Die hat nämlich beim Frühstück längst Bescheid gewusst. Was Dions Mutter da getan habe, sei gegen Gottes Willen, belehrte sie ihre Töchter, der Vater nickte und musterte Tanja, die verschlafen Marmelade auf ihre Stulle löffelte und schon gemerkt hatte, dass da was im Busch ist.

Das Leben ist ein Geschenk, sagte Frau Deichsen und setzte dem Satz mit strengem Blick ein Ausrufezeichen. Und meine Krankheit?, kaute Tanja, ob die auch geschenkt sei? Die Mutter erstarrte in ihrem Stuhl. Zwischen Kranken und Gesunden, versuchte der Vater zu schlichten, mache Gott keinen Unterschied. Im Gegenteil, wer krank sei … Ich bin nicht krank, fuhr Tanja ihn an. Frau Doktor Burgwarth, ihre Ärztin, spreche vielmehr von einem Erbfehler, autosomal dominant, wandte sie sich zur Mutter und rief: Du hast mir diese Scheiße eingebrockt! Der Pfarrer schlug die Faust auf den Tisch, so entschieden, dass die Kerze aus dem Messingständer kippte. Tanja brach sie entzwei und warf die Hälften der Mutter hin. Dann schulterte sie den Ranzen. Ich applaudierte und schlug den Fensterladen gegen die Wand. Die Ouvertüre schien gelungen.

Ich finde das mutig von deiner Mutter, sagt Tanja herausfordernd, feige seien nur die anderen, die es so weit hätten kommen lassen. Du willst widersprechen, erinnerst dich an unseren Pakt, hättest trotzdem gerne gewusst, was in ihren Augen Margas Verdienst an dem Horror der gestrigen Nacht gewesen ist und was dein Versagen. Sie kramt aus ihrer Hosentasche zwei Pillen. Ein Schmerzmittel, grinst sie, schon von zwei würde man federleicht und ein wenig beschwipst, das sei wie Fliegen. Eine wirft sie sich in den Mund, die andere reicht sie dir, streckt dir dabei die Zunge hin, wo die Tablette festklebt. Doch kleine Sünden bestrafe ich sofort: Sie verschluckt sich.

Du klopfst ihr vorsichtig auf den Rücken, der sich heiß und ein wenig feucht anfühlt, vielleicht vom anstrengenden Marsch durch den Schnee. In mir ist das Kollagen kaputt, hustet sie, deshalb seien ihre Augen so komisch, und sie schwitze andauernd. Sie schnuppert an ihrer Achsel. Ob dich das störe? Schnell schüttelst du den Kopf. Und das? Sie bleckt die Zähne, die fast farblos sind, eher grau als weiß, manche zudem abgebrochen, was ein wenig an Glasscherben erinnert. Beim Küssen mache das aber keinen Unterschied, nimmt sie dir die Antwort ab, und auch der Rest an ihr sei wie bei allen anderen Mädchen ganz normal; ihre Regel hat sie, die Kleinste in der Klasse, schon vor einem Jahr bekommen, aber das verrät sie dir nicht. Wegen der Tampons gab es wieder Streit mit der Mutter, die ihr zu Binden riet, diese dicken Dinger, womit du aussiehst, als wär’ dir der Schiss in die Hose gerutscht. So hat sie es Danny erzählt, als die noch ihre Freundin war; die Scherereien mit dem Frauwerden, und dass die Mutter in Wahrheit Angst um ihr Jungfernhäutchen hat. Sie prusteten los, rissen die Tamponpackungen auf, die sie sich im Zeever Drogeriemarkt besorgt hatten, und probierten verschiedene Größen.

Das Jungfernhäutchen hat dann allerdings nicht der o.b., sondern Hannes erledigt. Obwohl er vorsichtig war, hat sie stark geblutet. Ihre Beine waren verschmiert, seine Hände auch, und obwohl das alles aussah wie bei einer Operation und es auch dementsprechend wehtat, hat er an ihr herumgequetscht und dabei immer Mannohmann! gestöhnt. Sie wischte sich mit einer Handvoll Stroh ab und wusste nicht, wohin damit. Draußen pladderte der Regen aufs Dach.

Tanja streicht sich den Pullover über der Brust glatt, wo sich noch kaum etwas wölbt. Bei Daniela sei alles so groß, kein Wunder, seufzt sie, dass alle auf die stehen. Du nickst, schüttelst gleichzeitig den Kopf und hoffst, dass sie die Antworten richtig zuordnet. Wenn ich erwachsen bin, werde ich Hängebrüste haben. Sie sagt es forsch, fast wie einen Vorwurf gegen dich. Wegen meinem Bindegewebe. Schau! Sie zieht den Pulli hoch und kneift sich in die Haut. Außerdem hätte der letzte Test ergeben, dass sie bereits ein bisschen schwerhörig sei. Also sag die Wahrheit – ihr Blick jetzt misstrauisch und angriffslustig –, findest du mich trotzdem hübsch?

Keine Spucke mehr in deinem Mund, nichts als das ausgetrocknete T von total. Tanja legt die zur Muschel geformte Hand ans Ohr, spielt die taube alte Frau und krächzt: Ich kann Sie nicht verstehen! Du zuckst zusammen. Woher kennt sie die Greisenpantomime? Sie beginnt wieder zu husten, du legst ihr die Hand auf den Rücken und streichst über die Wirbelsäule, als könntest du so die Tablette, die in ihrem Hals feststeckt, nach unten lenken. Durch das Butzenglas sehe ich zwei Schatten in der Diele nah beieinanderstehen, bereit, sich zu vermischen. Verdammt, Kinder, lasst mich herein! Als die Pille im Magen ankommt, ziehst du schnell die Hand zurück. Und jetzt, Dion?

Alle nach oben.

Ronja kennt schon den Weg und hoppelt voraus. He, rufe ich euch hinterher, ihr könnt mich hier nicht einfach stehenlassen!, und ich werfe mich mit voller Wucht gegen die Tür, so dass mir für einen Moment tatsächlich die Puste ausgeht.

Alles, was draußen noch halbwegs ragt, richtet sich ächzend auf: Der Giebel entkrampft, die Scheune spitzt mit verbogenem First aus dem Windschatten des Hauses hervor, Birke und Erle entwirren die Zweige und schütteln den Schneepanzer ab. Eine Krähe nutzt die Flaute, um in ein besseres Versteck zu flüchten. Sie stößt aus einem Gebüsch hervor, torkelt durch die Luft und hinterlässt einen schwarzen Kratzer im Bild, das schon fast vollkommen weiß, beinahe perfekt ist. Ich packe den Vogel und schleudere ihn zu Boden. Eine Weile duckt er sich neben einen Erdhaufen, sträubt das Gefieder und hackt mit dem Schnabel in den Schnee. Ich löse eine Lawine von der Schütte, ein Flügel reißt aus, dann ist die Krähe gelöscht.

Im Moor brechen die Linien auf; das geometrische Raster der Torfrippen mit den fast schon eingeebneten Hügeln nicht abtransportierter Soden, die flachen Rinnen der Dräne zwischen Flurwegen und Ackerfluchten verpulvern. In den Föhrenwäldern knicken die Zweige unter der weißen Last gischtender, alles verschlingender Wogen, die sich aus der Ebene herüberwälzen, vom großen Kolk, wo die Luft so prall ist von Eissplittern, dass man sie kaum mehr atmen kann, und selbst die zähen Torfmoose drohen unter den Schneemassen zu ersticken, die sich an den Flanken der Bulte auftürmen, unter ihrem eigenen Gewicht verharschen und erst im April, wenn die letzten Krusten abgeschmolzen sind, die Spuren ihrer Zerstörung in den Polstern zeigen werden, den Frostbrand im filigranen Geflecht, schuppige bräunliche Stellen, wie sie ähnlich auch die Füße der Forstarbeiter hinterlassen, die eine über Jahre gewachsene Torfmoosgesellschaft mit einem einzigen Tritt vernichten können, so dass es, nachdem man das Bruchholz fortgeschafft hat, am Ende des Winters hier aussehen wird, als wäre eine Infanterie über den höchsten Punkt der Ebene marschiert, der gleichzeitig ihr innerster und schwerster Kern ist, mit den massiven Schwarztorfschwämmen, die sieben Meter tief in die Erde hinabwurzeln und in den nächsten Wochen, wenn die Nachtfröste in zweistellige Bereiche absinken, bis in die letzte Pore durchgefrieren, langsamer, aber auch längerfristiger als die sandigen Böden der Magerwiesen und angrenzenden Viehweiden. Hier draußen am Kolk, auf der baumlosen Kuppe, wo sich meine Kraft auf freier Bahn vervielfacht, wird der Torf noch im Frühjahr vergletschert sein, deine Erinnerung an das schwerste Winterunwetter dieses Jahrzehnts eingeschlossen in mein kaltes Herz.

Ich sammele Kraft für den nächsten Coup, erklimme die Westwand, wo die Schlafzimmer liegen, und breche den ersten Ziegel von der Lattung. Bald wird das Haus nackt und verletzbar sein, kein schützendes Dach mehr über euren Köpfen. Im Dorf wird es später heißen, nicht ihr selbst habt den Unfall verursacht, auf den hier alles hinausläuft, nein, abermals wird es das Moor gewesen sein, das kindersüchtige Ungetüm, seine uralten und urbösen Kräfte, die euer Unglück herbeizwangen. Am Ende dieses Tages wirst du wissen, was es heißt, Schuld auf dich geladen zu haben, doch man wird dich freisprechen und abermals mich anklagen, der ich in Fenndorf für alles herhalten muss: die miesen, ausgelaugten Böden, das schlechte Wetter, die harten Winter und die Armut des Landstrichs, sogar der Tod deines Vaters, alles geht auf meine Kappe, darauf nämlich haben sich im Dorf am Ende alle geeinigt.

Dabei war es Karl Lambert, der mir in die Hände gespielt hat. Wie lange er es schon mit seiner Frau treibe?, rief er in den Donnerschlag des losbrechenden Gewitters, als dein Vater am Teich die Torfsoden unter der Plane verzurrte. Das fragten ihn, Karl, mittlerweile auch schon die anderen am Stammtisch. Dein Vater blickte zum Haus, wo er im Fenster den gewölbten Schatten deiner schwangeren Mutter zu sehen glaubte. Er drehte sich weg und sagte: Lieber ficke ich eins deiner Schweine als deine Frau. Im nächsten Moment krachte und splitterte es, doch nicht von Karls Fäusten, die den Bruder zu Boden schlugen. Ein Ast brach von der Erle, in die ich einen Blitz schleuderte, um dieser Dorfposse ein Ende zu bereiten, was mir wirksamer gelang, als ich es geplant hatte: Das herunterprasselnde Gezweig riss die beiden Kampfhähne auseinander und deinen Vater in den Teich, wo er, am Kopf schwer verletzt, nach ein paar hilflosen Ruderbewegungen das Bewusstsein verlor und versank, ungefähr dort, wo heute der tote Ast, den du nicht zu Unrecht als Klaue bezeichnest, die Wahrheit beharrlich im Wasser verborgen hält, so dass auch deine Mutter bei ihren allmorgendlichen Schwimmrunden nichts anderes tun kann, als an der Stelle innezuhalten und ratlos in die Tiefe zu starren, wo die Legende deines Vaters im Torf eingelagert liegt, und auch du, Dion, wirst dich später nur noch vage an meine Gewalt erinnern, die du in deinem Buch noch einmal losbrechen lässt: verzerrt, vom Vergessen durchlöchert und mit einer Fülle von erdachten Details künstlich wiederbelebt der Moment, wie du Tanja ins Badezimmer geführt und in Margas Zahnputzbecher einen Schluck Wasser gezapft hast, eine Geste, die sie erst mit einem schiefen Lächeln erwiderte, doch dann, nachdem sie die Schmerztablette endgültig in den Magen gespült hatte, sogar mit einem schnellen Kuss auf deine Wange belohnte, und dir eine Woge des Glücks aus dem Bauch herauf in die Kehle stieg, alle Wortknoten und Satzverhärtungen wegschmolz und dich mit einem Gefühl von Rausch und Freiheit erfüllte oder einfach mit der Dusseligkeit des verknallten Jungen, der tief Luft holt und ganz ohne Stottern sagt: Ich liebe dich.

Was?, rufen Tanja und ich gleichzeitig. Verräter, du hältst dich nicht an unsere Abmachung!, und sie denkt: Mist, jetzt muss ich ihm die Wahrheit sagen. Er ist ein guter Kerl, der es nicht verdient, belogen zu werden. Sie legt dir die Hand auf die Wange. Mein Lieber, seufzt sie und betont es mütterlich wie Marga mein Junge oder mein Liebling. Sie druckst herum, beschwört es schließlich mit hauchzarter Stimme: Auch sie habe dich ja sehr lieb. Wie einen Bruder, fügt sie hinzu; sie weiß, es klingt erbärmlich, doch sie will und kann es nur mit Hannes.

Natürlich stimmt es nicht, dass der sie auf dem Heuboden entjungfert hat. Niemand hat das bisher, weshalb die Vorstellung sie nicht mehr losließ, wie Daniela ins Stroh blutet und Hannes kaum mehr zu halten ist. Zwar glaubte sie die Sache nicht, auch wenn die Freundin die Details so plastisch erzählte, dass sie sich all das kaum ausgedacht haben konnte, phantasielos, wie sie sonst im Erlebnisaufsatz ist, bei dem Daniela meistens mit ausreichend davonkommt, sie, Tanja, aber brilliert, obwohl beide ein gemeinsames Abenteuer schildern. Also hat sie Daniela in Gedanken die Rolle der Entjungferten gestohlen: Statt der Bloch-Tochter saß da plötzlich sie selbst mit Hannes im Versteck. Während die andere mit ihrer Liebesnacht prahlte, spürte Tanja den geheimnisvollen Bewegungen nach, die Daniela ihr flüsterte, sogar den Schmerz im Unterleib glaubte sie zu empfinden, die Stiche und Krämpfe, von denen sie sprach, all das Blut.

Das war vor den Sommerferien gewesen, als die beiden noch so etwas wie ein Herz und eine Seele waren, also alles zusammen dachten, fühlten und erlitten. Seit dem Kindergarten war die Tochter der Krämerin Tanjas engste Vertraute, ein Mädchen, das damals auch meistens alleine gespielt hatte, dick und schwerfällig, wie sie war, mit dieser nässenden Schuppenflechte auf der Haut. Dann wurde aus dem hässlichen Entlein plötzlich der Schwan, alles Fett rutschte an den richtigen Platz, und die Schorfplacken verwandelten sich in Pickel, unter dem zartrosa Puder kaum mehr zu sehen. Erste Streitereien, der wöchentliche Bein- und Brüstevergleich, Fremdgänge mit Yvonne, der Tochter des Wirts, mit der sie während der Ferien im Dorfkrug ausschenken durfte, gegen ein Taschengeld und die ungleich wertvolleren Blicke der Jungs am Kicker.

Als Hannes einmal sein Bier zahlen wollte, habe Daniela angeblich gesagt, das gehe aufs Haus. Es seien, hat sie später ihr, Tanja, verraten, aber nicht nur ein, sondern vier Bier gewesen, der ganze Lohn für den Abend futsch. War trotzdem billig, erwiderte Tanja trotzig; sie wusste nicht, auf wen sie eifersüchtig sein sollte – auf Hannes, weil der ihr die beste Freundin weggeschnappt hatte, oder auf Daniela, die nun mit dem Sohn des Bauern ging, der sie bisher doch gar nicht interessiert hatte.

Sie wich ihrem Blick aus und starrte in die Zimmerecke, wo sich der Haufen Plüschtiere türmte, denen sie früher beim Spielen Geschlechter zugeteilt hatten, wobei die neuen, noch flauschigen immer die Weibchen und die schon abgegriffenen die Männchen gewesen waren, die raus aufs Feld mussten, während die Frauentiere drinnen kochten und im Kaufladen winzige Schachteln Persil oder Maggi mit Pfennigstücken zahlten, die größer waren als ihre Pfoten.

Dann hatte sich plötzlich die langbeinige Katze in einen der Tagelöhner verliebt, ausgerechnet in das hässliche Plastikschwein, dem sonst immer nur die Rolle des Raufbolds zugeteilt wurde. Daniela bestand darauf, eine Hochzeit zu spielen, in einem Bauernhof aus Bauklötzen und mit den schönen Steiff-Bärchen als Ferkel, das war der Anfang vom Ende gewesen. Die Feierlichkeiten endeten im Streit, weil die Kätzin von ihrer Trauzeugin, der Mäusin, verlangte, für die Hochzeitsnacht die Kissenhöhle zu räumen, in der sie, Tanja, gebettet lag. Die graue Maus, geschasst von der falschen Katze, sann auf Rache.

Wenn eine im Dorf wirklich eine Schlampe ist, denkt sie jetzt grimmig, dann ist es nicht Dions Mutter, sondern Danny. Kein Mann ist da unten so groß, wie sie von Hannes behauptet. Erst war’s ein Füller lang, dann, eine Woche später, schon ein Lineal, das war ihr dann doch etwas arg. Dion würde es langsam und vorsichtig machen, da ist sie sich sicher. Der ist keiner für die schnelle Nummer. Sucht auch die große Liebe, Hannes aber fackelt nicht lange, dafür ist er bekannt. Seit dem Abend an der Jumme stellt er ihr nach. Hält ihr in der Schule die Zwischentür auf, was noch nie jemand für sie getan hat. Selbst die Lehrer schlüpfen noch schnell durch, und sie prallt gegen das Glas. Hannes, denkt sie, muss das einmal gesehen haben. Seitdem lungert er auf seinem Mofa vorm Haus herum, und heute dann sogar die Einladung ins Hallenbad. Da hat sie sich wieder Geschichten mit ihm ausgemalt. Stolz war sie, dass ausgerechnet er bei ihr anruft, eine echte Pleite für Daniela. Doch bei der Vorstellung, wie er ihr im Hallenbad zur Umkleide folgt, sie hineinschubst, die Tür abschließt und dann mit seinem Lineal voll …

Wir könnten wie Geschwister sein, sagt sie und sieht, wie du Luft holst und für deinen Protest schon den Mund aufklappst. Mit dir kann man Pferde stehlen, impft sie dich mit süßer Stimme, spitzt die Lippen und drückt dir den Mund auf, so kindlich und keusch, dass dir im Vergleich die Zärtlichkeiten deiner Mutter wie lüsterne Bisse erscheinen. Ob du nie eine Schwester haben wolltest?, lullt sie dich weiter ein und fasst deine Hand.

