusammen oder dunsen prall vom Regen zu schwarzen Ungetümen auf. Wo zuvor noch das Straußgras in dichten Büscheln stand, strömen jetzt Bäche, steht der Himmel unbewegt in den Pfützen, der Wind treibt ein verlassenes Schwarzkehlchennest vor sich her. Die Spur deiner Flucht verwischt der Morast. Er quillt herauf, schnappt nach allem, was ein wenig Sehnsucht zeigt, zieht es ein Stück in den Grund und lässt es angebissen liegen. Bei Einbruch der Dunkelheit weht aus der Ebene der Geruch unvollkommener Verwesung, und nur wer ihn kennt, weiß, dass ich zischelnd im Wollgras, knackend aus den Gehölzen, gluckernd am Rand der Tümpel und schweigend in ihrer Tiefe an meiner schwierigen und langwierigen Arbeit bin, für deine Zukunft und gegen die Zeit.

Du tauchst auf. Ein letztes Mal zerre ich an dir, lass dich dann frei. Du glaubst dich nackt und in Lebensgefahr, ein weißes Gefühl wie aus dem Traum, aus dem Marga dich am Morgen geweckt hat. Einen Moment lang weißt du nicht, wo du bist. In dem Traum warst du draußen bei mir am Kolk, dort, wo Himmel und Erde sich berühren und das Land in Wasser übergeht, wo beides eins wird und sich erst wieder trennt, wenn du den Horizont überschreitest. Du hast den Himmel unter und das Wasser über dir gesehen, bist geschwommen und gleichzeitig geflogen, mit einem Körper aus Torf. Später, in vielen Jahren, wenn du dir diesen Zustand noch einmal ins Gedächtnis rufen wirst, um ihn in deinem Buch möglichst genau zu beschreiben, wird dort stehen, du bist an diesem Tag das erste Mal gestorben.

Vom Tod sagt man, das ganze Leben zöge noch einmal wie ein Film vor dem inneren Auge vorüber. Das Gehirn beschwört längst vergessene Bilder herauf: Du siehst Tanja am Morgen vor dem Klassenzimmer stehen, eingepackt in ihren gelben Mantel, nur das hagere Gesicht mit den vom Rennen rotfleckigen Wangen spitzt aus der Kapuze hervor. Sie nickt dir zu wie zum Abschied, schlüpft durch die Tür und schließt sie leise, als würde dahinter jemand schlafen, den man nicht wecken darf. Sie hat dabei mit den Augen gelächelt, die dir noch blauer erschienen, kränker als sonst, wie vom Himmel entzündet. Wenn sie dich im Klassenzimmer von hinten mustert, sieht sie, dass dir beim Reihumvorlesen vor Angst das Herz in die Hose rutscht. Und obwohl du den Gürtel enger ziehst, hört sie das Knurren deines leeren Magens, wenn Marga vergessen hat, dir das Pausenbrot zu schmieren. Manchmal liegt beim Stundenwechsel eine halbe Stulle auf deinem Tisch. Doch du kannst dich nie revanchieren, weil Marga, bevor sie morgens die Schnitte in den Beutel packt, eine Ecke abbeißt. Wer nimmt schon im Tausch ein Pausenbrot an, in das die Mutter ihre Signatur hineingebissen hat? Du knabberst dich bis zum Fraßrand vor, den Streifen, wo sich die Zahnreihe abzeichnet, wirfst du in den Müll. Tanja beobachtet dich und grinst.

Sie weiß Bescheid, spätestens seit dem gemeinsamen Ballwegschießen. Beim Kinderspiel auf der Wiese vor dem Graben habt ihr den Bund geschlossen. Du hast gesehen, wie die Schwachen und Lahmen der Länge nach ins Gras stürzten, und gehört, wie sie dabei vor Wut mit den Zähnen knirschten. Auch Tanja war eines von den Kindern, die beim Sportunterricht als letztes in die Mannschaft gewählt werden. Beim Ballwegschießen kam sie nie weit. Ihr Gesicht, erinnerst du dich, war vor Anspannung seltsam verzerrt, wenn der Fänger den Ball am Ausgangspunkt platzierte, einem in den Staub gezeichneten Kreis. Während alle kreischend auseinanderstoben, trippelte sie davon oder zog, erst seit ein paar Tagen wieder ohne Gips, das Bein nach. Jeder wusste, dass Tanja sich im nächsten Gebüsch verstecken würde, niemand hat je dort gesucht.

Auch du, Dion, hattest bereits verloren, wenn das Los, Fänger zu sein, beim Auszählen auf dich fiel. Zwar bist du kein schlechter Läufer, doch zurück am Start, ist dir dann der entscheidende Ruf nicht über die Lippen gekommen, Bannabanna!, der das Spiel beendet. Beim Wettlauf hast du es mehrmals in Gedanken gebrüllt und bist dann, kurz vorm Ziel, doch gegen das B gekracht wie gegen eine Wand. Wenn du dann endlich etwas wie Hannahanna! herausgebracht hast, war der Ball längst weg, oder du bist über den Namen des Gejagten gestolpert, Konsonantenbrocken wie Bannabanna Kai! oder Thorsten! oder Danny!; Daniela, erinnerst du dich, von allen Danny gerufen, war der schlimmste Name von allen. Niemand von den Dorfkindern hat beim Bannabanna-Spiel je gegen die Bloch-Tochter verloren, die damals noch doppelt so dick war; niemand außer dir.

Nur Tanja bereitet dir noch mehr Herzklopfen, nicht nur wegen des Anfangsbuchstabens in Form eines Antoniuskreuzes, Folterpfahl der biblischen Schächer. Du kannst mit Tanja schon allein deshalb nicht gehen, weil du ihren Namen nicht über die Lippen bringen würdest. Nie könntest du sagen: Tanja, ich liebe dich. Hannes, ich liebe dich, das ginge schon eher; dass der Name von Lamberts ältestem Sohn mit dem Buchstaben beginnt, der dir als einziger im Alphabet wohlgesinnt ist, siehst du als Zeichen des Himmels oder Wink einer höheren Macht.

Doch nun hast du, Hohnlachen des Schicksals, ausgerechnet die beiden zusammen gesehen. Sie standen beim Baumstumpf am Teich, vorhin, als du in der Dämmerung nach Hause gekommen bist: sie in der gelben Regenjacke, er noch im Blaumann und mit einer Zigarette, deren Glutspitze im dunklen Gewirr der Binsen Bahnen zog. Du konntest nicht hören, was sie sprachen und ob sie überhaupt etwas sagten. Der Wind in den Erlen und in deinen Ohren das Blut übertönten ihre Stimmen. Du hast dich ins Gestrüpp geduckt und sie widerwillig über das Wasser hinweg beobachtet, ihre mal ineinander, dann wieder zurück in die Dunkelheit tauchenden Silhouetten. Wolltest das nicht sehen, Tanja, die jetzt mit Hannes geht. Hannes, der sie gleich ins Gras legen würde, wie noch vor den Sommerferien Daniela. Deine Augen irrten über den Teich, bis zum abgespaltenen Ast. Im Zwielicht war er nur ein Schemen, der mit dem Wasser verschmolz. Als wäre er endlich eingetaucht. Immer hast du auf diesen Moment gewartet, und stets war dir, als würde auch der Ast darauf harren: auf das Wasser, auf dich, darauf, dich unter Wasser zu drücken.

Von allen Seiten rieselte es aus den Gräben. Du hast dich im Unterholz noch kleiner gemacht und in Gedanken mit dem Ast gesprochen. Dir von ihm gewünscht, dass er Hannes und Tanja auseinanderreißt und dich hinabstößt in den Teich: Den ganzen Tag, hast du dir vorgestellt, hätten die beiden dich im Moor gesucht. Jetzt ziehen sie dich heraus und betten dich ins Moos, deinen Körper in seiner Haut aus Schlamm. Tanja legt dir die Hände unter den Kopf, und Hannes, weil der in der Neunten schon den Erste-Hilfe-Kurs absolviert hat, erst sein Ohr auf deine Brust, dann seinen Mund auf deinen, um dich zu beatmen. Du spuckst Wasser, kommst langsam wieder zu Bewusstsein, blinzelst und siehst Bilder, die du nicht in Zusammenhang bringst: erst Hannes’ fragendes Gesicht, dann das von Tanja, dazwischen einen schmalen Streifen Himmel, von dem gleichen fremdartigen Glanz wie die vier Augen, die auf dich herabblicken. Das Licht darin ist schon ohne Helligkeit, die Nacht hat sich eingenistet, und etwas anderes, noch Dunkleres, das du nicht verstehst. Sie schauen dich an, als wüssten sie mehr als du, hätten in der Zeit, während du ohnmächtig warst, etwas über dich in Erfahrung gebracht, was sie nun gegen dich auftrumpfen lässt.

Hat Hannes ihr von der Sache an der Jauchegrube erzählt? Er war damals plötzlich neben dich getreten, mit der Schaufel in der Hand. Der Augustnachmittag, erinnerst du dich, war gleißend und ganz ohne Wolken gewesen. Auf dem Heimweg hattest du hinter den Ställen das klägliche Geheul gehört, das anders klang als am Schlachttag, dünner, verzagt, nicht von Schweinen, mehr wie von gequälten Kindern, die man anherrscht, in ihrem Schmerz nicht zu weinen. Du bist zwischen den Silos hindurch zum Becken geschlichen. Die vier Kätzchen zappelten in der Jauche, ihre Mutter lief am Rand auf und ab, setzte immer wieder zum Sprung an und schrie. Du wusstest sofort, was geschehen war: Stoppelkatzen nennen sie den zweiten Wurf der abgemagerten Tiere, die keinem gehören und immer weglaufen, wenn man sich ihnen nähert. Nur der Knecht, den sie gewohnt sind, kommt bis auf einen Meter an sie heran. Lamberts Hof ist voll von diesen Reißauskatzen, die zweimal im Jahr in den Ställen jungen. Den Maiwurf lässt der Knecht meistens leben, damit es im Herbst genug Mäusefänger gibt, die Stoppelkatzen aber, die Ende Juli oder Anfang August geboren werden, zur Zeit der abgeernteten Felder, Stoppelfelder, kommen gleich vor die Schippe oder in die Grube, weil sie, wie du den Knecht einmal hast sagen hören, nichts werden. Wenn der Herbst früh hereinbricht, schaffen sie es oft nicht, werden krank, verkriechen sich in die Radkästen der Landmaschinen und machen nur Scherereien. Ende August, zu deinem Geburtstag, sind die Jungtiere schon ein paar Wochen alt. Sie tollen im Dreck hinter den Ställen, tanzen drollig und tapsig um ihr eigenes Grab.

