drei.
FRÜHLING
Sie fliegen das Wasser ins Moor. Vor der grellen Sonne ziehen Hubschrauber ihre Bahn, die Schatten zeichnen sich auf der Asche nicht ab. Noch drückender als der Lärm der Maschinen lastet danach die Stille in der Luft, das Rascheln der Wirbelschleppen in den verbrannten Binsen wie Geflüster, als würde die Ebene darüber spotten, dass man mich mit ein paar Wannen voll Wasser löschen will.
Sie haben mich eingekreist, mit Bändern, Wachposten und Warnschildern von der Außenwelt abgeriegelt, die schon früher unsicheren Gebiete sind jetzt Zonen höchster Lebensgefahr. Wanderer werden zurückgeschickt, Schaulustige weitergedrängt, Schneisen ins Gras geschlagen; auf den Landkarten kennzeichnen Raster schon verlorene oder akut bedrohte Bereiche. Die Spezialisten versichern, die Lage im Griff zu haben, doch unter der Grasnarbe schwele ich weiter, breche an anderer, noch nicht markierter Stelle wieder hervor, führe die Feuerwehrtrupps in die Irre.
Die Bauern sind in Sorge und treiben das Vieh auf den angrenzenden Magerwiesen zusammen. Ihr Misstrauen ist groß, der Groll gegen die Behörden uralt, ihr Land ihnen heilig. Nicht das Moor wollen sie schützen, doch ihre Häuser und Ställe, die Kinder, die an den frisch ausgehobenen, aus Hydranten gefluteten Gräben stehen und den leuchtfarbenen Löschbehältern nachblicken, die an Seilen in den Himmel steigen und statt bunter Papierdrachen den Frühling einleiten. Die Mutigen haben die Brücke überquert, unter den wackligen Bohlen keine Kopfweidengesichter mehr, nur eine blinde Schicht Lehm; drüben trägt der Boden, schnappt nicht, knistert dürr unter den Sohlen. Das Wollgras blüht wie jedes Jahr Anfang Mai. Auf wogenden Zeilen züngeln die weißen Flämmchen in die Senken hinaus, fressen sich durch das vertrocknete Gras, der Aschekante entgegen, die ins Land einen zweiten, ungleich näheren Horizont zieht.
Da hockst du wieder auf dem Baumstumpf, Schultern gebuckelt, Schlagschatten im Gesicht, zupfst das trockene Moos von der Rinde, zwischen den Fingern zerfällt es zu Dreck. Neben deinen Füßen steht der Rucksack. Mehrmals hast du ihn gepackt und wieder ausgeleert. Du wogst das Geliebte gegen Notwendiges ab, Zahnbürste und Schlafanzug siegten über Huckleberry Finn und den Libellenführer, den du in der Stadt nicht brauchen wirst. Später vielleicht wieder; es sollten ja nur ein paar Tage werden, sprachst du dir selbst Mut zu. Du wolltest in der Klinik um Hilfe bitten, hattest keine Wahl mehr. Dort, dachtest du, würde man sie noch vom Winter kennen. Alle wüssten, was zu tun ist. In der Nähe wolltest du dir ein Zimmer nehmen; im Kleiderschrank hast du in einem ihrer Mäntel fünfzig Mark gefunden. Dieses Mal würdest du bei ihr bleiben, sie nicht wieder so lang allein lassen. Wenn sie dir, wie in den Winterwochen, Besuche verbietet, stehst du trotzdem jeden Tag in der Tür, bringst Obst, Magazine mit bunten Bildern, die sie ablenken, vielleicht Blumen. Zwingst sie, zu akzeptieren, dass es ohne dich eben nicht geht. Das war der Plan.
Während du den Rucksack schnürtest, sind diese Gedanken hin und her. Sicherlich war es im Winter nicht ihre Entscheidung gewesen; die Ärzte müssen ihr eingetrichtert haben, dass sie Abstand zu dir halten soll. Als würdest du sie strapazieren. Damit so etwas nicht wieder vorkommt, hast du beschlossen, mit ihnen zu reden. Die Sätze sind in deinem Kopf, teils in einer neuen Kladde schon formuliert. Mit Fakten aus den letzten Wochen willst du ihnen beweisen, dass sie ohne dich nicht klarkommt.
Die Sache mit Holland wird es ihnen verständlich machen. Holland würdest du in allen Details erzählen. Dort nämlich habe sie dir gezeigt, wie sehr sie dich braucht. In der holländischen Klinik warst du der einzige Mann unter lauter verzweifelten Frauen. Auf dem Flur hast du eine weinen sehen, die noch viel jünger als Marga war, fast noch ein Kind, wirst du sagen. Niemand hätte sie dort trösten können. Wer, wenn nicht du? Du bist stolz durch die Korridore gelaufen, in denen es frisch und gesund roch. Während du gewartet hast, dass sie aus dem Behandlungszimmer kommt, sei dir bewusst geworden, dass sie das alles nur für dich tut. Für die Familie, fügst du hinzu. Später, an der Liege, wo sie noch ein wenig ruhen sollte, hast du lange ihre Hand gehalten.
Der Arzt schaut von seinen Aufzeichnungen hoch, klickt mit dem Kuli. Aber warum, will er wissen, hat sie ausgerechnet dich mitgenommen? Ob es keine Freundinnen gebe, eine Schwester? Und was mit dem Vater des Kindes sei? Du weichst seinem Blick aus, schaust zum Fenster. Das Licht fällt in schrägen Streifen durch den weißen Vorhang, eine Jalousie mit senkrecht verstellbaren Lamellen, wie sie typisch ist für Arztzimmer, wo das Gesunde vom Kranken klar getrennt wird. Das Muster auf dem Linoleumboden ist regelmäßig, in seiner Geometrie wirkt es beruhigend und richtig. Du glaubst, dem Mann, der helle, freundliche Augen hat, vertrauen zu können. Er wird nur das Beste für dich und deine Mutter wollen.
Lange wägst du die Worte ab. In deiner Kladde klingt der Satz anders, hoffnungsloser und wütend, nun aber sagst du: Leon, den wir dortlassen mussten. Der Arzt runzelt die Stirn. Das Brüderchen, verbesserst du, das in dem Zimmer geblieben ist.
Was mit dem Kind sei?, will der Psychiater wissen, steht auf und verstellt an einer Kordel die Jalousie. Es wird angenehm dämmrig. Erst jetzt merkst du, wie grell und laut es die ganze Zeit um dich herum gewesen ist. Du holst Luft und sagst: Sie behauptet, es war unser Kind. In der plötzlichen Stille, mit den gedämpften Geräuschen der Stadt, so weit weg von mir, fällt dir auf, dass du die ganze Zeit nicht gestottert hast.
So sollte es ablaufen. Nachdem du ihnen alles erzählt hättest, würden sie eine Ambulanz in die Galerie schicken, um Marga abzuholen. Alles käme wieder ins Lot, wenn die Ärzte sie dazu brächten, ihre Medikamente zu nehmen.
Der Therapieplan hing bis vor kurzem noch an der Pinnwand. Sie sollte in einer Tabelle auf einer Skala von eins bis zehn ihr tägliches Befinden bewerten, doch seit Daniel weg war, hatte sie kein Kreuzchen mehr gemacht. Anfangs pendelte ihre Stimmung zwischen fünf und sieben, Tendenz steigend. Dann lange nichts mehr, es muss die Zeit gewesen sein, als sie glaubte, all das nicht mehr zu brauchen. Plötzlich zwei Kreuze bei zehn, an den Tagen, als sie wieder zu malen begann. Wieder Lücken, dann ein Kreuz bei eins, groß, bedrohlich, es ragte bis drei hinauf und weit unter die Null. Am nächsten Tag hatte die Tabelle im Müll gelegen, zusammen mit den Tabletten und dem Erinnerungskärtchen für die Blutkontrolle, die sie verweigerte. Aus ihren Streitereien mit Daniel wusstest du, dass der Wirkstoff-Spiegel in ihrem Blut auf keinen Fall absinken durfte. Schon eine minimale Schwankung könnte sie auf der Skala steil nach oben oder unten katapultieren. Du hast alles aus dem Eimer gefischt und den Merkzettel in die Kladde geklebt; für alle Fälle wolltest du die Adresse der Klinik zur Hand haben.
Als der Termin anstand, hast du sie geweckt, zur gleichen Zeit wie sie früher dich; die Libellenuhr an der Wand zeigte noch immer halb acht. In deinem Zimmer war es seit September Winter, und ebenso kalt blieb dein Bett. Zur Sicherheit schliefst du seit Daniels Auszug bei ihr, in der Betthälfte, wo sich früher ihre Klamotten gehäuft hatten. Wenn du die Augen aufschlugst, fiel helle Frühlingssonne durch den Vorhangschlitz. Du hast dich herübergebeugt und ihr vorsichtig den Mund auf die Stirn gedrückt; wach gerüttelt zu werden hatte ihr schon immer schlechte Laune bereitet. Meist wischte sie dich brummend weg und stellte sich schlafend, du zogst sie an den Füßen aus dem Bett.
Doch an diesem Morgen ruhte ihr Blick lang auf dir, musterte dich misstrauisch und fragend, wie den Fremden, neben dem man nach einer Rauschnacht erwacht. Was dir einfiele, sie so früh zu wecken, blaffte sie los, sie habe die ganze Nacht gerackert, irgendwer müsse ja wieder Geld heranschaffen, jetzt, da du – das Wort traf dich wie ein Geschoss – Daniel aus dem Haus geekelt hättest, und so weiter, wie so oft in letzter Zeit feuerte sie sinnlos ins Leere. Du hast auf irgendeinen Punkt am Boden gestarrt, wo sich ein Sonnenstrahl in die Holzdiele brannte; im Staub sahst du Kanten und bizarre Strukturen, wie unter einem Mikroskop. Dass sie zur Blutabnahme müsse, hörtest du deine Stimme, die von dir abgesplittert in das grüne Dämmerlicht hinter den zugezogenen Vorhängen schnitt, mitten hinein in das Durcheinander von Schatten, Decken, Haaren, Blicken, nackter Haut zwischen schlampig geweißten Tapetenbahnen, verkrusteten Farbeimern und den alten, längst vertrockneten Hoffnungen dieses Frühlings.
Sie verstummte, schaute dich entgeistert an, als würde sie dich erst jetzt erkennen, streckte schließlich die Hand aus und sagte: Mein Liebling. Widerwillig bist du zu ihr hinübergerutscht. hIch hkomm mit, sagtest du, drei armselig pfeifende Worte, die dich zusammenzucken ließen; nicht nur wegen des Stimmbruchs hattest du die Tonlage deiner Worte kaum mehr unter Kontrolle. In der Schule warst du für den Vormittag entschuldigt, ein Arzttermin, du hattest nicht gelogen, doch Gorbach, argwöhnisch wegen deiner Schwänzerei im Herbst, verlangte eine Bescheinigung. Wer sollte sie dir ausstellen, und wofür?
Sie streichelte mit dem Daumen dein Handgelenk, an der Stelle, wo man einem Kranken den Puls misst. Lieb, dass du dich um mich kümmerst, sagte sie, drückte deine Schulter, kam nah. Ihr hättet bisher doch immer alles zusammen geschafft; ihr Mund suchte dein Ohr. Der Sonnenstrahl war ein Stück weiter gekrochen, sondierte jetzt ein Astloch. Und jetzt gib mir einen Kuss. Sie drehte dir das Gesicht hin. Alles wolltest du tun, damit sie aufsteht, sich anzieht, mit dir in den Bus nach Hamburg steigt. An ihrem Blutbild würden sie sehen, dass sie die Tabletten nicht nimmt, ihre Rückschlüsse daraus ziehen, ahnen, dass es auch dir damit nicht gutgehen kann.
Der Ekel vor ihrem Speichel, überhaupt vor den feuchten Stellen ihres Körpers. Ihre Küsse rochen wieder wie im Herbst, der Geruch ihres Zusammenbruchs saß dir noch immer in der Nase. Doch du wusstest um ihre Wirkung und hast sie ertragen. Jede Gegenwehr hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Ihre Zunge suchte sich einen Weg zwischen deinen Zähnen hindurch. Kaum hattest du nachgegeben und den Mund einen Spalt weit geöffnet, spürtest du den kurzen, scharfen Biss. Du sprangst auf, sie blickte dich gleichgültig an, dann war da etwas wie Häme in ihren Zügen, oder lag es am Zwielicht, das aus den Vorhängen sickerte, giftig eingetrübt von dem hellgrünen Leinenstoff, den sie mit Daniel in Zeeve besorgt und zu einer raffiniert gesäumten Gardine umgenäht hatte?
Du hast dir den Tropfen vom Mund gewischt. Gib ihnen was von dir, sagte sie, wir haben die gleiche Blutgruppe. Mit diesen Worten warf sie sich im Bett herum, grub die Hände unters Kissen und rührte sich nicht mehr. Vorm Badezimmerspiegel hast du die Wunde betupft, die schon nicht mehr blutete, wo vielleicht nie Blut gewesen war, nur ein Missverständnis der Lippen; ihr war nach Schmusen, du wolltest sprechen, ein verunglückter Kuss, wie er einem jungen Liebespaar passiert, das vom Moment zu viel fordert. Bis soeben war das Ineinander eurer Zungen ein Weg gewesen, die Bedürfnisse des anderen auch ohne Worte zu erfragen. Jetzt hatte sie auch diese letzte Verbindung buchstäblich durchgebissen.
Der dich aus dem Spiegel anblickte, war dir fremd. Du sahst den dunklen Flaum auf dem Kinn, den du bald würdest rasieren können; einen neuen Pickel zwischen den Brauen, der zum Ausdrücken reif war, was sie aber schon lang nicht mehr interessierte; die Ringe unter den Augen, die du nicht mehr wegschlafen konntest. Mit dem Fingernagel hast du einen Hautfetzen von der Lippe gekratzt, süchtig nach dem Schmerz. Aus dem Schlafzimmer drang ein Wimmern, das Licht im Türspalt war grün. Als du hingingst, verstummte sie. Bestimmt hattest du dich verhört. Es war nur eines dieser Geräusche gewesen, die dich im Haus manchmal aufschrecken lassen und noch eine Weile im Ohr nachklingen, das im Kopf gefangene Echo eines Tons, der schon längst wieder verhallt ist: ein Windpfeifen, das Rauschen von Wasser, das Weinen der Mutter.
In der Schule sah niemand die Verletzung. Beim Klogang war da im Spiegel nur eine leichte Schwellung, wie bei Benno, deinem Banknachbarn, der an Herpes litt. Und wenn dich doch jemand gefragt hätte, wie wolltest du es erklären? Einmal wäre die Gelegenheit sogar günstig gewesen; nach dem Pausenklingeln, als alle zur Tür strömten, hatte Gebhard, der Biologielehrer, dich ans Pult gerufen. Er spielte mit der Kreide, während er sich nach deinem Befinden erkundigte; du würdest, wog er vorsichtig die Worte ab, in letzter Zeit recht zerstreut wirken, und deine Leistungen … Er blätterte seufzend im Notenbuch. Dabei habe dich Naturkunde früher so interessiert, die Libellenstudien, sagte er, einmalig. Sicher, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, die Sache mit deiner Mutter … Sie habe damit nichts zu tun, wolltest du ihn unterbrechen, doch zu spät kam das erste Wort über die Lippen, er hatte den Satz bereits vollendet: … sei bestimmt eine große Belastung für dich gewesen. Ihr geht es wieder gut, hast du hervorgepresst. Deine Interessen lägen eben jetzt woanders, und die Eins in Deutsch würde die Fünf doch ausgleichen. Dagegen schien Gebhard kein Argument zu haben, er zuckte nur ratlos die Schultern und warf den Kreidestummel in den Papierkorb. In der gleichen Bewegung flohst du aus dem Biologiesaal. Wenn du Hilfe brauchst, hörtest du den Lehrer hinter dir, kannst du jederzeit zu mir kommen, und nichts hättest du in diesem Moment lieber getan, als dich umzudrehen, die Tür zu schließen und langsam zu reden zu beginnen, nach den richtigen Worten und einem Zeitpunkt ringend, an dem du mit deiner Erzählung hättest ansetzen können. Doch selbst in deinem Tagebuch gab es nur ein paar hilflose Formulierungen für etwas, das viel qualvoller und unbegreiflicher war als eine aufgebissene Lippe, und nichts als leere Seiten dafür, was ein paar Tage später in der Küche passierte.
hDie oder hich, hast du gedroht und ihr die Pillendose hingehalten, nach dem Mittagessen, von dem sie wie immer nichts aß. Sie blickte dich spöttisch an, warf den Kopf in den Nacken und fuhr sich durchs Haar. Im Sonnenlicht erschien dir das Rot wieder zu schrill, genau wie das Lachen, das ihr Gesicht verzerrte, erst den Blick, dann ihren ganzen Körper in die Höhe schraubte, bis sie sich verkantet über dich beugte, dir die Dose aus der Hand riss und mit einer Stimme, die nie deiner Mutter gehört haben konnte, maschinenhaft auf dich herabstanzte: Dann-die-Ta-blet-ten.