Nein! Wolltest du nie! Los, Dion, schrei ihr das ins Gesicht, den Frust dieser Niederlage, doch da ist nur das Drücken in der Kehle, und auch weiter unten ein Gefühl, als würde die eigene Haut nicht mehr passen und der Körper zusammenschrumpfen auf einen winzigen Punkt, den kleinsten gemeinsamen Laut aller je missglückten Worte.

Du würgst an einem Satz, der beweisen soll, dass du, Dion, sie, Tanja, ehrlich und ohne Hintergedanken willst, so dass sie, hättest du ihr versprechen wollen, durch deine Liebe ein langes, behütetes Leben haben oder sogar gesunden könnte, denn die Behinderten seien in Wahrheit den anderen weit voraus. Während die Gesunden an allem vorbei auf ein unbestimmtes Ziel zulaufen, sieht die Fußlahme die Blume am Wegesrand und hört der Stotterer das Summen der Insekten, hören und sehen du, Dion, und sie, Tanja, den Balztanz der männlichen Stotterlibelle mit dem Glasknochenweibchen, die sich jetzt zum Paarungsrad vereinen, denn bei ihrer Liebe ist es völlig egal, ob die Kinder, die dabei herauskommen, stottern oder Glasknochen haben. Libellen sprechen nicht, sind aus Chitin und müssen sich auch wegen keiner anderen Verkrüppelung die Haare raufen, Haare nämlich würden deine und ihre Kinder auch nicht haben, weder flachsblonde noch moorbraune, sie fliegen und ficken in der Luft, Punkt.

Am Ende deines Ringens dann doch noch ein einziger verunglückter Satz: Erst mit zwei Tabletten hebe man ab, presst du hervor und hältst ihr die Hand hin. Stimmt, flüstere ich Tanja zu, deine Worte! Da drückt sie auch schon zwei weitere Pillen aus dem Blister. Ihr schluckt und spült aus dem Zahnputzglas nach. Das wird ihn müde machen, denkt sie, so gewinnt sie Zeit.

Du bräuchtest ja keine Geschwister, rechtfertigt sie ihr Lavieren und Lügen, mit dieser tollen Mutter! Das Grinsen will ihr nicht gelingen, der Mund hängt schief und wirkt jetzt schmal und verkniffen. Sie hat doch recht!, stimme ich mit ein, Marga hat dir immer erlaubt, was andere Kinder nie durften: allein raus ins Moor gehen, bis nach Mitternacht aufbleiben bei einem Film aus dem Spätprogramm, wie hättest du auf dem Pausenhof angeben können mit deinem Wissen um Sexszenen und brutale Morde. Also beschwer dich nicht. Andere Kinder haben schlimmere Eltern, Hannes zum Beispiel, der von seinem Vater, wie es die Familientradition will, zum Schweinebauern getrimmt wird, und Tanja, deren Mutter es sowieso nie geduldet hätte, dass du mit ihrer Tochter gehst. Dann mach es halt mit ihr als Schwester, bei den Libellen ist das kein Problem!

Tatsächlich hält Tanja auf deine Mutter große Stücke. Sie hat ihr zugelächelt, neulich, aus dem Wagen heraus. Sie sogar ein Stück mitgenommen, Tanja war noch immer im Gips. Die Katthusen saß im Minirock am Steuer, erinnert sie sich, obwohl es kalt draußen war, darunter sah sie die feinen Strümpfe mit eingesticktem Blattmuster, die sie wunderschön fand. Sie selbst hatte den langen, gestuften Rock an, den sie aus bunten Kitteln zusammengenäht hatte, in der Altkleidersammlung waren manchmal richtige Schätze zu finden. Dions Mutter, denkt sie, die ja Künstlerin ist, muss sofort ihr Talent erkannt haben. Hat sie für den Rock gelobt, auch ihre Haare schien sie zu mögen. Im Fahren strich sie ihr über den Scheitel und löste das Zopfband. So gefalle es den Jungs besser, sagte sie, und dass sie auch einmal so schöne Locken hatte, als die Männer sie noch wollten.

Vor dem Laden klebte Danielas Mutter Sonderangebote und glotzte herein. Sicher, denkt Tanja, hätte Dions Mutter nichts dagegen, wenn ich eine Zeitlang hier wohne. Hat mich bis vor die Tür gefahren und sogar eingeladen, einmal herüberzukommen, um Kleider und Frisuren auszuprobieren. Erst als die Katthusen sich herüberbeugte, mit dem Finger auf die Wange tippte und einen Kuss verlangte, hat sie die Schnapsfahne gerochen. Sie, Tanja, sei etwas Besonderes. Sie drückte die Tür auf. Hör auf dein Herz, rief sie ihr hinterher, nicht auf deine Eltern!

Ein dumpfer Schlag im Haus. Was war das? Tanja lauscht nach oben. Ich habe den zweiten Ziegel vom Dach gerissen, zwänge mich durch das Loch und schaue mich im Speicher um. Balken, die nicht nachgeben, wie sehr ich auch daran rüttele. Die Lattung ist gut verzimmert, die alten Ziegel aber teils schon angebrochen. Hier setze ich meine Arbeit fort. Unten höre ich Tanja gicksen.

Komm, lass uns was Lustiges spielen! Sie zückt Kamm und Schminkstift. Mit ein paar Handgriffen hat sie dich zum Ebenbild in Brünett gemacht. Legt dann selbst nach, hier ein Tupfer, dort ein Strich, die Mähne toupiert, Haarspray drauf, im Spiegel schmiegt sie sich an deine Schläfe. Lesbische Liebe gibt’s bei den Libellen nicht, knirsche ich mit Tonbröseln zwischen den Zähnen und trete ins Bad. Ein kalter Luftzug fährt dir unter das Nachthemd.

Erschrocken drehst du dich zur Tür, wo Margas Kleider am Haken schaukeln. Auch im Flur schwanken die Schatten. Ob das von den Tabletten kommt? Tanja biegt sich vor Lachen und wirft den Wattebausch weg. Aber was, denkt sie, wenn er merkt, dass ich lüge? Wohin, wenn er mich rauswirft? Sie muss eine Taktik finden, wie sie seine beste Freundin werden kann. Ich liebe Hannes nicht, sagt sie und schaut dich herausfordernd an. War das gut?, fragt sie sich, glaubt er mir? Keine Sorge, beruhige ich sie, das war genau der richtige Ton für Intimes von Schwester zu Schwester. Raus mit der Wahrheit!, rufst du in Gedanken, und sie mit beschwörender Stimme, als hätte sie es in deinem Blick gelesen: Mit ihm macht es halt Spaß. Spaß!, echot es in deinem Kopf, das Codewort zum Freundehaben, Jummebaden, unaussprechbar für einen wie dich.

Er mache all die Sachen mit ihr, die sie wegen ihrer Krankheit nicht dürfe, Bier trinken, ins Hallenbad, Mofa fahren. Schau! Sie zerrt den Ausschnitt ihres Pullovers über die Schulter, tippt auf eine Stelle und grinst: Da hatte ich von ihm einen blauen Fleck.

Rückblickend kommt es ihr wie lange geplant vor: als er so plötzlich bei ihr auftauchte, Ende September, kurz nach dem großen Krach mit der Freundin. Er wollte eine Runde mit dem Mofa drehen, sagt sie und spürt, wie die Geschichte dich anspitzt. Dabei habe es in Strömen geregnet. Zum Glück sei die Mutter im Singkreis gewesen, der Vater nach Rahse, ein Todesfall. Nur Jule, die kleine Schwester, erinnert sie sich, lugte durch die Tür, musterte Hannes neugierig und rief: Mama sagt, du bist ein Rüpel! Dann setzte sie sich die Puppe auf den Kopf, hüpfte durch den Flur und quäkte Rüpel, Rüpel, immerzu dieses Wort. Sie sperrte die kleine Schwester ins Bad.

Er war ganz rot im Gesicht, lacht sie, seine Löffel haben richtig geglüht. Sie zückt den Lippenstift und malt dir übermütig einen Strich aufs Ohr. Dann waren da plötzlich Kälte und Regenschauer, die zur Diele hereinfegten. Im Bad trat Jule gegen die Tür. Hannes deutete zu seinem Mofa auf dem Platz und sagte: Spritztour?

Kein Schwein fährt bei dem Wetter draußen herum, zögert sie die Pointe hinaus und sieht in deinen blitzenden Augen, wie du jetzt mehr wissen willst, alle Details, die ganze Geschichte. Wie er mir die Gangschaltung erklärte, orakelt sie, als wäre ich sein bester Kumpel. Sie sei sogar selbst ein Stück gefahren, auf dem Heidedamm, durch Pfützen, die unter den Rädern wegspritzten.

Im Halbdunkel hinter den Lidern, die von den Schmerztabletten schwer geworden sind und den Blick verschleiern, sieht sie wieder das schaukelnde Moor um sie herum, spürt noch einmal seine Hände: Er saß hinter mir, lockt sie dich, und hat mich sacht in die Kurven gedrückt, so, wie es die Profis machen. Profis, wiederholst du in Gedanken und weißt schon, wie sie das meint. Richtig gefährlich sei das gewesen, nickt Tanja.

Hannes ließ das Mofa vorne hochgehen wie ein scheuendes Pferd. Von Danielas Zimmer aus schaut man auf die Torfkuhlen, weshalb sie sich vorstellte, wie die Eifersüchtige Hannes und sie beim Ritt durch das Moor beobachtete, aber das erzählt sie dir nicht. Er schlug vor, über die Torfrippen zum Teich zu fahren, das würde ordentlich schütteln. Sie rief hü hott!, die Räder drehten durch, hinten schoss eine Schlammfontäne hoch. Mit fuffzig Sachen, lacht sie, sind wir über die Buckel. Sie hüpfte auf dem Gaul rauf und runter und hatte nun doch ein wenig Angst.

Doch das ist nur die halbe Geschichte. Den Rest, den sie dir verschweigt, hast du in deinem Versteck zwischen den Erlen ja selbst gesehen. Sie sind dort ins Schilf – weil Hannes eine rauchen wollte, würde Tanja sicher behaupten. Doch du weißt es besser, willst widersprechen, die Wahrheit aus ihr herauskitzeln: Hat er sie nicht unter Vorwänden in die blickdichten Binsen gelockt? Ich wische dir mit kaltem Hauch über den Mund; erinnere dich an unseren Pakt! Das bleibt dein Geheimnis!

Natürlich folgte sie ihm, obwohl ihr der Teich unheimlich ist. Immer dampft es dort, und es gibt Tiere. Sie mag Pferde, Schafe, weil jedes anders blökt; und Kühe, wenn die von der Weide herüberstarren, bereiten auch ihr diesen wohligen Schauder, als wären es in Rinder verwandelte Außerirdische, die Informationen über die Menschen sammeln und ihr Wissen ins Weltall funken. Wahr aber ist, dass ihr im Schilf nicht wegen der Blicke irgendwelcher Kreaturen unbehaglich wurde. Von Daniela wusste sie, dass Hannes auch dort schon mit ihr die Sache gemacht hatte. Im Schilf sehen es nur die Vögel in den Bäumen, die funken es den Kühen drüben auf der Wiese, und, zack, weiß es ihre Mutter, die einen guten Draht nach oben hat.

Du gibst einen zweifelnden Laut von dir, als sie deine Hand nimmt und auf die Stelle legt, wo angeblich der Bluterguss war. Okay, mit solch Kinderkram kann ich euch nicht mehr kommen. Sie hat sich dennoch zum Dorf umgedreht, als Hannes immer tiefer in die Binsen vordrang, die vom Wind geknickt waren. Niemand sollte sehen, was gleich geschieht. Sie wusste ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie drüben im Erlengestrüpp schon längst einen Beobachter hatten. Hannes, der fast eins neunzig groß ist, überragte das Schilf, und das war der Moment, als du die beiden bemerkt hast.

Schau, sagt sie und drückt deine Finger fest in ihr Fleisch, sie sei gar nicht so anfällig, wie alle denken. Ich bin schon mit gebrochenen Knochen zur Welt gekommen, was soll da noch passieren? Sie blickt dich mit erwartungsvollen Augen an, rückt noch enger, die Schlange, denkst du, so hat sie es am Teich auch mit Hannes gemacht.

Dabei will sie doch nur deine Nähe, ein bisschen Trost und Gewissheit, dass du es gut mit ihr meinst. Ist doch eh alles egal, seufzt sie und presst deinen Daumen noch fester auf die knochige Schulter. Damals, erinnert sie sich, war der Fleck violett und fingerlang, von der Achsel bis fast auf die Brust. Sie hat ihn der Mutter gezeigt, nicht wirklich, aber im Badezimmer auch nicht vor ihr versteckt, sie war fast ein wenig stolz darauf. Woher sie das habe? Die Mutter packte sie am Arm, was wirklich gefährlich ist – als Säugling, so erzählt sie es immer mahnend, habe sie Tanja herumgetragen wie ein rohes Ei. Da ist es mit ihr durchgegangen. Dass die Mutter mit dieser Krankheit gar keine Kinder hätte bekommen dürfen, dass sie die Kinder nur hat, um ihrem Gott zu gefallen, so hat sie es ihr ins Gesicht geschrien. Die Mutter stieß sie auf den Stuhl, und sie, Tanja, den Arm durch die Lehne und wie einen Knoten um den Stuhl herum. Sie erinnert sich, wie es gekracht hat. Nicht in ihrem Arm, aber im Holz; sie wusste gar nicht, dass sie so viel Kraft aufbringen kann, wenn es darauf ankommt. Die Mutter wie im Schock, ganz bleich, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Aber stattdessen eine Ohrfeige. Im Spiegel hat sie die Fingerstriemen gesehen, den unmissverständlichen Beweis. Sie deutete auf den Bluterguss und rief: Von dir ist das!

So wollte sie es Frau Doktor Burgwarth erzählen. Doch die hat sie zum Jugendpsychologen geschickt, der ihr komische Fragen stellte. Wie sie ihren eigenen Körper sehe, zu dünn oder zu dick. Genau richtig, erwiderte sie, und dass Daniela zu fett geworden und deshalb jetzt so gemein zu ihr sei. Der Psychologe – ein Mopsiger mit Brille und Schnauzer – hakte nach, wieso zu fett und was Daniela mit der Sache zu tun habe. Da hat sie ihm die ganzen Lügen aufgetischt: Dass Hannes und sie im Heuboden und in der Sakristei die Sache machen, und bei den verschiedenen Stellungen, die sie ausprobieren, könnte es schon mal vorkommen, dass er sie zu grob anfasst.

Der Therapeut schrieb mit, nahm zwischendurch die Brille ab und rieb sich die Lider, wo sie nur zwei kleine Schlitze sah, die Brauen als Borsten darüber, wie bei einem Maulwurf.

Ob ihr Freund, der Ha-hannes, las er vom Blatt ab, ihr schon gesagt habe, dass er sie liebe? Sie hatte bedeutungsvoll genickt, das war es ja, dachte sie, was er hören wollte. Und wenn er sie einmal nicht mehr liebe? Die Frage hatte sie nicht verstanden. Er hielt ihr daraufhin einen Vortrag über ihre Krankheit, all das, was sie längst wusste: dass ihr Körper nicht unbedingt wachse wie bei den anderen Mädchen, dass die anderen Mädchen schneller, gerader, gesünder und so weiter, und Ha-hannes, stammelte er wieder, der würde ja auch noch älter werden, wie alt der überhaupt sei, und dass er dann die anderen Mädchen unter Umständen lieber haben könnte. Sie hat die Schultern gezuckt und gesagt: Dann mach ich eh Schluss. Mit Hannes, nickte er zufrieden, und sie: Nein, mit meinem Leben.

Es stimmt so nicht ganz, sagt sie und schaut dich schuldbewusst an. Sie habe da etwas ausgelassen. Sie nimmt deine Hand und legt sie dir auf die Brust, wo dein Herz anhämmert gegen den Drang, ihr zu sagen, was du damals in deinem Versteck wirklich gesehen hast. Sie packt ihre Hand noch dazu, schwöre es, flüstert sie, dass du es niemandem verrätst! Nie dürfe ihre Mutter davon erfahren: wie das Mofa in einer schlammigen Kuhle hinten ausgebrochen ist und sie vom Sattel geschleudert wurde. Du hältst den Atem an, lässt dann die Luft mit dem knackenden und splitternden Wort herausströmen: hge-hbrochen? Tatsächlich glaubst du nun wieder das Geräusch zu hören, als Hannes sie an sich heranzog und du raus aus dem Unterholz und nach Hause gerannt bist. Sie hebt bedeutsam die Schultern, ihre Stimme klingt nun fast drohend, noch immer tue ihr die Stelle weh, und sie pflückt mit der Linken den Klumpen eurer ineinander verhakten Finger von deiner Brust und schiebt ihn auf die unsichtbare Wunde, und damit auch wirklich nie jemand erfährt, dass Tanja dich in dem Moment, als Hannes sie über den Baumstumpf bog, am gegenüberliegenden Ufer bereits entdeckt hatte, lege auch ich noch meine kalte Hand auf ihr Herz und dir die Lüge dieses Nachmittags für alle Zeit in den Mund. Es poltert im Schnürboden. Tanja schreckt auf. Wo ist eigentlich Ronja?, ruft sie.