Der Himmel darüber war blank, nichts darin, was du hättest beschreiben können, keine Wolke, kein Zeichen, dein Blick prallte zurück wie von einem Spiegel. Der Schrei ist dir im Hals steckengeblieben. Du hast versucht, die Kätzchen mit dem Brett, das auf dem Abwasser trieb, herauszufischen, doch sie glitschten ab. Eins war schon zu weit draußen, obwohl du dich auf dem schmutzigen Betonrand weit nach vorne gebeugt hast; es plinste ein letztes Mal und ging unter. Die Mutterkatze, die unter einen Tank gehuscht war, kam zurück und sträubte das Fell, angriffsbereit, als hättest du ihr Junges soeben ertränkt. Da standen neben dir plötzlich die Stiefel. Hannes packte dich am Kragen und hievte dich hoch. Du wolltest etwas sagen, irgendetwas zu deiner Rechtfertigung stammeln, doch nicht einmal ein Stottern gelang; da war plötzlich noch ein anderes und neues Gefühl in all dem Chaos, Aufregung oder auch Erregung, fast eine Art Nervenkitzel: Hannes im Overall, mit der Schaufel in der Hand, sein fahlhäutiges Gesicht von der Stallarbeit oder einem plötzlichen Ärger gerötet, die eng beieinanderstehenden Augen wie eine Klammer um dich herum; du mit dem Unterarm voll Schweinekot und einem Schrei in der Kehle, von dem dir aber nur ein h-Hoppla! entfuhr, als er dich wegstieß und du rückwärts gegen den Tank getaumelt bist. Wegen des sanften Anlauts war es das einzige Wort, das dir in deinem Schrecken gelang, hoppla!, wie ein Mädchen, das über seinen Rock stolpert, und die Katzen schrien in Todesangst.

Hannes äffte dich nach, mit weibisch verstellter Stimme. Besser du kapierst es gleich, sagte er und zog den Reißverschluss auf. Du weißt bis heute nicht, was er damit gemeint hatte; es war, zusammen mit dieser Geste, ein Satz, der alles und nichts bedeutete, voller Andeutungen war, die dir das Blut ins Gesicht jagten, doch zugleich kalt und beschämend wie sein Blick, der dich dabei traf und deine Augen niederzwang, erst hin zu den zappelnden Tieren, dann auf das Geschlecht in seiner Hand. Er zielte nach der Mutterkatze, die mit steilem Busch abzog, dann in die Grube. Du wolltest dich wegdrehen, warst jedoch vom Hals abwärts wie gelähmt, der Abscheu zerrte dich in die eine, die Neugierde in die andere Richtung. Der Pinkelstrahl war aus irgendeinem Grund zweigeteilt, eine Hälfte ging nach links, die andere geradeaus, die Kätzchen traf er nicht. Sie sind trotzdem untergegangen, eins nach dem anderen. Da bist du mit geballter Faust auf ihn los, obwohl du wusstest, dass du kaum eine Chance gegen den Sechzehnjährigen haben würdest, der einen Kopf größer ist als du und drahtig von der Hofarbeit. Du hast dich in seinen Latz verkrallt und deinen Kopf gegen seine Brust gerammt, während dir Laute über die Lippen platzten, die nicht viel anders klangen als das Todesgewimmer der Katzen. Er wehrte sich halbherzig, schien kaum Kraft dafür vergeuden zu wollen, spielte nur ein wenig mit dir, was dich noch mehr anstachelte. Du schlugst auf ihn ein, hörtest deine Fausthiebe dumpf auf seinem Brustkorb dröhnen, sein Bauch aber war weich und nahm deine Schläge auf, er machte sich nicht einmal die Mühe, die Muskeln anzuspannen. Der Blaumann roch nach Stall und billigem Deo, als er dich in den Schwitzkasten nahm, der dir zu lasch vorkam, überhaupt der ganze Angriff linkisch und lässig, wie ein kumpelhaftes Umschultern. Es war eher die Wucht deiner Gegenwehr, die dich in die Knie zwang. Irgendwo in deinem Körper knackte es, ein mehr fühl- als hörbares Geräusch aus dem Innern, das die Stille zerriss; auch das letzte Kätzchen war nun weg. Er ließ für einen Augenblick locker und starrte dich an, ein Blick, der, so glaubtest du, dir etwas stecken wollte, was du aber nicht verstandst. Plötzlich das unerträgliche Gefühl von Hitze im Gesicht, als stündest du nah an einem Feuer. Da hatte er auch schon wieder zugepackt. Du spürtest seine Hände an deinem Hals, die ein Würgen mimten, dann zwischen den Knien seinen Stiefel, der dir die Beine wegzog, zuletzt, als du an ihm herunterrutschtest, für den Bruchteil einer Sekunde die Spitze seines Geschlechts, eingequetscht im Reißverschluss.

Draußen in der Ebene hörtest du die Kraniche schnarren. Sie waren dieses Jahr früh aus dem Norden gekommen, früher als sonst, es war noch nicht September. Die Rufe hoben trompetenartig an, kamen näher, wurden lauter, als würden die Vögel dich auslachen, weil du wieder nicht protestiert, deinen Schrei nur abermals hinuntergeschluckt hattest. Als du an Hannes hochblicktest, sahst du den hellen Streifen Haut im Hosenschlitz und weit über seiner jetzt rötlich flackernden Haarmähne das Geschwader, die schwarzen Vogelleiber in einer Zeile hintereinander wie eine rätselhafte Schrift. Du konntest nicht entziffern, was sie dir sagen wollte. Der Himmel war hoch und fast weiß, hoch und weiß vor Leere, eine Blöße, die in deinen Augen schmerzte. Anfang September, wenn der Nebel aufsteigt, ziehen die Flugkeile der Graugänse vorüber, die in ihr Winterlager aufbrechen. Sie schweben als unscharfe Konturen im Dunst, tauchen in eine Lücke Blau und werfen flüchtige Schatten. Ehe du aufgeschaut hast, sind sie schon wieder verschwunden. In diesen Spalten zwischen dem Nebel und einem hohen, wie weltabgewandten, nicht mehr zur Erde, sondern ins All hinausstrahlenden Licht ist kein Sommer mehr und noch nicht Herbst. Es sind die seltenen Augenblicke einer fünften oder noch ferneren, noch fremderen Jahreszeit. Die Graugänse fliegen weg in den Süden, die Kraniche kommen von Skandinavien und rasten auf den Feuchtwiesen. Das Schnattern der Gänse geht in das Schnarren der Kraniche über, fast nahtlos wie der Nebel ins Licht. Anfangs hast du ihre Laute verwechselt, sie klingen ähnlich. Doch die Rufe der Kraniche sind länger und dunkler, nicht so aufgeregt, gezielte, aufeinander abgestimmte Warntöne mit traurigem und abgeklärtem Echo, als wüssten die Vögel Bescheid; im Norden, dort, wo sie herkommen, hatten sie bereits den ersten Frost. Die Graugänse lachen noch, die Kraniche spotten schon. Wenn ihre keilförmigen Schwärme über die Ebene ziehen, ist der Sommer zu Ende, und die Stoppelkatzen sind tot.

Hannes packte sich weg und reichte dir die gleiche Hand zum Aufstehen. Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, sagte er und deutete zwischen den Silos hindurch zum Heidedamm. Einen Moment lang blickte er noch auf die Stelle, wo die Kätzchen versunken waren, als wollte er sich vergewissern. Dann verschwand er im Stall. Die Mutterkatze war zurückgekommen, kauerte mit hängendem Kopf am Rand der Grube und starrte dich an. Ihr Anblick, so verloren, mit diesem ausgezehrten Leib und dem räudigen Fell, aus dem am Bauch die milchprallen schwarzen Zitzen ragten, ließ dich würgen. Du bist hoch aus dem Dreck und nach Hause, noch mit dem Kot an den Schuhen die Treppe hinauf in dein Zimmer aufs Bett, wo du dich tiefer, länger und ungestümer in die Ritze gedrückt hast als jemals zuvor.

Das alles soll nun Hannes Tanja am Teich geflüstert haben? Die geheime Begegnung an der Jauchegrube ausgeplaudert, über die zu schweigen du dir noch am selben Tag geschworen hattest, aus Scham und Furcht vor Hannes’ Rache, sollte jemand im Dorf davon erfahren? Ein Windstoß riss die verholzten Früchte aus den Erlen, der Ast schwankte auf dem Wasser, und du glaubtest, sein Knarren zu hören, als raunte er dir nickend zu: Nun komm endlich!

Hannes und Tanja waren ein wenig näher gekommen, vorgerückt in die schmale Schneise zwischen den Binsen, dort, wo Marga morgens ins Wasser steigt. Hatten sie dich bereits entdeckt? Der Gedanke bereitete dir kaum Schrecken, eher ein Gefühl von Genugtuung und Erleichterung. Doch warst du dir nicht sicher, ob sie dich sahen – du hast ostwärts gesessen, im Schutz der aufsteigenden Dämmerung, sie aber standen gegen Westen, wo der Himmel noch leuchtete. Tatsächlich schaute Tanja jetzt herüber – hättest du in diesem Moment die Augen einer Eule oder Katze gehabt, sicher wäre da ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen gewesen.

Da packte Hannes sie plötzlich am Arm. Oder war es nur ein Schatten, der von den Erlen über sie fiel? Der Wind wühlte in den Zweigen, Blätter trudelten herab. Du fuhrst hoch, als hätte er nicht sie, sondern dich an sich gezogen. Unter deinem Schuh zerbrach ein Holz, verriet den geheimen Bund eurer Blicke. Jetzt schaute auch Hannes herüber. Als du vorsichtig den Fuß hobst, knirschte es wie von Scherben. Da bist du raus aus deinem Versteck und über den Graben hinweg auf die Wiese. Das Letzte, was du vom Heidedamm noch sahst, war das Haus mit dem schwarzen Weidenbaum davor. Drum herum versank das Land bereits im Dunkeln, und als du dich im Hof noch einmal umdrehtest, war auch der Teich schon weg.

Der Film reißt. Ein dumpfes Quietschen, als du dich bewegst, wieso aber, denkst du, quietscht das Moor? Dann riechst du sie: Marga, ihr Badeöl, den kalten Zigarettenrauch in der Luft. In deinen Augen schmerzt grelles Licht, du wischst dir mit der Hand übers Gesicht, spürst die Wärme des Wassers und etwas Knisterndes, das auf der Haut zerflockt, viel zu weich und luftig, als dass es Torf sein könnte, der zwischen deinen Fingern zerkrümelt. Nur langsam schälen sich die Konturen des Badezimmers aus dem Dunst. Der Spiegel ist blind, das Fenster beschlagen, dahinter steht die Nacht. Du bist nicht draußen im kalten Kolk, sondern zu Hause in der Wanne.