Mit den spitzgefeilten Nägeln, die sie schwarz lackiert hatte, pickte sie eine heraus, betrachtete sie im Gegenlicht, als handelte es sich um etwas sehr Kostbares, legte sie dann auf die Handfläche und krümmte die Finger. Schau hier, sagte sie und deutete auf die eingekerbte Pille, hier endet meine Lebenslinie.
Wieder eines dieser Spiele, dachtest du, die dich abstrafen sollen, dir die Schuld an ihrem Zustand zuschieben. Sie drehte den Wasserhahn auf. Der Strahl schoss ins Becken. Von allen Geräuschen, die im Haus die Stille anfüllten oder die Taubheit erst hörbar machten, in die deine Tage eingepackt waren wie in einen dicken Klumpen Torf, war dir das Rauschen von Wasser stets das liebste gewesen. Meist kündigte es eine Besserung an: Wenn es in die Wanne strömte, war sie endlich aus Hamburg zurück. Das Gurgeln im Kloloch hatte dich bis zum nächsten Geschäft vor dem gefährlichen Rochen bewahrt, früher, als du noch Kind warst; das Pladdern in den Traufen eröffnete morgens die Regenpantomime, für die sie sich stets neue Pointen ausdachte, um dich zum Lachen zu bringen. Nun aber hatte sich auch der sanfteste aller Laute in Lärm verwandelt.
Das Gefühl der Niederlage war ein grünes, galliges, das Frühlingsgefühl, seit ihrer Rückkehr hattest du kaum mehr ein anderes empfunden. hMama, hnicht!, hast du gerufen, und tatsächlich: Sie hielt inne, schwemmte die Pille nicht, wie befürchtet, in den Abfluss, sondern füllte stattdessen ein Glas und setzte sich wieder an den Tisch, aufrecht wie zu einer Mahlzeit. Dein Wort, sagte sie und schluckte. Hinter ihr strömte das Wasser aus dem Hahn ins Becken, zum Rohr, immer nach unten. Du tatst dankbar einen Schritt auf sie zu, wolltest sie sogar in den Arm nehmen, doch da hatte sie schon den gesamten Inhalt der Dose im Mund, nach einer Bewegung, die du heute kaum mehr erinnern kannst, wie sich in den letzten Wochen die meisten ihrer Gesten, die von einer Sekunde auf die andere alles veränderten, im Zeitraffer abgespielt hatten, mit einer Geschwindigkeit, der nur das Auge einer Libelle noch hätte folgen können.
Doch auch dein Körper, der sich immer ein wenig träge gegen die Zeit gestemmt hatte, war durch ihre unberechenbaren Aktionen mittlerweile geschult. Schon im nächsten Moment steckten deine Finger in ihrem Hals. Du packtest sie an den Haaren und wehrtest mit der anderen Hand ihre Bisse ab, bis du die letzte Tablette aus der Mundhöhle gekratzt hattest. Sie sprang auf und übergab sich ins Spülbecken. Deine Finger glänzten vom Speichel. Wo sie dich erwischt hatte, zeichnete sich die Reihe ihrer Zähne ab. Das Wasser rauschte, sehr lang und laut. Ich werde fett davon, rief sie und riss die Bluse auf, das – und sie stieß deine Hand in ihr Fleisch –, diese Titten waren einmal das Beste an mir, und das – ihre Stimme klang nun wieder wie die Punze, die sich dir in die Knochen bohrte, während sie Jeans und Slip herunterzerrte –, dafür, hämmerte sie, haben die Männer einst Schlange gestanden, und sie versetzte dir einen Schlag gegen die Brust, aber wenn ich weiterhin dieses Zeug fresse, und sie fegte ein paar der ausgespuckten Pillen vom Tisch, wenn du mich weiterhin zwingst, diese Scheiße zu schlucken, und sie zog deine Hand hinterm Rücken hervor und schloss die Schenkel darum, dann wirst du, heulte sie, der einzige Kerl sein, der mich noch will!
Das alles wieder wie im Zeitraffer; nur in der Erinnerung kannst du das Ineinander der Bewegungen, Rufe und Blicke bewusst verlangsamen. Plötzlich sahst du die Tränen. Schnell bist du aus ihrer Umklammerung heraus und zurück, mit nach hinten gestreckten Armen. Die Küche schien dir eine Art Käfig, deine Mutter darin das tollwütige, sich am Boden windende Tier. Willst du das?, rief sie; in ihrem Mundwinkel, wo der Schwung des Lippenstifts ausriss, klebte das Pulver einer zerbissenen Tablette. Ob dich das anmache?, sie presste sich die Hand in den Schoß. Zwischen deinen Fingern endlich die Kante des Küchenschranks, der Besen in der Ecke, dahinter der Türrahmen, die Freiheit. Deshalb hast du Daniel verjagt, stampfte sie mit Fußtritten in den Küchenboden, und noch lange nachdem du die Tür deines Zimmers zugeschlagen und dich aufs Bett geworfen hattest, hörtest du von unten herauf die heißgelaufene Muttermaschine walzen und stanzen.
Wie jeden Nachmittag wenn du dich an die Hausaufgaben machtest, stand die Sonne senkrecht über dem Teich, in einem gleißenden, unermesslich offenen Himmel, nackt und unverschleiert. Nur manchmal in leichten Dunst gehüllt wie unter heller Seide, leuchtete sie seit dem Märztag, als Marga aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, mit zunehmender Kraft deine Tage aus, und je wärmer ihre Strahlen wurden, die aus den Heizkellern die Katzen in die Gärten lockten, die Hunde in die Hütten zurückdrängten, das Schmelzwasser aus den Gräben leckten und auf dem Schreibtisch, wo du, statt das Schulzeug zu erledigen, verbissen in deine Kladde gekritzelt hast, den Staub sichtbar machten, desto deutlicher erkanntest du in der Sonne eine neue Eigenschaft: ihre Bosheit.
Es war der elfte Mai, Muttertag, hast du hinzugefügt, als du das Notizbuch aus der Ritze zogst und das Datum eintrugst, unter dem du die Geschehnisse festhalten wolltest, wie du in den letzten Wochen fast täglich ihre Stimmungsschwankungen protokolliert hattest, als wäre sie deine Patientin und die Kladde eine Krankenakte. Wenn man deinem Tagebuch nicht glauben würde, dachtest du und begannst mit noch immer zitternder Hand den Eintrag, wärt ihr beide verloren.
Ob dir bewusst sei, was für ein Tag heute ist? Sie stand plötzlich hinter dir; vertieft in deine Aufzeichnungen, hattest du sie nicht hereinkommen hören. Du reagiertest nicht, warum auch? Sie hasste den Tag der Mütter; als wären die schon zu Lebzeiten heilig, das war immer ihr Spruch gewesen. Also hatte sie den Tag wie jeden anderen Sonntag verbracht: malend in der Scheune, rauchend auf der Veranda, im Auf und Ab durch das Haus, manchmal war sie weggefahren, ohne dir zu sagen, wohin. Als du einmal dennoch einen frisch von der Wiese gepflückten Frühlingsblumenstrauß in die Vase stelltest, hat sie das Kraut mit gespielter Bestürzung umarmt und gerufen: O Schönheit, für mich musstest du sterben!
Jetzt beugte sie sich über die Seite, umhüllt von einer Parfumwolke. Kranke Mutter?, sagte sie und versuchte, dir das Heft wegzuziehen. Du hast sie abgewehrt und das Geschriebene mit der Hand verdeckt. Wie hatte sie nur so schnell lesen können? Ob du mit deiner kranken Mutter an diesem besonderen Tag nicht einen Ausflug machen willst? Sie hatte sich herausgeputzt, den Lippenstift aufgefrischt, das Haar hochgesteckt, sogar ein Festkleid angezogen, das rubinrote, das sich mit ihrer orangefarbenen Mähne biss. hHausaufgaben, logst du. Sie wiederholte spöttisch das Wort, das einzige, das dir auf die Schnelle gelungen war, schnappte die Kladde und schob sie in die Bettritze. Woher kannte sie das Versteck? In ihren Augen glaubtest du Triumph zu sehen. Es sei doch so schönes Wetter. Ihre Stimme klang jetzt verdunkelt, Bedauern schwang darin oder Wehmut, irgendetwas schien sie plötzlich zu rühren. Sie wandte sich zum Fenster, doch ohne einen Blick, der all das hätte erkennen und sich darüber hätte freuen können: die Sonne, die Frühlingsluft, das frische Gras, darüber die Schwalben, die erst seit wenigen Tagen aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt waren. In zehn Minuten, sagte sie, fahren wir nach Hamburg. Sie drückte dir den Kuss auf und zog ab.
Mit dem grünen Gefühl im Bauch hast du den Stift weggelegt, die Haushose aus-, die beste Jeans angezogen, dein mittlerweile fast schulterlanges Haar gekämmt, etwas von Daniels Rasierwasser aufgetragen, das er auf der Ablage vergessen hatte, die weißen Turnschuhe geschnürt, die du für besondere Anlässe schontest, einen letzten Blick in den Garderobenspiegel geworfen, wo du eine Schnute zogst, alles verlangsamt, umständlich, gegen einen schier unüberwindbaren inneren Widerstand, wie ein Kranker sich unter Schmerzen vorbereitet auf den unvermeidbaren Gang zum Arzt.
Als du sie in der Scheune abholen wolltest, kauerte sie mit angezogenen Beinen und in ihren hochhackigen Sandaletten auf dem Hocker und tupfte den Pinsel auf immer dieselbe Stelle des rotroten Bildes, an dem sie seit Wochen arbeitete, ohne dass es sich merklich veränderte. Nur die Farbe kam dir mit jedem Tag beißender vor, blutig und böse. Sie hob nicht einmal den Blick, als sie sagte: Ich kann auch nichts dafür, dass du keine Freunde hast, und während sie mit zusammengekniffenen Augen die Pinselspitze wie ein Skalpell auf den Punkt setzte: Geh ins Dorf, es ist voller Kinder. Die Sonne lachte, als du ins Freie ranntest, mit Augen, aus denen das Wasser lief, ins brennende Moor.
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Doch hier am Teich siehst du nichts von mir. Nirgends Flammen und Asche. Frischer Wind fegt aus Nordost, dringt selbst durch die gefütterte Jacke. An den Erlenzweigen spitzen zaghafte Blätter, weiter draußen flirren die Birken in ihrem weltfremden, fast wahnhaften jungen Grün. In einer niedrigeren Zeile davor leuchtet rostrot der blühende Gagelstrauch. Darüber wölbt sich der Mai gläsern gegen die Sonne.
Es ist ein eisiger Brand, der hier glüht. Meine Flammen wüten im Verborgenen, in den Schwarztorfschichten unter dem Gras, bei den durstigen Wurzeln; erst in anderthalb Metern Tiefe stoßen die Torfstecher in diesem Frühling auf Wasser. Der letzte Regen fiel Anfang März. Die Moosbeere blüht noch, die Erde schmort schon. Ich schwele und zündele mich langsam zu dir hin, unter der Grasnarbe und an den klaffenden Säumen der Dräne entlang, ganz ohne das Spektakel, nach dem alle die Hälse recken: die Kinder, die Bauern auf ihren Treckern, die Touristen aus der Stadt, die in der Zeitung vom Fenndorfer Moorbrand gelesen haben, an den Absperrbändern stehen und sich wundern, wie friedlich das Land doch unter der schönen, brandschatzenden Sonne liegt.
Die sengt und dörrt die Torfmoose aus, trocknet die Schlenken zu staubweißen Krusten, getarnt hinter arktischem Wind. Jeder Tautropfen dient ihr als Brennglas, das den schwächsten Halm entfacht: kein Aufspringen des Flämmchens wie von einem Zündholz, nur ein an heikelster Stelle langsam durchschmorender Punkt in einem Geflecht brütender Gräser; aufgrund seiner geringen Wärmeleitung heizt sich der Torf an den länger werdenden Sonnentagen wie ein Backofen auf. Nachts kühlen die oberen Schichten nur zögerlich aus, um von der frühen Morgensonne wieder neu befeuert zu werden. Draußen beim Kolk, auf der baumlosen Kuppe des Hochmoors, in der Gras- und Strauchsteppe, wo die Sonne auf zwölfstündiger Bahn ungehindert mit den Böen aast, habe ich mein Werk begonnen.
Nur die Bauern beschuldigen die achtlosen Städter, die ihre Zigaretten auf den Fußpfad schnippen. So oder so war ich längst bereit für die Katastrophe. Der fiebernde Nerv brennt durch, entzündet das Fleisch, das sanfte, stets ein wenig schwermütige Gesicht der Ebene verzieht sich zur Zornesfratze, färbt sich schwarz und reißt auf. Das Moor hat einen Sonnenbrand, und auch dir, Dion, wird am Ende dieses Tages vom Herumirren in der Stadt die Haut auf Stirn und Wangen glühen. Danach werden die Blasen aufplatzen, abschuppen und einen neuen, weißen, noch ungleich verletzlicheren jungen Mann hervortreten lassen, doch das viel gefährlichere Geschwür, deine Mutter, hast du dann endgültig abgestoßen. Sie ist fertig mit dir. Wartet, dass du endlich erwachsen wirst und Leine ziehst. Schon in aller Frühe ist sie nach Hamburg gefahren, und aus Erfahrung weißt du, was passiert, wenn sie dir ihre Ausflüge verheimlicht. Während du hier zauderst und grübelst, bettelt sie Ute Hassforther um eine neue Ausstellung an. Willst du das alles wirklich noch einmal erleben?
Du schnaufst aus, fühlst deinen Atem zittern, blinzelst mit glasigen Augen gegen die Sonne. Ja, heul dich aus. So ein Abschied fällt nicht leicht. Spür den Schmerz, erkenne, was er für dein Leben bedeutet, dann sei ein kluger Junge und fass den Entschluss!
Du sinkst tiefer in die Winterjacke, in den Augen steigt der Druck. Warum jetzt so melodramatisch? Als Moorkind und Libellenforscher weißt du doch, dass ich hier von Zeit zu Zeit neue Verhältnisse schaffen muss. Inzest in Familienbanden führt auch bei den Tieren auf lange Sicht zur Degeneration der Gruppe, also wird die Brut, die das Nest nicht verlassen will, zum richtigen Zeitpunkt rausgeschmissen. Worauf wartest du noch? Hock nicht rum, nimm den Bus nach Hamburg, finde deine Mutter, und bring sie guten Gewissens nach Ochsenzoll auf die Geschlossene.
Ausgerechnet dorthin zurück?, denkst du und wischst dir die Träne ab. Als sie aus der Klinik wiederkam, an einem der ersten sonnigen Märztage, war sie rot und fett. Vielleicht lag es ja an der klobigen Motorradkluft, dass sie genauso füllig wirkte wie Marianne, die neben dich trat. Nie hatte sich ein Stoff auf dem Körper deiner Mutter gespannt, immer war der Gürtel um ihre Taille bis zum vorletzten Loch geschnallt gewesen, die knappe Bluse mit ein paar Stichen noch enger genäht. Nun schwang sie einen Arsch von der Maschine, der breiter war als der Sattel.
In deiner Erinnerung ist sie allein gekommen, möchtest du sie vielmehr allein zu dir zurückkehren sehen, auf einem Feuerstuhl aus der leeren, winterkahlen Ebene wie eine Heroin über das Schlachtfeld eines siegreich überstandenen Krieges: Sie zog sich den Helm vom Kopf, schüttelte die flammenden Haare, schaute erst zu dir, nickte dann der Schwägerin zu und sagte zu euch beiden oder in den Spalt zwischen euren Schultern, wo die Abendsonne sie blendete: Mein Junge!
Tatsächlich aber hat er sie gebracht. Du hast den Mann aus der Klokabine sofort erkannt. Hatte sie dir all die Jahre ihren Liebhaber verheimlicht? Ihn damals, bei der Preisverleihung der Sparkasse, vielleicht schon gekannt und all die Tage, an denen du zu Hause auf sie gewartet hast, in Wahrheit mit ihm verbracht? Bei dem Gedanken, dass gar nicht ihr Überdruss, das Leben mit dir der Grund war, warum sie krank geworden war, sondern Liebeskummer, spürtest du Erleichterung, doch da war noch ein anderes, stärkeres Gefühl, das auf deine Brust zu drücken begann; erst später, in deinem Buch, wirst du es Eifersucht nennen.
Er tritt aus ihrem Schatten hervor und reicht Marianne die Hand. Ein Freund aus Hamburg, wischt Marga ihn weg, zieht aber gleichzeitig seine Faust heran, er sagt: Moin, Daniel Röcker. Im Nachhinein vervollständigt sich die Szene. Heute weißt du, dass sie auf dem Motorrad dicht hinter ihm gesessen hat, die Hände um seine Hüften gelegt, den Kopf an die Schulter geschmiegt, von einer Familie träumend, während der Fahrtwind ihr das Gesicht rötete.