Alle ab.

◆◆

Auch deine Mutter ergreift vor dem Spektakel die Flucht. Sie fährt von ihrem einsamen Logenplatz auf der Parkbank des Altonaer Balkons hoch und eilt im Laufschritt zurück. Erst da spürt sie das Pochen im Rücken, Stiche zwischen den Schultern, die sie durch die Straßen vorantreiben und gleichzeitig drängen, an der nächsten Ecke endgültig stehen zu bleiben, von nun an keinen Mucks mehr zu tun. Wieder dieses altbekannte Gefühl, gegen einen Widerstand anzulaufen, der sie, sobald sie innehält, an Orte zurückkatapultieren würde, von denen sie sich in jahrelangen Kämpfen befreit hatte, überwältigt von einem Schmerz, der nur zu ertragen ist, wenn sie sich seiner Gewalt ergibt.

So hat sie alle Stationen hinter sich gelassen: das Mädchenheim, das Modehaus, den Heidedamm, die Nervenheilanstalt Ochsenzoll, ein Name, mit dem schon damals die Diakonissen den widerspenstigen Mädchen drohten; er klang nach Pferchen, Peitschenhieben und noch strengerem Drill. Dabei hatte sie ausgerechnet in der Psychiatrie für Momente die Erleichterung gefunden, fast eine Art Glück, an einem Ort angekommen zu sein, wo sie zwar nicht bleiben wollte, der sie aber bleiben ließ. Ihre Stimmungsschwankungen wurden schwächer, diese anhaltende Bewegung aus der Starre heraus in einen Sturz, der an seinem äußersten Punkt wieder zurück in den Stillstand mündet, pendelte aus. Ausgerechnet in der Stille und Leere der nach Chlorreiniger riechenden Flure hatte sie nicht mehr den Zwang verspürt, malen zu müssen, und die Medikamente, die diesen Stachel kappten, mit Dankbarkeit und Demut geschluckt, zweimal täglich ein Plastiktöpfchen voll der Gnade einer nahezu allumfassenden Gleichmütigkeit, und die Krankenkasse zahlte, wo bekam man das schon?

Sogar ihren fetten Arsch hatte sie dafür in Kauf genommen. Nachdem der junge Stationsarzt, einer mit breiten Schultern und sanfter, leidenschaftsloser, sozusagen gnädiger Stimme, sich gegen ihren Augenaufschlag immun gezeigt hatte, war sie bereitwillig und am Ende sogar mit grimmiger Lust auseinandergequollen wie ein Hefeteig, froh, dass man ihr auch diesen letzten Dorn gezogen hatte. In Ochsenzoll war sie für ein paar Monate zur Ruhe gekommen. Sie streckte sich aufs Bett, lauschte in ihren sich stetig ausdehnenden Körper – und hörte nichts. Die Neuroleptika hatten den Stoffwechsel auf ein lebenserhaltendes Minimum gedrosselt und alles, was noch ziepte und piekste, in dämpfende Polster gepackt. Erst das Elektrokrampfgerät, das man ihr nach eindringlichen Gesprächen dreimal wöchentlich an die Schläfen kabelte, brachte das Pendel wieder in Schwingung. Oder war es doch der unerwartete Besuch von Daniel Röcker gewesen?

Sie war weitergerannt; zurück nach Fenndorf, später dann wieder Hamburg, die Wohngemeinschaft in der Susannenstraße, der Pulverteich in St. Georg, wo sie es immerhin fast acht Jahre aushielt. Auch die Nutten waren umgezogen, vertrieben von den Sanierungsmaßnahmen in St. Pauli, drückten sie sich nun nachts in ihrer Straße herum. Ein Jahr Berlin, kurz nach dem Mauerfall, nach Monaten begriff sie, dass sie nur dorthin war, um in der Nähe ihres Jungen zu sein. Ein von ihr mehr oder weniger erzwungenes Wiedersehen – nur zwei Stunden in einem Café –, dann ihre Flucht zurück nach Hamburg; wieder Ochsenzoll, fast ein halbes Jahr, dieses Mal ließ man sie bleiben. Der Stationsarzt war längst weg, die modernen Medikamente und das verordnete Fitnessprogramm hielten auch ihre Mitpatientinnen jenseits der Wechseljahre einigermaßen in Form. Man schickte sie in die Kunsttherapie, setzte im tiefenpsychologischen Gespräch ganz auf die Aussöhnung mit dem inneren Kind und empfahl sich nach fünf Monaten freundlich; man könne nun nichts mehr für sie tun.

Sie zog nach Eimsbüttel, wo sie mit Kathrin, einer Lesbe, wohnte, unweit des ehemaligen Mädchenheims, das jetzt ein Sterbehospiz ist, modernisiert und, wie sie gehört hat, mit Palliativstation. Dorthin, denkt sie, wird sie einmal zurückkehren. Die Kreise sind noch immer nicht zur Linie, nur weiter geworden, spiralförmig drehen sie sich aus der Rückennarbe heraus und führen am Ende aller Windungen wieder an den Ausgangspunkt zurück, zwischen die Schulterblätter und in ihren Körper, der von allen Orten der einzige ist, der selbst nach ihren wiederholten Treuebrüchen hartnäckig bei ihr bleibt, obwohl, denkt sie, es nun an der Zeit wäre, es tatsächlich hinter sich zu bringen, als Frau Ende fünfzig mit Würde den Körper zu verlassen, diese flimsige Kiste, bevor es zu spät ist, und sie reißt die Tür auf und stolpert ins Haus.

Brandgeruch schlägt ihr entgegen, bedrohlicher als jemals zuvor. Die Party in der Wohngemeinschaft scheint davon unbehelligt, auf halber Höhe der Treppe lungern junge Leute und prosten sich zu. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal, vor ihrer Wohnungstür klammert sie sich keuchend an den Handlauf. Der Rückenschmerz krümmt sie übers Geländer, für einen Moment scheint ihr keine weitere Bewegung mehr möglich. Sie spürt sich rutschen, will ihren Körper, beklatscht von den Jungen und Schönen, am Boden zerschellen sehen und hat sich doch keinen Millimeter aus ihrer Verklammerung gelöst. Zu Bruch fallen ja, verbrennen nein; den Feuertod oder, schlimmer noch, ein Überleben mit einem Gesicht wie aus dem Horrorfilm hat sie schon immer gefürchtet; sie will es entweder sanft im Schlaf oder den kurzen und schmerzlosen Sturz.

Aus der Pfanne schlagen bereits die Flammen, genauer gesagt aus dem Küchenhandtuch, das die Schäfer noch hineingeworfen haben muss, bevor sie ihr Abendessen endgültig vergaß. Der Wasserstrahl zischt auf den glosenden Klumpatsch, verdampft zu giftigem Rauch. Warum lässt sie die Alte nicht einfach ersticken? An deren Stelle, in diesem Alter, wäre sie dankbar für eine jüngere Nachbarin, die aus Erbarmen das Spiegelei brennen lässt.

Frau Schäfer liegt schon sterbensmüde in ihrem Sessel vor dem Apparat, wo ein Schlagerstar aus dem Wunschkonzert seine Schnulze singt: Du brauchst dich doch bloß umzusehen / Berge, die bis zum Himmel gehen … Sie reißt den Stecker aus der Stromdose, die Röhre erlischt mit einem Lichtknall, knistert nach. Das Zimmer jetzt grabkammerdunkel, in den Ecken kauern die Möbel wie Unterweltstiere, zum Fenster herein flackert die ewige Nacht, das weiße Rauschen.

Die Alte seufzt und träumt von Florian Silbereisen, dem jauchzenden Engel und Glück aller einsamen Witwen, dem Julius, denkt sie, sogar ein wenig ähnelt. Sie sieht ihre blaugeäderte Hand, die Augenlider, Mundwinkel, Altersflecken, das ganze Aufgebahrte und Abholbereite im Takt der Melodie zucken, die noch immer in ihrem Kopf nachhallt und sich als Ohrwurm tief und tiefer bohrt, auch deiner Mutter, Dion, frohlocken schon die blonden Heerscharen, also, lass Gnade walten!

Du aber schreibst ihr Zerberus und Gorgonennatter ins Hirn. Sie glotzen aus den Löchern, kriechen heran, Schatten wie Zungen schnellen aus den Bauten, wickeln sich ihr um die Waden. Sie taumelt. Die dritte Lexotax war eine zu viel. Das Zimmer scheint ihr immer kleiner zu werden, Wände wachsen ins Innere, die Decke wölbt sich herab; obwohl die Wohnung im dritten Stock liegt, fühlt sie sich plötzlich wie in einer Höhle, tief unter der Erde, jenseits der Zeit; auf den Gemälden ist der mythische Tartaros von einer ehernen Mauer geschützt. Eiche, knarrt die Kommode und spuckt die Schublade mit den alten Fotos aus, die Frau Schäfer wehmütig stimmen. Sie muss ihr jedes Mal die Alben aufblättern, wenn sie einen dieser Vergangenheitstage hat. Drüben liegt aufgeschlagen das Buch ihres Jungen, das sie, anhustend gegen den Höllenqualm, auf die Kommode geworfen hat. Jede Blume und jeder Baum / jedes Lachen und jeder Traum …

Es tönt aus dem Roman, denkt sie, falsch, aus der Schublade!, nein, sagt die, vom Fernseher, und Marga fährt herum, doch die Mattscheibe ist abgeschaltet und nun das Stillste und Schwärzeste in all dem Stillen und Schwarzen, das sich wie ein Sarginnenraum um sie schließt, und draußen rauscht die Nacht, funkeln die Lichter, Sterne hell wie Diamant / und das unendlich schöne Land.

Dann, kurz bevor die Möbel sie zerquetschen, hört sie den Tropfen. Einen winzigen, aber echten Laut im Gewirr der künstlichen Stimmen, die ihr noch immer durch den Kopf schwirren, und noch bevor sie es sieht und ohne den Tropfen, der vom Rock auf den Boden fällt, wirklich gehört zu haben, weiß oder besser riecht sie, dass Frau Schäfer sich vollgepisst hat.

Sie knipst die Stehlampe an. Medusa und Hadeshund weichen zurück, drücken sich in die Winkel, verharren mit offenem Maul. Auf dem Parkett breitet sich eine Pfütze aus. Frau Schäfer schnarcht leise, ihre Lippen blähen sich auf, fallen dann wieder in die zahnlose Mundhöhle zurück. Das Gebiss hat sie bei ihrem letzten Besuch nicht mehr gefunden, obwohl sie sogar unter das Bett gekrochen ist, wo der Staub von zwölf Jahren Einsamkeit zwischen ihren Fingern zerstob, auf einer Batterie leerer Pikkoloflaschen.

Frau Schäfer! Marga stürzt hin, packt sie am Arm und reißt sie aus dem Sessel. Mit Wucht fällt der schwere Körper zurück in den Piss. Sie wischt sich die Hände an Frau Schäfers Strickweste ab, stemmt sich mit voller Kraft gegen das Möbel. Unter den Fußhölzern verheddert sich der Läufer, nach zwei Metern gibt sie auf. Erika, bitte!, fleht sie die Schlafende an, die nun die Augen aufreißt, sie erschrocken anblickt und sagt: Habe ich den Wecker wieder nicht gehört?

Sie kippt die Verwirrte aus dem Fauteuil. Geschickt fängt die sich am Türrahmen ab und tappt ins Badezimmer, auf die Wanne zu, wobei sie sich, wie in den letzten Wochen allabendlich geübt, an der Einstiegshilfe festhält, die Marga aus dem Sanitätshaus besorgt hat, gegen einen Zweihunderter, den sie nicht in Frau Schäfers Geldbörse, aber in der Schatulle fand, die sie aus dem Sektflaschengebirge unter dem Bett gegraben hatte, eine alte Schmuckkiste, in der sich noch ganz andere Kaliber verbargen, Goldmünzen, Ringe und Sparbücher. Mit dem Restgeld in der Tasche, unterm Arm das stabilste Gerät, ist sie anschließend in eine Boutique, hundertfünfzig für ein neues Kleid erschien ihr in Anbetracht all ihrer Notdienste wie ein Taschengeld.

Erika Schäfer setzt den Pantoffel aufs Trittbrett. Erst ausziehen!, ruft Marga, fängt den schwankenden Leib ab und pellt ihn aus der Kleidung. Sie löst die Bünde, die Häkchen am BH, reißt schließlich, weil die Widerspenstige um sich schlägt, den Strumpf, der sich im Gerangel im Reißverschluss verfangen hat, mit der Nagelfeile auf.

Wie sie nun in der Wanne liegt, nackt, wehrlos und beschämt, spätestens jetzt, denkt Marga, sollte sie, die Jüngere, die in fünfzehn, höchstens zwanzig Jahren, wenn sie das überhaupt noch schafft, das gleiche Schicksal ereilen wird, ein wenig Mitgefühl für ihre senile Nachbarin aufbringen. Warum nimmt sie sich, mit diesen Reichtümern in der Schatulle, keine Polin? Die würde gleichgültig mit dem Duschkopf hantieren, kalt oder warm, egal. Ich aber, denkt sie, bin eine feinfühlige Frau mit Herz und Verstand und weiß, wie die Arme leidet. Sie streichelt, tätschelt und drückt, bis die Zitternde sich langsam lockert. Der Heißwasserstrahl pladdert auf die fahle Haut, färbt sie brandrot. Marga braust den Rücken ab, Busen, Bauch und das Geschlecht mit dem spärlichen weißen Haar. Frau Schäfer wehrt sich, stößt zuletzt einen Ton aus, der ihr im Ohr trillert. Sie dreht ihr den Waschlappen zwischen die Beine, kämpft gegen die Stiche im Schulterblatt, das sich wie verkantet anfühlt und ihren Körper auf die Alte herabzwingt, als wäre das nun die letzte Pose, die von ihrem Leben bleibt, sichtbar für alle, auf ewig festgeschrieben in deinem Buch: bis zum letzten Atemzug gebeugt über die Genitalien der anderen.

Hier ist sie die abgebrühte Krankenschwester der Rentnerin, dort die Rabenmutter aus dem Moor, die den Sohn abserviert hat. In ihrem Kopf schallt noch immer das böse Wort aus dem Buch ihres Jungen, und Frau Schäfer winselt und weint das Echo zu dem Schimpf, der vielleicht noch ihren Grabstein verunstalten wird, abgewichst, das Wort, das bleibt.

Ja, muss sie zugeben, es ist eben passiert. Im Nachhinein hat sie sich so sehr dafür geschämt, dass sie dir wochenlang nicht mehr in die Augen blicken konnte. Letztendlich war das sogar der Grund, warum sie ein paar Wochen später die Überdosis geschluckt hat; du solltest sehen, dass es auch ihr mit der Sache schlecht ging.

Sie war, ohne anzuklopfen, ins Badezimmer geplatzt, na und? Was hattest du schon vor ihr zu verbergen? Deinen Pimmel, du selbst hast es so geschrieben, hat sie bereits in der Hand gehabt, als er noch eine Larve war. Warum plötzlich so zimperlich?, soll sie gesagt haben, und mehr noch: In deinem Buch musste sie lesen, wie sie anschließend, wie zum Beweis ihrer mütterlichen Macht, das Klopapier abrollte, um den Beweis deiner Liebe und Ergebenheit, auf den sie aus war, schnell wegzuwischen und fort damit ins Klo.

Alles Unsinn! In Wahrheit sind ihr, kaum dass sie seine Hand an sich herangezogen hatte, schon die Tränen in die Augen geschossen. Sie weiß es noch genau: wie sie ihn an sich gedrückt und seinen Arm, damit er sie für einen Augenblick festhält, um ihren Hals gelegt hat. Gezwängt, heißt es im Buch, wobei sie etwas gesagt haben soll wie: Wenigstens du könntest ein bisschen nett zu deiner Mutter sein. Meinetwegen, denkt sie, und dass ihr Vorwurf sogar gerechtfertigt war, hatte er ihr doch seit Wochen die kalte Schulter gezeigt. Aber dass sie seine Hand mit Gewalt auf ihrem Körper herumgeschoben habe, zuletzt unter das Kleid, niemals! So habe sie sich ihm dargeboten, verunglimpft er sie in seinem Buch, und Frau Schäfer, gekitzelt vom Lappen, quiekt auf.

Sie hat Mühe, ihre Faust zwischen den Schenkeln hervorzuziehen, die Alte, scheint ihr, strotzt plötzlich vor Kraft. Der Duschkopf schnalzt hoch, eine Fontäne spritzt ins Bad. Sie zwingt die Flüchtende in die Wanne zurück. Unter Wasser wirken die Augen noch starrer und trüber, nun gänzlich weggetreten in die andere, die bessere, von Silbereisen besungene Welt, doch das Gesicht, so panisch und aufgelöst in den Strudeln, scheint wieder lebendig, fast jung. Der Dutt löst sich auf, graue Strähnen durchziehen das Wasser. Blasen steigen vom Mund auf, Melodiefetzen darin, helle, glockenklare Stimmen, von blonden Engeln mit gestähltem Bizeps und in blauer Ballonseide, zuckend über den Harfen: Ich glaube an Gott, ich glaub daran / Ich bin ein Teil von seinem Plan …

Sie wollte das nicht. Es war wie ein Zwang. Eine unvermeidbare Bewegung, ein Reflex. Plötzlich das Gefühl, dass sie nur dort noch würde weiterleben können, in dieser engsten Berührung mit ihrem Jungen. Wie sehr sie ihn in diesem Moment liebte. Wirklich geliebt!, ruft sie ins gurgelnde Wasser hinab.