Im Untertauchen hast du dir vorgestellt, wie ich dort deinen Körper langsam in die Tiefe ziehe, in Zeitlupentempo, so dass der Film, der sich vor deinen Augen abspult, während du das Bewusstsein verlierst, ebenso lange dauert wie der Sommer einer Libelle im Angesicht ihres Todes. Wenn in diesen Wochen die ausgewachsenen Insekten von den Schlenken in die Gärten zurückkehren, geht ihr Leben zu Ende. Innerhalb weniger Monate sind sie geschlüpft, haben sich gepaart und ihre Eier abgelegt. Ihr kurzer Sommer vollzieht sich in der Einsamkeit der abgelegenen Tümpel, zum Sterben aber suchen sie die Nähe der Menschen. An den Hauswänden, die noch warm von der Sonne sind, versammeln sich die Beutefliegen und letzten Mücken. Die Libellen schlagen sich noch einmal, wie man sagt, den Bauch voll, dann kommt die erste kalte Nacht und rafft sie dahin. Doch weil sich in ihren Augen ein Bild in der Sekunde um ein Vielfaches schneller aufbaut und sie deshalb einen Film wie verlangsamt wahrnehmen würden, zieht ihr Sommer im Moment des Todes noch einmal in Zeitlupe vorüber. In diesem Film hast du unten bei mir im Schlamm gelebt wie eine Larve, die alles noch vor sich hat: die dunkle Zeit im Wasser, die Häutungen, den Moment der Schlupf, das Licht und die Freiheit des Himmels. In deinem Traum vom Libellenleben hast du die Sprache noch einmal neu erlernt, von den ersten Lauten an, in der Stille des Kolks; nicht die Sprache der Menschen, aber die des Insekts, und im Gegensatz zu den Worten hast du deine verschiedenen Stimmen perfekt beherrscht, deine Sinne waren die schärfsten. Mit den Fühlern konntest du jede kleinste Luftbewegung wahrnehmen und durch die Signalfarben deines Leibes mit der Sonne sprechen, ein endloser Dialog. Du hast geredet und geredet …

Wahr aber ist, dass niemand aus deiner Klasse von alldem etwas gehört hat – wie auch? Du hast ja noch vor der Tür kehrtgemacht, bist weg von der drohenden Referatblamage und raus zu mir. Der Lebenszyklus der Libelle verhallte ohne ein einziges Wort in der Weite, blieb dein Geheimnis und unser stummer Pakt. Schon immer ist dir der Lärm der Klassenzimmer und Schulkorridore ein Graus gewesen, aber noch nie hattest du Angst vor meiner Stille. Den halben Sommer hast du in der drückenden Julihitze an den Rändern der Schlenken verhockt und mit der Kladde in der Hand alles aufgeschrieben, was du sahst: Wie die Libellen im Flug ihre Eier ins Wasser fallen lassen, sie in schwimmende Blätter stechen oder selbst für Sekunden untertauchen. Manche Weibchen bilden dabei mit den Männchen noch immer das sogenannte Tandem. Andere Männchen halten Wache und beschützen das Weibchen vor Räubern, auch vor Rivalen, denn obwohl die Partnerin bereits die befruchteten Eier ablegt, so hätte die entsprechende Stelle in deinem Vortrag gelautet, wird sie noch von anderen männlichen Tieren umbalzt und sogar regelrecht vergewaltigt. Die größte Herausforderung für ein Libellenmännchen besteht darin, das Sperma seines Konkurrenten unschädlich zu machen. Libellenweibchen tragen den Samen mehrerer Männer in den sogenannten Samentaschen am Hinterleib. Mit dem Sperma des stärksten Männchens befruchtet das Weibchen ihre Eier dann selbst, sie hat sozusagen Männer auf Vorrat, und mit einem Grinsen hättest du die verblüfften Gesichter endgültig zum Erröten gebracht und hinzugefügt: Bei den Libellen hat die Frau die Qual der Wahl.

Während du die Insekten bei der Paarung beobachtest hast, ist dir vieles über dich und Marga klargeworden: In der Sprache der Menschen, so hast du deine Gedanken ins Heft notiert, sind Libellenweibchen so etwas wie Schlampen. Sie treiben es einen Sommer lang wild, aber nur der beste Liebhaber darf der Vater ihrer Kinder sein, ein Auswahlverfahren, das sie im Lauf der Zeit zu den widerstandsfähigsten Insekten werden ließ. In einem deiner Libellenfachbücher fandest du für deine These den wissenschaftlichen Beleg: Libellen, stand dort, stellten genaugenommen das perfekte Insekt dar, indem sie zwei Lebensräume gleichzeitig beherrschen, das Wasser und die Luft. Durch ihre extreme Anpassungsfähigkeit seien sie anderen Insekten überlegen, die manchmal nur auf eine ganz bestimmte Pflanze als Lebensraum angewiesen sind. Zwar gelte ihr Flugapparat als veraltet, weil die Libelle im Gegensatz zu den meisten anderen Insekten ihre Flügel nicht einklappen und an den Hinterleib legen kann. Dennoch habe der Mensch den Hubschrauber nach ihrem Vorbild entwickelt, und in den akrobatischen Schrauben und Pirouetten ihrer Beuteflüge sahst du während deines Lauerns am Ufer der Tümpel für diese Behauptung wiederum den lebendigen Beweis: Wie der Hubschrauber kann die Libelle im Flug an einer Stelle verharren, abrupt die Richtung ändern und rückwärts fliegen. Den Hubschrauber, so hast du es später für das Referat ausformuliert, gibt es erst seit ungefähr vierzig Jahren, die Urform der Libelle schon seit dreihundert Millionen, Fazit: Zuerst war die Libelle auf der Welt, dann kam die Stubenfliege und als Letztes der Hubschrauber, und du hättest diesen Gedanken vor der Klasse, wo mittlerweile keiner mehr gelangweilt Papierkügelchen schießt, noch weiter ausgeführt: Die Natur habe sich von der Libelle über die Stubenfliege zum Hubschrauber wieder langsam zurückentwickelt, also entgegen der allgemeinen Auffassung nicht mit dem Menschen ihr vorerst komplexestes Geschöpf geschaffen. Die Natur, so dein Skript weiter, kennt keinen Plan, sie strebt nicht nach dem Besten und Höchsten, und du hättest ein Beispiel aus dem Konfirmandenunterricht gegeben, wo Pfarrer Deichsen behauptet hatte, Gott habe Adam nach seinem Bild geschaffen und Eva aus dessen Rippe. Wer folglich Deichsen glaubt, so deine Schlussfolgerung, und die Sache mit der Liebe machen will, steht vor einem Problem: Er müsste sich oder seiner Eva dafür die Knochen brechen, wahrlich keine hochentwickelte Art der Fortpflanzung.

An dieser Stelle hast du den Absatz wieder gestrichen, die Theorie schien dir zu gewagt, außerdem führten deine Ausführungen weg vom Thema. Die Libelle jedenfalls, hättest du den Faden wieder aufgegriffen, habe schon immer ihre Eier ins Wasser gelegt. Wenn sie nicht irgendwann als Fossil einer ausgestorbenen Art im Naturkundemuseum enden wolle, müsse sie ihr Überleben sichern, indem das Weibchen den Samen sammelt. Die beste Libellenmutter sei eine, die viele Männer hat, und wieder hätte da dieses Grinsen in deinen Mundwinkeln gezuckt, während du den Satz sprichst, über den alle noch lange nachgrübeln würden: Nur eine Rabenmutter, sagst du in Tanjas Richtung, nimmt den erstbesten Kerl.

Tatsache aber ist, dass Tanja schon vor der Klassenzimmertür gewusst hat, dass du keinen dieser Sätze zustande bringen würdest. Niemand von deinen Mitschülern sollte an diesem Morgen etwas über die Libellenliebe erfahren, die das unausgesprochene Geheimnis zwischen dir und Tanja bleiben würde, das nämlich glaubtest du in ihrem Blick zu lesen, bevor sie die Tür zuzog, sanft, aber bestimmt, als wollte sie sich für immer dort im Lärm der tobenden Schüler einschließen, oder dich hinaus in die Stille des Moors. Wahr ist auch, dass dich, Dion, eine verantwortungsvolle Libellenfrau im harten Überlebenskampf der Natur niemals unter ihren Liebhabern auswählen würde. An deinem Samen würde sie sofort erkennen, dass du ein Stotterer bist und die Gefahr besteht, die Behinderung an ihre Nachkommen weiterzugeben. Wie du weißt, verständigen sich Libellen in der Welt unter anderem über die Farbsignale ihres Körpers, die sie bei der Balz einsetzen oder zur Abwehr von Feinden. Ein stotterndes Libellenkind wäre in der Natur farblos, jede andere Libelle würde es übersehen. Es fände keinen Geschlechtspartner und würde bald gefressen werden. Die Stotterlibelle könnte sich höchstens mit einer anderen Krüppellibelle paaren, beispielsweise mit einer, die wie deine Freundin Tanja an der Glasknochenkrankheit leidet, so dass ihr Panzer nicht wie bei den anderen aus Chitin, sondern aus Papier oder etwas Papierartigem besteht, das im Flug zerreißt. Eine Stotterlibelle und eine Glasknochenlibelle würden Kinder zeugen, denen ich auf schnellstem Weg den Garaus mache, denn hier draußen herrscht das Gesetz des Stärkeren.

Du kannst Tanja schon allein deshalb nicht sagen, dass du sie liebst, weil ein stotterndes Glasknochenkind dabei herauskäme, ein Mensch, zerbrochen an seiner Sprache und langsam zerbrechend im eigenen Körper, stumm als Kind und im Rollstuhl, sobald es herangewachsen ist. Wer will so etwas haben? Beim Ballwegschießen hätte dieses Kind keine Chance, es würde einfach überhört, überrannt oder weggeschickt, wie damals Jakob Wendisch, ein, wie man sagt, Mongoloider, der jetzt im Behindertenheim untergebracht ist, worüber alle froh sind, vor allem die Dorfkinder, denen er stets das Bannabanna-Spiel kaputtgemacht hat.

Erinnerst du dich? Die anderen, Gesunden, sind irgendwann genervt abgezogen und haben drüben im Garten der Familie Voss weitergespielt, wo es statt dürrer Moorgestrüppe fette Koniferen zum Verstecken gab. Doch Jakob Wendisch ließ sich nicht einfach so abspeisen; zwar war er begriffsstutzig, aber zäh und nach fünf Minuten wieder zurück am Ball. Beim Sprechen, wenn man sein Gelalle so nennen kann, schnitt er noch grässlichere Grimassen als du, und er roch stets, obwohl schon vierzehn, ein wenig nach Pisse. Auch seine Brüder, die Zwillinge aus deiner Klasse, müffeln und sehen mit ihren Kartoffelköpfen nicht aus, als hätte ihre Mutter den besten Samen für ihre Brut gesammelt, und dann gleich zwei davon. Auch sie hat den erstbesten Mann genommen, der ihr untergekommen ist, und das war, wie alle im Dorf wissen, ihr Halbbruder. Es müsste also dringend geklärt werden, wer im Dorf nun die Schlampe ist, deine Mutter oder Brigitte Wendisch.