Geht es dir also wieder gut, sagte Marianne und stellte sich dichter neben dich; das gelbe Licht auf Margas Gesicht verschwand. Mir geht’s super, erwiderte sie und nickte dir aufmunternd zu, man habe sie dort wieder gut hingekriegt. Der Satz passte nicht zu ihr, schien dir auswendig gelernt, als sagte sie ihn unter Zwang, wie überhaupt ihre Bewegungen ungelenker als früher wirkten, ferngesteuert, eckig, auch der Blick floh rastlos von einem zum andern; die ganze Mutter hinter einer Maske, die du nicht durchdrangst.
Die Sonne sank in den Horizont, wurde größer und rot. Da kippte auch schon ihre Stimme, Hirnwäsche!, lachte sie, du hörtest, wie Marianne sich räusperte. Es sei eine ausgezeichnete Klinik, fügte Daniel hastig hinzu, der nun schützend neben ihr stand. Sie hätten dort sofort erkannt, was ihr fehlt.
Und was fehlt dir?, fragte Marianne, ohne Daniel vorher anzuschauen. Was Endogenes, genetisch bedingt, erklärte Marga und zog seine Hand noch enger heran. Solche Begriffe hattest du noch nie von ihr gehört. Viele ihrer Worte aus jener Zeit erscheinen dir rückblickend zu groß; sie füllte die Phrasen nicht aus, Sätze wie Ich muss mich abgrenzen, oder Ich muss jetzt bei mir bleiben, immer mit Betonung auf dem Ich, dieser Zwang, sich vor Daniel zu behaupten, anderer Meinung als er zu sein, später, wenn sie wegen der sogenannten Lösung stritten.
Genetisch?, wiederholte Marianne zweifelnd und legte dir die Hand auf die Schulter, du zucktest weg. Marga, so war dir, registrierte deine Abwehr mit Genugtuung. Sie streckte die Hand nach dir aus und sagte: Komm!
Marianne verstärkte ihren Griff. Du hast zu Boden geblickt, auf die Erdschollen, wo du die groben Steine ausgraben solltest. Die Tante hatte die Rabatten bepflanzt, wie jedes Jahr mit Kartoffeln, Salat und Kohl. Zwischen den Brocken kroch ein Engerling, grub sich zurück in die schützende Krume. Mit der Stiefelspitze schobst du ihn auf einen Trittstein, wo er sich zu einem Ring krümmte. Die winzigen Beinchen zappelten, fanden auf dem Stein keinen Halt.
Marianne räusperte sich wieder, auf der Schulter spürtest du ihre Hand zupacken. Vielleicht fragst du ihn erst, ob er will, sagte sie. Marga stieß einen quietschenden Laut aus, irgendetwas zwischen Gelächter und Drohruf; es ähnelte ein wenig dem Quorren einer Uferschnepfe, jenes Vogels, den du im Moor oft hörst, aber kaum je gesehen hast. Die Raupe krabbelte ziellos umher.
Frag ihn, flüsterte Daniel ihr zu. Sie ließ seine Hand los und strafte den Freund mit einem Blick. Da hast du den Spaten genommen und das Tier in der Mitte zerteilt. Es war so still in diesem Moment, dass du das Metall knirschen hörtest. Du erinnerst dich sogar, was du dabei dachtest: Daraus soll nie ein Maikäfer werden, oder etwas Ähnliches. Dann tratst du die Kadaverhälften in den Boden.
Vielleicht hättest du ihn vorher fragen sollen, ob er überhaupt zu dir ziehen will, sagte Marga und zog dich weg vom Engerlingmassaker. Davor, erwiderte Marianne ruhig, hättest du mich fragen müssen, ob ich ihn zu mir nehmen kann. Sie kenne doch die Situation in ihrer Familie. Hannes wolle nun plötzlich studieren, Martin müsse wegen seines Asthmas erneut zur Kur, der Zuschuss vom Ministerium sei noch immer nicht bewilligt. Ihre Stimme klang gefasst, hatte sich nur um eine Tonlage erhöht, zitterte nun ähnlich dünn und splittrig wie in ihren Streitereien mit Hannes.
Marga roch nach Zigaretten, Benzin und Leder. Ihr Typ grinste dir kumpelhaft zu, doch du hast weggeschaut, an deiner Mutter vorbei ins Moor. Böen beugten die Binsen, die Sträucher und Besen der Weidenköpfe nach Westen, hin zur Sonne, die als kaltes Feuerloch in die Erde sank und die im Wind kichernden, krummgebürsteten Birken in ihren rußfleckigen weißen Luderkitteln in der letzten Minute des Tages erröten ließ, als stünden sie schon in Flammen.
Danke für alles! Marga streckte der Schwägerin die Hand hin. Die nickte, schlug nicht ein, sagte nur: Die Tür ist offen. Sie nahm dir den Spaten aus der Hand, sah dich dabei nicht an. Marga schob dich zum Motorrad, Daniel half dir hinauf.
Den Weg zum Haus durftest du selbst fahren. In deiner Kladde steht über diesen Märztag, dass dein erster Eindruck von ihrem neuen Kerl okay gewesen sei. Er habe dir Kupplung und Gas erklärt, mehrmals auf die Bremsen hingewiesen, dich noch einmal ermahnt, mit der Maschine behutsam umzugehen wie mit einer Jungfrau. Marga sagte: Versau mir hier nicht meinen Jungen, zog dich heran und quetschte dir den Helm auf den Kopf, der innen nach Haarspray roch.
Du hast die Zündung betätigt, die Kupplung kommen lassen, das Motorrad machte einen Satz nach vorn, soff ab. Marga quiekte und klammerte sich an dich. Nach dem zweiten Startversuch kam die Honda ins Rollen. Die Tachonadel bewegte sich langsam auf die Vierzig zu, du hofftest, Hannes würde dich von seinem Fenster aus sehen.
Alles war wieder wie immer: Marga groß und schützend hinter dir, ihre Umarmung fest, vertraut und unentrinnbar, als wäre sie nie weg gewesen; der Heidedamm eine Rumpelpiste, rechts das Moor, links die Magerwiesen und frischgepflügten Felder, im satten Abendrot das Haus wie ein funkelnder Palast, und Daniel schon fast vergessen. Hundert Meter weit warst du mit der neuen Mutter glücklich.
Erst als du den Motor abstelltest, hast du die Kraniche gehört und aufgeblickt. Sie waren aus ihrem Winterlager zurückgekehrt und zogen hoch im entzündeten Himmel über das Haus Richtung Rahse, nach Norden, ihre V-förmigen Geschwader in mehreren Zeilen hintereinander, die Schrift streng, klar und doch verschlüsselt, ihre fernen, trompetenhaften Rufe wie Gelächter, als würden sie darüber spotten, dass du deiner Mutter abermals in die Falle gegangen warst.
Denn schon in der Küche begann das Elend. Von der Deckenkante hatte sich ein Stück Tapete gelöst, im Spülbecken türmten sich Stapel von Geschirr, übersät mit schwarzen Placken. Jemand war in Schlammschuhen über die Fliesen gelaufen, die Spur führte nach oben.
In diesem Loch wohnt ihr?, sagte Daniel und schaute sich um. Mein Loch ist dein Loch, erwiderte Marga, grunzte über ihren Witz und kickte unterm Stuhl eine tote Maus hervor. Ob du denn gar nicht mehr hier gewesen bist? Sie blickte dich tadelnd an, du fragtest: hWozu? Sie hätte ruhig ein bisschen saubermachen können, diese Geizerin, zischte sie in einen der dreckigen Winkel hinüber, und du wusstest, dass sie damit deine Tante meinte, die dich öfters mit einem Putzeimer voller Scheuermittel zum Heidedamm geschickt hatte, seufzend, sie könne nicht zwei Häuser gleichzeitig in Schuss halten, in ihrer Stimme der unterschwellige Vorwurf der Überforderung, der in all ihren An- und Zurechtweisungen mitschwang, die sie dir als ihrem neuen Pflegekind erteilte. Du warst jedes Mal vor der Haustür wieder umgekehrt; den Gefallen, das Chaos zu beseitigen, in dem beide Frauen dich zurückgelassen hatten, wolltest du weder Marianne noch deiner Mutter tun.
Daniel öffnete den Kühlschrank, schlug die Tür schnell wieder zu. Lass ihn doch erst mal heimkommen, sagte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. Marga schnaubte. Heimkommen? Das sei sein Zuhause, und er: Dann solle sie ein bisschen was dafür tun. Er zog mit dem Finger eine Bahn in den Staub. Sie ging zur Spüle und warf ihm einen Lappen hin. Warum ich, sagte sie, ihre Stimme gickste beim I. Du wohnst jetzt auch hier, doch sie schaute dabei dich an, als hätte sie von dir schon wieder die Schnauze voll.
Los, zeig mir, wie du es gemacht hast, befahl sie. Was gemacht?, erwiderte er. Wie er in der Werkstatt seines Vaters das Altöl aufgewischt habe. Die vielen spitzen Vokale des Satzes bohrten sich dir in die Schläfen. Es sei seine künstlerische Ini-ta-tion gewesen, schoss sie zu dir herüber. Das Wort kippte in die Kopfstimme. hInitiation, hast du verbessert.
Daniel begann zu lachen. Erst verzog sich nur sein Gesicht; es platzte aus dem Rahmen des Vollbarts, wurde breit und grob. Marga erstarrte. Wie als Gegenreaktion verschlankten sich ihre Züge. Du sahst, wie sich ihr Rücken verspannte und sich gebieterisch aufrichtete, kanntest die Drohgebärde von Frau Härtel, der Englischlehrerin, wenn sie die Kontrolle über die Klasse verlor. Daniel krümmte sich vor Lachen, eine Viertelminute oder länger warf er sich immer wieder gegen den Stuhl, an dem er sich festhielt. Urkomisch, dass sie ihm das tatsächlich geglaubt habe! Aus den Augenwinkeln sahst du, wie sie die Faust ballte. Sie zischte: Was?
Ob sie nicht seinen Vater kenne, Hartmut Röcker? Sein Gesicht rutschte langsam wieder in den Bartrahmen zurück. Die Augen waren glasig, die Stirn gerötet mit kleinen Schweißperlen darauf, er sah besoffen aus. Marga machte sich am Küchentisch zu schaffen. Wieso sie irgendeinen Hamburger Automechaniker kennen solle? Das Geschirr schepperte in ihrer Hand. Daniel kippelte mit dem Stuhl. Er sei der vormalige Intendant des Hamburger Schauspielhauses und seine Mutter – die eben noch vergurgelte Stimme war plötzlich scharf und angriffslustig – Therese Giering, die bekannte Schauspielerin, und er ließ den Stuhl gegen den Tisch krachen, Filmschauspielerin, fügte er hinzu, falls du das auch nicht weißt.
Marga kippte die Teller ins Spülbecken und sagte: Arschloch. In seinem Gesicht war nun wieder alles am rechten Fleck. Dir gefiel der Bart, der seiner Mimik etwas Strenges und Klares, ja fast Väterliches verlieh. Erst viele Jahre später wirst du rückblickend von seiner Holzschnittfresse sprechen. Auch die Art, wie er dich zwischendurch angeblickt hatte, war dir aufgefallen; nicht wie ein Erwachsener das lästige Kind, das beim Elternstreit stumm in der Tür steht, nein, auf Augenhöhe, freundschaftlich, dich einbeziehend. Dir war, als hätte er deine Zustimmung gesucht.
Räum doch erst mal in deinem eigenen Leben auf; wieder erschien dir ihr Satz, den sie halb in deine Richtung gesprochen hatte, irgendwem nachgeplappert. In ihrem verängstigten Gesicht sahst du, dass sie selbst nicht daran glaubte. Dann fang mal an, sagte Daniel und warf den Lappen zurück, ich schau mir das Dach an. Er nahm zwei Stufen auf einmal, die Dielen knarzten, oben schlug die Speichertür. Als sie sich umdrehte, heulte sie. Doch selbst ihre Tränen schienen dir erzwungen. Formvollendet kullerten sie über die Wangen. Der Mund war leicht nach unten gezogen, als wollte sie weinen und konnte es nicht, eine schlechte Schauspielerin in der Rolle der unglücklichen Mutter.
Heute fragst du dich, wo du in diesem Moment gestanden hast. Manchmal siehst du dich am Tisch, dann wieder in der offenen Tür, hinter dir der Garten, der Damm, der Fluchtweg zurück zum Haus der Lamberts. Mit dem zeitlichen Abstand und all den Enttäuschungen, die noch folgten, würdest du jetzt anders reagieren; dich nicht stumm und verschüchtert in die Ecke verdrücken, sondern durchgreifen, auf den Tisch hauen, Tacheles reden; sie hätten sich, heißt es in deinem Buch, wie Kleinkinder benommen. Besser, du wärst Daniel in den Speicher gefolgt, der schon gelernt hatte, wie deine neue Mutter zu nehmen ist, oder zurück zu Marianne gelaufen, wo schon die Suppe auf dem Tisch dampfte; dein Magen, erinnerst du dich, knurrte laut, doch das war das Einzige, was in dir rebellierte.
Du pulst einen Stein aus dem Boden, wirfst ihn ins Wasser. Er zerreißt das friedliche Bild des Frühlingstages, das sich auf der Oberfläche spiegelt. Kleine Wellen züngeln ans Ufer. Sie hat mich belogen, denkst du. Mir Geschwister versprochen, Familienglück.
Glück?, hake ich nach. Komm, Dion, das kannst du besser ausdrücken, es wird Zeit, dass du dich endlich wehrst!
Du starrst aufs Wasser, wo die Wellen flüstern, wirfst mit Wucht den nächsten Stein. Er kracht gegen einen Stamm. Vorjahreslaub segelt, eine Krähe fliegt auf, keckert davon.
Los, trau dich! Wahr ist, dass sie auf Familie gemacht hat, damit du nicht wieder zu Marianne ziehst, der Konkurrentin. Hör endlich auf mit Mama, denk Miststück, sag Monster!, sei der missbrauchte, um sein Leben geprellte Sohn!
Du drehst dich weg, zu den Erlen; immer hast du zu den Erlen geschaut, bist raus ins Moor, wenn du nicht sehen wolltest, wer sie wirklich war. Stets warst du ihr lieber Junge, ein Musterknabe, der seine Mutter auf Händen trägt, hast sie verteidigt gegen die Welt, jedes Übel von ihr ferngehalten: Da war die Astklaue, die beim Schwimmen über ihr lauerte, also hast du wachsam ihre Bahn verfolgt. Ihr gegen die drohende Erkältung schnell das Handtuch gereicht, den Bademantel über sie geworfen, weil die Dörfler schon glotzten, dich von ihr belügen und für sie beleidigen lassen, und selbst nach der Szene in der Küche, als du hättest merken müssen, wie sie mit dir spielt, noch Worte des Trosts gefunden.
Sie hatte ja schon wieder diesen starren Gesichtsausdruck und kaute jetzt doch auf der Lippe, du dachtest, es sei wegen dir. Dabei war sie doch erst seit einer halben Stunde zurück. Einen ganzen Winter lang hattest du auf sie gewartet. Sie durfte jetzt nicht schon wieder heulen. Da hast du tief eingeatmet und den ersten zusammenhängenden Satz mehr gestöhnt als gestottert: Bestimmt ist sein Vater der Automechaniker.
Sie fuhr herum. Auf ihren Wangen waren keine Tränen mehr zu sehen, nicht einmal Spuren. hDas hMotorrad – und du hast zum Hof hinaus gedeutet –, er kenne sich gut mit Maschinen aus. Sie starrte dich ungläubig an, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte sich. Ihr Haar war über den Winter gewachsen, reichte fast bis zu den Schulterblättern. Du hättest dir eine Umarmung gewünscht, wenigstens ein Lächeln, das einvernehmliche, altbekannte Zwinkern, aber sie lachte dich aus. Du hast recht, bist ein plietsches Kerlchen, Direktorensöhne, sagte sie, fahren Jaguar und keine abgehalfterte Honda. Sie packte dich am Arm und zog dich auf den Stuhl. Ob er bleiben solle? Ihr könntet eine Familie gründen. Vatermutterkind, kicherte sie, ihre Augen traten ein wenig aus den Höhlen. Du seist kein Kind mehr, lange hast du mit dem Satz gekämpft. Ha! Sie bog wieder den Kopf nach hinten, eine Bewegung, die sie in den nächsten Wochen oft wiederholen würde, als müsste sie etwas abwerfen, sich herauswinden aus einer unsichtbaren Fessel.