Also sei sie wie immer mit ihrem Mund gekommen. Mit ihrem Kussmaul, heißt es in deinem Buch, als könnte sie nur auf diese Art dem Leben, für das sie doch nichts als Ekel und Gleichgültigkeit empfand, einen Höhepunkt abringen, dir den kleinen Spritzer der Liebe herauspressen, die ihr alle anderen bisher verweigert hatten, trotz ihrer Gerissenheit und Listigkeit, schreibst du, trotz Hurenherz und Mutterwitz.

Sie springt zurück und taumelt aus dem Bad, das Rauschen des Duschkopfs hält an, ist nun das einzige Geräusch in ihrem Kopf, ein allgegenwärtiger Hall, wie von einem fernen Meer. Das Wohnzimmer erscheint ihr kleiner als zuvor, als wären die Möbel nicht mehr ganz an ihren Platz zurückgekehrt. Das Schrankungetüm klafft mit offener Klappe, kein Maul, doch die weißen Porzellanvasen, die darin blinken, erinnern tatsächlich ein wenig an stumpfe Zähne. Im Lampenschein entpuppt sich der Medusenkopf in der Ecke als der Staubsauger mit verknotetem Schlauch. Stumm glotzt der Fernseher, Silbereisen hat ausfrohlockt, ist abgefeiert, fickt jetzt die Engel. Draußen kriecht ohne Laut der Scheinwerferkegel eines Autos über die Fassade. In einem der gegenüberliegenden Fenster flackert es blau. Sie sehnt sich nach einer Zigarette; binnen Sekunden wird der Suchtdruck zur Folter. Fast zehn Jahre lang hat sie es geschafft, die Finger von den Kippen zu lassen, dann ein paar Seiten aus den Erinnerungen ihres Sohnes, und jetzt das. Sie will Nikotin, Alkohol, Lexotax, die ganze Dröhnung. Die frischen Pikkolos hortet Frau Schäfer im Bodenfach der Kommode, das lauwarme Gesöff schäumt ihr im Mund. Sie nimmt das Buch und klappt es mit Kraft zu; der Knall schallt durch die stille Wohnung, ein Geräusch wie vom zuschlagenden Deckel eines Sargs.

Auch das wäre nun geschafft. Sie hat seine Kränkungen weggesteckt, nicht mehr oder weniger beschädigt als schon zuvor. Jetzt wird sie weitermüssen, weg aus Hamburg, sogar ins Ausland? Sie schüttelt sich, angewidert schleudert sie die Flasche in eine Ecke. Nein, dieses Mal darf sie nicht fliehen! Mit dieser Schande will sie nicht ins Grab. Sie wird weiterlesen und am Ende alles widerlegen können. Aufrecht und mit Würde wird sie ihm auf der Insel begegnen, erhaben über sein geschwätziges Kleinklein. Noch immer wird sie die Mutter sein und er das Kind. Auch dem Vierzigjährigen noch die Welt erklären müssen, ihn lenken und leiten, damit er ihr im Gegenzug einmal den Arsch wischt, wenn es so weit ist.

In dem Sekretär, der von Krimskrams überquillt, findet sie Briefpapier und Kuverts, sogar ein Heftchen mit Marken. Sie nimmt ihre ganze Konzentration zusammen und schreibt, in tadelloser Orthographie und mit ihrer noch immer kindlichen Handschrift: Wir sehen uns auf Sylt, aber unter einer Voraussetzung: Wir sprechen nicht über dein Buch, sondern über uns, wobei sie das letzte Wort zweimal unterstreicht.

Ob sie dich an jenem Abend tatsächlich bearbeitet hat, bis es dir kam, weiß sie nicht mehr genau. Wahrscheinlich nicht. Und wenn doch, denkt sie und setzt ihre Unterschrift hin, das M mit dem energischen Punkt, wenn es stimmt, was er schreibt, dann hat er eben sein erstes Mal mit einer Frau gehabt, die ihr Handwerk versteht.

Erst im Treppenhaus bemerkt sie, dass ihr das Kleid am Leib klebt, nass vom Kampf in der Wanne. Sie sollte sich etwas überwerfen, denkt sie, sonst holt sie sich in dieser Nacht tatsächlich noch den Tod. In ihrer Hand knickt sie den Brief, den sie noch um einige Sätze ergänzt hat, schier unüberwindbare Worte, die sie auf Schmierpapier vorformulierte: Ich freue mich genauso wie ich Angst habe, ich hoffe, du auch. Zuletzt hatte sie die Adresse von seinem Brief abgeschrieben, der noch immer im Umschlag des Buches steckte. Sie bemühte sich um eine neutrale Schrift in Druckbuchstaben; niemand sollte sehen, wie bang ihr bei den schwersten Worten war, die sie je zu Papier gebracht hatte.

Frau Schäfers Strickweste liegt auf der Schwelle zum Badezimmer. Marga wirft sie sich über, schaut dabei nicht dorthin, wo es plätschert und spritzt. Ich bin gleich wieder da, ruft sie der Badenden zu, und dass sie das medizinische Gel nehmen soll. In der Wohnungstür schiebt sie einen Pantoffel als Keil in den Spalt, steigt unten auf dem Treppenabsatz über einen Typen, der im Suff weggeratzt ist. Der Rest der Feiernden hat sich in die Wohnung verzogen, Musik und Gelächter dringen heraus. Sie zieht dem Schlafenden die Bierflasche aus der Hand und leert sie in einem Zug. Durchwühlt seine Hosentaschen nach Zigaretten, findet nur ein Feuerzeug und ein Tütchen mit einem Klumpen Haschisch, den sie einsteckt. Der Typ, ein Hagerer mit fusseligem Bart, sackt zur Seite weg. Kurz bevor er mit dem Kopf aufschlägt, fängt Marga ihn ab, lehnt ihn zurück gegen die Wand. Sie nimmt sich aus der Bierkiste noch eine Flasche und verlässt leise das rauschende Fest.

Die Haustür ist schon zu, als ihr der Schlüssel einfällt, der in ihrer Handtasche liegt, in irgendeiner Ecke von Frau Schäfers Wohnung. Sie rüttelt am Knauf, drückt die Klingel der Wohngemeinschaft, wo sich im offenen Fenster die Silhouetten aneinanderschmiegen. Niemand beugt sich heraus, nur die Bässe hallen in der engen Straßenschlucht. Irgendwer wird schon aufmachen, denkt sie und läuft in die Nacht.

Der Briefkasten steht zwei Häuserblocks weiter. Sie schlägt die Abkürzung über die Grünanlage ein, geht dann doch den Umweg, wegen des Hundekots in den Rabatten. Ein Mann mit Schultertasche holt auf, eilt rauchend an ihr vorüber, abgehetzt von irgendeiner Spätschicht. Sie räuspert sich, bittet um eine Zigarette. Der Typ dreht sich widerwillig um, mustert sie mit müden Augen, einer Mitte vierzig, sie kennt sein Aftershave, kann die Einrichtung seiner Wohnung erraten, eine kleine Speckrolle überm Gürtel. Ich habe mich ausgesperrt, sagt sie, er zuckt die Achseln, brummt etwas von Schlüsseldienst und fummelt die Zigarettenschachtel aus der Jacke.

Darf ich auch zwei?, sagt sie, wer weiß, wann die anrücken, er verdreht die Augen. Sie steckt sich mit der einen Hand den Filter zwischen die Lippen, die andere umklammert die Bierflasche, ob er ihr die öffnen könne? Er knackt den Kronkorken mit dem Feuerzeug, ohne ihr die Flasche aus der Hand zu nehmen; sie trinkt, hält ihm das Bier hin. Schon halb weggedreht, schüttelt er den Kopf, sie setzt ihm den nackten Fuß in den Weg, klopft gegen die Kippe.

Das Feuerzeug will im Wind nicht zünden, sie umschüsselt seine Hand, inhaliert tief und lang. Das Nikotin explodiert ihr ins Hirn, ein Schwindel reißt sie fast zu Boden, stürzt sie in den weichen, wogenden Fall, seit Jahren das beste Gefühl. Drüben wohne eine Freundin, sie deutet die Straße hinunter, besser ich geh zu ihr. Na dann, sagt er und tritt ungeduldig auf der Stelle. Du wohnst doch nicht weit, grinst sie, ich kenn dich vom Sehen. Er rafft seine Tasche an sich und flüchtet um die nächste Ecke.

Der Brief gleitet in den Schlitz, ist jetzt unwiderruflich auf seinem Weg zu dir. Noch einmal überkommt sie der Schwindel, ein anderer jetzt, tatsächlich niederreißender, das Leben holt auf, beschleunigt rasend, stürzt voraus, sie klammert sich an den Kasten; egal, was sie nun tut, die Richtung heißt abwärts. Jetzt, da es kein Zurück mehr gibt, ist sie sich plötzlich ganz sicher: Es ist eine Falle. Ihr Junge hat sein Kriegsspiel eröffnet, setzt sie als seine Figur rachsüchtig aufs erste Feld, eine Taktik, gegen die sie mittel- und machtlos sein wird, schachmatt schon nach ein paar Zügen. Der Klapperjass seiner Kindheit, den immer nur sie gewonnen hat, ist längst vorbei, auch die Regenpantomime ein alter Hut, das Greisenspektakel, ihr Gutenacht- und Morgengeküsse, das ganze Muttertheater nun wirkungslos; ab jetzt gelten härtere Regeln, Zeitungsartikel, Interviews, womöglich sogar RTL, ihre Geschichte das große Fressen für den skandalhungrigen Mob, wie gemacht für den Sender der Lebensverlierer.

In dem feuchten Wollzeug beginnt sie zu frieren, bald schlottert ihr ganzer Körper im Todeshauch, der aus dem Kittel der Schäfer steigt. Was hat er vor? In welch Schmierenstück ist sie da geraten, ein Familiendrama der ganz besonderen Art in einem Land, wo man den besten Müttern einst Orden verlieh?, und sie steckt die Hand in das Postkastenmaul, das schon auf Fingerhöhe zubeißt.

Im Kopf spult sie Sätze hin und her, die sich in ihrem Brief besser gemacht und ihr schon den ersten Gegenschlag ermöglicht hätten, denn bei allem, was er ihr unterstellt, fehlende Bildung, Rechtschreibschwäche, Berufsausbildung im Rotlichtmilieu – keine Mutter, denkt sie, nicht einmal die blödeste, lässt sich in einen solchen Plan verwickeln, der ein mieser, fieser und abgeschmackter ist, und sie schiebt die Hand noch tiefer in den Rachen des alles verschlingenden Kastens.

Hauptsache, sie kriegt den Brief zurück! Ihre neue, überarbeitete Version wird die Vorzeichen, unter denen ihr Wiedersehen in vier Wochen steht, umkehren, mit besseren Chancen für sie, außerdem will sie es an einem ihr vertrauten Ort, nicht auf der Reicheninsel, wo allein die Hotelkosten sie schon ruinieren werden, nein, hier, so wird sie es ihm nun ankündigen, in ihrer kleinen Altonaer Klitsche, sollen sie sich treffen, wo der Pisse- und Bratgestank von Frau Schäfer in der Luft hängt und sich auf dem Tisch die Mahnungen türmen, darunter auch die Zinsabrechnung der Sparkasse, bei der sie mit einem Kredit in der Kreide steht, und in der Wiedersehensszene, wie sie ihr vorschwebt, hält sie dir das Papier mit dem Soll von zehntausend Euro unter die Nase, an einem dieser Orte, sagt sie, wo sie dich jetzt für deinen Erfolg mit Preisen ehren, hätte ich, wenn du bei mir geblieben wärst, eine eigene Galerie gehabt, und mit dem Erlös – und sie kommt mit dem Mund ganz nah –, hätte sie dich auf die beste Universität geschickt, und, flüstert sie, wenn dir auch das noch nicht genug gewesen wäre, sogar eine Stadtwohnung gekauft, wo auch immer du es gewollt hättest, nur für uns zwei, haucht sie dir ins Ohr, küsst deinen Hals und schwört, dass sie mit den billigsten Farben und in Fließbandproduktion gemalt hätte, wie die rote Sonne vor Sylt im Meer versinkt, alles, droht sie und hält dir das Buch unter die Nase, hätte ich getan, damit so etwas nicht passiert!

Der Brief, den sie aus dem Kasten gefischt hat, ist von einem gewissen Peter Hufschmid, adressiert an die Deutsche Telekom. Sie wirft ihn in den nächsten Abfallkübel. Der Telefonkonzern, denkt sie, wird nun Mahnungen schicken, eine Pfändung veranlassen, Herrn Hufschmid das Leben zur Hölle machen. Ein einziger fehlgegangener Brief, der alles zerstört. Das Meer hätte sie vielleicht noch saniert. Sie mit seiner Weite und rauen Schönheit, wie man ihm nachsagt, inspiriert, ihre Lebensgeister geweckt oder Geist und Leben überhaupt erst in sie gepflanzt. Das Moor aber hat ihr ja doch nur den Spiegel vorgehalten und ihr Leben zu einer toten und unentwegt absterbenden Wüste gemacht, und sie rennt durch die hundeverkoteten Rabatten zurück und fühlt zum ersten Mal seit Jahrzehnten den Drang, Fenndorf wiederzusehen, unter ihrem Tritt den schwankenden Boden hinter dem Haus zu spüren, wohin sie seit ihrem Wegzug keinen Fuß mehr gesetzt hat, und sie springt über den schmatzenden Rasen, spritzt durch Pfützen und sinkt in die weiche Krume zwischen den Rosenstöcken mit ihrem betäubenden Duft, läuft immer schneller zurück zu dir, denn sie hat dein Buch ja noch nicht zu Ende gelesen und ihren Brief, denkt sie, vorschnell abgeschickt, lang vor dem Schluss, wo sich bestimmt alles zu ihren Gunsten auflösen wird, in einer letzten Szene, in der du sie von ihrer Schuld freisprichst und ihr die ganze über Hunderte von Seiten angehäufte und aufgebürdete Last von den Schultern nimmst, so dass sich der Rückenschmerz, der sie nun wieder voransticht und durch die vom Sommerregen versumpfte Parkanlage nach Hause stößt, die alte, unheilbare Wunde sich auf den letzten Seiten in etwas wie Demut verwandelt, ein neues, großes, nie gekanntes Gefühl, in dem sie ausschwingen, sich in Frieden von der Vergangenheit verabschieden und ruhigen Schritts weitergehen kann, dank ihres Jungen, der sie mit seinem Buch auf diesen Weg gebracht hat, und plötzlich beschwingt und schwerelos, als hätte ihr diese Hoffnung Flügel verliehen, gleitet sie aus dem grünen Dunkel heraus auf die hellerleuchtete Straße und vor das verschlossene Haus, sieht im offenen Fenster die Feiernden und hört das Flehen der Klingel, dem sich keiner erbarmt, und sie wirft sich gegen die Tür, und die Tür wirft sie zurück, sie rüttelt am Knauf, und der reißt ihr den Fingernagel ein, sie trommelt gegen das Holz, das ihr umso härter und dicker erscheint, je größer und verzweifelter ihr Wunsch wird, weiterzulesen, wieder ganz nah bei dir zu sein und dich aus der Frostnacht, in der sie dich damals zurückgelassen hat, herauszuführen ans Licht, in die Wärme und den Frühling über dem Moor, das dann, endlich angekommen auf der anderen und besseren Seite, keine heimtückische, lebensfeindliche Ödnis mehr sein wird, sondern ein grünender und blühender Garten, doch wie sehr sie auch kratzt und hämmert, dich um Einlass bittet und sich vor dir verbiegt, du lässt deine Mutter draußen in der Kälte stehen.

◆◆

Wer klopft an der Tür? Szenenwechsel, schneller Umbau: dein Zimmer, Schrank, Schreibtisch, Wandbord mit Marmeladengläsern, leere Libellenkinder darin, die aus ihren Blasenaugen den Hund bezirzen, winselnd und mit wedelnder Rute räumt Ronja deine Sammlung aus dem Regal. Ein paar der Behälter liegen aufgesprungen am Boden. Auf dem Etikett steht Leucorrhinia dubia, Kleine Moosjungfer, und Lestes virens, was einmal die Exuvie einer Binsenjungfer war, doch von beiden keine Spur mehr. Ronja schleckt sich das Maul, scharrt weiter in den Trümmern. Tanja, Aus!- und Sitz!-Befehle schimpfend, zerrt am Halsband des Welpen, der genüsslich die Larvenhülle der Blutroten Heidelibelle zerkaut, eines deiner schönsten Exemplare. Sei’s drum, Dion, die Schätze der Kindheit sind eh längst verloren.

Wieder das Geräusch aus dem Parterre, ein Schlag, dann Getrommel. Tanja blickt ängstlich herüber, auch der Hund zieht den Schwanz ein, als wüsste er schon um die drohende Schelte. Mutter!, schießt euch dreien der Gedanke fast gleichzeitig durch den Kopf. Ist das schon das Ende des lustigen Stücks? Der große Spaß so jäh vorbei? Aber wohin mit den Kostümen? Wie so schnell das Chaos beseitigen, und welche Lüge wäre ein Ausweg?