In deinem Vortrag hättest du mir an dieser Stelle widersprochen: Die Natur, so wärst du für Marga in die Bresche gesprungen, kennt solche Worte nicht, und auch Krüppel dürfen es da miteinander tun und tun es. Das Moor, so hättest du mich verbessert, spreche eine einfachere und dabei um so vieles reichere Sprache als die Menschen an seinen Rändern, wo man einer Frau, die unter vielen Männern den besten Vater für ihre Kinder wählt, übel nachredet. Dein Vater sei ihr, Marga, eben nicht gut genug gewesen. Sie habe es da ganz mit den Libellen gehalten: ihm den Samen abgeluchst, ihn bei deiner Geburt Wache schieben lassen und dann weggeschickt. Nach der gemeinsamen Eiablage nämlich kehren die Libellenmännchen zur Tagesordnung zurück, in die Haine und Gärten, wo sie auf Beuteflug gehen, und du hättest noch weitere Beispiele für die Besonderheit der Libellenliebe gegeben, die – im Gegensatz zum Paarverhalten anderer Tiere wie der Kraniche oder Graugänse – zwar keine Treue kenne, aber dennoch von großer Hingabe sei: wie ein Libellenmännchen seiner erschöpften Geliebten an Land hilft, wenn sie nach der Eiablage aus dem Wasser auftaucht; bei anderen Arten, der Binsenjungfer, taucht das Paar sogar gemeinsam unter. Was dann passiert, hast du nie beobachten können; die Schlenken sind dunkel und mit dem öligen Film aus Staub und Gräsersamen auf der Oberfläche oft blind, selbst bei Sonnenschein dringt dein Blick kaum eine Handbreit in die Tiefe. Von einem Moment auf den anderen verwandeln sich die Flugakrobaten wieder zu Schwimmtieren. Eben noch zackten sie durch die Luft und präsentierten ihre schönen, schillernden Leiber der Sonne, dann holen sie Luft, und obwohl sie zu zweit sind und dicht beieinander, ja vielleicht einander sogar noch umklammern, fühlen sie sich einen Moment lang hilflos und nackt, der Tiefe des Wassers und ihren Gefahren ausgeliefert: Schlangen, Moorfröschen und den Mäulern gefräßiger Larven, die bereit sind, ihre eigenen Verwandten zu verschlingen, um in der kargen Welt des Torfes zu überleben. Wenn die Libellen als Liebespaar aus dem Himmel ins Wasser stürzen, so lautete der letzte Satz im Kapitel über die Fortpflanzung, sind sie für einen Moment mutterseelenallein.

Um sicherzugehen, dass dieses Gefühlswort in den wissenschaftlichen Zusammenhang deines Referats passt, hast du es nachgeschlagen. Du wolltest wissen, was das Alleinsein mit der Seele der Mutter zu tun hat. Das Wörterbuch erklärt dazu, dass der Begriff mutterseelenallein von menschenseelenallein abgeleitet ist und das Adjektiv emotional verstärkt. Ein von der Mutterseele verlassenes Wesen, so hast du es gedeutet, ist ein von allen Menschenseelen oder der Seele überhaupt verlassenes, nicht nur einsames, sondern zur Ausgeschlossenheit geradezu verdammtes, ohne Halt und Heimat, sprach-, also seelenlos, voll stummer Wut und doch randvoll mit Worten, die es schreien möchte, so, wie du hättest schreien können, aber nur tief durchgeatmet hast, als du vorhin auf dem Nachhauseweg mit einem Würgen in der Kehle hast erkennen müssen, dass Tanja sich für die Liebe Hannes ausgesucht hatte, den Mann im Dorf, der nicht nur als Erster ihren Weg gekreuzt hat, sondern von allen, die da noch über den Heidedamm kommen könnten, in deinen Augen auch der Beste ist.

Selbst schuld, Dion. Wärst du nur nicht zurück nach Hause gekommen, sondern draußen bei mir geblieben. Du hättest nichts davon gesehen, und das ganze Dorf würde dich nun suchen: Sie durchkämmen die Gagelhaine und Faulbaumbrüche, stochern mit ihren Schaufeln im Stich und hetzen ihre Hunde auf eine Fußspur, die ins Wasser führt und nicht mehr heraus. Deine Mutter steht Abend für Abend am Teich und hält Ausschau nach den Männern, die bei Anbruch der Dämmerung aus der Ebene zurückkehren, mit leeren Händen und Schippen, von denen der Dreck tropft. Sie biegen ab Richtung Dorf und zucken nur müde die Schultern, als wollten sie sagen: Morgen ist auch noch ein Tag. Im Dorfkrug aber, wo sie sich später versammeln, beim zweiten oder dritten Bier, sagt einer: Den hat’s erwischt, und der zweite: Wer so weit rausgeht, ist mall. Gorbach, der Deutschlehrer, der auch Teil des Suchtrupps ist, schüttelt über dem vollen Glas den Kopf und seufzt: Wenn ich gewusst hätte, dass der Junge Ernst macht mit dem, was er schreibt. Und was sagen wir der Mutter?, ruft einer von den Tischen. Wir jagen sie auch ins Moor, knurrt Karl Lambert, dann hab ich endlich das Haus wieder.

Sein Sohn Hannes hat sich indes unbemerkt vom Kickertisch davongeschlichen. Er schlendert die Dorfstraße hinunter, biegt auf den Heidedamm ab und taucht ein in die Dämmerung, wo Marga noch immer am Teich steht, zum letzten Lichtstreif am Horizont blickt und als Schatten in all dem Schwarz, das von den Gräben heraufzieht, kaum mehr zu erkennen ist. Ich weiß, wo er ist, sagt Hannes, doch könnte es auch nur der Wind sein, der in den hohlen Stämmen der Erlen summt. Tanja hat es ihm verraten, zischt es aus dem Schilf. Irgendwo gluckst ein Rinnsal, vom Regen gespeist. Dann ist es lange still. Ich weiß es auch, flüstert Marga und schaut Hannes durch die Finsternis an. Der blickt sich um, suchend, weil plötzlich niemand mehr dort steht, und statt der Worte hat er nur ein winziges Geräusch auf dem Wasser gehört, von einer Blase, die aufsteigt, an der Stelle, wo vor langer, langer Zeit ein Junge ertrunken ist …

Du stemmst dich aus der Wanne, greifst nach dem Shampoo und schäumst dich ein, erst Kopf, Hals und Brust, dann gleiten die Hände auf dem glitschigen Hautfilm nach unten. Wenn du dich in die Bettritze drückst, durchkribbelt es dich ähnlich: Du spürst dich anwachsen, während du das Becken in den Spalt stößt und wieder innehältst, im Takt des Sekundenzeigers auf der Libellenuhr, wo Augenblicke sich zu Minuten dehnen, bis es dich heiß durchrieselt, ein Gefühl, das über den nächsten Strich auf dem Zifferblatt hinweg andauert, eine kleine fünfstrichige Ewigkeit lang, bis irgendein Geräusch im Haus oder ein Luftzug vom Fenster den Zeiger weitertreibt. Du liegst und lauschst dem Kratzen eines Zweigs an der Hauswand, dem leisen Ticken der Uhr, Margas Geplätscher in der Wanne, in deinem Körper jetzt nichts mehr als Leere und Stille. Das Bett hat längst vergessen, was es sah, es endet dort, wo du ein letztes Mal aufzuckst, und die Wand fängt erst jenseits an und ist sowieso alt und taub. Doch du ahnst, dass die Ritze voll von dem Geriesel sein muss, das dich durchfiebert hat, erst die Bauchhöhle, dann, nach einem langen Stau, der dir die Luft abdrückte, unten raus und weg. Wenn du aber in den Spalt äugst, siehst du nichts als die schmutzigen Buckel der Raufasertapete, eine verdorrte Spinne auf der Bettkante, Staubflocken, dahinter nur Dunkles und Vages. Auch im Bettkasten keine Spur davon, selbst wenn du ihn ganz herausziehst. Es muss sich auflösen, in dieser leeren Stille, in die du danach rutschst, der Schlaf kommt, saugt es auf und spuckt es ins Moor.

Nach der Sache mit Hannes an der Jauchegrube, erinnerst du dich, hast du dich gleich zweimal in die Ritze entleert, kurz hintereinander. Eine ganze Menge musste da hinab sein. Dann bist du wohl eingeschlafen; ein Kitzeln am Hintern ließ dich hochschrecken. Zuerst dachtest du, es wäre eine Mücke, die, herbeigelockt von der Wärme deines Körpers, die weichste Hautstelle für ihren Stich suchte; du wolltest schon um dich schlagen, als du auf der Bettkante Marga sitzen sahst. Sie war mit dem Gesicht dicht herangekommen und musterte dich grinsend, als hätte sie etwas an dir entdeckt, was sie belustigte, und erst am Ende dieses langen und ein wenig spöttischen Blicks hast du begriffen, dass es ihre Hand war, die auf deinem Po lag. Da bist du weggezuckt, wie früher als Kind, wenn sie mit dem Fiebermesser gekommen ist und du zusammengekniffen und dich unter ihr herausgewunden hast, tiefer hinein in das grippeheiße Bettzeug. Doch wieder, wie schon zuvor im Schwitzkasten von Hannes, war da noch eine andere Kraft, die dagegenhielt und die Bewegung lähmte, als impfte sie dich mit einem betäubenden Gift. Starr lagst du in der Berührung, spürtest die Gänsehaut deinen Rücken heraufwandern, aus der Tiefe der Bettritze, die du, so schläfrig und längst erschlafft, nicht mehr ausfülltest, ein stummes, wissendes Geäuge, und über deinem halbnackten, ein wenig verschwitzten Körper plötzlich ihr leises und kühles Lachen, das auf dich herabschnarrte, dunkel und überlegen, wie ein Kranichruf. Du hast den Atem angehalten und wie früher ins Kopfkissen gebissen – in Wahrheit hattest du den Fiebermesser in dir drin kaum je gespürt, dennoch war es immer, sobald er eindrang, eiskalt in deinem Unterleib geworden, als hätte sie dich mit ihrer Hand schockgefroren. Noch heute ist dieses Frostgefühl das scheußlichste, das du aus deiner Kindheit erinnerst, ein schwarzes Gefühl, das dich auch beim Klogeschäft fest im Griff hatte.