Stimmt, sagte sie, du bist jetzt ein Mann. Sie schnippte dir mit dem Finger gegen den Schenkel. Unten schon zu lang, oben noch zu kurz, aber das wachse sich aus. Du hast ihre Hand weggewischt, doch sie ließ nicht ab, zerwühlte dir das Haar, was du schon immer verabscheut hast. Wie du ihn fändest? Sie musterte dich herausfordernd. Du hast die Schultern gezuckt, sie zog dich noch näher, zerrte die Zustimmung aus dir heraus, du sagtest: hOkay. Hokay?, wiederholte sie. Ob sie dir verraten solle, warum auch sie ihn hokay finde?
Spätestens jetzt, Dion, hättest du wütend sein müssen, aufstehen und gehen, raus ins Moor, wie immer, wenn du dich von ihr verletzt fühltest, oder rüber zu Marianne, die wegen deiner Stotterei immerhin Mitleid empfand. Du hättest sie einfach sitzenlassen, Leck mich!, brummen sollen, irgendetwas in der Art, wie es Jungs in deinem Alter tun, wenn ihnen die Mutter auf den Sack geht.
Sie hatte dich noch nie nachgeäfft, nicht einmal, wie alle anderen, ungeduldig oder betreten zur Seite geblickt, war ganz im Gegenteil, immer wenn du ein Wort nicht schafftest, schützend vor dir gestanden und hatte mit ihrem festen Blick und einem ermutigenden Nicken deine Lippen so lange mitgesteuert, bis das Wort endlich herausgefallen war. Du hättest ihr alles verziehen; ihr Gespött über deinen in die Höhe schießenden Körper; den Kerl, mit dem du sie nun teilen musstest, sogar die Lüge mit der Familie. Doch dieser winzige Buchstabe, ein leichtfertiges, vollkommen unnötiges H vor dem okay, hatte dich an deiner schwächsten Stelle getroffen.
Sicher hast du auch schon deine Erfahrungen mit der Liebe gesammelt, sie puffte dich in die Seite, fügte hinzu: seitdem deine alte Mutter dich nicht mehr kontrolliert. Du spürtest dich erröten. Was meinte sie damit? Wusste sie etwa von Hannes, der hellhörigen Wand zwischen euren Zimmern und der Ritze, die auch in deinem Gästebett schnell aufgesprungen war, tief verborgen darin der Cousin, den du in Gedanken berührt hast, wenn er drüben gegen den knarrenden Lattenrost anhustete, in immer kürzeren Abständen Husten Knarren Husten, bis es plötzlich still war und du dir in dem Moment, als ihr euch in deiner Phantasie fast gleichzeitig entleert habt, den Laut in der Kehle verbissen und dich zurück auf die Matratze gedreht hast, und auch drüben knarzte es ein letztes Mal, bevor alle heimlichen Geräusche in der Wand versickerten, die weiß und leer im Dämmerlicht schimmerte, mit dem in das Leuchten und die Leere gehängten Metallkreuz, das die verquälten, auf die feuchtglänzenden Geschlechter starrenden Blicke erlöste. Endlich goss sich doch noch der Schlaf über euch aus, der die Körper bald zurück in die Bettritzen zog, miteinander, ineinander, hustend und knarrend, was keiner mehr hörte.
Nun sag schon, drängte sie. Wer es sei? Eine aus dem Dorf? Von dort sei noch nie etwas Gutes gekommen, und dass du jetzt bloß nicht Kerstin sagen sollst, Kerstin, diese Göre, würde sie an ihrem Tisch nicht bewirten, keinem der Schweinebauern ihre Tür öffnen, mach nicht die gleichen Fehler wie ich, sagte sie und boxte dich, ein Schlag wie vom Elektrozaun an der Kuhweide, wo die Kinder oft stehen und sich gegenseitig an den Draht schubsen, gleichermaßen abgeschreckt wie angefixt von dem schmerzhaften Blitz.
Ich find’s eh raus, schmollte sie, Mütter haben da den sechsten Sinn. In der Küche dunkelte es, nur im Fenster glühten die versprengten Schönwetterwölkchen wie ins Leere geworfene Kohlen. Im Zwielicht sah sie noch fremder aus, fetter, älter, wer war die Frau, die mit dem Motorrad gekommen war, diesen Röcker im Schlepptau, und dir nun eine Freundin anzudichten versuchte, die du nicht hattest, nicht haben wolltest; und selbst wenn du sie gehabt oder sogar die Sache mit ihr gemacht hättest, würdest du das ihr, Marga, die du nicht mehr erkanntest, ganz bestimmt nicht, wie man sagt, auf die Nase binden.
Wäre sie noch die Alte gewesen, du hättest vielleicht doch die Wahrheit gesagt: Hannes, zu dem du dich nun endlich und unterm Gelöbnis der Mutter, zu schweigen und zu verstehen, bekennst, so dass sie den sechsten Sinn, von dem sie angeblich beseelt war, unter Beweis hätte stellen müssen, spüren, was ihr Kind in einer Situation wie dieser braucht, Trost, Zuspruch, Verständnis und so weiter, all das in einem hingehauchten, in dein Ohr geküssten Satz, den nur Mütter sagen können und dürfen, weil sie in solchen Momenten tatsächlich ein wenig heilig sind und mehr über das Kind wissen als das Kind über sich selbst, wie Maria, die, so hat es euch Pfarrer Deichsen im Konfirmationsunterricht erklärt, nur deshalb von Gott auserwählt wurde, da sie noch vor Jesu Geburt in das schwere Schicksal eingewilligt hatte, ihren Sohn, der für die Sünden der Menschen, auch für die der Mutter, würde sterben müssen, um viele Jahre in Armut und Einsamkeit zu überleben.
hTanja, sagtest du.
Sie blickte dich enttäuscht an. Freilich, die habe was, talentiert sei die und klug, könnte sogar recht hübsch sein, wenn da nicht diese Augen wären, und so knochig, sie seufzte, hatte sich wohl ein anderes Kaliber gewünscht, Daniela, die Wuchtbrumme, oder wenigstens Meike aus dem Neubaugebiet, die zwar einen hässlichen Überbiss hat, dafür aber einen reichen Vater, Fabrikant für Farben und Lacke, das wäre ihr recht gewesen, der hätte sie ein Leben lang mit Pinseln und Terpentin versorgt, sie sagte: Tanja ist süß, aber krank.
In ihren Augen zuckte ein Licht, es glomm im Widerschein des Himmels auf dem Glas des Küchenschranks und säte zwei winzige Flämmchen in ihre Pupillen. Du bräuchtest jemanden, der dir zeigt, wo es langgeht. Jungs in der Pubertät seien oft orientierungslos.
Auf einem jäh in deinem Kopf aufflackernden Bild sahst du sie in einem weißen, aufgeräumten Zimmer der Klinik sitzen, mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem bequemen Sessel, vielleicht neben einem Gummibaum, ihr gegenüber ein bebrillter Arzt, der genau diesen Satz sagte: Zeigen Sie ihm, wo es langgeht. Erst jetzt wurde dir klar, warum du dich bei den Telefonaten im Winter oft so sprachlos gefühlt hattest. Sicher, du fürchtest den Apparat, der nur deine Stimme überträgt, sich nicht täuschen oder ablenken lässt wie die Menschen. Wenn dir ein Wort im Mund klemmt, wendest du dich kurz ab, um es dann im Zurückdrehen herauszuschleudern, oder du simulierst einen Hustenanfall, der den quersitzenden Satz konsonantenlos herauskatapultiert. Mit Ruckungen und Zuckungen kannst du dich stets zwischen den Sprachtrümmern hindurchlavieren, und im besten Fall hört dein Gegenüber das Stottern gar nicht, denkt nur, du bist eine zappelige Natur.
Doch es war nicht nur das Telefon, das erbarmungslos auf das nächste Wort wartete, egal, wie du dich wandest. Mit dem Hörer in der Hand hast du in Lamberts Diele am Bänkchen verharrt, an der Wand darüber ein Trockenblumenstrauß, den du mit Blicken seziertest, von den mit einem Samtband zusammengebundenen Stielen bis in die feinen Adern der Blätter, wenn dir Marga am anderen Ende der Leitung von ihrem Klinikalltag berichtete, zweimal die Woche abends, meist mittwochs und sonntags, den Fraß beschrieb, den es wieder gegeben hatte, die Namen ihrer Mitpatientinnen aufsagte, Gisela, erinnerst du dich, Astrid, die auch schon acht Kilo zugenommen und wieder zu rauchen begonnen habe, und ihre Bettnachbarin Birgül, eine Türkin, deren Mann stinkendes Essen in Aluminiumschalen bringe, aber sonst ganz okay sei. Sie erzählte von den Verrückten, ihrem wirren Geplapper, und dass sie jetzt endlich keinen Ärger mit ihrem dauernd verlegten Feuerzeug mehr habe, das nämlich, lachte sie ein wenig zu laut, sei hier am Tisch festgekettet.
Du hast oft genickt, manchmal gelächelt, stets zu spät fiel dir ein, dass sie es gar nicht sehen konnte. Wenn du in diesen Telefonaten den einzigen vollständigen Satz herausbrachtest, wann sie wieder nach Hause komme, schwieg sie eine Weile und sagte dann etwas von den Ärzten, die der Meinung seien, dass ihr beide ein wenig Abstand voneinander bräuchtet. Du hättest den Trockenblumenstrauß am liebsten vom Nagel gerissen, er war hässlich und staubig, ein Ungetüm, das Marga kurzerhand in die Tonne getreten hätte.
Nur einmal fügte sie einen Satz hinzu, an den du nun wieder denken musstest; er passte zu den Begriffen Pubertät und orientierungslos, die keine Margaworte waren. Sie hatte sich selbst korrigiert, als stünde plötzlich jemand hinter ihr, der zuhörte: Ich meine, sagte sie, ich muss lernen, dich loszulassen.
Marianne, die das Wohnzimmer aufräumte, war auf dich zugekommen und hatte dir den Hörer abgenommen. Sie solle sich keine Sorgen machen, rief sie so laut, als müsste sie die Entfernung nach Hamburg tatsächlich mit bloßer Stimme überbrücken. Ihm gehe es gut. Sie nickte dir dabei kräftig zu; du würdest mit Appetit essen, auf dem Hof mit anpacken, mittlerweile dein eigenes Zimmer bewohnen, ja, doch, wie bitte? Ach was, Rumpelkammer!, sagte sie und meinte damit deine neue Schlafstätte im ehemaligen Zimmer der Großmutter, wo sie alles hergerichtet habe, schön hättest du es jetzt dort, hell und ruhig für die Hausaufgaben.
In der Leitung knackte es, die Tante schüttelte den Hörer, rief mehrmals den Namen deiner Mutter und sagte schließlich beleidigt: Aufgelegt! Doch du wusstest, dass ihr die Münzen für den Fernsprecher ausgegangen waren, den du dir an der Wand eines weißen, von endlosen Türreihen flankierten Korridors vorstelltest, über den streng blickende Krankenschwestern in weißen Gewändern und mit Hauben auf dem geknoteten Haar die Idioten zerrten, die sich in ihren Händen krümmten oder apathisch in den Ecken kauerten, an ihren entblößten Genitalien spielten und mit den dreckigen Fußnägeln knispelten. Zwar bezeichnete Marianne das Krankenhaus, wo man deine Mutter behandelte, stets mehr oder weniger wohlwollend als die Anstalt, David Voss aber hatte, kaum war damals im November die Neuigkeit durchs Dorf gegangen, auf dem Schulhof herumposaunt, dass die Katthusen nun dort sei, wo sie auch Kar-Kar, den sprach- und triebgestörten Sohn der Karmstedters aus Kleenze, hingebracht hätten, nämlich in der Klapse.
Kar-Kar, das wusstest du aus den Erzählungen, hatte mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Lamberts Knecht soll ihn angeblich vom Trecker aus auf dem Bahndamm gesehen und zur Polizei geschleift haben, Karsten Karmstedter, verdächtigte er den Lebensmüden, habe sich an den Schienen zu schaffen gemacht. Es heißt, er hat sich oft in Hamburg herumgetrieben, zwielichtige Personen im Schlepptau, Drogendealer, sagen die einen, Käufliche, die anderen. Ein Mannweib sei er gewesen, das hattest du Ilse Bloch im Laden zu einer Kundin sagen hören, wenige Wochen nach seinem Tod. Du wolltest von Marga wissen, was das sei, ein Mannweib, und sie hatte aufgelacht und dich gefragt, wer solch dumme Wörter erfinde. Als du ihr erzähltest, was du Ilse Bloch abgelauscht hattest, schaute sie dich nachdenklich an, packte dich schließlich bei den Schultern und erklärte mit ernster Stimme: Karsten Karmstedter war schwul, das heißt, er hat es mit Männern getrieben. Außerdem drogenabhängig, ein Fixer, der auf den Strich gegangen ist, um an Geld für seinen Stoff zu kommen, aber das ist nicht der Grund für seinen Tod. Der Grund, fügte sie nach einer Pause hinzu, in der ihre Gedanken weit abgeschweift sein mussten, denn sie schüttelte sich wie nach einem Kurzschlaf, als sie wieder zu dir blickte, dann zum Küchenfenster hinausdeutete, Richtung Dorf, und sagte: Der Grund, warum er sterben wollte, sind die.
Du erinnerst dich noch genau: Du warst zehn, als die Nachricht von seinem Selbstmord in Fenndorf die Runde machte. In den Jahren zuvor hattest du Kar-Kar ein paar Mal auf den Dorffesten gesehen; er war zwölf Jahre älter als du und meistens betrunken. Obwohl du nie ein Wort mit ihm gewechselt, dich sogar ein wenig vor seinem geröteten, stets ein wenig verzerrten, wie von innen heraus geschwollenen Gesicht mit den flackernden Augen gefürchtet hast, fühltest du dich auf eine gewisse Weise auch zu ihm hingezogen, in einer Art stiller Komplizenschaft, wahrscheinlich, weil auch er stotterte; wenn Kar-Kar am Tresen ein Bier bestellte, warf er den Kopf in den Nacken und trat das Wort mit dem Stiefel gegen das Podest.
Irgendwann war er nach Hamburg gegangen und auch auf den Festen kaum noch erschienen. Sein Vater, hieß es, habe ihm Hausverbot erteilt. Siegried Karmstedter fuhr zuletzt sonntags mit dem Esskorb nach Hamburg und besuchte ihn in einem Krankenhaus, wo man ihm angeblich helfen konnte. An jenem Tag habe er die Mutter wie immer von der Klinik zum Hauptbahnhof zurückgebracht, weil sie Angst hatte, sich in der Stadt zu verlaufen. Dann, so erzählt man sich, ist der Unglückselige vor die nächste S-Bahn gesprungen.
Und wenn die gleichen Ärzte, die Kar-Kar nicht retten konnten, auch bei deiner Mutter versagt hatten? Wie solltest du dich nun um sie kümmern?, dachtest du und starrtest die fremde oder vielmehr fremd gewordene Frau an deiner Seite ängstlich an. Vom Dachboden herunter drang ein Poltern, gefolgt von einem kurzen Aufschrei. Durch die Mauern hindurch hörtest du Daniel fluchen, Marga seufzte: Zum Handwerker taugt er nicht. Du bist aufgestanden und hast irgendetwas von deinen Sachen gemurmelt, die du bei Marianne holen wolltest, doch sie hielt dich zurück. Ob du lieber eine Schwester oder einen Bruder willst?
Du hast trotzig deine Hand weggezogen. Immer hattest du dir diese Art Familie gewünscht, die abends, bei Anbruch der Dämmerung, um den Küchentisch sitzt, an den Stirnseiten Vater und Mutter, seitlich die Kinder, in der Mitte eine Schüssel mit Suppe oder die Platte mit belegten Broten, garniert mit sauren Gurken. Die Fleischwurstschnitten aß man mit Messer und Gabel; so hast du es oft durch die hellerleuchteten Fenster im Dorf gesehen. Neben dir würde Marga sitzen, und auf dem Stuhl, wo sich die Post stapelt, soll Hannes hin, mit abgewinkeltem Ellenbogen, der immer näher kommt, wie bei Lamberts am Tisch.
Auch bei Marianne hatte es eine Art Allestopf gegeben, ein nahrhaftes und sättigendes Mahl, von dem alle aus ihrer Sippe alles oder einen Teil aßen. Wie auch Margas Eintopf war das Hausgericht der Tante zu deiner Leibspeise geworden, ein schnell zubereitetes Essen, jederzeit verlänger- und aufwärmbar; der Tagesplan der Bäuerin war zwischen Herd, Stall, Acker, Marktstand und Singkreis eng getaktet. Mit dem Restetopf kriegte sie ihre Schar zufrieden und satt: Kerstin aß nur das Fleisch und verschmähte alles Grüne; Martin wiederum war das Feste ein Gräuel, er löffelte den Sud ab und manschte noch aus der Einlage am Tellerboden die Flüssigkeit, bis Marianne eine Kelle Brühe aus dem Topf abschöpfte und nachgoss; so ging das, bis er genug hatte. Hannes schlang alles wortlos und gierig hinunter, und Ole liebte es, gleichartige Gemüsestücke und Speckbrocken wie Karten eines Memoryspiels auf dem Tellerrand aufzureihen, um sich irgendwann alles auf einmal in den Mund zu schaufeln.