Am besten sie versteckt sich, denkt Tanja und sucht mit den Augen nach einem Schlupfwinkel. Bis soeben schien ihr der Plan perfekt, das Abenteuer unendlich: Das Haus ist groß und verwinkelt, der Schrank von Dions Mutter voll schönster Kleider, sie hätte ihre Jeans und Miniröcke getragen, drüben sogar ein eigenes Zimmer gehabt. Weil sie aber nachts komische Geräusche hört und sich fürchtet, zieht sie bald um in dein Bett, wo ihr euch abends, eng aneinandergerückt, Schauergeschichten erzählt.

Auch dir hat die Vorstellung gut gefallen. Tanjas Eltern würden Verwandtschaft und Schulkameradinnen abklappern, am Ende die Polizei alarmieren, die Bahnhöfe und Autobahnraststätten durchkämmt, bei dir aber wäre sie sicher. Noch nie hat ein Kind aus dem Dorf hier Zuflucht gesucht. Draußen wird es immer kälter, vor den Fenstern türmt sich der Schnee, ihr seid abgeschnitten von der Welt, mutterseelenallein.

Ich rüttele wieder an der Tür, knusper knusper Knäuschen, kratzt es von draußen, wer knabbert an eurem Häuschen? Ihr fasst euch bang an den Händen. Ronja, die als Nachfahre des Wolfs weiß, dass die Märchen, aus der Tierperspektive erzählt, böse enden, antwortet mit einem angriffslustigen Bellen, rennt aus dem Zimmer und knurrt: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Du willst den Welpen zurückbefehlen, viel zu spät kommt dir der Name über die Lippen. Pech, Dion, hättest du mal besser, statt dich mit Konsonanten herumzuschlagen, die Sprache der Hunde gelernt!

Der Himmelsbote ist eine Höllenbö und stößt Hannes herein, eine Kiste in den Händen. Futter, sagt er und tritt die Tür ins Schloss. Kramt in den Vorräten, steckt die Marzipanschokolade in die eine, den Butterkuchen in die andere Tasche seines Parkas, von dem die Schneeplacken rutschen. Von Mudder, sagt er, knallt das Fresspaket auf die Kommode und grinst zu dir hoch.

Noch nie im Leben hast du dich so geschämt. Wünschst dich raus aus dem Seidenfummel und hinein in T-Shirt und Jeans, besser gleich Hannes’ abgetragene Latzhose von früher, die dir Marianne in der letzten Nacht schon auf dem Stuhl zurechtgelegt hatte. Wieso bist du ausgebüxt?, fragt er und zieht zwischen Konserven und Nudelpaketen eine Flasche hervor, die er aufschraubt und an Tanja weiterreicht. Die setzt an und trinkt, erleichtert, dass hier nicht die Mutter steht, doch da ist noch etwas anderes, eine Art Triumphgefühl, sogar Stolz, dass Hannes nun ihren Plan durchkreuzt, als wäre sein Auftauchen der eigentliche Clou ihrer Flucht, der Höhepunkt, auf den alles hinausläuft.

Sie prustet ihm eine Gischtfontäne ins Gesicht. Erst nach ein paar zerdehnten Sekunden, in denen ich alles gegen das Haus peitsche, was draußen keinen Halt mehr findet, wischt er sich die Tropfen aus dem Gesicht und sagt: Selbstgemachte Brause von Oma. Tanja bricht in schrilles Gelächter aus; deine Oma fährt im Schweinestall Motorrad, singt sie und torkelt nah an ihn heran. Beim zweiten Schluck schießen ihr die Tränen in die Augen; durch den Schleier erscheinen ihr sein Eulengesicht mit der Hakennase und der eckige Körper geradezu sanft und schön. Wie leicht plötzlich alles ist!

Dir aber wird es schwer ums Herz. Die Eifersucht ist das gelbe Gefühl, das in den Augen zwickt und Hannes’ spitze Züge zur Fratze verzerrt. Ein Mädchen, zwei Knaben, einer geht baden, reime ich dir die drohende Pleite ins Ohr und dränge dich die Treppe hinunter, hinein in Hannes’ Blick, der die Körper abzirkelt, die eindeutigen Schatten unter deinem Nachthemd und in Tanjas Gesicht die geschminkten Lippen und Lider, den liebestollen Putz.

Hat er’s sich doch gleich gedacht! Wie die beiden hier zur Sache kommen. Von seinem Fenster aus hat er Tanja über den Heidedamm laufen sehen, kurz nach seinem Anruf, taumelnd durch den Sturm wie besoffen. Von wegen, dachte er, die darf nicht ins Hallenbad. Bei mir macht sie auf Mimose, aber den Stotterer lässt sie ran, so ist es in seinem Kopf herum, bis ihm vom Starren ins Sturmtreiben schwindelig wurde. Dann der Moment, als Tanja stürzte. Ein Ast ist knapp hinter ihr runter. Obwohl die Sicht schlecht war und die Scheibe dazwischen, glaubte er, das Geräusch zu hören, Cronk!

Er warf sich aufs Bett und blätterte in seinem Batman-Comic. Legte den Finger auf den Schenkel der Heldenfigur und spürte, wie unter dem engen Anzug der Muskel zuckte. Keine Ausgabe der Reihe hat er bisher zu kaufen verpasst. Er lauschte hinunter in die Stube, drückte sich gegen die Wand und zog das Heft bis dicht unter die Nase. Roch das Papier, seinen eigenen Atem, die Zwiebelsoße vom Mittagessen. Wieder so ein öder Tag, dachte er, der Knecht lag mit Fieber im Bett, er wird im Stall aushelfen müssen, später bei den Silos, am Vormittag war eine Fuhre Futter gekommen. Batman posierte starr in seinem Kasten, wollte nicht springen und kämpfen. Dieses Scheißkaff, dachte er, alles Idioten, eine im Stall verplemperte Jugend. Der Vater rief von unten seinen Namen, Hannes mit ß, wie immer, wenn er im Brass war. Auch den Brühkessel hatte er noch nicht sauber gemacht.

Und nach der Schule der Streit mit der Mutter. Zur Fremdenlegion, so eine Schnapsidee!, hatte die gerufen und ihm die Vorratskiste in die Hand gedrückt, die er rüberbringen sollte. Ich denke, wir müssen sparen, erwiderte er und betrachtete die Leckereien, Schokolade, Plätzchen, die teuren Fertiggerichte aus Ilse Blochs Laden, und hier, dachte er, wird jeder Pfennig zweimal umgedreht. Wie ihn das ankotzt. Wann krieg ich endlich den Zuschlag für das neue Mofa?, sagte er und knallte den Karton auf den Tisch. Noch zwei Jahre, dann bin ich hier weg. Marianne seufzte, schwer und sorgenvoll, wie immer, wenn die Kinder ihr Kummer bereiteten, wischte sich die Hände ab und sagte: Dein Vater hat große Pläne. Der zählt auf dich. Du gehst wie alle anderen zur Bundeswehr, dann kommst du zurück und übernimmst den Hof! Da hatte er sich umgedreht und war hoch in sein Zimmer, wo er die Eltern verfluchte und sich wegträumte, möglichst weit, in ein anderes Land, ein heißes, wüstenhaftes, wo im Ausbildungscamp schweißbedeckte Körper miteinander ringen. Die Idee war ihm gekommen, als er einmal einen Bericht über die Fremdenlegion im Fernsehen gesehen hatte. Im Detail stellte er sich vor, wie er mit anpackt, in einer Männergemeinschaft, die für die gute Sache einsteht, irgendwo auf der Welt.

Auch Batman kämpft gegen das Böse, im Fledermauskostüm, das ihm Macht und übernatürliche Kräfte verleiht. Ich werde sein wie er, dachte er und wartete, bis es unten in der Stube wieder still war. Dann schob er die Hose auf die Knie und fasste sich an. Er spürte das knisternde Nylon auf dem Körper des Kämpfers, die glatte, kühle Fledermausmaske auf seinem Gesicht, die Wucht lebensgefährlicher Sprünge und akrobatischer Manöver. Streckte die Knie durch und zerrte sich über das Heft, bis es wehtat. Die Figuren sprangen aus ihren Kästen, Zwapp!, Swoosh! und Zonk! platzten die Fausthiebe seines Helden, der die Verbrecher zu Boden schlägt, ein rhythmisches Knacken und Zerkrachen der gegnerischen Schädel und Knochen, elegant und geschmeidig wie in einem Tanz.

Batman siegte. Mit dem Fuß trat er den letzten Rivalen aus dem Weg und hob schon triumphierend die Faust. Da stand er ihm plötzlich selbst gegenüber, seinem Idol, im elastischen grünroten Dress des Kumpanen Robin, so dass Batman ihm, Hannes, vertraute, das war sein Fehler. Mein tapferer Freund!, rief der Sieger und streckte Robin die Hand entgegen. Der schlug ein, wirbelte Batman herum und brach ihm mit einem markdurchdringenden Cronk! den Arm.

Ich will auch ein Kostüm, sagt er und deutet auf eure Verkleidung. Tanja blickt triumphierend zu dir hoch. Deine Chance, Dion!, flüstere ich, also reich ihm die Hand! Du tust wie befohlen. Er schiebt dir die Flasche durchs Geländer, eure Finger berühren sich an den Kuppen, für einen Zufall eine Sekunde zu lang. Großmutters Brause ist ein scharfer Korn, der dir die Knoten aus der Kehle ätzt. Auf der Zunge bleibt ein taubes Gefühl, wie leergebrannt. Du singst den Trinkspruch, und Tanja stimmt ein: Hannes’ Oma ist ne ganz patente … Sau. Sie krümmt sich vor Lachen, Hannes grinst mit schiefem Blick, und ich verbeuge mich mit einer kurzen Flaute. Dann setze ich den Sturmmund auf das Ziegelloch und sauge euch die Treppe hoch und hinein in den Kleiderschrank der Mutter.

Alles Nuttenzeug!, sagt Hannes. Tanjas Augen leuchten. Sie hält sich Miniröcke, Netzstrümpfe und Korsagen an den Leib, fischt das rote Kleid vom Haufen und wirft es sich über. Im Schrank hängt kein einziger Kleiderbügel, alles ist gefaltet und in Stapeln geschichtet. Am Boden türmt sich Ausgedientes. Hannes wühlt mit spitzen Fingern, Tanja zupft und gickst, du stehst mit hängenden Schultern und einem immer drängender werdenden Gefühl von Verrat, und Ronja hat sich in einem Büstenhalter verwickelt.

Aus der hintersten Ecke zieht Hannes das schwarze Bündel. Das ist ja fies, sagt Tanja, so was trägt deine Mutter? Ein Lichtreflex zittert auf dem Latex, blitzt aus Hannes’ Augen, die jetzt glasig und schmal sind; auf dem Weg ins Schlafzimmer habt ihr die Kornflasche herumgereicht. Du spürst den Schwindel, die abgefederten Gefühle, einen Raum, der an den Rändern ausreißt und sich in die Tiefe verlängert, wo sich die Bewegungen stauen, gefangene Blicke. Na sag schon, Dion, wie fühlt es sich an, betrunken zu sein?

Hannes beugt sich abermals in den Schrank. Auf seinem Rücken rutscht der Pullover hoch: der Gürtel mit Ösen und spitzen Nieten, darüber die Zacken der Wirbelsäule, irgendwie animalisch, denkst du, der Kamm eines Reptils. Auch Tanja hat jetzt etwas von einem Tier, wuselt durch die Klamotten, kichert, schnappt und girrt, macht dich ganz kirre. Hannes präsentiert die Peitsche. Die Plastikummantelung ist abgeplatzt, der Stab leicht verbogen, mit gezwirbelten Lederbändchen an der Spitze. Hopp hopp hopp, ruft Tanja, grätscht die Beine, packt dich an den Schultern und mimt die Reiterin. Das Spielzeug scheint euch zu gefallen, mein Plan funktioniert.

Hannes wirft ihr das Latexkleid hin. Fettig schimmernd rollt es sich auf ihrem Leib ab. Ihr entfährt ein Laut des Ekels, auch dir juckt es im Hals, du willst dir deine Mutter nicht in dieser Montur vorstellen. In Gedanken zwingst du sie raus aus dem Ding, zurück in den Bademantel und an das Ufer des Teichs, weiß und in Nebel gehüllt, in den Farben des Morgens.

Hannes sieht da ganz andere Bilder: Tanja, die ihre spitzen Glieder in den Stoff drückt, Falten, die sich aufwerfen, Nähte, die knirschen. Er mag die glänzenden Gewänder, unter denen sich jeder Muskelstrang abzeichnet. Gern würde er das Kostüm von Batman besitzen, das nachtblaue mit dem schwarzen Slip und dem eng anliegenden Leibchen, das jede Rippe betont.

Zieh’s an, sagt er, fast stöhnt er es. Seine Augen rücken noch enger, der Blick über Kreuz. Der hat schon ordentlich einen sitzen, flüstere ich dir zu, die Gelegenheit wäre günstig! Er reckt den Kopf, lockert sich, bleckt die Zähne. Was spielt denn deine Mutter damit?, grinst er dich an. Fünf Mark, wenn du es anziehst, fährt Tanja dazwischen und wühlt aus der Hosentasche unter dem Kleid einen Heiermann. Haha, sagt Hannes, und Tanja: Kein Witz. Du tauchst in den Schrank, durch den vertrauten Geruch nach Wäsche auf den Grund längst vergangener Tage, als deine Mutter, in einer Zeit ohne Bilder und Erinnerung, mit solchem Zeug am Leib nach Hamburg gefahren sein muss.

Tatsächlich findest du die zum Gummikleid passenden Handschuhe, armlange abgestoßene Dinger. Wirfst sie Hannes hin, hauchst: hzehn, und rennst in dein Zimmer, wo du ein paar Münzen aus dem Marmeladenglas mit dem Taschengeld fingerst. Zurück vor dem Schrank legst du Tanja deinen Einsatz in die Hand. Sie sagt: gekauft, und lässt die Geldstücke springen. Das wird lustig! Szenenapplaus vom Fenster; ich schleudere Schneebälle und Eisblumen auf die Bühne.

Hannes befühlt die Handschuhe, schlüpft hinein. Das Gummi schmiegt sich um Gelenke und Finger. Batman, weiß er, trägt bei seinen Einsätzen die gleichen in Blau. Er stellt sich vor, wie er sich damit anfasst und stramm macht, erst den eigenen Körper, dann den, der sich ihm unterwirft. Durch das Latex hindurch sind die Berührungen gedämpft, wie maskiert; zwischen dem, was die Hand tut, und dem Impuls, der sie führt, ist ein Spielraum, in dem ein Tupfer zum tödlichen Schlag werden kann, und jedes Streicheln seiner inneren Hand ist außen ein Biegen und Brechen, ohne dass seine Finger Gewalt ausüben, denn es würde der Handschuh sein, der ihn lenkt. Batman schöpft seine übernatürlichen Kräfte nur aus dem Kostüm, ohne Verkleidung wäre er ein Mensch wie jeder andere, mit Schwächen und Angst vor Schmerzen. In der doppelten Haut aber ist er mächtig und frei; ein paar Millimeter zwischen innen und außen, in denen das Undenkbare möglich ist.

Die Flasche, befiehlt er, du reichst ihm den Korn. Er trinkt, übergibt an Tanja, die ebenfalls ansetzt, und so weiter, die Jugend hat ihre Rituale. Mir dauert das alles zu lang. Für die Stunde zwischen fünf und sechs haben die Meteorologen meinen Höhepunkt vorausgesagt. Zwar ist meine Kraft groß und ohne Zeitplan, aber nicht von Dauer. Ein Schneesturm ist, wie alle Naturkatastrophen, ein Momentereignis. Er schwillt an, zerstört, flaut ab. Das Loch im Dach ist bereits ein Schlund, der den Himmel ins Haus saugt. Also los, Kinder, ein bisschen mehr Mumm und Zack!

Schnapsflasche jetzt leer, erste Bö Windstärke 11, nächster Ziegel weg. Hannes im Bad. Er sieht die Fliesenquadrate als leere Comic-Kästen, die roten Lippenstiftbalken um Badewanne und Waschbecken bilden den Seitenfalz, das Haus ein neuer, noch ungeschriebener Band. Er dreht sich im Zauberkreis um das Klo, posiert dann im Sperrgebiet der Wanne, erobert den magischen Raum. Beugt sich über das halbierte Becken, teilt mit dem Schminkstift den Spiegel in gleich große Kästen. Links oben zieht er sich aus. In vier Schnitten verwandelt sich der Bauernjunge in den schwarzen Ritter.

Du schwankst schon, bevor du den nächsten Schluck nimmst; nicht einmal draußen am großen Kolk ist der Boden je so schwammig gewesen. Tanja fasst dich am Arm, fragt: geht’s?, ihre Stimme jetzt auch kurz vorm Kippen. Klar geht das, Dion!, und ich packe dich von der anderen Seite und boxe dich vor das Nachtkästchen, wo deine Mutter die Medikamente hortet. In der Schublade tatsächlich ein Blister, die letzten zwei Lexotax darin, die sie noch hätte schlucken müssen, damit ihre Seele davonfliegt.

Du drückst Tanja eine Pille in die Hand, doch sie zögert, ist längst schon am Limit. Damit gehen wir hops, lallt sie und betrachtet ängstlich die Tablette. Hops!, rufst du, wirfst die Lexotax in die Luft und fängst sie mit dem Mund auf, ein kleines, weißes, berauschendes Wort, schwerelos und stotterfrei wie der Tod. Die Schlange, die Ronja euch zu Füßen legt, ist auch schon hinüber. Tanja bückt sich und zerrt das Knäuel auseinander, das einmal Margas teuerster Büstenhalter war. Würde mir das auch stehen? Sie hängt sich das zerbissene Ding um den Hals, steckt die Fäuste in die Körbchen, macht einen Knutschmund, stakst auf imaginären Pumps durchs Zimmer und präsentiert ihre nicht vorhandenen Kurven. Du packst sie am Arm und zerrst ihr die Hände aus der Wäsche. Lass das!, rufst du mit dem bitteren Film von Korn, Schmerzmittel und Lexotax auf der Zunge, einer Mischung, mit der du sprechen kannst wie geschmiert.