Peinlich genug, dass Marga deshalb das Badezimmer nicht verlassen durfte. Während du dich an die Klobrille klammertest, saß sie auf dem Rand der Wanne, feilte ihre Nägel, blätterte in einem Modejournal oder schaute dich einfach nur abwesend an, was dir unangenehm war, denn sie sollte zwar Wache halten, aber nicht glotzen. Du hättest sie am liebsten rausgeschickt, doch die Angst vor dem Sturz ins Kloloch hielt dagegen. Wie da die Kälte vom Wasser heraufstieg, nicht wirklich, aber in deiner Vorstellung dich befingerte, eine unsichtbare Hand aus dem Abfluss.

Oft hast du dabei den Verlauf des Rohres in Gedanken nachgezeichnet: Nachdem es den bodenlosen Schacht unterhalb der Bettritze, also heute auch den nicht selten zweimal täglich herabrutschenden weißen Glibber, in sich aufnimmt, führt es unterm Heidedamm hindurch, bei dem von Brennnesseln überwachsenen Kanaldeckel, bis es am Feld ins Freie tritt. Getarnt unter Gestrüpp stößt es aus der Erde und mündet in einen breiten Drän, der von Büschen gesäumt die Viehweiden durchkreuzt und das Ablaufwasser aus den Torfstichen zur Jumme leitet. Der Anblick der Tunnellöcher, aus denen unter den Flurwegen und Treckerrampen hindurch der schwarze Bach lautlos und ein wenig grimmig, wie dir stets schien, in die Ackerspalte strömt, erfüllte dich schon damals mit Grausen. Zahnlosen Mäulern gleich, gähnten sie in den Böschungen und spuckten die Reste deiner Verdauung zwischen das Kraut, das sich dort labt, an dem Schaum, der sich zu Schwämmen staut, geschwürartigen Gebilden, aus denen der Wind gelbliche Flocken reißt.

Sosehr dich das Geröhr und die aus ihm heraussickernde Brühe als Kind auch schreckten, immer wieder lockte es dich dorthin; mit einer Hand in das biegsame Gehölz eines Weidenbusches gekrallt, hast du über der Böschung gebannt in den Schlund gestarrt, der aus dem blauen Sommertag hinein in die Tiefe des Torfes führte. Beim Klogeschäft erschien dir das Rohrmaul drohend auf der leeren Fläche der Bodenkacheln. Der Gedanke, du könntest hineinrutschen, hinabgestrudelt vom Wasserschwall aus dem Spülkasten, hat dir das Kacken stets zum Alptraum gemacht. Selbst wenn nichts zu erledigen war, hast du manchmal den Deckel hochgeklappt und in die Schüssel geblickt, in der ein aufgeweichtes Taschentuch oder ein ausgebürsteter Haarplacken aus Margas Blondmähne schwamm. Immer wieder hast du den Spülknopf gedrückt, alles Wasser gurgelte weg und stand am Ende doch wieder im Loch, still, trüb und trügerisch wie im Drängraben, vor dem alle Kinder im Dorf Angst haben, denn dahinter lauere ich.

Nicht mir aber galt damals deine Furcht; schon als kleinen Jungen konnte ich dich als Kenner meiner Tücken und Täuschungen mit Erlengeistern und Gruselgeschichten vom Versinken und Ertrinken kaum mehr bluffen. Das Trauma vom Rohr muss im Kindergarten seinen Anfang genommen haben. Du erinnerst dich, wie David Voss, der schon damals von allen Dorfkindern das hinterhältigste war, dein Lieblingsspielzeug ins Klo geworfen hat, einen weißen Fisch aus Plüsch. Aus der Rollenspielgruppe schon nach den ersten gescheiterten Sprechversuchen von den anderen weggebissen, hattest du das stumme Tier stundenlang über das blaue Linoleum mit den Rillen oder Wellen gezogen, wobei du dir vorstelltest, im Kindergartenzimmer stünde das Wasser bis zu den Stuhllehnen. Die Kleinkinder, die noch am Boden krochen, waren die Libellenlarven, die schon etwas größeren die Fische, die Jagd auf die Wasserinsekten machten. Oder hast du dieses Bild in deiner Erinnerung erst später hinzugefügt? Von den Libellen wusstest du damals noch nicht viel.

Doch an die Kriegserklärung von David Voss erinnerst du dich genau: Der Fisch müsse jetzt wie du nach Hause gehen, hatte er erklärt und den Spülknopf gedrückt. Du sahst das Wasser wirbeln und das Stofftier noch einmal heraufschnappen, dann war beides weg. Der Abfluss schmatzte, oder war es hinter dir Thorsten Hinrich, schon damals Davids Handlanger und Scherge, fett, schwitzig und übel furzend wie heute, nur kleiner. Du bist dann wieder zu den anderen und hast im Kaufladen die Rolle des Regaleinräumers gekriegt, der nicht viel sagen und kaum etwas tun musste, so dass dein Blick zum Fenster wanderte, von einem unsichtbaren Winken vielmehr hinausgelockt wurde, zu den Rohrmäulern unter den Sträuchern, die den weißen Fisch irgendwann in den Graben und zurück in die Freiheit spucken würden.

Deine erste Begegnung mit mir hattest du auf dem Kindergartenklo, die vorerst letzte heute Nachmittag am großen Kolk, jenseits des Horizonts, wie du gehofft hattest, hinter der letzten sichtbaren Linie des Landes, die aber nur eine Nebelbank vor der nächsten Wolkenwand war, mit mir, dem Moor, als Grenze dazwischen. Die Schlenke, in die du dich todesmutig gelegt hattest, ließ dich einfach nicht versinken, denn nur in den Geschichten fresse ich die fehlgegangenen Kinder, ein schnell vergessener Irrtum, wie sich Kinder eben geirrt haben, wenn sie beginnen, die Märchen der Erwachsenen zu hinterfragen; ein enttäuschter Blick, ein kurzes Bedauern, dann weiter hinaus in die Welt. Die gesamte Scheiße von Fenndorf nämlich, auch deine, Dion, kommt in die Gemeinschaftskläranlage nach Zeeve, die Abwasserbehörde macht da zwischen dir und den anderen keinen Unterschied.

Trotzdem saß deine Mutter bis zum Ende der dritten Klasse auf dem Badewannenrand, reparierte ihre Fingernägel, suchte neue Schnittmuster im Katalog aus oder starrte mittenhinein in die Geheimnisse deines Körpers. Sie hat dann auch das Saubermachen erledigt. Wenn sie von unten mit dem Klopapier kam, war da oben diese Hitze und abwärts des Bauches das Frostgefühl, wie damals beim Fiebermessen. Und wie beim Fiebermessen bist du an jenem Abend nach der Sache mit Hannes, von der du ihr niemals erzählen wolltest, erstarrt und gleichzeitig hineingesunken in ihre Hand, als sie deinen Hintern zu streicheln begann, erst über das Kreuz, dann tiefer, als wollte sie dort die Temperatur messen oder sich vergewissern, ob du schon sauber bist.

Mach den Dreck weg und komm essen, sagte sie und stand auf, und du wusstest nicht, welchen sie nun gemeint hatte, den Kot von deinen Schuhen auf den Treppenstufen oder das Geriesel in der Ritze. Kaum war sie weg, hast du das Bett von der Wand abgerückt. Noch mehr verdorrte Spinnen kamen zum Vorschein, ein verstaubter Bleistift, dein schon lange vermisster Schlüsselanhänger und an der Wand gelbliche Spuren, verblasst und kaum mehr sichtbar, als wäre vor langer Zeit Moorwasser über die Tapete gelaufen. Obwohl du noch oft am Drän gestanden und in den schäumenden Schlund gestarrt hast, ist der weiße Fisch nie wieder aufgetaucht, weder aus dem Rohrloch noch vom Grund deines Bettes.

Du fasst dich an und biegst deinen Steifen aus dem Wasser. Mit dem Lineal, das du fast täglich ansetzt, misst du dreizehn Zentimeter, dreizehneinhalb, wenn du die Null in die Haut bohrst, bis es schmerzt. David Voss trumpft mit siebzehn auf, doch als du ihm am Pissoir über die Schulter geschielt hast, war da nur der gelbe Strahl zwischen den Fingern, sonst nichts. Auch bei den anderen Jungs aus deiner Klasse siehst du links und rechts an der Pinkelrinne nur Mickriges und Kleinstes. Vielleicht wirst du bald das Bett ein Stück von der Wand abrücken müssen, um mehr Platz zu haben. Marga, das hast du dir geschworen, darf nichts davon erfahren, weder vom Lineal noch von der Spalte, in der es zusammen mit deiner Schreibkladde steckt. Dass sie am Morgen Größe und Aussehen deines Geschlechts mit einer Larve verglichen hat, empfindest du zum einen als Beleidigung, zum anderen scheint es dir in biologischer Hinsicht falsch. Erstens, so hättest du ihr widersprechen müssen, ist der Mensch als Embryo vielleicht eine Art Wurm, aber niemals eine Larve. Ein Kind häutet sich nicht, seine Haut wächst im Gegenteil mit den Knochen und Organen langsam aus und beginnt im Erwachsensein allmählich wieder zu zerfallen. Die Libelle aber, einmal Imago, bleibt, was sie ist, bis zum Ende. Du sammelst die Exuvien schon seit vielen Jahren, und zweitens misst selbst die längste Larvenhülle in deiner Sammlung kaum fünf Zentimeter. Höchstens sieben Striche auf dem Lineal erreicht der Körper einer ausgewachsenen Torf-Mosaikjungfer, der größten Libelle, die in dieser Gegend vorkommt. Auf dem Porträtbild aber, für das du in den letzten Tagen hast posieren müssen, hat sie dir das Schwänzchen einer Binsenjungfer oder Federlibelle verpasst, die es beide kaum über die vier schaffen, und du zerrst dich hoch und beugst den Rumpf gleichzeitig nach vorn, über die Grenzen deiner Gelenkigkeit hinaus, bis dein Körper eine Art Rad bildet und du mit der Zungenspitze die Eichel berühren kannst.