Du mochtest den Sellerie nicht, das Fleisch dafür umso lieber, und während du aus den Augenwinkeln Hannes beobachtet hast, der sich manchmal mit dem Handrücken über die laufende Nase oder ein Rinnsal aus dem Mundwinkel wischte und dabei den Ellenbogen so weit auf den Tisch spreizte, dass du durch den abgeschnittenen Ärmel seines T-Shirts das würzig riechende Allerlei von Muskeln, Haut und Härchen sahst, hattest du dich zwar noch nicht satt gegessen, aber längst sattgesehen.
Ihm gegenüber am heimischen Tisch hättest du Tanja gesetzt; Tanja wäre die perfekte Schwester. Mit ihr würdest du all die Geheimnisse teilen, die du Marga nicht anvertrauen kannst und willst, weil sie eben die Mutter ist, und auch Brüder, so hattest du es in deiner Gastfamilie beobachtet, bestehlen einander und zanken. Wenn Hannes den fünf Jahre jüngeren Martin mit einem seiner Comics erwischte, gab es Zoff. Er zappelte im Schwitzkasten des großen Bruders, spuckte und schrie nach der Mutter, die nicht den Dieb, sondern den Beklauten mit der Kopfnuss abstrafte, wofür Hannes sich rächte, indem er dem Jüngeren beim Abendbrot den Pudding wegfraß. Karl Lambert wies den Unruhestifter vom Tisch, Kerstin, die als echter Kerl, der sie sein wollte, Süßspeisen verabscheute, schob dem Geprellten ihren Nachtisch hin. Überhaupt sahst du die beiden stets die Köpfe zusammenstecken. Trotz seines Asthmas nahm sie Martin, nicht dich oder Ole, mit in den Hühnerstall zu den brütenden Glucken, wo sie für Stunden verschwanden. Wenn sie sich die Rollschuhe anschnallte, treckte der Bruder sie im Gegenzug auf seinem Fahrrad über die Dorfstraße, wo sie mit Kreide Bahnen und Hindernisse auf den Asphalt gezeichnet hatte. Nie durfte Martin auch nur einen Parcours selbst fahren. Doch er beschwerte sich nicht; beim Elfmeterschießen stand Kerstin dafür Runde um Runde zwischen den Bohnenstangen und hielt jeden Ball.
Tanja und du wärt ähnlich unzertrennlich gewesen. Du hättest sie jeden Morgen in ihrem Rollstuhl an den Tisch gefahren, von dort durchs Dorf, vorbei an dem Gewackel der Gardinen zur Schule, wo du sie über den Pausenhof und durch die Gänge schiebst. Alle springen zur Seite, wenn du das schwere Teil rückwärts über die Stufen wuchtest, und sogar David Voss hält euch seit neuestem die Klassenzimmertür auf und verbeißt sich den blöden Spruch. Für weite Strecken klammert sich Tanja nach Kerstins Vorbild an den Gepäckträger deines Rads. Keine Treppe wäre ein Hindernis gewesen; du hättest sie, wie man sagt, buchstäblich auf Händen überall hingetragen, alles getan, damit sie dir wieder verzeiht.
Wahr aber ist, dass Frau Deichsen dich mehrmals abgewiesen hat, als du dich nach Tanja erkundigen wolltest; erst sei sie noch im Krankenhaus, dann in der Reha gewesen. Als du kleinlaut fragtest, ob du sie dort besuchen könntest, drückte die Pfarrersfrau die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu, steckte das spitze Gesicht hindurch und erwiderte: Glaubst du tatsächlich, ihr damit eine Freude zu machen? Sie hielt dabei den Hund fest, der die Zähne bleckte und dich anknurrte, was er zuvor nie getan hatte.
Dann hieß es im Dorf, Tanja sei zurück, doch sie kam nicht mehr zur Schule; das Gebäude war ein altes, oft umgebautes voll steiler Treppen und enger Türen. An einem Abend im Februar hatte Marianne beim Essen erzählt, dass Tanja in Zukunft auf ein behindertengerechtes Internat gehen werde, und mit einem Seitenblick zu dir: Selbstverständlich werdet ihr sie dort besuchen. Hannes warf den Löffel hin. Es war ein Unfall, rief er, wie oft er ihr das noch erklären solle? Seine Stimme überschlug sich in der Mitte des Satzes und sackte hinter Unfall, dem Lügenwort, plötzlich weg. Ich fahre euch hin, erwiderte Marianne, es klang wie ein Befehl. Er sprang auf, riss seine Jacke vom Haken und knallte die Tür. Du wolltest hinterher, doch ein Blick der Bäuerin genügte. Sie schüttete eine Kelle in deinen Teller, die Suppe spritzte aufs Wachstuch, die Kinder löffelten schweigend.
Ein paar Tage später bist du wieder vor die Pfarrerstür und, als die aufging, kurzentschlossen hinein in den misstrauischen Spalt. Frau Deichsen stellte sich dir abwehrend in den Weg, Ronja knurrte, schien sich aber dann des lustigen Winternachmittags zu entsinnen und führte dich mit wedelnder Rute an der Muttersperre vorbei ins Wohnzimmer.
Tanja saß im Rollstuhl vor dem Fernseher, vertieft in eine Sketchsendung. Sie lachte bei jedem Jux auf, stieß dabei den Fuß, den sie anscheinend wieder bewegen konnte, gegen das Trittbrett, schaute schließlich beiläufig zu dir hoch und gluckste: Das ist total lustig. Die Mutter kam herein und schnitt dir abermals den Weg ab. Sie halte das für keine gute Idee, ermahnte sie die Tochter mit einer Stimme, die um Beherrschung rang. Schon gut, Mutti, erwiderte Tanja, befahl Frau Deichsen mit einem Blick hinaus und dich auf das Sofa.
Sie hatte ein wenig Schminke aufgelegt, ihre Lippen glänzten perlmuttern, der zartrosa Wangenschatten tilgte alles Weiche und Liebliche in ihrem Gesicht, das noch nie besonders kindlich gewirkt hatte. Ihre Augen schienen noch blauer geworden. Das Herz klopfte dir bis zum Hals; es war das erste Wiedersehen seit dem Moment, als die Rettungssanitäter sie auf der Trage in den Helikopter geschoben hatten. Für den Rotkreuzwagen hatte es wegen der Schneeverwehungen kein Durchkommen gegeben. In all den Jahren war nie der Notarzt zum Heidedamm gerufen worden, nicht einmal beim Tod von Hannes’ Großmutter, und dann gleich an zwei Tagen hintereinander. Wieder hatten die Dörfler im knietiefen Schnee Spalier gestanden, während die Sanitäter Tanja verarzteten, die inzwischen aus der Bewusstlosigkeit erwacht war und vor Schmerzen schrie. Hannes war stammelnd und in seiner Aufregung oder wegen des noch immer schneidenden Winds flammendrot im Gesicht auf und ab gelaufen, hin und her zwischen den Männern, Marianne und Tanjas abwechselnd weinender und fluchender Mutter, die ihn schließlich bei den Schultern packte und harsche, für eine Pfarrersfrau geradezu unflätige Beschimpfungen ausstieß, die Hannes in seiner Verzweiflung noch mehr aufstachelten, immer wieder den Hergang des Unfalls zu schildern, die verdächtigen Geräusche im Dachboden, Tanja, die dort ein Tier oder sogar einen Eindringling vermutet habe, er, Hannes, der sie ja gewarnt, du, Dion – und er zeigte drohend auf dich –, der sie aber ermuntert habe, den dunklen Speicher zu inspizieren, wo schon das Loch im Dach klaffte und ausgerechnet in dem Moment, als Tanja einen Blick von dem tatsächlich atemberaubenden Schneespektakel erhaschen wollte, der Ziegel herabgestürzt sei, der Zieeegel!, rief er immer wieder gegen das Dröhnen der Rotorblätter an, die das unglückselige Wort mit dem wehklagenden Vokal hinaus in die Nacht peitschten, so dass er die Geschichte von neuem begann, bis Marianne ihn mit einer Ohrfeige zum Schweigen brachte und der sich in die Luft schraubende Helikopter über dem Heidedamm einen kurzen, heftigen Schneesturm entfachte, der wie im Zeitraffer noch einmal die ganze Gewalt dieses Nachmittags über euch wegfegte, hinaus in die sanft gewellte Nachtlandschaft, die zuvor noch friedvoll und unberührt unterm Schnee geschlummert hatte, nun aber schon von ersten Spuren zerstört wurde, Fußstapfen, die sich jetzt, da die Dörfler zurück in ihre Häuser trotteten, zu Kreisen und Schleifen ausweiteten, in deren Mitte Hannes stand, mit hochgezogenen Schultern, hängendem Kopf und einer Tränenspur auf der Wange, die bereits gefror.
Als die Vorabendnachrichten begannen, wagtest du endlich die Frage, auf der du eine Viertelstunde lang stumm herumgekaut hattest: Wie ihr die neue Schule gefalle?
Tanja zuckte die Achseln, schaufelte sich eine Handvoll Fruchtgummi in den Mund und reichte die Tüte an dich weiter. Die Süßigkeiten lockerten deinen verkanteten Kiefer, waren wie weiche, auf der Zunge schmelzende Vokale, langsam beruhigte sich dein Herzschlag, ihr schiefes Grinsen löste den Starrkrampf in deinem Körper. Und deine Mitschüler?, hast du mit dem zuckrigen Film auf der Zunge geschnalzt. Ich bin da noch die Fitteste, lachte sie, da sind Kaliber dabei, das glaubst du nicht. Sie imitierte die unkontrollierten Schleuderbewegungen eines Spastikers, machte dann auf einen ohne Arme, indem sie die Fäuste in den Ärmeln verschwinden ließ und die Ellenbogen an die Flanken presste, viele sind Unfallopfer, sagte sie, und mehr als die Hälfte im Rollstuhl, da brauche sie etwas Fetzigeres als diese olle Krücke, wenn sie bei den Jungs punkten wolle, und sie boxte gegen ihr plumpes Gefährt.
Du spürtest ihre Zuversicht, das listige, ein wenig spöttische Verzeihen und Vergessen, das in jedem ihrer Worte mitschwang, ihr Lächeln jetzt schalkhaft, herausfordernd, die blau entzündeten Augen ruhten ohne Lidschlag auf dir, wacher als jemals zuvor. Endlich gelang auch dir ein Lächeln.
hBei hden hJungs?, hast du wiederholt und schnell in die Tüte mit dem Süßkram gelangt, die Konsonanten drohten schon wieder zu klumpen. In deiner Vorstellung war die behindertengerechte Schule im Süden von Hamburg bisher ein Mädcheninternat gewesen; Jungs in deinem Alter, womöglich ganz ohne die Verzerrungen im Gesicht, die du von Jakob Wendisch kanntest, Hannes- und David-Voss-ähnliche blonde Halbstarke, die alle im Rollstuhl durch die breiten Schulkorridore kurvten und in der Turnhalle einen Räderfußball hinlegten, wie du es mit gesunden Beinen nie zustande gebracht hättest, wahrhafte Konkurrenten zu dir, zu Hannes, zu welchem Kerl im Dorf auch immer, waren in deinen Hoffnungen, die du an Tanjas neue Bleibe knüpftest, nicht vorgekommen, hatten dort nichts zu suchen gehabt.
Sie rollte dichter an dich heran, ihr Gesicht jetzt spitz, ein wenig mäusisch, mittlerweile kanntest du den Ausdruck, wenn sie dir ein Geheimnis stecken wollte, irgendeine verbotene Geschichte. Die Mutter kam ins Zimmer, räusperte sich, sie, Tanja, sagte sie in deine Richtung, ohne dabei deine Augen zu suchen, müsse sich vor der Abendvisite des Hausarztes noch ein wenig ausruhen.
Tanja bestellte Limonade, beiläufig und unwirsch, wie man eine störende Bedienstete des Zimmers verweist. Frau Deichsens Gesicht wurde erst rotfleckig, dann sehr bleich, bevor sie mit einer eckigen Drehung abzog. Kaum eine Minute später brachte sie Gläser und eine Flasche Zitronenbrause, die sie auf einem Tablett servierte, zusammen mit zwei Stück Marmorkuchen, was Tanja mit einem Augenrollen kommentierte, außerdem die Stimme anhob, die bis eben noch geflüstert hatte, von einem querschnittsgelähmten Neuntklässler, der nur seinen Kopf bewegen könne, wirklich nur das Gesicht, hatte sie geseufzt, das aber sei eine Wucht, umrahmt von dunklen Locken und mit schwarzen Augen wie Kohlen, beschwor sie nun das Bild ihres neuen Schwarms herauf, während Frau Deichsen umständlich die Servietten faltete und die Limonadenflasche öffnete, vielleicht ist er Halbitaliener, sagte sie, oder mit spanischem Blut in den Adern, und ob sich diese Adern, die ja bei Gelähmten von den Nerven, also den Gefühlen, abgeschnitten seien, trotzdem an entsprechender Stelle mit Blut füllen würden, stell dir mal vor, prustete sie herüber, er und ich verhakt mit den Rollstühlen, wer denn da oben, wer unten liegen beziehungsweise sitzen würde, und wie sie, Tanja, mit dem Typ dann Kinder machen solle, die ja trotzdem gesund sein könnten, so Gott will, rief sie der Pfarrersfrau zu, die vor Schreck die Brause verschüttete, ach herrje, stöhnte sie, ich bring’s neu. Aber küssen werde ich ihn bestimmt, triumphierte Tanja und drehte mit einer routiniert wirkenden Bewegung den Rollstuhl zurück vor den Fernseher.
Im Programm begann eine Gewinnshow, Dalli Dalli, juchzte Tanja, ich liebe das! Dann verstummte sie für die nächste Viertelstunde. Eingesunken in das Gebirge der Sofakissen und mit Tanjas zuckendem, mattglänzendem Profil im Augenwinkel hast du das Quiz verfolgt, lange Minuten, in denen du weder etwas sagen wolltest noch musstest. Der Showmaster rief nach einem gewonnenen Spiel Spitze!, sprang in die Höhe und blieb in der Luft stehen, an dem magischen Punkt größter Leichtigkeit, den du bisher in deinem Leben immer verpasst hast. So hättest du mit ihr sitzen wollen; die ganze Nacht hindurch und jeden Abend aufs Neue.
Die frische Brause brachte die Mutter nicht. Mitten in einem spannenden Spiel wandte Tanja plötzlich den Kopf und blickte dich erstaunt an, als sähe sie dich erst jetzt hier sitzen. Und du?, fragte sie, hast du auch schon mit Hannes geknutscht? In dem Wortsturm, der dir augenblicklich auf die Zunge drängte, hätte auch der vorlauteste und schlagfertigste Mund versagt. Der Moderator auf dem Standbild steckte mit Grimasse im Sprung fest, nach einem Schnitt stand er wieder an seinem Platz und quasselte weiter, dazwischen kein Torkeln oder Stolpern, nicht ein Moment der Unsicherheit. Tanja starrte wieder auf die Mattscheibe, schien ihre Frage längst vergessen zu haben, als du endlich den Kopf geschüttelt hast.
Ich jedenfalls, sagte sie, werde ihn fragen. Hannes?, dachtest du erschrocken, trotz des luftigen Anlauts gelang dir die Frage nicht. Er heiße übrigens Marco, fügte sie hinzu. Bei der nächsten Gelegenheit frage ich ihn. Sie sprach nun leiser und dehnte die Worte, abwägend, ein wenig geheimnisvoll, als beriete sie ihren Plan mit dem Fernseher. Sie habe keine Zeit mehr, noch länger zu warten. Spitze!, rief Hans Rosenthal und sprang nach vorn, als wollte er Tanja umarmen. Das Publikum applaudierte.
Ob sie jemals wieder würde laufen können? Von allen Fragen, die du dir vor deinem Besuch im Kopf zurechtgelegt hattest, schien das die schwerste, gefährlich und unüberwindbar, bis zu diesem Moment warst du dir sicher gewesen, an ihr zu scheitern. Jetzt aber kam sie dir fast ohne Stockung über die Lippen. Endlich schaute Tanja zu dir herüber. Der frische Schimmer auf ihrem Gesicht war erloschen, die Schminke wirkte nun stumpf, ihr Gesicht müde. Wenn du irgendwann nicht mehr stotterst, erwiderte sie, brach den Satz aber ab und setzte nach ein paar Sekunden neu an: Angenommen, niemand würde mehr weghören, wenn du sprichst, keiner mehr zu Boden blicken, weil er sich für dich schämt. Sie rollte zum Fernseher und schaltete ab, auf dem Höhepunkt des Spiels. Wenn dir auf einmal alle zuhören, sagte sie nun fast ein wenig drohend, hättest du dann überhaupt etwas zu sagen?