Wieso? Tanja blickt dich mitleidig an. Dass deine Mutter das macht, sei doch kein Geheimnis. Ein paar Sekunden lang liegen ihre Fäuste in deinen. Ob sie wirklich jeden nehmen müsse? Sie knetet deine Hände, als könnte sie dich so mit Tapferkeit impfen, dich immunisieren gegen alles, was nun kommt. Du willst sie an dich ziehen, gleichzeitig wegschlagen; es wäre, Dion, der richtige Zeitpunkt, der Kleinen, die schlecht über deine Mutter spricht, einen Denkzettel zu verpassen!

Tanja beißt sich auf die Lippen. Sie muss aufpassen, was sie sagt. Darf es sich mit dir jetzt nicht verscherzen. Ich finde das gut, lenkt sie ab, und, weil du sie jetzt noch misstrauischer anschaust: Deine Mutter tut eben, was ihr Spaß macht. Ich stöhne ungeduldig auf. Das überzeugt ihn nicht, flüstere ich ihr zu, spiel es ihm vor! Doch du kommst ihr zuvor. Biegst ihre Finger auf, schnippst das Fünfmarkstück in die Luft und fängst es noch vor Ronja auf, die wie eine Sprungfeder in die Höhe schnellt. Wenn sie nun deine Schwester sei, sagst du in einem Tempo, dem ich kaum hinterherkomme, könne sie es dir ja auch zeigen, und du deutest auf ihren Rock. Tanja starrt dich entgeistert an, auch mir stockt der Atem. Dion, habe ich das gerade richtig verstanden? Du willst ihre Möse sehen?

Langsam weicht der verblüffte Ausdruck in ihrem Gesicht einem Grinsen. Sie zieht den Saum bis zu den Knien und sagt: Zehn Mark, wenn ich auch deins sehen darf. Ihr tauscht Münzen, Blicke, Berührungen von spitzen Fingern. Du lupfst das Nachthemd, ihr Schlüpfer hat ein Blümchenmuster. Die Mulde ist flaumig, ein Vogelnest aus Daunenfedern, nicht so kraus und struppig wie bei der Mutter. Ich hole ungeduldig Luft. Das sind die Fakten, Dion, sie die Frau, du der Mann. Und jetzt?

Schnell was anderes spielen, denkt Tanja und streicht das Kleid über ihren Beinen glatt. Kannst du das auch? Sie klappt wie ein Taschenmesser zusammen, dann ist sie wieder oben. Es sei Hannes’ Idee gewesen, flüstert sie und deutet zum Bad. Sie hätten gewettet, aber er komme nur bis hier. Sie knickt in den rechten Winkel, bläst die Backen auf und prustet los. Du spürst wieder das gelbe Gefühl, das dir jeden Widerspruch auf der Zunge zersetzt. Das also verlangt er von ihr? Mit solchen Spielen hat der Bauer sie rumgekriegt?

Zwölf Mark für den, der es länger schafft, sagst du und stellst dir dabei ein Geknäuel der Leiber vor, rad- oder herzförmig, ein Tandem. Rückst ihren Körper zurecht, eine Brustlänge Abstand zu dir, mit parallel versetztem Becken, seitlich geneigtem Kopf und durchgedrückten Knien; bei den Libellen sind Thorax und vor allem das schlanke Abdomen äußerst beweglich. Nur so schafft es das Männchen, seinen Samen von der Genitalöffnung am Ende des Hinterleibs zum Begattungsorgan unterm Brustkorb zu befördern.

Du fasst sie an der Hand, zählst: eins, zwei, drei, dann knickt ihr in der Hüfte ein. Tanja ist mit der Nase schon überm Bauchnabel. Du wendest ihr das Gesicht zu und streckst die Zunge heraus, sie tut es dir gleich; einen Moment lang sieht es so aus, als könntet ihr euch den ersten Flugzungenkuss geben, den der Mensch je gesehen hat. Kurz vorm Ziel krachen eure Schädel aneinander, ihr taumelt zurück, reißt im Sturz die Arme hoch. Das Nachthemd bläht sich im Wind. Neben dir rauscht Tanja empor, das rote Kleid ausgebreitet zu Flügeln. Ihre Arme kreisen flink durch die Luft, drehen sich schneller und schneller um die eigene Achse, bis du ihre Finger nicht mehr einzeln siehst, nur das flirrende Rad eines Propellers. So fliegt ihr durchs Zimmer, auf und nieder, aneinander vorbei und aufeinander zu, eine Blutrote Heide- und die Weiße Federlibelle, die zusammen den Frost überlebt haben. Doch Vorsicht, Feinde: Mit köcherartig aufgerissenem Maul und den Schlappohren als Segel springt der Hund in die Höhe, und draußen nehme ich Anlauf für die bisher stärkste und kälteste Bö.

Im Bad hört Hannes euch juchzen. Gleich ist es so weit, denkt er, sie bringen sich schon in Stellung. Das Latexkleid ist arschknapp, fast beinfrei, umschließt kühl seinen Rumpf. Drückt am Rücken, quetscht den Schwanz, legt um den Körper den Bann der Enge. Er hört die Nähte reißen, reibt und rupft, kann die Beule unten nicht verhindern. Auch die Blase über der Brust, wo der Busen fehlt, kriegt er nicht weg. Der Daniela würde das stehen. Die Danny, denkt er, schiebt ihre Titten durch die Heubodenluke und füllt sie aus.

Vor dem Spiegelschrank stellt er sich in Pose, holt aus, fegt mit einem Faustschlag Flakons, Zahnputzbecher und Bürsten ins Becken. So hat er sich das vorgestellt, damals in der Scheune, als Daniela zu nerven begann, weil er nichts mehr von ihr wollte; eine Drehung um die eigene Achse, Angriff, Konter, Zonk! Doch in Wahrheit stand alles still. Im Dachboden war es dämmrig, die Schatten hingen schwer über den Strohballen, Danielas große, weiße Brüste darin wie zwei fette Monde, diese Kuh, hat er gedacht, und weil ihm der Gedanke gleichzeitig doch auch peinlich war, etwas von zu müde in den Zigarettenfilter genuschelt, auf dem er die ganze Zeit herumgebissen hatte. Sie schnaubte und sprang auf. Quatsch, sagte sie und zog den Bauch ein; wenigstens, dachte er, hat sie das Problem selbst erkannt. Er hat schnell weggeguckt, irgendwohin, bloß nicht mehr zu ihr. Sie hat wütend ihre Klamotten zusammengesucht. Der Filter zwischen seinen Zähnen schmeckte bitter. Was hast’n jetzt?, fragte er. Sie flappte ihm beim Anziehen den Jackenärmel ins Gesicht. Also doch Tanja, stimmt’s?, erwiderte sie, nahm ihm die Zigarette ab und warf sie auf den Boden, wo ein Halm zu glimmen begann. Ein paar Sekunden starrten beide auf den hellen Punkt. Und?, fragte Daniela schließlich, ihr Schatten vor seinen Füßen war plötzlich sehr schmal. Sehen wir uns jetzt noch? Er wartete, bis der Strohhalm Feuer gefangen hatte, dann drückte er die Glut mit dem Daumen aus. Der kleine Schmerz stieg in den Körper, vertrieb die Taubheit aus seinem Kopf. Als er aufblickte, war sie schon auf der Leiter. Eine spitze Mondsichel schnitt durch die Luke, riss Krater ins Strohgebirge, schliff die Halme zu Klingen und Geknöchel.

Er betrachtet das Chaos auf den Armaturen, die Spuren des häuslichen Lebens in den mit Lippenstift gezogenen Kästen, hier ein Höschen, dort ein Haarbleichmittel, Yps-Hefte und Scheuermilch, Muttersachen, Kinderkram. Im Spiegel zieht er einen Schmollflunsch, streicht die Falte über dem Bauch weg. Die Brustwarzen drücken sich durch den Stoff, wie bei Batman in Kampfstellung. Da möchte man dran zwirbeln. Das zeigt der Comic zwar nicht, aber er sieht es trotzdem, in dem Bild, das beim Blättern in seinem Kopf aufpoppt und sich mit all den Details füllt, die der Zeichner weggelassen hat, wegen der Minderjährigen.

Er fischt eine schwarze, mit Silberfäden bestickte Schlafmaske vom Rollwagen und zieht sie sich über. Samtig schmiegt sich der Stoff an die Stirn, riecht nach Parfum. Die Katthusen sei mannstoll, sagt die Mutter. Die hat den Dion nur aus Versehen. Mein Onkel hat ja damals nichts anbrennen lassen. Das sagt sie natürlich nicht, aber jeder weiß, dass der so seine Weiber hatte. Und der Dion nur so ein Unfall. Das seh ich dem an. Der hat das im Blick. Was von einem geprügelten Hund. Er lässt die Peitsche durch die Luft schnalzen, schiebt sich mit der Spitze die Schlafmaske halb über die Augen und schlägt ein, als im Spiegel der schwarze Ritter die Hand aus dem Kasten streckt.

Tanja stürzt im Flug ab und landet weich auf der Matratze. Nicht mehr bewegen jetzt, denkt sie, sonst wird mir schlecht. In der Kehle schmeckt es schon sauer. Ich sollte kotzen, dann wär’ alles raus. Muss auch dringend pinkeln, und in der Schulter brennt es wieder. Sie lauscht auf die Stelle, hört ein Knirschen innen wie außen; der Putz scheint von den Mauern zu rieseln, der Boden krümelig, steuerlos der Körper, und trotz der Tabletten schmerzt jetzt auch das Bein. Ihr ist bei der Sache doch nicht ganz wohl. Ihre Mutter hatte schon irgendwie recht mit ihren Bedenken. Sie wüsste jetzt, was zu tun ist. Ein kaltes Stirntuch, eine salzige Brühe, die Magentropfen, Schlaf. Beim Gedanken an die Familie spürt sie Beruhigung, wird ihr warm in der Brust. Ist das Heimweh? Die Welle trägt sie weg aus der bedrohlichen Fremde des Hauses, die Dorfstraße hinunter und auf den Kirchplatz, wo die Mutter steht und die Arme öffnet, das gute Gesicht voll Sorge. Sie stemmt sich hoch und blickt sich suchend um, doch da ist niemand mehr.

Du schleichst über den Flur wie ein Dieb. Tanja darf nicht wissen, was du vorhast: ihr den Kerl abluchsen, Berührungen klauen, die ihr gehören. Das Bein-an-Bein und Arm-in-Arm im Dickicht am Teich; das Betasten der kleinen, absichtsvoll entblößten Hautstellen, wo der Wind eine Gänsehaut macht; verschmelzende Lippen, das Ineinander der Zungen, nicht wissen, wohin mit den Augen …

Vors Bad!, ruf ich dir zu. An die Tür!, treib ich dich an. Durch den Spalt einen Blick erhaschen! Beobachten, wie Hannes sich in das Gummikleid zwängt, den kantigen Bauern in den Fummel der Mutter. Sehen, wie er das Kleid dehnt und beult. Du hast doch Tanja zugehört und weißt jetzt, wie’s geht. Von wegen Spagat, Klappmesser und Hampelmann! Die Turnerei hat ja ganz andere Ziele. Ob sie’s mit der Zunge machen? Wohin dann mit der Luft? Durch die Nase vielleicht? Atmet man beim Küssen? Auch das hättest du sie gern noch gefragt. Alles wolltest du wissen. Alles über Hannes und sie. So besoffen, hätte sie es dir brühwarm erzählt. Doch sie lag plötzlich reglos da, eingeschlafen zwischen den Kleiderbergen, fast aus dem Stehen.

Auch dir dreht sich das Hirn, schwappt im Magen der Schnaps. Mein armer Junge!, rufe ich aus deinem Zimmer und reiße die letzten Marmeladengläser aus dem Regal. Die Libellenlarven suchen das Weite, tanzen im Sturm, fangen den Wind in den leeren Leibern. Du fährst herum, siehst das Türloch gähnen, es spuckt Schreie, Fratzen, Erinnerungsfetzen: Marga wie tot im Bett, Marianne, die den Feudel, Karl, der die Fäuste schwingt, das Kind in der Ecke, die roten Männer über der Mutter, und im Fenster der Schnee.

Plötzlich ist sie wieder da, platzt hinein in deine Gedanken. Wie frei die letzten Stunden doch waren! Erwachsen, schauerlich schön. Wo hat man sie hingebracht? Warum ruft sie nicht an? Und wenn sie heute noch wiederkommt?

Da tönt schon dein Name, fern und dünn wie aus einer längst versunkenen Welt. Du drehst dich erschrocken um, doch ich fange dich ab. Es ist nur Tanja, die nach dir ruft.

Deine Mutter, Dion, kommt nicht wieder. Sie hat dir lange genug das Hirn verstopft, den Brei gekocht, den Arsch gewischt, Margas Junge, Margas Liebling, Margas Glück und Margas Not, hier ein Küsschen, dort ein Klaps, Marga eben noch alles und immer, jetzt Mutter zack weg! Und Hannes hinein in die Lücke! Den jungen, saftigen Körper in ihr Hurenkleid!

Der Flur scheint dir endlos, krumm und gewunden, bei jedem Schritt schwanken die Wände, buckeln sich und beugen sich nieder, als berste das Haus auseinander. Nicht umdrehen! Wenn du jetzt zurückschaust, kommt es dir hoch. Voran, voran! Nur immer im Lauf! Voran, sonst wird sie dich holen! Sieh dort die Tür, das Licht, den zitternden Schatten; es ist Hannes, der schon auf dich wartet! Du beginnst zu rennen, mit zusammengebissenen Zähnen und der Faust auf dem Mund in den weißen, fauchenden Schlund.

Ronja zerrt ein letztes Mal am Rock ihres Frauchens, gibt auf. Schaut sich enttäuscht um, bellt nach den Jungs. Wieder das Geräusch im Dachstuhl, dort, scheint ihr, wartet ein neues Spiel. Sie wedelt mit der Rute, doch die Kinder sind beschäftigt, die eine schläft, die anderen ignorieren sie, niemand beachtet ihr Betteln. Schlechte Hundelaune, ärgerliches Fiepen. Ich pfeife ein zweites Mal. Der Welpe hoppelt die Treppe hoch in den Speicher, sieht die im Luftzug züngelnden Schneenattern zwischen den zerbrochenen Ziegeln, macht ein Freudenschwänzchen. Braver Hund, und jetzt fass!

Das Haus wirft alles ab. Enthäutet ragt es aus meinen Händen, der Giebel skalpiert, Balken wie brechende Rippen. Es will leicht sein und offen für alle Blicke. Gibt mir Ziegel und Mauersteine, Placken von schimmligem Putz, Angehämmertes und Aufgezwungenes, all den nutzlosen Ballast. Bald wird es abgedeckt und ausgeweidet sein, davonwirbeln als Asche und Staub. Die widerspenstigen Wände vergessen, das Geflüster darin, die Fäulnis im Keller, Sporen von Pilzen und Moosen, Keime von Vergangenheit, die es gesät hat gegen den Angriff der Zeit, Spuren für deine Erinnerung: Kellerasseln, Spinnen, trapsende Nager, Geraschel, vertrocknete Tränen, verstummte Schreie, Kinderpopel und Bubenwichse in Bettritzen, all das Zeug, das es gehortet hat, um sich nicht irgendwann selbst zu vergessen.

Endlich weg damit, stöhnt es und wirft sich in den Sturm. Dreizehn Jahre lang hat es dir Beständigkeit, Schutz, ein Zuhause gegeben und jeden deiner Schritte bewacht, auch die, von denen du immer geglaubt hast, nur du könntest sie sehen. Jetzt möchte es etwas anderem dienen als deiner Geschichte, die es satthat, über und über, bis unter das berstende Dach. Danach soll das Wasser kommen, das es aushöhlt, der Wind, der es abträgt, der Frühling, das Feuer, die Freiheit.

In deinem Buch musst du dich an dieser Stelle plötzlich übergeben. Du schreibst, das Haus habe in diesem Moment so sehr gewackelt, dass du zum Klo gestürzt bist, Hannes vor die Füße. Erst später hast du verstanden, was in seinem Kopf vorgegangen, warum er an jenem Nachmittag zu dir gekommen war. Nicht wegen Mariannes Fresspaket; nicht, weil er plötzlich dein Freund sein wollte, was du anfänglich noch geglaubt oder gehofft hattest. Sicher, da habe es die Sache an der Jauchegrube gegeben, den unheimlichen Besuch mit dem Teppichklopfer in der Nacht zuvor. Aber erst später hast du dir auf all das einen Reim gemacht. In diesem Moment habe dich nur der Kotzkrampf gewürgt und das sei schon schlimm genug gewesen.

Hannes sieht dich am Boden, im Quadrat, das du noch am Morgen mit Lippenstift um das Klo gezogen hast, als Sicherheitszone. Wie du dich in den Kasten krümmst, spult sich in seinem Kopf der Comicstreifen ab: Batman gegen Robin, der Feind gegen den Freund, Schläger und Geschlagener, das an öden Nachmittagen so oft geprobte, im Schutz seiner Hefte schon unzählige Male gewonnene Spiel. Er grätscht sich über dich und stellt sich in Position.