Aber leider nur fast. Pech gehabt, Dion, vielleicht bist du dafür nicht Krüppel genug. Jakob Wendisch schafft das mit links. Am Badeflecken an der Jumme ist der Mongoloide, zack!, in die Klappmesserstellung, Schultern zum Becken, und mit dem Mund runter auf seinen Schwanz, von der Truppe um David Voss erst gekitzelt, dann getreten. An einem der letzten heißen Sommerferientage bevor Jakob wieder zurück ins Heim musste, hat Voss ihm beim Herumspritzen im Wasser die Badehose geklaut. Dass der Behinderte, obwohl mit seinen mittlerweile sechzehn Jahren hochaufgeschossen und von breiter Statur, diese Art Gummikörper hat, der jedem Druck nachgibt, wusstest du noch von den Kinderspielen auf der Wiese, wenn du Jakob beim Wettlauf aus der Bahn gestoßen oder ihm ein Bein gestellt hast, um nicht auch noch gegen den Dorfidioten zu verlieren. Zwar warst du Jakob, der, statt zu sprinten, sich ruckartig vorwärtsschleuderte, viele Meter voraus, doch zurück am Ball, wurde dir der Anfangsbuchstabe seines Namens, das freundlich und wohlwollend, sozusagen jovial daherkommende J, mit seinem unscheinbaren Widerhaken zum Joch um dein krampfendes Kinn. Dennoch hast du die Tortur an der Jumme als ungerecht und gemein empfunden, denn wie damals, als Jakob über dein Schienbein hinweg und ohne sich mit den Händen abzufangen ins Gras plumpste, hat er sich auch dieses Mal gegen seine Peiniger nicht gewehrt.

Du hast trotzdem gelacht, aus Angst, du könntest als Nächster an der Reihe sein. Sie boxten ihn ins Wasser und traktierten ihn mit Kniffen und Püffen, Berührungen, die Jakob schon immer zum Grinsen und Glucksen gebracht hatten, egal, ob man ihn koste oder quälte. Auch das Zwicken und Zerren an seiner Badehose muss ihm gefallen haben; als David Voss endlich die Trophäe in der Hand schwang, ragte es an Jakob unglückselig groß und gesund empor. Ob er sich selbst blasen könne?, rief David, packte ihn am Schopf und zwang sein Gesicht nach unten, auf das Hochaufgereckte und noch darüber hinaus zu den Knien immer runter in den Fluss, bis der ihm in den Mund schwappte und zur Nase wieder herauslief, erst das trübe Jummewasser, dann helles Blut. Jakob ist dann so, steil und blutend, über den Sandstrand weg ins Gestrüpp. Es war das erste Mal, dass du ihn nicht wie sonst hast gurren und kichern hören; plötzlich irgendwie gedrungen und mit einem Laut wie von einem waidwunden Tier tauchte er ab in die Binsen. Debile, protzte David Voss in die Runde, hätten immer die größten und könnten nichts damit anfangen. Er beulte seinen Schädel in Jakobs Badehose und machte auf Mongo, doch niemand lachte jetzt mehr.

Während Daniela Bloch, die Krämertochter und Tanjas Banknachbarin, in das Gekreisch über dem Wasser mit eingestimmt hatte, als die Mädchen an Jakob Wendisch sahen, worüber sie bisher nur getuschelt hatten, saß Tanja still im Schatten eines Baumes. Sie hatte, erinnerst du dich, unter dem kurzen Rock keinen Slip getragen oder den Slip ausgezogen, als sie einmal vorsichtig bis zu den Oberschenkeln ins Wasser gewatet war, als wollte sie wenigstens auf diese Art am Sommerspaß der anderen teilhaben. Da hast du gesehen, dass Tanja Deichsen trotz ihrer Zartheit und Kleinwüchsigkeit längst kein Mädchen mehr ist, sondern eine junge, heranreifende Frau, wie alle anderen voller Phantasien und Begierden, mit dem einen Unterschied, dass das Abenteuer der Jugend möglicherweise ungelebt an ihr vorüberziehen, also keiner der kraftmeiernden Klassenkameraden die Sache mit ihr machen würde, um die ihre Freundin Danny mit verrutschtem Bikini und arschknappem Höschen buhlte, und sie, Tanja, an diesem heißen Augustnachmittag, den auch du statt im Tumult lieber lesend abseits im Schatten verbracht hast, vielleicht deshalb die Beine noch ein wenig mehr öffnete, als sie deinen Blick spürte, sich dann aber plötzlich wegdrehte, weil im selben Moment das Mofa knallte.

Die Mädchen verstummten, auch die Köpfe der Jungs klappten herum. Alle schauten zu der Staubwolke, die über dem Schilf aufstieg. Hannes schlingerte mit nacktem Oberkörper die Maschine über die Sandbank, im Schlepptau den Bollerwagen mit einer Kiste Bier und ein halbes Dutzend Fahrräder, die der Pulk auf den Kies scheppern ließ. Er bockte das Gefährt auf und schaute herüber, erklärte mit einem einzigen Blick das Territorium zu seinem Besitz. Tanja strich ihren Rock glatt und beugte sich flüsternd zu Daniela, die sich wieder neben sie gesetzt hatte und nun schrill auflachte. Die Clique breitete sich lärmend aus. Der Sonnenball stand schon tief, knapp über den wippenden Spitzen der Rohrkolben. Sämiges Licht zerfloss auf dem Fluss, wo sich Mückenschwärme zu Wolken ballten. Drüben im Dorf läutete die Kirchturmuhr die volle Stunde ein, vier kaum zusammenhängende Schläge, die hohl und verloren klangen, wie vom Ende der Welt. Hannes hievte den Bierkasten ins Wasser. Seine blonden Haare gleißten im Sonnenlicht, der Rotstich flackerte darin wie winzige Flämmchen. Auf Wangen und Schultern waren die Sommersprossen eingeschossen, verliehen seiner geröteten Haut etwas Schmutziges oder Krustiges, als hätte sich der Staub der Felder darauf abgelegt. Die Mädchen kicherten, als er ins Gesicht und auf die Oberarme Wasser spritzte, das in kleinen Rinnsalen an seinen Flanken herab in die Jeans sickerte und helle Spuren auf der Haut hinterließ. Ein paar der Jungs tauchten weg, nur David Voss pflügte durch den Fluss auf Hannes zu, spuckte aus und sagte: Ich will auch ein Bier. Der zog eine Flasche aus der Kiste und warf sie aufs Wasser hinaus. Bevor sie versank, blitzte das Glas im Gegenlicht auf.

Tanja packte ihre Sachen in die Tasche, der Rest zog die Handtücher, Kassettenrekorder und Fresstüten ein Stück das Ufer hinauf. Hannes knackte die Kronkorken mit einem Feuerzeug und verteilte die Flaschen an seine Kumpels. Als Tanja mit einer Hand am Baum umständlich aufstand und ihren Rucksack schulterte, stellte er sich ihr in den Weg, reichte ihr ein Bier und sagte: Ist doch erst sieben. Die Sonne glitt hinter eine Wand aus Schlierwolken, die sich plötzlich am Horizont türmte. Der Himmel wurde weiß, Tanjas Gesicht bronzefarben, ihre Augen gefährlich blau, wie von Kupfersulfat. Sie schaute kurz zu dir herüber, als suchte sie deine Zustimmung, dann nahm sie die Flasche und setzte sich in den Sand, und bevor sie dir den Rücken zuwandte, war dir, als gäbe es im Dreieck der Blicke einen Moment lang nur Tanja, Hannes und dich auf der Welt.

Das Wasser kräuselte sich im Wind, die Binsen wogten, keckernd flog eine Ente auf, und du hast plötzlich zu frieren begonnen, das T-Shirt übergestreift und dich in dein Buch vertieft. Voss drehte den Rekorder auf volle Lautstärke, die Oberklässler spotteten über die Schlagermusik. Aus den Augenwinkeln sahst du, wie Tanja einen zaghaften Schluck aus der Bierflasche nahm, während in der Runde die Feuerzeuge klickten und Hannes unter den Bäumen Äste für das Lagerfeuer sammelte, die er vor dem mit Steinen abgezirkelten Brandplatz mit Kraft über dem Knie zerbrach.

Im Nachhinein glaubst du, muss das der Anfang gewesen sein. In den folgenden ersten Schulwochen nämlich hast du öfters Hannes’ Mofa aufgebockt am Kirchplatz gesehen, ganz sicher nicht für einen Besuch im Gottesdienst. Als Tanja wegen einer komplizierten Operation erst eine Woche in der Hamburger Spezialklinik, dann eine weitere bettlägerig zu Hause verbringen musste, hat ihre Freundin Danny zwar die Übungsblätter für sie eingepackt. Aber gebracht, Dion, ich sag’s dir besser gleich, hat ihr die Hausaufgaben Hannes Lambert. Noch auf dem Korridor luchste er Daniela die Mappe ab, und der war’s recht, denn seit dem Abend am Jummestrand sind die beiden verzofft.

Vor den Ferien hatte die Bloch-Tochter dem Sohn des Schweinebauern schöne, mit dem Kajalstift noch größer gemalte Augen gemacht, an der Bluse, kaum war sie raus aus der Klasse, zwei weitere Knöpfe geöffnet, was Hannes aber kaltgelassen hat, obwohl Daniela schon mehr zu bieten hat als die immer noch spindelige Tanja. Aber genau das scheint Hannes zu reizen, das Knochige, die Kanten. Als die Hannesclique schon das dritte Bier intus hatte und über der Sandbank der Gestank von verkohlten Würstchen lag, hat Daniela sich am Strand umgezogen, was sonst keines der Mädchen tut, hinter einer mickrigen Birke, die nichts verbarg. Doch Hannes schaute nicht einmal hin. Du hattest ihn gut im Visier, ohne permanent seinem wachsamen Blick ausgesetzt zu sein. In deiner Kuhle hinter dem Baum hast du Danielas Arsch gesehen, das ganze Gebirge, weil sie sich, absichtlich, wie dir schien, beim Bücken in ihrem Slip verhedderte, damit Hannes endlich guckt. Der köpfte ein weiteres Bier und reichte es Tanja. Neben ihr steckte noch die erste Flasche im Sand, halbvoll, erinnerst du dich, denn das Lagerfeuer loderte schon hell, so dass du im Glas den Pegel sahst.

Ob sie sich wegen dir so zurückhielt? Du hast bei dem Gedanken sogar ein wenig Stolz verspürt und dir vorgenommen, die ganze Nacht am Ufer zu hocken, wenn’s sein muss bis zum nächsten Tag – dann könntest du Tanja die Morgentänze der Heidelibellen zeigen. Hannes würde schon gegen Mitternacht besoffen wegratzen, so dass die Stunde der Wahrheit anbricht und du auf deinem Handtuch heranrutschst, dem Konkurrenten vorsichtig die Bierflasche aus der Hand ziehst und sie gegen Tanjas klirren lässt, die jetzt grinst und das Zeug runterkippt, als hätte sie darin Übung. Eine Wolke schiebt sich vor den Mond, die Schatten der Binsen wachsen noch ein Stück in die Höhe und bieten den bestmöglichen Blickschutz, selbst der Frosch, der die ganze Zeit nervte, gibt es auf, sein Revier zu verteidigen, und du packst endlich, endlich zu.