In der plötzlichen Stille war das leise Knistern der auskühlenden Bildröhre das einzige und letzte Geräusch in dem stickigen, überpolsterten Wohnzimmer. Hinter all den aufgetürmten Kissen wirkte die Welt stumm, taub und bewegungslos. An ihrem Ausgang stand die Mutter, stemmte die Arme in die Hüften und rief: Es wird Zeit!, so dass du gar nicht anders konntest, als aufzuspringen und ihr ohne Abschiedsgruß an Tanja vorbei aus dem Zimmer zu folgen.
Auf halber Strecke hörtest du sie hinter dir deinen Namen rufen. Sie war in den Flur gerollt, kramte nun umständlich in ihrer Hosentasche und streckte dir schließlich die Hand hin, nur für einen Augenblick, doch lange genug, um darin die Tonscherbe eines Dachziegels zu erkennen. Am Ende der Diele klinkte Frau Deichsen die Haustür auf, kalte Luft strömte herein. Beim letzten Blick zurück nickte Tanja dir zu wie schon damals vor der Klassenzimmertür, als du mit dem Referat im Ranzen noch mit deiner Angst gerungen hattest, Tanja aber bereits wusste, dass du auch dieses Mal schweigen würdest.
Und jetzt? Hatte Marga etwa deine Gedanken gelesen? Deinen innersten Wunsch mit ihrem sechsten Sinn erlauscht, dem Muttersinn, den man ihr in der Therapie geschärft und geschult hatte, damit sie sich in Zukunft besser um dich kümmern kann? Sie wusste doch kaum mehr etwas von dir und den Dingen, die in den letzten Monaten geschehen waren; bei euren Telefonaten hattest du nur das Nötigste erwähnt; deine Schulnoten, Mariannes Essen, das Wetter in Fenndorf, selten dein Heimweh und die Sehnsucht nach der alten Zeit. Wieso kam sie jetzt plötzlich mit der Idee, noch ein Kind zu kriegen?
Vor dem leeren Küchenfenster waren ihre Augen blicklos. Der rote Widerschein auf dem Glas war erloschen. Sollte ich es mir aussuchen können, sagte sie mit gedämpfter Stimme, in der Art, wie man unwillkürlich zu flüstern beginnt, wenn es Nacht wird. Sie seufzte, schien lange zu überlegen, oder machte sie aus der Sache absichtlich ein Geheimnis? Noch ein Junge, sagte sie schließlich. Kaum sahst du die Bewegung ihrer Lippen. Jungs seien schwierige Kleinkinder, aber später würden sie pflegeleicht. Im Finstern klangen die Worte verloren und unsicher, fast flehend. Sie merkte, wie du von ihr abrücktest, rutschte nach. Ich frag Daniel, ob er auch will, und sie deutete zur Treppe hinauf.
Du hast auf deine Armbanduhr mit dem phosphoreszierenden Zifferblatt geschaut, ein Weihnachtsgeschenk von Marianne und Karl. Dass du jetzt rüber zum Essen müsstest; deine Stimme erschien dir im Dunkeln tiefer und fest. Sie reagierte nicht. Der Weg raus war wie ein Tunnel. Im Westen glühte noch immer eine einzelne Wolke am Horizont. Dahinter waren Himmel und Moor schon eins.
◆◆
Der Helikopter steigt von der Wiese beim Feuerwehrhaus auf, wo im Juli das Dorffestzelt steht. Die Rotorblätter flirren in der Luft, peitschen die Erlen nieder, die so gebeugt noch karger und kränker wirken. Die Kufen blinken im Licht, mit panischem Flügelschlag flieht eine Ente aus dem Schilf. In deinem Kopf dröhnt das Getöse, doch du widerstehst dem Drang, die Hände auf die Ohren zu pressen, streckst dich in den sinnbetäubenden Lärm und wünschst dir den Filmriss.
Mehrmals bist du in den letzten Tagen den Löschgeschwadern gefolgt, auf der Suche nach dem Moorbrand, von dem alle sprechen. Du kennst die Schlupfwinkel, wo die Absperrbänder enden und keiner der Wachposten sich hinverirrt. In seinem vertrauten, immergleichen Auf und Ab von Mulden und Kuppen, Schlenken und Bulten lag das Moor unterm Horizont. Doch die Stille war eine andere, vollständigere, befreit von allen Geisterrufen, Traumbekenntnissen und Kinderschwüren; lange hast du am Tor zu deinem Kindheitsreich gestanden, Ausschau gehalten und dem Schweigen gelauscht. Das Feuer, dachtest du, muss in einem anderen Teil wüten, einem dir noch unbekannten, der abseits des Kolks liegt, im Herzen des Moores, das gleichzeitig auch sein Ende ist; auf der anderen Seite beginnt allmählich wieder die Welt, spitzen Trampelpfade zwischen den schwingenden Wedeln des Adlerfarns hervor, geht die Graswüste erst in Bruchwaldstreifen, dann in Magerwiesen über, die von Elektrozäunen gesäumt sind, Straßen, Gehöften, einem Dorf; in der glitzernden Luft, noch zwei, vielleicht auch fünf Kilometer entfernt, sahst du den Kirchturm von Rahse.
Du gabst die Suche auf, drehtest dich um und erschrakst: Unweit des Weges, auf dem du gekommen warst, nur ein paar hundert Meter entfernt, hinter dem Buschgürtel, der dir vorher die Sicht genommen hatte, war die Ebene schwarz. Durchragt von ein paar verkohlten Birkengerippen, breitete sich der Ascheteppich nach Osten aus, wo sich jenseits der Brandfläche die Klinkerhäuser von Fenndorf abzeichneten. Ein Hubschrauber näherte sich, noch lautlos; dann plötzlich, als hätte er eine unsichtbare Mauer durchbrochen, schwoll der Lärm an. Schon gellte die Trillerpfeife des Wachmanns, der plötzlich drüben am Absperrband stand. Du ranntest schneller in der Angst, gleich könnte der Wasserschwall auf dich herabstürzen, an einer Stelle, wo in deinen Fußstapfen schon die Erde brannte; bis zu zehn Zentimeter tief haben sich mancherorts die Glutnester in den Torf gefressen, schwelen geduldig unter der Grasnarbe und warten auf den Wind, der sie entfacht, nach einem Zufallsprinzip, das die Löschtrupps seit Tagen planlos durch die Ebene treibt. Unterm Moos, das dich trägt, in der Spur, die dich führt, und mit dem gleichen Ziel, das dich retten soll, hefte ich mich an deine Fersen.
Wann begann das Moor zu brennen? An welchem Tag kippte die Stimmung, und was war der Moment, als du beschlossen hast, zu gehen? Deine Erinnerungen an die letzten Wochen verschwimmen zu einer Abfolge von hoffnungsvollen, oft heiteren Stunden im Wechsel mit Momenten, in denen du Marga hasstest. Die Sonnentage gingen mit hartem Schnitt in frostige Nacht über und die sternklare Finsternis wieder ins gleißende Morgenlicht, ohne Atempause oder die beruhigende Langeweile eines Regentags stakkatohaft dem Sommer entgegen, während der Frühling zur Wüste wurde.
Sie sagte Sätze wie: Wir bauen uns einen Palast, oder, mit Blick auf ihren bevorstehenden Geburtstag, zu dem sie das ganze Dorf einladen wollte: Alles neu macht der Mai. Das Haus erstrahlte in Glanz und Putz. Sie füllte Eimer, seifte Möbel ab und schwang den Feudel, mit einem Leuchten in den Augen, wie du es an ihr noch nie gesehen hattest. Die stockfleckigen Tapeten sollten runter, das Linoleum in der Küche raus, Fliesen stattdessen, die sie selbst bemalen wollte. Sie riss die nikotingelben Gardinen von den Stangen und wälzte bunte Stoffballen über den Boden, die sie zu Stores vernähte. Bei der Auswahl der Farbe für dein Zimmer ließ sie dir freie Hand. Nachmittagelang hast du die Tapete von den Wänden gekratzt, den von kleinen Vögeln behausten Blätterwald, den du als Kind an Grippenachmittagen stundenlang durchstreift hattest, bis du darin ein System erkanntest, in dem sich die Motive – Doppelblatt, Astgabel, Nest, einsamer Vogel, schnäbelndes Liebespaar – in regelmäßigen Abständen wiederholten. Irgendwann war Marga mit neuen Wadenwickeln oder einer Schüssel mit geriebenem Apfel gekommen und hatte dich aus dem Fieberdschungel herausgeführt.
Als du im Zeever Heimwerkermarkt Tuben schwarzer Abtönfarbe in den Einkaufswagen warfst, griff sie ein, ganz sorgende Mutter, die ihrem heranwachsenden Kind die Pubertät nicht allzu düster wünscht. Du aber wolltest ein Zimmer wie das von Hannes. Kurz vor deinem Auszug aus dem Haus der Lamberts hatte er die hellhörige Bettwand geschwärzt, worin sich die geheimen Geräusche versteckten. Wenn er nachmittags mit dem Mofa unterwegs war, hast du dich durch die Tür in sein Zimmer gedrückt und an der Bettwäsche geschnuppert. Vorm Schrankspiegel warfst du dir seine Kleider über, hast Sachen befingert, die ihm oft durch die Hände gingen: Stifte und Lineale vom Schreibtisch, ein Kamm mit Haarplacken, eine in die Ecke gekickte Unterhose, den Stapel zerlesener Comics, die er unter Schulzeug in der Schublade versteckte.
Die Hauptfigur, die auf fast jedem der Bilder gegen Ganoven kämpfte oder akrobatisch über Autos sprang, war ein kantig gezeichneter Held in schwarzen Stiefeln, dunkelblauem Ganzkörperanzug, mit Slip und Fledermausmaske, ein, so stelltest du es dir vor, blonder, wahrscheinlich grünäugiger Junge oder junger Mann, den du gerne auch ohne Maskerade gesehen hättest.
Du berührtest das Gesicht, und tatsächlich, vielleicht wegen einer plötzlichen Veränderung des Lichts, war dir, als würde die Maske verrutschen und Hannes hervorblinzeln, die Augen dicht beieinander, das Kinn ein grober Zacken, überhaupt alles an seinem Körper noch eckiger gezeichnet als in echt. Da ging unten die Tür, schwere Schritte schlurrten über den Boden.
Dein Finger, den du später, aufs Bett gestreckt, beschnuppert hast, roch nach nichts. Doch in der Vorstellung duftete er nach Hannes, klebte darauf sein in der Wand versiegelter Geruch, den du weder einatmen noch ablecken konntest, so dass du dich schon nach einer kurzen, halb verzweifelten, halb wütenden Berührung erleichtert hast. Drüben drehte Hannes die Musik auf volle Lautstärke. Selbst der Lärm erschien dir seit dem neuen Anstrich von der schwarzen Farbe irgendwie erstickt.
Zum alljährlichen Maskenball in der Turnhalle war Hannes als schwarzer Ritter erschienen. Die Lippen dunkel angemalt, trug er ein enges Shirt über einer schwarzen Lycra-Hose und einen wahrscheinlich auf dem Trödelmarkt erstandenen blauen Mantel um die Schultern, dessen samtiges Material die als Feen und Hexen verkleideten Mädchen fasziniert befingerten. Nur Daniela, die halbnackte Bauchtänzerin, verschränkte die Arme und sagte: Voll schwul. Hannes stahl ihr den Schmuck aus dem Nabel, hielt ihn in die Menge und rief: Selbst der Stein an ihr ist falsch! Daniela kippte ihm die Bowle ins Gesicht und zog ab, im Schlepptau Yvonne, die Tochter des Wirts, einen zwittrigen Schwarzen mit rotem, dick gemaltem Lippenfleisch und Schuhcreme auf der hochgeschnürten Brust.
Während die anderen für die Polonaise Aufstellung nahmen, führte Hannes den sogenannten Pogo vor, einen mit seinen beschwörenden Armkreisen dämonisch wirkenden Tanz. Stets bildete sich ein Respekthof um seinen gebeugt durch die Halle schlingernden Körper. Nur David Voss, der Löwe, stürzte manchmal im Hermelin seiner Mutter unvermittelt in die Arena und verbog sich, weniger aus Hingabe als vor Trunkenheit, in ähnlich ekstatischen Figuren, wurde aber schon bald von Hannes in die Ecke gepogt.
In den Jahren zuvor hatte dir stets Marga das Kostüm für den Ball geschneidert, oft in einem Rausch kühnster Ideen, so dass du schon zweimal den Preis für die beste Verkleidung gewonnen hattest. Doch mehr als den zerschlissenen Nikolausmantel, in dem dein Onkel alljährlich zum Adventsbazar erschien, hatte die Kiste im Keller der Lamberts nicht hergegeben; die besten Kostüme hatten sich bereits deine neuen Geschwister unter den Nagel gerissen. Die begehrte Trophäe ging an den hermaphroditischen Neger und seine orientalische Nutte.
Kaum jemand stand vor der Bühne, als der Schülersprecher zum Mikrofon griff. Die Menge hatte sich auf dem Schulhof versammelt, um das Blaulicht herum, das die Schatten der Hüte und Hexengewänder geisterhaft über die Wände jagte. Es hatte zu regnen begonnen. Als du dich durch die Besen, Schwerter und Schilder nach vorn gekämpft hattest, stieg David Voss gerade in den Rettungswagen, gestützt von einem Sanitäter. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, das Löwenfell lag am Boden. Zwischen dem Hausmeister und Knoor, dem Physiklehrer mit Clownsnase, stand Hannes. Wild gestikulierend erklärte er etwas, das Geplapper der Menge schluckte die Worte. Er hielt den Batman-Mantel in der Hand, aus seinen gefärbten Haaren sickerte die Farbe in dunklen Bahnen über sein Gesicht. Der Hausmeister machte eine wegwerfende Handbewegung, Knoor fasste Hannes am Arm und führte ihn zum Schulgebäude. Aus der Halle tönte die Fanfare. Auf halber Strecke drehte er sich um, und dir war, als schaute er direkt zu dir, ohne dass sein Blick dich suchen musste. Dann schnitt der Rettungswagen dazwischen. Durchs Heckfenster sahst du Voss auf die Pritsche gekrümmt. Dass Hannes deinem Peiniger eine Lektion erteilt hatte, erfüllte dich mit Genugtuung und einem fast schmerzhaften Gefühl der Verbundenheit.
Am nächsten Tag hieß es in der Schule, Hannes habe David Voss bei einer Prügelei die Schulter ausgekugelt. Der Achtklässler sei plötzlich auf den Älteren los, sagten die einen, umgekehrt, behaupteten andere. Jemand wollte die beiden zuvor auf der Tartanbahn gesehen haben, einvernehmlich einander zuprostend. Du musstest an die Momente denken, als sie auf der Tanzfläche zusammengeprallt waren; schon da hatte der Pogo einer Rauferei geglichen. Einmal war David mit Schwung gegen das Bühnenpodest gekracht, ähnlich, wie drei Monate zuvor Tanja bei eurem Gerangel im Badezimmer gestürzt war.
Das Getuschel auf dem Pausenhof verstummte, als Hannes am Tor erschien. Die Schüler bildeten ein Spalier. Du hast dich ein wenig vorgebeugt, aus der Reihe heraus, doch er schnitt dich. Beim Mittagessen wich er deinen Blicken aus, die ihn gegen den Vater verteidigen wollten, der einen Gewalttäter im Haus nicht dulde, auch die Mutter sprach jetzt von Internat; beim Bund, sagte sie, könne er sich austoben, aber solange er noch hier sei, herrsche Anstand und Respekt vor den anderen. Sie befahl ihm, am Nachmittag zum Haus des Zahnarztes zu gehen und sich in aller Form zu entschuldigen.
Warum tust du es nicht?, hatte Hannes gleichgültig erwidert, immerhin sei sie seine Mutter und verantwortlich für seine Erziehung. Karl Lambert beugte den schwerfälligen Leib in einer seltsam akrobatischen Verkrümmung von der einen zur anderen Stirnseite des Tisches; die Ohrfeige hatte auf dem langen Weg ihre Wucht verloren. Hannes grinste seinen Vater müde an, wandte sich dann an Marianne, siehst du, sagte er, genau das meine ich. Ole begann, stumm zu weinen. Noch am selben Tag hat Hannes die Bettwand geschwärzt.
Düsteres aber passte nicht mehr in Margas neues Konzept von Familie. Sie bestand auf Lichtgrün wie von jungen Birken, puffte dich zur Kasse und rührte einen Tag später die neuen Farben an, den Frühlingslook. Nach und nach hattest du deine Habseligkeiten aus dem Haus der Tante zurück in dein Zimmer geräumt. Während du nun stumm die Tünchrolle über den Putz zogst, balancierte Daniel auf der Leiter, weißelte die Decke und summte Songs aus dem Radio mit, das er umso lauter stellte, je drückender dir das Schweigen erschien.