Doch du hast in diesem Moment nur die Schüssel gesehen. Die Schüssel, schreibst du, war voll bis zum Rand. Keiner hatte den Abfluss repariert. Ob du in diesem Moment tatsächlich an den Rochen im Rohr gedacht hast, der es verstopfte, kannst du heute, mit diesem großen zeitlichen Abstand, nicht mehr genau sagen. Vielleicht ist diese Idee erst später hinzugekommen, wie ja fast alles in deinem Buch in Wahrheit nicht die tatsächlichen Gedanken und Gefühle des Dreizehnjährigen, sondern die Überlegungen eines Erwachsenen sind, wiedergekäute und verzerrte Erinnerungen, notgedrungene, dem Vergessen abgewrungene Wahrheiten, ein Märchen.

Niemand, Dion, das muss hier jetzt endlich einmal gesagt werden, hat je aus dem Moor einen Fisch gezogen. Insektenlarven, ja, die Häute von Ringelnattern, in die Schlenken geworfene Autoreifen. Unterschlagene Liebesbriefe, verschmähte Verlobungsringe, die Tonkrüge der Germanen, der Knabe aus der Eisenzeit, all das ist Fakt. Versunkene Schätze, die im Licht der Gegenwart besonders geheimnisvoll glänzen. Aber noch nie hat hier unten ein Rochen gelebt!

Ausgerechnet der aber soll der Grund für das ganze Drama gewesen sein. In deiner Not, schreibst du, hast du nicht gewusst, wohin mit dem Schwall, der jeden Moment aus deinem Mund schießen würde. Die Badewanne war zu weit weg, das Waschbecken zu hoch gewesen. Da habe Hannes dich plötzlich gepackt.

Wollte er dir beistehen? Nicht über das Rohrloch gezwungen, schreibst du, nein, gehoben habe er dich, wie eine Mutter das Kind hochhebt, wenn ihm die Kloschüssel erst bis zur Brust reicht. Heimlich hast du dir noch mehr Berührungen gewünscht, leise Worte an deinem Ohr, seinen Trost. Einen unverhofften Kuss? In seinen Augen hast du den Ausdruck gesucht, der dir seit der Sache an der Jauchegrube nicht mehr aus dem Kopf gegangen war: diesen halb erschrockenen, halb erstaunten Blick, die fremde Schrift, rätselhaft und verheißungsvoll.

So, denkt er, muss es sein: Dass sich das Opfer wehrt, gehört zum Spiel. Der andere ergibt sich, er wartet, bis der Unterworfene bettelt, dann: zusch! Er hält dich hin. Als er spürt, wie du nachgibst, glaubt er sich am Ziel. Du hörst auf, dich zu sträuben, drückst dich sogar ein wenig in seine Hände. Der Moment ist gekommen; von nun an machst du, was er will.

Was dann passiert ist, könntest du rückblickend nur mühsam wieder zusammensetzen. Für einen Moment hast du die Übelkeit vergessen. In dem Chaos sei plötzlich noch ein anderes Gefühl gewesen. Erst später, beim Schreiben deines Buches, hast du es verstanden: wie du seine Berührungen abschütteln und gleichzeitig auskosten wolltest. Heute sind diese Gefühle, die von allen Seiten an dir zerrten, auseinandergefallen, zersplittert in eine Reihe mehr oder weniger benennbarer Empfindungen: Wut, Ohnmacht, Scham, Verlangen; Worte, die das, was du damals empfandest, zwar bezeichnen, aber nicht wieder lebendig machen. Heute, schreibst du, gibt es keinen Zweifel daran, dass Hannes die ganzen Wochen oder Monate nur darauf gewartet hatte, dich in seine sadistischen Phantasien zu verwickeln, während du dich nach seiner Nähe gesehnt hast. Dir, dem Erwachsenen, sei es klar und hätte es von Anfang an klar sein müssen. Der Junge aber hat bis zu diesem Moment noch an die geheimnisvollen Zeichen des Kranichgeschwaders geglaubt, die er einst über der Jauchegrube am Himmel gesehen hatte, und für ihn lebte im Rohr noch immer der weiße Rochen.

Er hat mit allem gerechnet: dass du kratzt, beißt und spuckst. Er hätte dich beruhigt und besänftigt, dir gezeigt, dass du ihm vertrauen kannst, und dann wieder fester zugepackt. In seinem Spiel hat er jeden Schritt geplant. Aber nicht das! Er will noch zur Seite springen, doch da spritzt ihm der Kotzeschwall schon gegen das Bein. Er stolpert zurück, wieder vor, hat die Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle, den so gewissenhaft einstudierten, schon Hunderte von Malen im Kopf geprobten Tanz. Alles entgleitet ihm. Er packt dich am Kragen, hievt dich hoch, verdammte Scheiße!, und schlägt zu, so fest, wie er nie jemanden hat schlagen wollen.

Vielleicht, schreibst du, hat es an den Tränen gelegen, die dir in die Augen stiegen, dem Blut, das aus der Nase schoss; als der Schmerz in deinen Kopf hineinexplodierte, hast du für einen Augenblick im trüben Wasser tatsächlich den Fisch gesehen. Doch schon im nächsten Moment sei dir schwarz vor Augen geworden. Du hast dich nach Hilfe gesehnt und wolltest Tanja herbeirufen, doch da war nur ein Gurgeln in deiner Kehle.

Hannes starrt dich erschrocken an. Im Spiegel erhascht er einen Blick auf sein Gesicht, sieht sich eingeschnürt in das Kleid, die Schlafmaske auf der Stirn, Fleischwülste in den Schlitzen, findet seinen Aufzug jetzt lächerlich. Das Gummi quetscht ihm die Brust ein, schneidet in die Haut, er ringt nach Luft. Nur raus aus dem Zeug!, denkt er und fährt herum.

Tanja hatte etwas gehört. War es der Sturm? Sie riss die Augen auf, wusste für einen Moment nicht, wo sie war. Sie kauerte auf einem Bett, halb liegend, halb sitzend, in einem Berg von Klamotten, die fremd rochen. Fremd auch das rote Kleid an ihrem Körper, das chaotische Zimmer, der ganze Nachmittag zerstückelt, zusammenhanglos, Bruchstücke von Bildern, Gesten, Gelächter wie in einem wirren Traum. Sie horchte in den Flur. Wie unheimlich das Haus klang. Und wie kalt es plötzlich war. Draußen dunkelte es bereits. Ob die Mutter sie suchte? Auf keinen Fall soll Dion etwas sagen, wenn sie hier anruft. Oder hatte sie bereits mit ihm telefoniert? Wo war er überhaupt? Sie rutschte vom Bett, taumelte, kaum dass sie festen Boden unter den Füßen spürte. In ihrem Kopf noch immer das Karussell. Irgendwo knarrte eine Diele. Dion?, rief sie, es kam nur ein Krächzen. Dann hörte sie deinen Schrei.

Woher du die Kraft genommen hast, Hannes von hinten anzugreifen, ist dir heute ein Rätsel. In diesem Moment hast du nichts gefühlt, nichts gedacht. Dein Körper sei taub, der Kopf leer gewesen. Noch heute, schreibst du, packt dich manchmal eine grundlose Wut, wenn du zu viel trinkst, ein Drang, etwas zu zerschlagen. Heute weißt du, dass es dieses schier unerträgliche Gefühl der Enttäuschung war, das du damals hast zerschmettern wollen: Hannes’ brutale Zurückweisung, die unauslöschbare Kränkung. Vom einen auf den anderen Moment warst du wieder der sonderliche, von allen gemiedene Junge auf dem Pausenhof, allein neben der Säule, wo dein Blick den Sechzehnjährigen sucht, der dich für deine Bewunderung erst schneidet und dann verdrischt. Da bist du mit geballter Faust auf ihn los.

Tanja sieht dich in der Tür mit Hannes verklammert und wirft sich dazwischen. Sie fühlt sich schuldig. Sie hat deine Eifersucht geschürt, dich mit Lügengeschichten gefüttert und gegen ihn aufgestachelt. Ist sie mit alldem doch zu weit gegangen? Eine Prügelei hat sie nicht gewollt. Dion, lass ihn los!, ruft sie und zerrt an deiner Schulter. Hannes fühlt das Rupfen, das Ziehen des Gummis auf der Haut, die spitzen Ellenbogen in seinem Bauch, will mehr, will jetzt alles, das ganze Spiel bis zum Ende. In seinem Kopf rast der Film, der Comic jetzt voll mit Leben. Er denkt die Körper ineinander, ein Knäuel aus Gliedern, Haar und Gewimmer. So will er sie über den Boden stauchen, über den Boden drehen, den einen in den andern hinein, erst Rippen in Rippen, dann Genick in Genick, ganz langsam, damit noch nichts bricht. Halten, streicheln, um Verzeihung bitten, und erst ganz am Ende, in der Umarmung, Cronk!, endlich erlöst.

Lass ihn los, ruft sie, er hat dir nichts getan! Sie wünscht sich, der Nachmittag wäre noch nicht zu Ende, die lustigen Spiele, Lachen, das aufregende Leben in Kostümen, die langen Blicke der Jungs; sie will um keinen Preis nach Hause. Wenn alles auffliegt, die Lügen auf den Tisch kommen, ist es aus, sie hätte alles verloren. Dion wäre sauer, Hannes würde sie verspotten und es überall herumerzählen. Sie wäre wieder das kranke, krumme Mädchen, das keiner will, und Daniela hätte gesiegt. Sie muss sich wehren, gegen ihr Schicksal, gegen diese Scheißkrankheit, die Scheißmutter mit ihren Scheißgebeten, den Scheißgott, der sie klein will und schwach. Mit aller Kraft reißt sie dich von Hannes weg. Oder Hannes von dir? Sie fühlt sich stark und entschlossen, machtvoll über ihr Leben, in diesem letzten Moment.

Welche Hand hat sie getroffen? Welcher Arm sie weggeschleudert? In der Erinnerung siehst du den Kampf von außen, ein Geschlinge der Körper, wo damals kein Blick möglich war. Im Inneren des Knäuels, schreibst du, hast du damals nur Fetzen gesehen, Haut und Hitze gespürt, Hannes auf der einen, Tanja auf der anderen Seite, mal über, mal unter dir, ihre Gesichter ganz nah. Rückblickend ist es dir möglich, diesen Moment anzuhalten, sogar wieder umzukehren. Tatsächlich aber hat Tanja schon in der nächsten Sekunde am Boden gelegen.

Heute glaubst du, das Geräusch genau beschreiben zu können, mit dem sie rücklings gegen das Waschbecken kippte und mit dem Hinterkopf auf die Fliesen schlug. Du hast Hannes keuchen und in deinen Ohren das Blut rasen gehört, sonst sei da nichts mehr gewesen als diese plötzliche Stille nach dem Schlag.

Hannes starrt auf den reglosen Körper am Boden. Halt!, denkt er. Zurück! Alles auf Anfang! Es soll doch nur ein Spiel sein, Jäger, Gejagte, Sieger, Verlierer, Batman, Robin, dann Heft zu und gut, am Ende hätte er sie doch entlassen, wären sie alle zum Essen nach Hause. Sicher, versucht er sich zu beruhigen, ist es nur eine kurze Ohnmacht, einfach weggekippt, zu besoffen, sie verträgt ja nichts, wacht gleich auf. Eine Ohrfeige, kalte Dusche, alles wieder normal. Und weiter geht’s.

Doch da rührt sich nichts. Er will hinspringen, sie hochheben, schütteln, kann sich nicht lösen. Das Kleid ist wie aus Beton, das verdammte Kleid, denkt er, das Kleid ist schuld. Er fetzt es sich in Gedanken vom Leib, doch es lässt die Bewegung, die echte, nicht zu.

Ich lasse das Haus los, bin fertig. Das war ein hartes Stück Arbeit. Der Kampf ist zu Ende, das Spiel gewonnen oder verloren, egal. Die Böen verebben so jäh, wie sie gekommen sind, was bleibt, ist die Spur der Verwüstung, die sich durch eine neue, noch nie gesehene Landschaft zieht. Im Dach klafft ein Loch, eingefasst vom Schneegebirge. Schollen brechen heraus und plumpsen auf den Bretterboden des Speichers. An der Westwand türmen sich die Verwehungen bis an die Fenstersimse, der Garten ist begraben. Von der Ecke steht das Regenrohr ab, verbogen wie ein ausgerenktes Gelenk. Die Ebene hat sich in Graten und Spornen über den Heidedamm geschoben, bildet Hügel und Mulden, nur durchbrochen von den Bäumen, die weiß eingeschalt aus den Schneekegeln ragen. Alles, was zuvor noch kantig, rau oder aufgeworfen war, die Zäune, Mauern, Sodenhaufen und Schüttungen, habe ich abgeschliffen und eingehüllt, jedes bekannte Gesicht ausgelöscht und geweißt. Hier noch rutscht eine kleine Lawine von einem Ast, dort wagt sich ein Reh aus seinem Versteck und zieht, von Hunger getrieben, eine erste, zaghafte Spur.

Vereinzelte Flocken wirbeln durch die Luft, treiben eine Zeitlang ziellos umher, sinken irgendwo nieder. Dann mündet auch diese letzte Bewegung zurück in die Stille. Meine Kraft ist erschöpft, Wettervorhersage für morgen: heiter und Frost. Am übernächsten Tag wird die Kreiszeitung Bilanz ziehen: Der Sturm, einer der stärksten seit Jahren, habe zahlreiche Häuser abgedeckt, Strommasten umgeknickt und Bäume entwurzelt. Mehrere Dörfer waren von der Stromversorgung und den Zufahrtswegen abgeschnitten. Die Aufräumarbeiten halten an. Schadenssumme in Millionenhöhe. Bei einem Verkehrsunfall auf der Bundesstraße sind zwei Menschen ums Leben gekommen, in Fenndorf wurde ein dreizehnjähriges Mädchen durch herabstürzende Dachziegel schwer verletzt. Doch was geht mich das jetzt noch an?

Nicht verletzt habe sie ausgesehen, du schreibst: eher schlafend. Noch als du auf sie zugestürzt bist, hast du gehofft, es sei ein Scherz. Gleich würde sie wieder aufstehen, losprusten, sich das Kleid geradeziehen und ein neues Spiel vorschlagen, etwas Ruhigeres. Nirgends sei Blut zu sehen gewesen, keine Wunde, ihr Gesicht friedlich und lieb. Doch dann hat sie leblos in deinen Händen gehangen, sei dir vielmehr durch die Hände gesackt, wie ein Bündel, etwas Knochenloses, du findest kein Bild dafür. Mehrmals hast du ihren Namen gerufen, und je lauter und verzweifelter deine Stimme geworden ist, desto beklemmender und endgültiger das Wissen um eure Schuld. Was hatte Hannes nur getan?

Wieso ich?, blafft er zurück. Du bist auf mich los! Er will schreien oder lachen, sehr witzig, soll ich auch mal auf tot machen, habt wohl gedacht, ihr könnt mich erschrecken, ihr kleinen Scheißer, haha. Stattdessen sieht er die Blässe in deinem Gesicht, Tränen in den Augen, diesen fassungslosen Blick, den man nicht spielen kann. Er sinkt in sich zusammen und rührt sich doch nicht, nur im Innern rutscht alles weg. Das Kleid hält ihn, das Scheißkleid, es pfercht ihn in deine Angst.

So, Auge in Auge, seien mehrere Sekunden vergangen, in denen keiner von euch beiden sich rührte, ja nicht einmal atmete, der eine den anderen nur angestarrt und gefürchtet hat. Du hast dir gewünscht, dass sich sein Gesicht wieder glätten, das Geheimnisvolle und Bewundernswerte darin zurückkehren, dein Leben mit dem Geheimnis und der Bewunderung für Hannes weitergehen möge wie bisher. Dann habe plötzlich das Telefon geklingelt und euch auseinandergerissen.

Hannes zuckt bei jedem Läuten zusammen, lauscht in den Flur, fleht, es möge gleich aufhören. Er zählt drei, vier, fünf. Der Abstand dazwischen scheint ihm immer länger zu werden. Beim sechsten Mal gibt er die Hoffnung auf, dass sich Tanja doch noch regt. Kein Wort, sagt er, hörst du, kein Wort davon, oder ich mach dich kalt!

Heute, schreibst du, kannst du dich an das Klingeln kaum erinnern. Es sei ein seltenes Geräusch im Haus gewesen. Lediglich Ute Hassforther rief alle paar Monate an, zweimal im Jahr der Kohlehändler, um die Lieferung anzukündigen, und jeden Mittwochnachmittag Marga aus Hamburg. Diesen Anruf hast du stets herbeigesehnt, alle anderen ignoriert oder der Mutter überlassen, aus Angst, beim Abheben des Hörers deinen Namen sagen zu müssen, der nie gelang.

Hannes kniet sich neben Tanja nieder, stupst sie an, legt ihr die Hand auf die Stirn. Sie ist warm. Er traut sich nicht, das Augenlid zu öffnen, fürchtet das Weiß oder ein totes Blau. Er senkt das Ohr auf ihre Brust, horcht hinein, hört nur das Telefon läuten und die Leere im eigenen Kopf. In der Tür sieht er den Welpen, im Maul eine Ziegelscherbe.

Ronja legt den Kopf schief. Was ist denn hier los? Sie tapst heran, lässt die Beute neben Tanja auf den Boden fallen, blickt sie erwartungsvoll an. Fiept, leckt über ihre Hand, schiebt den Kopf zwischen die Pfoten und macht, falls Hunde so etwas können, ein enttäuschtes Gesicht.