Wahr aber ist, dass Tanja keinen Alkohol trinkt, wegen der starken Tabletten, die sie schlucken muss, ist sie auch da sehr diszipliniert. Auf dem Adventsbazar, wo am Abend alle beschwipst herumtorkeln und sogar die Kinder angeschickert sind, weil sie die Reste aus den abgestellten Glühweinbechern schlürfen, wärmt sie ihre Hände an einer Tasse Tee. Von Hannes hat sie aber doch eine Zigarette genommen. Da baute sich Daniela, als die endlich in der Jeans drin war, vor ihr auf. Ob sie jetzt mit nach Hause komme?, fragte sie schnippisch, und Tanja drückte schon die Zigarette aus, doch Hannes schüttelte den Kopf. Du hast dir vorgestellt, wie er sie später auf dem Mofa zurückbringt, sie dicht an ihn gepresst oder schon an seiner Schulter halb eingeschlafen. Schnell bist du aufgesprungen und der wütend durchs Schilf davonstapfenden Bloch-Tochter hinterher, die sich plötzlich umdrehte, dir einen Stoß vor die Brust versetzte und zischte: Da läuft doch was zwischen euch dreien! Du bist erschrocken unter ihrer Hand weggetaucht in die Binsen, direkt in die Arme von Jakob Wendisch.

Der Mongoloide saß auf einem umgestürzten Baumstamm, starrte dich aus seinem Plattgesicht verständnislos an und spuckte einen gluckernden Laut aus, halb Verwunderung, halb Drohung, Komm mir nicht zu nah oder Was willst du hier?, irgendetwas in der Art schien ihm auf die Zunge zu drängen. Du bist zwischen seinen gespreizten Beinen stehen geblieben und hast auf die massigen Achseln geglotzt, unter denen sich das Haar hervorkräuselte. Er roch nach Schweiß und Sonnenmilch, in seinem Nacken glänzte die schmierige weiße Schicht. War er zurück nach Hause gelaufen und heimlich wiedergekommen? Er trug ein ausgeleiertes Trägerhemd und Shorts; seinen Klamottenhaufen und die Turnschuhe hattest du doch eben noch am Strand unter dem Baum liegen sehen.

An seinem Nasenloch klebte eine Blutkruste. Weil du dich nicht regtest, glaubte er die Gefahr vorbei und fuhr fort in seinem selbstgenügsamen Spiel: Er beobachtete die Mücken, die sich zahlreich auf seinen Armen niederließen, wartete, bis eine zustach, und schlug das Insekt im wehrlosen Moment mit erstaunlich flinker Hand tot. Den kleinen Blutstropfen, der zurückblieb, verrieb er zusammen mit dem Mückenkadaver auf der Haut. So ging das drei-, viermal, auf dem Unterarm, an der Innenseite des Schenkels, der mit weißblondem Flaum dicht bewachsen war, selbst das Insekt auf der Wange traf er zielsicher. Da endlich hobst du selbst die Hand. Jakob zuckte zurück und spähte verängstigt hinter seinem Ellenbogen hervor; vielleicht fürchtete er, noch immer eingeschüchtert von den Schikanen am Fluss, nun doch deine Faust. Du hast den Finger auf deine Lippen gelegt und ihm mit den Augen befohlen, sich nicht zu rühren. Die Mücke auf der Schulter ließ sich Zeit; sie krabbelte erst zum Hals, dann zurück in die weiche Hautfalte der Achselhöhle. Im richtigen Augenblick hast du sie zerquetscht. Jakob grinste und schlug sich mit der flachen Hand so fest auf die Brust, dass der Fingerabdruck mit gleich zwei Mückenleichen darin weißlich auf dem Sonnenbrand leuchtete. Du hast ausgeholt und ihn an der Schläfe getroffen, er hieb sich auf die Wade, dann klatschte ihm deine flache Hand gegen das Schulterblatt, er konterte mit einem Schlag auf deinen Arm. Die Insekten schienen durch den Gegenangriff jetzt rachsüchtig und noch blutrünstiger. Jakob ohrfeigte dich, du verpasstest ihm Nasenstüber, Kopfnüsse und einen Stoß in die Leistenbeuge, wo gar kein Blutsauger lauerte. Das Stakkato der Klatschgeräusche vermischte sich mit Jakobs begeistertem Grunzen, dem fernen Gequäke aus dem Kassettenrekorder und dem Girren der Frösche zum Getöse einer Schlacht, in der die Stimmen der Mücken, hätten die vor Todesangst schreien können, die erbarmungswürdigsten gewesen wären.

So aber war es Jakobs plötzliches Gewimmer. Er hatte für mehr Kampffläche seinen Bauch entblößt, dabei war ihm die Hose auf die Beckenknochen gerutscht, in deinem Blick, der über seinen kräftigen, gar nicht krüppelhaften Leib hin und her hastete, plötzlich der flächserne Haarbusch. Eben noch hatte er dir lachend mit seinen schmutzigen Fingern ein Geschmier aus Mückenkadavern und Schweiß unter das Hemd gerieben; jetzt schnellte deine Faust an dem Insekt vorbei, das im Flaum auf seinem Nabel zappelte, direkt hinein in den Hosenbund. Das Stück Fleisch in deiner Hand war groß, aber weich und lappig. Jakob stieß einen hohen, vogelhaften Warnruf aus, bog deinen Arm zurück und schleuderte dich zu Boden. Dann stolperte er weg, unter jammernden Lauten ins sirrende Gedräu des Stechgeziefers über dem Schilf.

Du bist hoch und ebenfalls rein ins Geschlinge, blind voran durch die Peitschenhiebe der Rohrkolben im Dauerlauf nach Hause, mit vom Mückenmatsch schwarz besprenkelter Haut und loderndem Schamgesicht durch die plötzlich kühl vom Fluss heraufziehende Abendluft auf die Veranda und direkt hinein in Margas übellauniges Gemaule, die schon ungeduldig am Tisch saß, vor dem kalt gewordenen Eintopf. Selbst schuld, kaute sie, als du vor Jucken und Zwicken kaum den Löffel in der Hand halten konntest; mehr hatte sie zu deinen verstörenden Erlebnissen am Jummestrand nicht zu sagen, und auch den Rest des Abends prallten deine flehenden Blicke meist an ihrem Rücken ab, so dass du alles, was du ihr zitternd und zerstochen, doch irgendwie glücklich von diesem Tag hättest hinstottern wollen, schließlich in deine Kladde gekritzelt hast, nachdem du das Drängende deiner Gedanken endlich aus dir heraus und in die Ritze gefiebert hattest.

Du packst dich noch fester an. Seifst die Handhöhle nach, die so gut geschmiert den fehlenden Körperschlund besser ersetzt als die frigide Bettspalte. Beißt die Zähne zusammen, als die weißen Fäden zäh das Wasser durchwabern. Das Seifenstück springt aus den Fingern und über die Fliesen gegen das Regal, wo Margas Kram sich häuft, all die Tiegel mit Parfums und Puder zwischen Medikamentenschachteln, Kosmetiktüchern, Monatsbinden, Dingen, die schon so lange dort liegen, dass du Details kaum mehr wahrnimmst. Der Dunst hat sich ein wenig gelichtet, im Spiegel erkennst du vage den Umriss deines Gesichts, die Haare seitlich schon fast kinnlang, weil Marga nicht mehr mit der Schere randarf; dein Ziel ist eine Matte wie bei Hannes, mit Stirnfransen und im Nacken leicht ausgeschert, was verwegen aussieht, doch am Rotblond der Kinder deines Onkels wirst du trotz aller Mühen scheitern. Lediglich ein paar Sommersprossen kriegst du mit deinen Lambert-Genen hin, wenn du im August lange genug in der Sonne ausharrst.

Sonst ist im Spiegel alles wie gehabt. Dennoch kannst du das Gefühl nicht abschütteln, dass zwischen dem heutigen Morgen am Teich und diesem Moment eine lange und leere Zeit liegt, eine Art blinder Fleck in der Erinnerung, als hättest du tagelang geschlafen. Oder waren es Monate und Jahre? Fern und unbegreiflich erscheint dir jetzt der Junge auf dem Baumstumpf, der du am Morgen noch warst, fast schämst du dich für ihn, wie er dort hockt, auf ein Wunder wartet und zur Mutter hinüberfleht, mit den Fingern im Moos. Was er fühlte und dachte, ist dir fremd geworden. Als hättest du dich heute Morgen für immer von ihm verabschiedet, möchtest du ihn an dich ziehen und gleichzeitig wegstoßen. Du beugst dich aus der Wanne und angelst Margas Tabletten aus dem Fach. Drehst die Packung zwischen den Fingern und betrachtest die Aufdrucke: den Namen des Medikaments, Lexotax, daneben die blaue Raute, eher ein Sechseck, und das Gleiche nochmal in Weiß mit dem Wort Roche darin, das du früher immer gelesen hast, ohne seine Bedeutung zu begreifen. In Gedanken hast du R-o-c-h-e buchstabiert und an Rochen gedacht, den platten Fisch auf dem Meeresgrund, wobei du nicht verstandst, was der Fisch mit den Tabletten deiner Mutter zu tun haben soll. Dann hast du in deinem Naturlexikon das Kapitel über das Tier gesucht und das Bild eines Rochens entdeckt. Sein Körper war weiß, fast durchsichtig, Skelett und Innereien schimmerten ein wenig durch die Haut. Auch das Gehirn war als ein Schatten zu erkennen, darin die beiden Augen, die der Rochen, weil er als Plattfisch genaugenommen keinen Kopf hat, auf dem Rücken trägt. Auf der Fotografie fiel das Licht schräg ins Wasser, und wenn du das Tier lange genug anstarrtest, bis die Konturen verschwammen, bildeten Augen und Gehirnschatten zusammen mit der Linie des Rückgrats und den dreieckigen Schemen der Verdauungsorgane die Gestalt eines kleinen Menschen, eines Mädchens in einem weißen Kleid.

Da hast du das Buch schnell zugeschlagen; nun glaubtest du zu wissen, was das Wort Roche in der weißen Raute auf der Lexotax-Packung bedeutet. In den Tagen darauf hast du immer wieder den Tieratlas aufgeblättert und den Fisch betrachtet, sein Anblick lockte dich wie etwas Verbotenes und Geheimes, das aber nun vollzogen und entschlüsselt werden wollte. Nachdem Marga dir den Gutenachtkuss aufgedrückt und die Tür geschlossen hatte, hast du die Lampe wieder angeknipst, das Buch unterm Bett hervorgezogen und den Rochen studiert. Je länger du mit Blicken in ihn eindrangst, desto deutlicher traten aus seinem Inneren Margas Züge hervor. Als du vor Müdigkeit schon zu blinzeln begannst, schien es keinen Zweifel mehr zu geben: Das Mädchen im Rochen war deine Mutter, und auch David Voss musste davon etwas geahnt haben, als er damals im Kindergarten den weißen Plüschfisch im Klo versenkt hatte.