Er trug die Hemdsärmel hochgekrempelt, zeigte zuckende Sehnen und hervorspringende Adern, wenn er sich streckte. In dem Körperfell, das sich bis auf seine Fingerknöchel zog, nisteten weiße Farbkörnchen, auch die Mähne und der dichte Vollbart waren gesprenkelt. Immer wieder wanderte dein Blick beim Pinseln zu ihm hinauf, kroch in den Hemdkragen und studierte die drahtigen Locken, die sich vom Kinn auf den Hals kringelten, über den Kehlkopf hinweg, der spitz hervorstieß und im Takt der Melodien auf und ab hüpfte. In ähnlicher Form, dachtest du, würdest auch du einmal deinen Bart zurechtstutzen, sollte sich der Flaum, der dir auf Kinn und Oberlippe spross, jemals zu einem rasier- und beschneidbaren Wuchs verdichten.
Marga kam ins Zimmer und vertrieb die Stille, die trotz der launigen Musik im Zimmer lastete. Futter für meine Jungs, sagte sie und brachte Salamibrote, dazu Cola und eine Schale mit den saftigen Lakritzschnecken aus den Plastikdosen in Ilse Blochs Laden, die dir beim Einkauf stets den Mund gewässert hatten. Sie stellte alles auf die Trittstufen, tauchte einen Pinsel in die Wanne und tippte dir auf die Nase, so, wie sie dir früher bei den Zahnputzschlachten vor dem Becken übermütig die schäumende Bürste ins Ohr gesteckt hatte. Sie weiß, was ihre Männer brauchen, grinste Daniel zu dir herunter und angelte nach einem Wurstbrot. Marga steckte es sich in den Mund, stellte sich auf die Zehenspitzen und forderte Daniel zum Spiel auf. Der schnappte nach der Schnitte, die sie sich erst von den Lippen beißen ließ, nachdem er Pfötchen gegeben, einen Buckel gemacht und den Schwanz aufgestellt hatte, einen langstieligen Pinsel, den er sich zwischen den Schenkeln hindurch auf den Rücken schob, wobei er fast von der Leiter kippte. Armer schwarzer Kater, sagte Marga und streichelte ihm den Pelz. Er fauchte erst, schnurrte dann, biss dem Frauchen in den Nacken und fuhr fort, die Deckenkanten zu beklieren.
Bei der nächsten Lakritzschnecke wurde dir übel. Die Cola schmeckte abgestanden, das helle Sonnenlicht entlarvte deine Arbeit als Schlamperei, überall waren Rinnen und Farbnasen zu sehen. Marga lackierte Daniel die Fußnägel in Birkengrün und Cremeweiß, fingerte sich an seinen Waden hinauf zu den Knien und unter den Saum seiner abgeschnittenen Jeans, zerrte ihn schließlich von der Leiter und verschwand mit ihm nach nebenan.
Immer wieder die gleiche Bahn abrollend, wo du auch nach dem vierten Anstrich noch die dunklen Flecken durch die Schichten dringen sahst, hast du das Spritzen und Saften der Tunke im rissigen Mauerwerk beobachtet und den leisen, aus dem Schlafzimmer dringenden Stimmen gelauscht, einem Kichern und Gurren, das langsam anschwoll und überging in langgedehnte, von unregelmäßigen Pausen durchsetzte Seufzer, die lauter wurden, sich zu einem kataraktischen Gestöhne steigerten und in einem Duett sich gegenseitig in die Höhe peitschender Schreie gipfelten, die sogleich verebbten und in die erschöpfte Stille mündeten, welche in Zimmern herrscht, wo ein Kind, das sich lang gegen das Löschen der Lampe gewehrt hat, endlich eingeschlafen ist.
Da hast du das Malzeug in den Eimer geschleudert und bist raus in den Frühling, unter die Mittagssonne, die dir die Farbspritzer auf den Wangen zu künstlichen Tränen brannte, wie sie den Clowns und Pierrots bei ihren komisch-tragischen Pantomimen unterm Auge kleben.
All das ist kaum vier Wochen her. Marga schien endlich wieder gesund, und Daniel war der Mann, der sie in Schwung gebracht hatte. Er lümmelte breitbeinig auf Stühlen, lag lesend auf dem Sofa oder beugte sich im Hof über den Schrott, den er aus der Scheune geschleppt hatte und in Kunst verwandeln wollte, lautstark behämmerte oder mit der Bohrmaschine umtänzelte. Auch dir blieb nicht verborgen, was Marga so gern an ihm betrachtete: die festen Muskeln, seine schlanken, meist schmutzigen oder von Farbe beklecksten Hände, die buschigen Achselhöhlen mit ihrem Katergeruch, seine labberigen Shorts, aus denen seitlich der Schwanz spitzte, wenn er sich beim Frühstück zeitunglesend im Schritt kratzte.
Du hast schnell weggeschaut, hin zu Marga, die den Zigarettenrauch verwedelte und dir zuzwinkerte, im stillen Einvernehmen über das, was ihr saht. Deine in dieser Zeit stets ein wenig verkniffenen Augen registrierten jede Veränderung: ihre oft unkontrollierten Bewegungen, wenn sie eine Tasse vom Tisch fegte oder in irgendeine Ecke lief und plötzlich erstarrte, als hätte sie vergessen, was sie dort suchte; ihre Stimme, die manchmal in einer Tonlage gickste, wie du es noch nie an ihr gehört hattest, und unvermittelt in Gelächter umschlug; den plötzlich aus diesem etwas zu grellen Lachen heraus zu dir herüberflüchtenden, aus der Höhe abstürzenden Blick, der einer anderen Marga zu gehören schien, der Herbstmutter, die verkümmert und von dir abgefallen war wie ein totes Blatt von seinem Baum.
Alles, was dir an ihr fremd erschien, trugst du in die neue Kladde ein, wo du versuchtest, sie in die bekannten und bewährten Formen und Verhaltensweisen zurückzuschreiben. Doch nichts schien mehr zu passen; die Mutter aus deinen Erinnerungen, die du aus zerschnittenen Sätzen auf die neue Marga zu schneidern versuchtest, klebte an ihr wie ein altes, zu eng gewordenes Kleid.
Selbst ihre Zigaretten rochen jetzt anders. Daniel drehte sie ihr. Er saß im Sessel, leckte die Papiere an, zupfte Tabak und bröselte etwas aus einer Dose dazu, die stets in seiner Hosentasche klöterte, neben Münzgeld und seinem Motorradschlüssel. Dann inhalierten sie, er drei, sie zwei Züge, immer im Wechsel. Sobald er das Pappröhrchen ausdämpfte, begann einer dieser Abende, die Marga blue nannte.
Das blaue Gefühl stellte sich ein, wenn Daniel eine Platte auflegte. Sie zog ihn vom Sofa, animierte ihn zum Tanzen, er ließ sich schleifen, sie boxte ihn weg und schwofte mit dir, bis auch du ihr auf die Füße tratst. Ihr wollt Kerle sein?, rief sie, sprang auf den Wohnzimmertisch und mimte die Stripperin. Bluse und Büstenhalter flogen in die Ecke. Daniel räkelte sich in den Kissen und johlte zu ihr hinauf, du bewarfst sie unter Buhrufen mit Erdnussflips. Bevor sie den Reißverschluss der Jeans aufzog, schlang er die Arme um ihre Beine und trug sie aus dem Zimmer.
Du hast den Plattenspieler zurück auf Anfang gesetzt und die Nadel beobachtet, die von Rille zu Rille wanderte, drei-, viermal hintereinander auf der immergleichen Bahn den Rocksong abspielte, bis du den Arm vom Teller wischtest und am Ende des hässlichen Kratzens Marga von oben in die Stille schrie.
Einmal habt ihr zu dritt getanzt. Sie nahmen dich in die Mitte, Marga legte dir seinen Arm um die Schulter. Los, hab dich nicht so, nuschelte sie, an ihrem schiefen Blick konntest du nicht genau erkennen, ob sie dich oder ihn gemeint hatte. Sie knabberte an seinem Bart, knutschte mit ihm und presste dir plötzlich die Lippen auf. Daniel wurde ungelenk, ließ sich schleppen, sein Ellenbogen bohrte dir in den Nacken. Jetzt ihr, sagte sie und drückte eure Köpfe zum Kuss aneinander. Spinnst du?, blaffte er, stieß sie weg, ließ sich in den Sessel fallen und trank. Marga schimpfte ihn einen Spießer, verklemmt wie deine Bilder, rief sie und riss ihm die Weinflasche aus der Hand. Er ist dein Sohn, zischte er, und sie: Aber du bist nicht sein Vater!
Am Plattenspieler wechselte sie den Blues gegen The Doors und taumelte durchs Zimmer. Jim Morrison sang Father, I want to kill you, Mother I want to … Fuck you!, johlte sie mit schriller Stimme, ballte die Fäuste vor dem Mund und imitierte die liebestollen Groupies, klappte sogar am Ende in einer Ecke zusammen. Daniel ließ den harzigen Qualm aus den Nasenlöchern strömen, grinste zu dir herüber und sagte: Deine Mutter hat sie nicht mehr alle. Gähnte wohlig, summte den Refrain mit, This is the end, beautiful friend / This is the end, my only friend, the end, dann blieb die Platte hängen. Marga verzuckte im Takt der knackenden Endlosschleife auf dem Boden. Du musstest an ihre Krämpfe denken, als sie im Herbst dein Bett einkotzte, bist hin und hast sie geschüttelt, bluhuu!, lachte sie und biss dir das blaue Gefühl zurück in den Mund.
Den Klapperjass habt ihr dann nicht nur um Pfennigstücke gespielt; sie verlangte höhere Einsätze, dein Taschengeldglas, Daniels Scheckheft, und, als ihr beide euch geweigert habt, die Kleider am Körper. Du bist ins Zimmer gerannt und vermummt unter drei Pullovern, Schal und Mütze wieder zurück in die Küche. Marga bog sich vor Lachen, verschwand ebenfalls und kehrte als eine Art sibirische Zarin zurück, im Pelzmantel und von so vielen Röcken, Blusen und Schärpen gepolstert, dass du sie ohne Scheu fett! gerufen hast. Über Daniel schüttete sie eine Kiste modrig riechender Männerkleider aus. Wie dein Vater!, spottete sie zu dir herüber, als er in dem altmodischen Zeug am Tisch hockte. Zeig mir, dass du’s besser draufhast, rief sie ihm angriffslustig zu und nahm die Karte vom Talon.
Er saß als Erster mit freiem Oberkörper da, während du immerhin noch das Unterhemd am Leib hattest und Marga, schwitzend unterm Fell, einen Trumpf nach dem anderen spielte. Ich krieg euch nackt, sagte sie, in ihren Augen funkelte der Kampfgeist. Oder war es bereits die Vorglut des Wahnsinns? Das könne sie auch schneller haben, fauchte der Kater und packte über den Tisch hinweg den falschen Zobel. Du hast auf die Einhaltung der Spielregeln bestanden, doch sie lieferten sich eine wüste Klamottenschlacht und zogen am Ende ab, sie mit dem Pelzschwanz als Peitsche in der Hand, er schnurrte um ihre Beine. Müde von einer halben Flasche Bier, die Marga dir genehmigt hatte, gingst du zu Bett, konntest aber lange nicht einschlafen, wegen des Katzengejammers im Nebenzimmer, das du für das blaue Familiengefühl mit den Fäusten auf den Ohren in Kauf nahmst.
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Wach auf, Junge!, reiße ich dich aus solch verzuckerten Erinnerungen. Was hat diese Kifferei und Fickerei mit Familie zu tun? Die fette Suppe am Tisch der Lamberts hätte dir besser getan, dich nicht nur mit Kalorien, sondern auch mit dem gemästet, was die sogenannte Familie tatsächlich wertvoll macht. Doch Beständigkeit und rückhaltlose Liebe hat es an Margas Tisch noch nie gegeben, wo ein gelungener Allestopf das höchste der Gefühle war.
Der Helikopter kommt zurück, die leere Löschwanne am Seil. Doch statt auf der Wiese zu landen, dreht er ab. Sie haben kapituliert, brülle ich dir zu, überlassen dich den Flammen! Du springst auf, und tatsächlich: Jetzt, stehend, siehst du am Horizont den Rauchpilz. Er wuchert in weiter Ferne aus der Ebene und zerfranst zu Schwaden, die langsam zur Sonne aufsteigen.
Im Bürgermeisterhaus tagt der Gemeinderat. Es hänge, so die Spezialisten der Feuerwehr, nun alles von der Windrichtung ab. Rahse liegt geschützt an den Mäandern der Jumme, Fenndorf aber trennen von der nahenden Feuerfront nur ein paar schmale, eilig geflutete Gräben, über die jeder Funke hinwegspringt. Noch zögern sie. Hoffen, den Brand vor dem angekündigten Wetterumschwung in den Griff zu bekommen. Doch was kümmern mich ihre Einsatzpläne, der Katastrophenschutz. Wie der Wintersturm, der das Haus zerlegte, bin auch ich Teil des Plans, dem du dich fügen wirst, ob du willst oder nicht; Dion, hau endlich ab! Es gibt kein Zurück mehr. Wenn der Boden ausgelaugt ist und der Torf endgültig nichts mehr hergibt, zünde ich ihn an und vernichte binnen Stunden, was über Jahrhunderte entstanden ist; nichts ist fruchtbarer als ein abgebranntes Moor. In der nährstoffreichen Schlacke wird das Pfeifengras als Erstes wieder austreiben. Die Kriechsprosse des Adlerfarns in den tieferen Schichten haben dem Oberflächenfeuer getrotzt, kleine, harte Spitzen bohren sich nach wenigen Tagen durch die Asche. Ein Schwarzkehlchen brütet auf einem Nachgelege. In den Schlenken vermehren sich Algen, ein Stockentenpaar, von der Jumme herübergekommen, durchseiht mit den Schnäbeln das Wasser. Kaninchen rupfen im abgefackelten Birkenwald frischen Klee. Die Ebene ist nach dem Brand artenreich und grüner, als sie sein darf.
Deine Mutter habe ich vorausgeschickt und in Sicherheit gebracht, nach Hamburg; als du heute Morgen aufgestanden bist, war sie schon weg. Sie hat nur das Bild mitgenommen, an dem sie in den letzten Tagen ununterbrochen gearbeitet hat, ein Meisterwerk, davon ist sie auch dieses Mal überzeugt. Unter uns gesagt, Dion, es ist nichts wert. Noch heute wird sie endgültig kapieren, dass sie zur Künstlerin ebenso wenig taugt wie zur Mutter. Ja, Dion, sie hat deine Kindheit verkauft, für fünfzehntausend Mark, die Karl Lambert ihr anzahlte, nachdem sie beim Notar Haus und Grund auf ihn übertragen hatte.
Sei nicht schockiert, nimm’s ihr nicht krumm, schau zum Horizont, weit und breit nichts als Asche und Tod. Wenn du bleibst, wird’s bald zappenduster. Schluck den Schmerz über den Schnitt durch die Zeit, heul von mir aus um das, was du, kaum verloren, Heimat nennen wirst, die eh nichts wert ist, wenn man nie wiederkehrt. Mach dir Luft, schreib dein Buch, bevor du an alldem noch erstickst. Was kümmert mich die Kunst.
Als der Lärm des Hubschraubers verhallt ist, sinkst du erschöpft zurück auf den Stumpf. Der wüste Ausblick in die Ferne schließt sich, unter den Erlen liegt der Teich trügerisch still, wie Marga ihn zuletzt gemalt hat. Das Bild ist das Einzige, was sie aus vierzehn Jahren Fenndorf gerettet hat, ein wildes Gemälde in Acryl, das manische Durcheinander feinster und winzigster roter Striche, eine Art Feuer, undurchdringbar selbst für dich, der auf ihren Werken doch meistens mehr gesehen hat, als ihr selbst recht war.
Es war eine Skizze vom Abfallhaufen der verworfenen Arbeiten, und wenn dir das Motiv nicht von irgendwoher schon bekannt vorgekommen wäre, nie hättest du darauf den Teich erkannt. Anfangs gab es nur einen schwarzen, hingeschmierten Zacken auf weißem Grund; du konntest dich erinnern, dass es das Letzte war, was sie im Herbst zustande gebracht hatte, bevor sie beschloss, mit allem Schluss zu machen. Jetzt aber malte sie wieder wie besessen daran. Mit dünnsten Pinseln, zuletzt sogar unter Verwendung einzelner, von ihrem Kopf ausgerissener Haare trug sie Schicht um Schicht auf, während die Bildmitte, der schwarze, am oberen Ende ausfransende Balken, immer gleich blieb, bis du darin den Erlenast wiedererkanntest.