Hannes streichelt dem Welpen über den Kopf, sagt: Brav. Legt Tanja die Scherbe in die Hand, schließt ihre Finger darum. Sucht den Puls, in der weichen Mulde unterhalb des Daumenballens, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat. Er spürt das pumpende Blut, zählt die Schläge im Takt des Telefons, etwas Mechanisches, wie von einer Maschine, surrend oder schnarrend –

und je lauter dieses Geräusch geworden sei, je näher du Stufe um Stufe der sich schier endlos in die Tiefe windenden Treppe dem Telefontisch gekommen bist, desto unerbittlicher würgte dich die Vorstellung, dass es doch nicht Marga sein würde, die dir gleich durchs Rauschen der Leitung mit ferner, noch ein wenig schwacher Stimme ihr baldiges Kommen ankündigt, sondern harsch und in drohendem Tonfall Marianne, Tanjas Mutter oder die Polizei. Noch nie, liest Marga den letzten Satz, hattest du solche Angst vor dem Telefon.

◆◆

Dass sie ihn liebt. Jetzt, in der Stille, fällt es ihr wieder ein: Das sind die Worte, die an dieser Stelle noch fehlen. Erschöpft schlägt sie das Buch zu. Die Party ist vorbei, alle Fernseher sind abgestellt, auch die fernen Straßengeräusche waren zuletzt verklungen. Durchs Fenster fällt ein schmaler Streifen grauen Morgenlichts. Irgendwann war ein Pulk Betrunkener aus der Haustür getorkelt, sie hatte kaum eine Viertelstunde warten müssen. In Frau Schäfers Wohnung hat sie schnell das Buch und ihre Handtasche mit dem Schlüssel geholt. Sie wollte jetzt lieber ein wenig allein sein. Im Badezimmer brannte noch Licht, Wassergeräusche drangen heraus, ein Plätschern, das Rauschen des Strahls, das dumpfe Hautquietschen auf der Emaille, wie von jemandem, der entspannt badet. Oder war es doch ein Stöhnen gewesen?, denkt sie jetzt. Vom Flur aus hatte sie Frau Schäfer laut Gute Nacht! zugerufen und leise die Tür geschlossen, als keine Antwort kam.

Nun scheint es ihr von oben doch ein wenig zu friedlich; fast fehlt ihr, in dieser plötzlichen Grabesstille, das Lärmen des Apparats. Sollte sie vielleicht noch einmal nach dem Rechten schauen, und ob Frau Schäfer auch das Wasser abgestellt hat? Die Alte wirkte heute besonders tattrig und wirr. Ein paar Sekunden in der Tür ihres Zimmers stehen und auf ihren Atem lauschen, um sicherzugehen, dass sie schläft und träumt.

Auch sie hätte sich damals gewünscht, dass jemand an ihrem Bett sitzt und Wache hält, auf der Intensivstation des Zeever Krankenhauses, wo der eine Wahnsinn endete und der andere begann. Warum schreibt ihr Junge nicht, was sie ihm damals am Telefon zugesichert hat? Was kostet ihn das schon? Seinem Buch hätte es nicht geschadet, für sie aber wäre es lebensnotwendig. Nur drei kleine Worte, die alles verändern könnten.

Sie erinnert sich genau: Die Krankenschwester hatte ihr die Sprechmuschel an den Mund geschoben. Sie war gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht, in ihrer Nase steckte ein Sauerstoffschlauch, der zu den blinkenden Apparaten führte. Ein Schreiber kritzelte ihre Herzkurve auf ein Papier, das sich in der Ablage staute. Die Schwester trennte es ab, sagte: Machen Sie es kurz. Sie dürfe sich noch nicht anstrengen.

Sie war sich gar nicht sicher, ob Dion überhaupt dort war und ihr zuhörte, am anderen Ende der Leitung, in der es eintönig rauschte. Es hatte ungewöhnlich oft geklingelt, sie zählte das Signal, lange Intervalle, in denen sie wegzusacken drohte und aufschreckte, wenn das nächste Tuten sie aus der Tiefe wieder emporriss. War er überhaupt zu Hause? Hatte Marianne ihn schon zu sich geholt? Oder hob er absichtlich nicht ab, aus Trotz und Wut? Ihr Herz klopfte schneller, sie spürte das Pochen im Rachen, den Schmerz, der vom Auspumpen des Magens rührte. Das Gerät schlug einen grellen Alarmton an. Sie stöhnte auf. Ganz ruhig, sagte die Krankenschwester, sie solle morgen wieder anrufen.

Doch sie hat die Hand weggeschoben und den Hörer zurück an die Lippen gezogen; nach dem Knacken war in der Leitung plötzlich eine andere, tiefere Stille gewesen, als hätte sich dort ein Raum geöffnet. Sie hörte Dion nicht, kein Räuspern oder Atmen, nur dieses erwartungsvolle Schweigen, seine ferne Anwesenheit; noch nie hatte er sich am Telefon mit seinem Namen gemeldet. Sie wusste, dass sie in diesem Moment bei ihm zu Hause war, in der Diele, wo er am Bänkchen stand und in den Hörer lauschte. Da hat sie den Satz geflüstert, nur den einen, der ihr von allen, die sie in diesem Moment hätte sagen wollen, der wichtigste und richtigste schien.

Die Krankenschwester lächelte auf sie herab, nahm ihr schließlich den Apparat aus der Hand und legte auf. Schlafen Sie jetzt, sagte sie; ihr Gesicht war freundlich und gut, ein Muttergesicht. Sie dämmerte weg.

Steht dir doch, sagt Julius und zupft an der Strickweste. Sie fährt im Sessel hoch. Träumt sie das? Liest sie noch immer im Buch? Wie ist der Kerl hier hereingekommen?

Er drückt sich in die Ecke, äugt schuldbewusst herauf, jetzt ganz der kleine Junge, der einen dummen Streich zugeben muss. Was willst du hier?, schnappt sie mit halb geöffneten Lippen. Dich, beißt er zurück. Sie wehrt seinen Mund ab, dreht sich weg, ich will jetzt schlafen, sagt sie, dann lachend: sie sei schließlich nicht mehr die Jüngste. Sie spürt seine Blicke im Rücken, genießt ihre Pointe, lässt ihn um sie buhlen. Er kriecht in ihre Hände, hinein in den Schlag, der ihr schon in der Schulter vibriert. Sie reißt ihm am Gürtel die Jeans in die Kimme, Julius schreit auf. Ich wette, zischt sie ihm ins Ohr, deine Mutter hat dich das erste Mal abgewichst, da bist du gerade erst zur Schule.

Sieben, und er windet sich in ihrem Griff, er sei gerade sieben geworden, aber der Pimmel habe ihm schon gestanden. Sie zieht den Stecker der Stehlampe aus der Buchse, will es nicht sehen. In der trüben Dunkelheit glaubt sie, wieder das Wasserrauschen zu hören, ein Sickern und Tropfen aus tausend Adern und Kanälchen.

Aber dann hast du sie im Stich gelassen, tadelt sie ihn und zerrt ihm den Gürtel aus den Laschen. Alt und einsam ist sie gestorben, nicht einmal mehr einen Geburtstagsbesuch habe er seiner armen Mutter abgestattet! Julius hascht mit dem Mund nach der Schnalle, sagt: Strafe muss sein, und streckt ihr den Arsch hin.

Der Hieb zerreißt die Stille. Der Junge stürzt der Länge nach in den Flur, kriecht auf allen vieren über den Läufer. Zehn, neun, acht, jault er und biegt sich bei jeder Zahl hoch zur Mutter. Beim zweiten Schlag spürt sie sich stärker, straffer, jünger, sie wächst zurück in ihren Körper, der Rücken jetzt wie ein Panzer, wehrhaft, aufrecht, frei von Schmerz. Bei sechs beginnt er, um Vergebung zu betteln. Was er da stottere? Sprich deutlich mit deiner Mutter!, und Julius, im Liegestütz, haucht: hEs htut hmir so hleid.

Dann, vor der Vier, nach der Julius jetzt fleht, verlässt sie die Kraft. Die Schnalle scheppert zu Boden. Was soll das?, mault er genervt, wenn du jetzt aufhörst, ist alles umsonst. Er steht auf, zerrt die Hose hoch, geht ins Zimmer und fällt breitbeinig in den Sessel. Jetzt müsse sie ihm sagen, dass sie ihn wieder lieb habe. Sonst, murmelt er zerknirscht, kann ich nicht kommen.

Sie lacht auf. Hat er nicht schon einmal so dagesessen, in dieser Pose, mit diesem Blick, sogar sein Hemd, glaubt sie, war dasselbe gewesen, als er bei seinem ersten Besuch ihre Selbstporträts betrachtete und Feuer fing, und sie fühlt, wie ihr Haar sich, genau wie bei Mira, auf dem Kopf zum Dutt verknotet und ihre Brust schwer nach unten sackt auf den Bauch, deine Mutter …, beginnt sie den Satz, bricht ab und grätscht sich über ihn, Beine einer alten Frau, wie gemalt, die Haut weiß und porös, überzogen mit blauem Geäder, ein Meisterwerk, nach so vielen Jahren härtester Schufterei nun endlich vollendet. Da hat er auch schon die Larve in der Hand. Doch sie packt noch nicht zu, hält ihn hin, für Sekunden hängt sie reglos über dem zuckenden Leib, die Hand an seiner Gurgel, das Brennen und Saugen seines Blicks an ihrem Mund, im Ohr sein heiseres Bitten um das Liebeswort, und dahinter, wie ein Echo des Kindergeheuls, weit draußen und gleichzeitig tief aus dem Innern, das Geräusch von Wasser, ein Moment, der ihr wie das Ende aller Bewegungen erscheint, der Punkt, auf den alles hinausläuft.

Sie spürt es erst im Gesicht, dann auf Schultern und Armen. Es strömt über die Wände, in anwachsenden und aufgurgelnden Bächen. Nur noch das, denkt sie, muss sie hinter sich bringen. Ihm seine verdiente Strafe erteilen. Nur noch diesen Absatz schaffen, sich durch die letzten Zeilen kämpfen, dann das Buch zuschlagen, ein weiteres Kapitel ihres Lebens abhaken. Wenn er mit ihr quitt ist und sie mit ihm, wird sie Erika Schäfer aus der Wanne holen, sie abtrocknen, ihr das Haar föhnen, zu einem hübschen Knoten stecken, ihr mit ein wenig Puder die Totenblässe aus dem Gesicht schminken und sie in ihrem Sonntagskleid im Bett aufbahren.

Niemand wird ihr etwas nachweisen können. Im Gegenteil, man wird Verständnis zeigen, Anteil nehmen und ihr danken, sie für ihre Nachbarschaftshilfe sogar loben. Ach herrje, seufzt sie, dabei habe sie Frau Schäfer doch immer gewarnt, nicht allein zu baden. Wie sie auf ihr Wohl bedacht gewesen sei, die Gesundheit der Nachbarin ihre größte Sorge. Die Einstiegshilfe. Frisches Marktgemüse, als Abwechslung zum ewigen Spiegelei. Zweimal wöchentlich den Rücken geschrubbt. In der Apotheke die teuersten Gels bestellt, damit das Ekzem endlich abheilt, und sie wischt sich die Träne aus dem Augenwinkel. Eine Demenz, zudem schwere Diabetes, das sei nicht aufzuhalten, beruhigt sie der Arzt und legt ihr die Hand auf den Arm; wenn ihr, Marga, das ein Trost ist, Frau Schäfer sei ohne Schmerzen gestorben, friedlich eingeschlummert in der warmen Wanne.

Sie wird trotzdem ein wenig trauern, immerhin war die Verstorbene der einzige Mensch, dem sie in den letzten Jahren so nah gekommen ist. Sich dann zur Ordnung rufen, weil das Leben ja weitergeht. Der Vermieter wird einverstanden sein, Frau Schäfers Mietvertrag auf sie, Marga, zu überschreiben, eine Renovierung sei ohnehin längst überfällig. Die Kosten für den Wasserschaden übernimmt die Gebäudeversicherung. Alle anderen anfallenden Rechnungen begleicht sie aus der Schatulle. Am Morgen nach ihrem Einzug bereitet sie sich das Frühstück, den Muckefuck mit viel Zucker. Danach wird sie den Kleiderschrank ausmisten, die Sachen von früher in die Sammlung geben. Endlich nicht mehr die Haare färben. Das Zupfen und Feilen sein lassen. Den Flecken auf ihren Händen bei der Vermehrung zusehen. Fett werden. Baden nur noch mit Julius’ Hilfe, alles andere ist zu gefährlich, sie könnte ausrutschen und sich den Oberschenkelhals brechen. Den Allestopf kochen aus dem Wenigen, was der Vorratsschrank hergibt. Während des Wunschkonzerts summt sie zu Florian Silbereisen, bis Julius nach Hause kommt, in den Händen endlich das BWL-Diplom, woraufhin sie mit ihm den Pikkolo köpft.

Das Wasser regnet von den Lampen, stürzt über die Möbel, reißt schon an ihren Leibern. Sag es, fleht er ihr ins Ohr, sag, dass du mich liebst! Kaskaden stürzen auf seine Schultern, schwappen in den aufgerissenen Mund. Sie drückt ihre Lippen darauf, küsst den stummen Satz hinein, den sie ihm nicht geben will, noch nicht, später vielleicht. Am Boden steigt das Wasser, leckt schon an ihren Schenkeln. Sie spürt seine Hände, die ihre Brust kneten, setzt sich auf seinen Schwanz, schließt die Knie um seine Hüften, kommt mit dem Mund ganz nah an sein Ohr. Mein armer Junge, haucht sie, und er: hMama, nicht! Dann drückt sie ihn sanft, doch bestimmt in die Tiefe.

◆◆

Die Stille schwillt an, wird zum Brausen, dumpf und dunkel, ein Geräusch wie auf dem Grund des Meeres. Warum sagt sie nichts, denkst du und presst den Telefonhörer noch fester ans Ohr, sie ist doch dort, du hörst sie ja atmen. Ein Knarren hinter dir, du fährst herum. Hannes steht am Treppenabsatz, Tanja in den ausgebreiteten Armen. Mit einer Hand stützt er ihren Kopf, die andere hat er unter ihr Gesäß geschoben. Wie sie ihre Stirn an seine Schulter schmiegt, die Beine über seinen Unterarm geschlagen, wirkt sie geborgen, schlafend und von ihm geschützt; fast bist du neidisch, dass sie so bei ihm liegen darf. Der Welpe springt an seinem Bein hoch, wedelt freudig mit der Rute; die Kinderspiele scheinen weiterzugehen.

Wer dran sei?, flüstert er herunter. Du zuckst die Achseln, horchst noch einmal in die Leitung. Gleich wird sie es sagen, denkst du, nach diesem Atemzug. Doch da ist ja kein Atem. Nicht dieses Wissen um Margas Anwesenheit, ihre Arme für dich ausgebreitet, sobald du Trost brauchst, ihr Körper der ewige Ort, der, immer wenn du sie an den stillen Nachmittagen irgendwo im Haus oder drüben in der Werkstatt wusstest, Teil deiner Welt war. Da ist nichts mehr, nur noch das Rauschen.

Hannes kommt die Treppe herunter, Schritt für Schritt, mit Schweißperlen auf der Stirn, die Augen voller Fragen und Angst. Was machen wir jetzt mit ihr? Er streckt dir den reglosen Leib entgegen, und erst als du unter dem zur Seite gefallenen Zopf den Bluterguss siehst, der sich in ihrem Nacken ausbreitet, weißt du, dass am anderen Ende der Leitung niemand mehr ist; nicht Tanjas Mutter, die euer Spiel durchschaut hat, nicht die Polizei, die bereits nach den Tätern fahndet, und nicht Marga, die noch den Satz sagen muss, den einzigen, der dich aus dieser Not noch retten könnte.

Am Heidedamm, den es als letzten trittfesten Pfad vor der Weglosigkeit des Moores längst nicht mehr gibt, neigt sich unter der Schneelast eine Birke. Ihr langsames Rucken, das Loslassen und Aufgeben ihres einzigen und unersetzbaren Ortes ohne ein Zeichen von Gewalt; sacht, fast träumerisch biegt sich der Baum, vielleicht morsch, überaltert oder im Stamm vom Fraß der Jahre schon ausgehöhlt, in die Schräglage, bis der Sturz unvermeidlich ist und er sich dem Sog der Schwerkraft ergibt, entgegen seiner Bestimmung, des unermüdlichen und bisher gegen alle niederzwingenden Einflüsse wehrhaft gebliebenen Aufstrebens und Hinaufwollens.

Ausgerechnet der weiche, leichte Schnee bringt die Birke zu Fall. Doch selbst jetzt noch kein Stürzen. Gedämmt von der sich um den Stamm türmenden Verwehung reißen die Wurzeln lautlos, und scheinbar verlangsamt vor dem blanken Hintergrund, dem alle Anhaltspunkte, an denen das Auge noch eine Geschwindigkeit bemessen könnte, abhandengekommen sind, sinkt der Baum zu Boden, würdevoll, fast feierlich, in einer selbstvergessenen und sich selbst erlösenden Bewegung abwärts, ergeben und fallsüchtig, doch ohne Aufprallgeräusch, nur mit dem stummen Bruch der Krone und ihrer über Jahre gewachsenen, gleichzeitig planmäßigen wie zufälligen Ordnung der Zweige, Äste, Gabelungen, in ihrer Mitte der vielleicht einmal irrtümlich, zu schnell oder krankhaft gewucherte und deshalb am oberen Teil des Stammes abgestorbene, über die schlanke Wintersilhouette der Birke knorrig hinausragende Stumpf, der auf den letzten Metern, ohne den Willen zur Zerstörung zwar, aber mit schwerwiegenden Folgen, das Telefonkabel vom Mast reißt.

Du hörst das Knacken in der Leitung, mein Ausatmen, letztes Wort dieses Tages. Dann nichts mehr, nur noch Schnee, die große Stille. Jetzt kannst du sprechen.