Weil Marga das Wasser liebt, jeden Morgen im Teich und abends in der Wanne ausgiebig badet, glaubtest du, die Lexotax würden bewirken, dass sie sich langsam zurück in das Mädchen von früher verwandelt. Nun begriffst du auch, warum das Wasser des Teiches sie angeblich verjüngt. Ihre Behauptung war also nicht nur eine Taktik, um dich auch bei schlechtem Wetter raus in die Kälte zu schleppen. In Wahrheit lockte sie das Kind, das lange Zeit im Rochen gelebt hatte. Doch wie war es in seinen Bauch gekommen? Tagelang hast du über das Rätsel nachgedacht. Dann plötzlich, spätabends über der Kladde brütend, wo die Geschichte langsam Form annahm, kam der Geistesblitz: Das Mädchen musste einmal eine Libellenlarve gewesen sein. Libellen, ihre Eier und Larven nämlich stehen auf dem Speiseplan der Fische an erster Stelle. Oft hast du abends am Jummestrand den silbrigen Leib einer Barbe oder Brasse im Sprung nach einem der pfeilschnellen Insekten in den Fluss zurückplatschen sehen. Endlich wusstest du, was der wahre Grund für deine jahrelange Angst vor dem Kloloch gewesen sein musste: Im Rohr lauerte der weiße Rochen, der irgendwann vom Meer die Elbe herauf und durch die Mäander der Jumme bis nach Fenndorf geschwommen war und deine Mutter hierher verschleppt hatte, weil er im Moor keinen Fischer fürchten musste, der sie, Marga, ihm hätte stehlen können. Vom Fluss aus war er dann weiter durch den Drängraben bis in den Torfstich, wo er sich mit ihr versteckte. Doch er hatte nicht mit deinem Vater gerechnet, dem der Fisch bei der Arbeit zwischen die Finger geriet. Ihm hatte er Marga herausgeben müssen, aber jetzt wartete der Rochen irgendwo in den Abflusskanälen, bereit, sie zu sich zurückzuholen. Schaudernd hast du damals die Kladde mit der halbfertigen Geschichte zurück in die Bettritze geschoben, die dir tiefer und wissender vorkam als jemals zuvor. Über einer Frage aber konntest du lange nicht einschlafen: Wie war die Larve einst ins Meer gekommen, wo auf dem Grund alles Mögliche lebt, aber nicht die Kinder der Libellen?

Auf dem Beipackzettel, den du aus der Verpackung ziehst, steht nichts von alldem: Lexotax ist laut des Herstellers Hoffmann-La Roche, wie du gleichermaßen enttäuscht wie erleichtert liest, ein Mittel gegen Spannungs-, Erregungs- und Angstzustände, Nervosität, innere Unruhe, Schlaflosigkeit und depressive Verstimmung, also gegen alles, was du an deiner Mutter nicht magst. Du drückst eine Tablette aus dem Streifen und hältst sie, zwischen Zeigefinger und Daumen geklemmt, ins Licht. Deutlich erkennst du die feinporige Oberfläche, die Kerbe in der Mitte und dahinter, wie durch ein zerbrochenes Brennglas, dich selbst, wie du am gestrigen Abend in ihrem Schlafzimmer standest, wo die Blister auf dem Bett verstreut lagen, als hätte sie gleich alle Tabletten auf einmal schlucken wollen, eine ganze Handvoll, was sie sich aber im letzten Moment doch anders überlegt haben musste. Du weißt noch genau, was du dachtest: Wenn die Geschichte aus deiner Kladde einen wahren Kern hat, müsste das Zeug dich, das Moorkind des Mädchens im Rochen, mit der Zeit zur Libelle ummodeln können.

Tatsächlich fühlte sich dein Körper schon leichter an, nachdem du eine Pille geschluckt hattest, als wären die unsichtbaren Fäden durchtrennt, die dich am Boden halten. Alles war in die Ferne gerückt: die Wände, die Möbel, deine eigenen Füße; dein Körper schien oben eingeschrumpft und hatte sich gleichzeitig nach unten hin verlängert, zu einer Art Stab, wie ein Libellenleib. Dir war, als schwebtest du über den Dielen, zwar nur wenige Millimeter, aber immerhin. So bist du Runde für Runde durchs Haus. Wenn du die Arme ausstrecktest, glaubtest du, zu sinken und gleichzeitig nach oben zu stürzen. Irgendwann bist du auf dem Bett gelandet, wo du gerade noch Margas Mund an deinem Hals spürtest, kalt wie von einem Fisch. Mein armer Liebling, blubberte sie aus der Tiefe, dann hat sie dich gefressen, oder du bist eingeschlafen.

Du durchtauchst mit der Hand das Wasser, suchst den Abflussstopfen und wickelst die Metallschnur um den Finger; für einen Moment lockert sich der Pfropf, dann schnappt er im Sog zurück. Nur ein Ruck mit der Hand, und du bist unten bei mir, im Rohrmaul, im Fischbauch, am Ende deiner Geschichte. Du streckst dich aus und tauchst bis zum Kinn ins Wasser. Knie und Schultern bilden Inseln, die langsam, doch stetig versinken. Du spannst Bauchdecke und Oberschenkel an, stellst dir vor, wie das Moor dich einschließt. In deinem Kopf rast der Film: Hannes, der plötzlich über dir steht. Dicht neben dir schreien die Stoppelkatzen und winden die Köpfchen aus dem Morast, du reißt dich hoch und siehst die Mooskuppen aus dem Wasser ragen, kleine finstere Buckel, über die ein großer Vogel schneidet. Ein Kranich? Als er näher kommt, erkennst du die Sumpfohreule, den Dämmerungsvogel, dem du hier draußen erst begegnest, wenn du den letzten Baum hinter dir gelassen hast und ins Leere trittst. Er brütet in den Seggen und stößt, sobald du dich näherst, einen Warnruf aus, der wie das Maunzen einer Katze klingt. Der Eulenschatten gleitet über das Wasser auf dich zu, dreht dann aber ab und steigt in den Himmel, wo er verlischt. Auch Hannes erstarrt zum Überrest einer Birke am Ufer. Darüber klafft ein Schlitz in den Wolken, ein krankes, todgeweihtes Blau; Tanja lächelt ein letztes Mal. In ihren Augen blitzt etwas wie Stolz; sie weiß, dass es so richtig ist – du hier unten, sie dort oben; so und nicht anders.

Der Gedanke ertrinkt, kein neuer kommt. Erleichtert lockerst du die Muskeln und übergibst dich dem Sinken, dieser letzten, unendlichen Bewegung, weich, fließend, im Rhythmus deines langsam aushauchenden Atems, wie ein Satz ohne Stottern. Wenn du ihn ausgesprochen hast – und das ist dein letzter Gedanke, bevor du den Stöpsel ziehst – sind wir eins.

Du hast sie gar nicht kommen hören. Bis soeben glaubtest du noch, Libellen summen im Flug. So war es immer gewesen: der schwarze Punkt des Insekts in der Luft noch weit entfernt, da schaust du schon rum und hoch. Die anderen hören ein Auto auf der Dorfstraße, du aber siehst die Libelle aufs offene Fenster des Klassenzimmers zufliegen und denkst: Achtung, Falle! Nun sitzt sie da und starrt dich an, reglos und schön, ganz in Rot. Es ist eine Blutrote Heidelibelle, wie du an der Färbung des Hinterleibs erkennst, als trüge sie ein enges, rubinrotes Kleid. Selbst die Stirn, die nicht wie beim Menschen über den Augen sitzt, sondern darunter, ist rot gefärbt, sogar der Mund, bei der Libelle die Mundwerkzeuge, wie mit Lippenstift bemalt oder dem Blut eines Opfers.

Genaugenommen hast du sie weder gesehen noch gehört, eher mit deinen Fühlern erspürt – die Druckwelle in der Luft, die Schwingung ihrer Flügel, und dass sie ein Männchen sucht. Bei den Libellen kommen die männlichen Tiere als Erste ans Gewässer und besetzen das Revier. Erst wenn sich genug mögliche Partner eingefunden haben, folgt das Weibchen, um auszuwählen.

Sie hat sich Zeit gelassen, dich vielleicht sogar schon den ganzen Tag beobachtet. Während du noch deinen Platz gesucht hast, hatte sie dich schon längst anvisiert. Jetzt musst du dich beeilen. Dich ihr behutsam, aber zielsicher nähern, in eindeutiger Absicht. Bei den Libellen ist die Sache komplizierter als beim Menschen. Der Samen des Männchens wird vom Geschlechtsorgan am Ende des Hinterleibs produziert, was beim Menschenmann vielleicht die Hoden wären, der sogenannte Begattungsapparat, eine Art Penis, befindet sich jedoch viel weiter vorne, unterhalb der Brust. Du musst also erst deinen Hinterleib heraufkrümmen, so dass dein Körper eine Art Rad bildet. Wenn du jetzt noch ein Mensch wärst, sähe es aus, als wolltest du dein eigenes Geschlecht in den Mund nehmen. Doch auch dieser Vergleich hinkt; die Mundwerkzeuge kommen bei dieser Art Liebe gar nicht zum Einsatz. Libellen küssen nicht erst, sie tun es gleich.

Du fasst dich unten an und biegst dich empor, bis du das Rad schaffst. Sie sitzt noch immer da und beobachtet, wie du den Samen vorbereitest. Sobald du genug angesammelt hast, stößt du dich in die Luft. Schraubst dich in die Höhe, schnellst auf sie zu und packst sie mit den Zangen am Genick. Für einen Moment taumelt ihr im freien Fall, doch weil euer Film in den Facettenaugen verlangsamt ist, habt ihr vor dem Aufprall genug Zeit. Kurz vor der Wasseroberfläche kannst du sie wieder hochreißen. Sie zappelt in deinem Griff und wehrt sich, was aber nur Geziere ist, sie hat ja doch auf dich gewartet. Bisher waren ihr alle anderen, die sich anboten, nicht gut genug. Nun krümmt sie sich zum Halbkreis und presst sich an dich, ihren langen, schlanken, rubinroten Unterleib an die Stelle, wo du dich ausgerieselt hast. Sie wird alles in sich aufnehmen, alles prüfen und für gut befinden, so dass du der Vater ihrer Kinder sein wirst. Den Samen der anderen, den sie in ihren Taschen gesammelt hat, stößt sie ab, noch während ihr im Tandem durch die Luft tanzt, unter den Strahlen einer späten Sonne über dem Teich.

Drüben auf dem Baumstumpf zupft der Junge die Mutter am Arm, deutet zu euch herüber und ruft: Schau doch, ein Herz!, und die Mutter lächelt, beugt sich herab und drückt ihrem Kind die Lippen auf den Mund, die nach dem Gutenachtkuss schmecken, auf den es den ganzen Tag gewartet hat.