Es war nur ein flüchtiger Blick, als du einmal in der Scheune ihre Sachen durchstöbert hast. Erst schwebte der Ast über den Farbstrudeln, dann, als du genauer hinsahst, versank er darin. Du konntest keine eindeutige Perspektive oder einen festen Standpunkt ausmachen, von dem aus sich das Bild hätte erschließen lassen; immer tiefer starrtest du dich in den Schlund der Linien hinein. Da blinzelte dich für den Bruchteil einer Sekunde ein Augenpaar an, schälten sich Mund, Kinn, ein dunkler Haarschopf heraus. Vor Schreck sackte dir der Rahmen aus der Hand, doch wie du die Leinwand danach auch gedreht und gewendet hast, dein Gesicht – ganz sicher, dachtest du, war es dein Spiegelbild gewesen – tauchte nicht mehr auf.
Du schaust zu der Stelle, wo einst der Ast ragte. Ohne die Erlenklaue erscheint dir der früher so magische Ort entzaubert. Der Novembersturm hat sie abgebrochen und versenkt. Wäre der Wind nicht so kalt und das Wasser nicht noch schwärzer als sonst, du würdest, denkst du, sogar nach ihr tauchen. Den Ast aus der Tiefe ziehen und wieder an seinen Platz zurückhängen. Die alte Zeit wieder einrichten, das zerstörte Teichbild reparieren. Aber glaubst du wirklich, Dion, dass ein totes, halbverfaultes Holz dir sagen kann, was du jetzt tun sollst?
Wahr ist, dass Marga seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit dir zum Teich gegangen ist, weil sie keine Lust mehr auf den Kinderkram hatte. Sie war wieder ein halbes Jahr älter geworden und mit all dem Speck um die Hüften nicht gerade schöner; weder das Moorwasser noch dein kindlicher Blick haben sie jemals verjüngt. Ein einziges Mal ist sie noch hin, aber nicht dich hat sie mitgenommen.
Statt hinter der Schulbank hast du frühmorgens zwischen den Erlen gekauert, in der Hoffnung, bei dem schönen Wetter vielleicht schon eine Libellenschlupf beobachten zu können; der anhaltende Sonnenschein könnte den Prozess beschleunigt haben, wenn die Jungtiere, gelockt durch die steigende Wassertemperatur, den Lichteinfall und die Wirkungskräfte eines nie gänzlich gelüfteten Geheimnisses, den Schlamm verlassen. Nicht aber die Libellenlarven, nur deine Mutter hatten die sonnigen Tage übermütig und leichtsinnig gemacht. In Wahrheit, gib’s zu, waren dir die Insekten egal. Das gelbe, gallige Gefühl, die Eifersucht auf Daniel, hatte dich vom Schulweg weg- und in dein Versteck gelotst.
Sie war mit ihm über die Wiese gekommen, barfuß, wie gewohnt. Sie trug den Bademantel, schlampig geschnürt, er Jeans und Pullover, in der Hand die Basttasche, was dein Part gewesen wäre. Ihr Hennahaar lohte im Schein der tiefstehenden Sonne, sie drehte es zum Knäuel und bändigte es mit der Spange. Während sie umständlich ins Wasser stieg und auf zimperlich machte, saß er auf dem Baumstumpf, rauchte und feuerte sie an.
Du hast dich ins Gestrüpp geduckt, hinter Vorjahreslaub. Wie eh und je schwamm sie ihre Runde; vom Ufer zur Mündung des Drängrabens, der schon trocken lag; an den Wurzelstöcken entlang, wo die Sonne die Schatten aus den Höhlen scheuchte; dann auf dem Rücken und mit ausholenden Armschlägen zur Mitte des Teichs, die sie punktgenau fand, obwohl der Ast nicht mehr über ihr ragte und sie lenkte. Dort hielt sie wie immer inne und rief: Wenn du ein Mann sein willst, komm rein!
Du hast dich tiefer ins Gebüsch gekauert; hatte sie dich oder Daniel gemeint? Das Haar war aus der Spange gerutscht, die Augen blinzelten im hellen Licht, das den Umriss ihres Körpers ins Wasser brannte. Wie sie da trieb, die Strähnen wie braune Algen um ihr Gesicht, mit plattem, perlmutternem Rumpf, die nach unten ragenden Glieder in der Verzerrung flossenartig, sah sie für einen Moment tatsächlich aus wie der weiße Rochen aus deinem Naturlexikon, lauernd auf Beute.
Sie drehte sich auf den Bauch und blickte zum Ufer. Jetzt stand er zwischen den Binsen, zog die Shorts aus, gab sich keine Mühe, irgendetwas zu verbergen. Sein winterweißer Körper war vom Hals abwärts behaart, zwischen den Beinen das Schwarze, Buschige. Immer hattest du zu den Erlen schauen müssen, wenn die Mutter nackt war, doch jetzt hatte sich die Perspektive verkehrt. Deinen Platz hatte ein anderer eingenommen. Nur die Bäume kannten den Fehler im Bild. Sie standen schweigsam und wissend, du starrtest hin.
Er stieg ins Wasser. Während er zu ihr hinausschwamm, spornte sie ihn an, rief Sätze, die dir angesichts der Stille, die stets über dem Teich geherrscht hatte, wenn du ihre Bahnen bewachtest, schamlos erschienen. Er umkreiste sie, haschte nach ihr, doch sie wehrte ihn ab, spielerisch und lockend, in einer Art Balztanz, bis er sie an den Waden packte, sich ihre Schenkel über die Schultern legte und sein Gesicht in ihren Schoß grub. Sie überstreckte den Kopf und tauchte die Stirn ein, ihr Lachen vergurgelte. Ein Erlenschatten schob sich von irgendwoher über sie. Die Bewegungen verwischten, hier schnellte ein Arm, dort ein Fuß hervor, Blasen stiegen auf. Als sie wieder ins Licht trieb, war er verschwunden. Ein paar Sekunden noch plätscherte sie, geschüttelt von letzten Lachstößen, keuchte: Prüfung bestanden. Dann verstummte sie und starrte in die Tiefe. Eine Armlänge neben ihr schwamm das Spiegelbild der Sonne, ein funkelnder weißer Fetzen.
Es war jetzt so still, dass du glaubtest, sie könnte deinen Atem hören, das hämmernde Herz. Das Knacken eines Zweigs unterm Schuh verriet dich, doch sie schaute nicht herüber, schwamm nur auf der Stelle, wo einst der Ast gehangen hatte, und rührte den Sonnenstreifen ins Wasser, der sich nicht löschen ließ.
Du spürtest dich erstarren. Hatte sie ihn unter Wasser gedrückt? Ihn dafür an den Teich gelockt, wie damals vielleicht auch deinen Vater? Und hatte nicht Karl Lambert, sondern in Wahrheit sie ihn auf dem Gewissen? Sie wollte keinen Mann, nicht bis ans bittere Ende. Niemand sollte sie erst auf Händen tragen und später, wenn sie alt und hässlich wäre, betrügen und verlassen. Also musste jetzt auch Daniel runter in den Schlamm. Schlagartig wurde dir klar, warum ausgerechnet der Baumstumpf dein Lieblingsplatz am Teich war; der Grabstein deines Vaters, so fügte sich nun alles in deinem Kopf zusammen, Rest einer Erle, die er gefällt hatte, als Zeichen für die Zukunft, das Glück seiner Familie. Ihr Ziel aber war es, frei zu bleiben, jung und schön; die Kerle sollten kommen, von ihr kosten und verschwinden, sobald das Fleisch bitter zu schmecken begann.
Du warst noch nicht am Baumstumpf, als Daniel prustend aus dem Wasser schoss. Er kletterte ans Ufer, spuckte ein paar Mal aus, warf dir einen genervten Blick zu und keuchte: Was suchst du denn hier? Schnell hast du nach der Tasche gelangt und ihm das Handtuch gereicht. Er musste mehrmals durch den Teich getaucht sein, für ein, vielleicht sogar zwei Minuten, lang genug für einen Gedanken an seinen Tod. Marga schwamm zurück, stolperte durch die Binsen, stieß dich zur Seite und riss ihm das Handtuch weg. Sehr witzig, zischte sie, zerrte die Spange aus dem Haar und schleuderte sie ins Wasser. Dann schnappte sie seine Jeans und quetschte sich hinein. Als sie seinen Pullover überwarf, flappte sie dir den Ärmel ins Gesicht.
He!, rief er und wirbelte sie herum. Sie versetzte ihm einen Schlag vor die Brust, der dumpf von den Stämmen hallte. Er stürzte ins Gras, blieb mit schiefem Grinsen liegen. Ist es das, was du immer gewollt hast?, fuhr sie dich an, und nur wegen dieses Blicks, der weder dir noch ihm galt, sondern aufs Wasser hinausging oder in die Leere darüber, wo kein Ast mehr war, hast du später verstanden, warum sie noch am selben Tag begann, dieses Bild zu malen, auf dem die Erlenklaue dich im brennenden Teich ertränkt.
Wie hast du es nur so lang mit ihr ausgehalten, hörtest du Daniel schnauben, während du ihr hinterherstarrtest, bis sie im Garten verschwunden war. Als du dich endlich umgedreht hast, saß er frierend auf dem Stumpf, mit angezogenen Knien, das Handtuch um die Schultern. Du warfst ihm den Bademantel hin. Er grunzte, schlüpfte hinein, band den Knoten und streckte dir die Füße entgegen. Du erkanntest die Zehen mit den schwarzen Haarbüscheln wieder, bärtige Männchen, die Schmutzränder unter den Nägeln ihre grinsenden Mäuler, zu fünft im Fenster ihres schiefen, schrundigen Hauses. Sie wackelten mit den Köpfen und zwinkerten dir zu. Du warst dir nun ganz sicher, dass diese Männerfüße, die eine der wenigen Erinnerungen an deine frühe Kindheit waren, damals deinem Vater gehört hatten, und wenn nicht ihm, dann doch einem Mann, der ein Vater hätte sein können.
Warum tut sie das?, fragte er, du hast die Schultern gezuckt. Nie hattest du näher nach dem Warum geforscht, immer waren Wie und Was die drängenderen Fragen gewesen; wie kriegst du sie wieder zum Augenaufschlagen, Atmen, Lächeln, und was sagst du Marianne, die du mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingeln musst, wie sollst du es nennen, und was ist zu tun, das waren deine Sorgen gewesen, als sie dir damals im Herbst fast unter den Händen krepiert wäre.
Er zog dich nah an sich heran. Sie soll wieder ihre Tabletten nehmen, sag ihr das! Seine Stimme klang jetzt eifersüchtig, herabgedämpft von einem Gefühl, auf das er kein Recht hatte, und mit dem Gedanken hast du dich losgerissen. Es sei alles ein bisschen viel für sie, lenkte er ein, als er dein misstrauisches Gesicht sah. Dann sprach er vom Therapieerfolg der Klinik, den sie aufrechterhalten müsse, und dass man ihr ziemlich oft Strom durch den Kopf gejagt habe, um sie wieder hinzukriegen. Er bohrte sich die Zeigefingerspitzen in die Schläfen und zischte ein Geräusch, das elektrisch klingen sollte.
Er hatte sie also besuchen dürfen, während sie sich dich mit Ausflüchten vom Leib gehalten hatte. War es am Ende gar nicht der Arzt gewesen, der ihr all diese fremdartigen Sätze eingeredet hatte, sondern er? Ich kenne sie nun schon länger, sagte er, als hätte er deine Gedanken gelesen. Er glaube an ihr Talent, aber sie müsse sich entscheiden, wohin mit alldem, und er deutete mit einer unbestimmten Geste auf den Teich, zum Haus oder zu dir. Ich helfe ihr gern dabei, fügte er hinzu und kam wieder näher. Aber dir, beschwor er dich, vertraut sie mehr. Du kennst sie besser. Sorg dafür, dass sie diese verdammten Pillen nimmt!, rief er und schüttelte dich, schien dann plötzlich über sich selbst zu lachen und boxte dir kumpelhaft gegen die Schulter; er musste das Flehen in deinem Blick gelesen haben.
Hehe, sagte er, aber fang jetzt bloß nicht an, mich Papa zu nennen. Ich bin dein Freund, klar? Er stand auf, zupfte am Bademantel, grinste noch einmal über die Travestie. Komm, Soldat, puffte er dich, wir gehen zurück in den Kampf.
Da hast du deinen ganzen Mut zusammengenommen. Heute erscheint dir der Satz als der schwerste, den du jemals hast aussprechen müssen. Du schautest lang auf den Teich, der nun wieder still und friedlich in der Sonne lag, hast schließlich tief eingeatmet und mit der Hilfe des Windes aus der Ebene gehaucht, ob es stimme, dass sie bald ein Kind bekämen. Schon bei der Hälfte hatte Daniel verstanden, was du sagen wolltest; sein Gesicht rutschte aus der Form. Das sei nur wieder so ein Spleen von ihr, wischte er dich weg, was sie dir da für einen Floh ins Ohr gesetzt habe? Ihm stünde der Sinn gerade nach ganz anderem, die Leute rissen ihm – tatsächlich waren das seine Worte gewesen – die Bilder gerade unterm Arsch weg, was er ausnützen wolle und müsse, weg von Leinwand und Papier, auf zu neuen Ufern, moderner, radikaler, näher am Leben, die Malerei sei ihm längst viel zu elitär, tot, ob du das verstehen könntest?, und er fasste dich wieder am Arm, doch du hast schon nicht mehr zugehört, bist abermals, wie zuvor unter den Erlen, erstarrt, vor Enttäuschung, oder war es jetzt einfach nur Leere?
Etwas Endgültiges, Unwiderrufliches breitete sich wie ein lähmendes Gift in dir aus, eine Ohnmacht, wie du sie vom letzten Ferientag kanntest, wenn die Versprechen des Sommers einmal mehr nicht eingelöst worden waren. Doch noch viel schaler und vergeblicher war nun das grüne Gefühl, als dir schlagartig bewusst wurde, dass es eine Familie niemals geben würde.
Musst du nicht zur Schule?, fragte Daniel, ließ dich abrupt los und ging über die Wiese nach Hause, im wehenden weißen Kleid wie früher die Mutter mit ihrem Kind.
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Glaubst du wirklich noch immer, Dion, das Baby hätte euch gerettet? Nicht nur mit seinem Vater, auch mit dir hat sie kurzen Prozess gemacht, nachdem der Traum von der Familie endgültig geplatzt war. Erinnere dich an den Abend vor der Fahrt nach Holland; den ganzen Tag hattest du sie getröstet und gestützt, was eigentlich Daniels Aufgabe gewesen wäre, der aber ausgerechnet in dieser Woche nach München musste, zur Vernissage seiner neuen Ausstellung, die Erfolg und Geld versprach.
Die fünfhundert Mark hatte er mit dem Eilboten geschickt, gegen Unterschrift, die schließlich du geleistet hast; sie weigerte sich, aus der Küche zu kommen, so dass der Kurier dir den Umschlag erst nicht aushändigen wollte; warum deine Mutter ihn nicht persönlich entgegennehmen könne, sie sei doch anscheinend zu Hause, und er hatte neugierig den Kopf in den Flur gereckt, unnötig das Ganze, peinlich, selbst einem, der nicht stottert, wäre das Wort im Hals steckengeblieben, als sie plötzlich doch hinter dir stand, ihre Hände auf deine Schultern legte und dem Postboten mit einem Blick befahl, dir den Brief zu geben. Wenn Sie wüssten, wofür dieses Geld ist, sagte sie, würden Sie sich nicht einmal den Arsch damit abwischen. Das Kuvert in deiner Hand war prall gefüllt, du hattest nicht gedacht, dass die Sache so teuer kommen würde.
Deine Fahrkarte war im Preis mit eingerechnet. Sogar für den versprochenen Abstecher ans Meer hätte es gereicht, weil Daniel noch einen Hunderter draufgelegt hatte, Tribut seines schlechten Gewissens. Am Nachmittag hatte sie aufgeregt an der Kommode gestanden und nach Holland telefoniert. Daniel hatte ihr die Nummer über Ute Hassforther besorgt. Sie drehte mit dem Finger eine Haarsträhne zu einem straffen Wickel bis kurz vor den Scheitel, zischte einen Schmerz- oder Fluchlaut, wobei sie dir zunickte, ob man ganz sicher auf sie warten würde, fragte sie die Person am anderen Ende der Leitung, die anscheinend Deutsch sprach, der Zug könnte Verspätung haben. Mit der Antwort schien sie zufrieden, drückte auf die Gabel, wählte neu. Jetzt schien sie mit der Auskunft verbunden, die sie durchstellte, zum Fremdenverkehrsamt in Groningen. Wieder schien jemand Deutsch zu verstehen, als sie sich nach einer Unterkunft erkundigte, ein Doppelzimmer, ja, zwinkerte sie zu dir herüber, notierte eine Nummer, sagte schließlich: Tot ziens. Erneut rasselte die Wählscheibe. Jetzt wickelte sie von der anderen Seite her eine Locke, ihr Haar war ungewaschen, hing in fettigen Strähnen herab, nicht mehr rot, noch nicht wieder blond, du fandest keinen Namen für das, was auch kaum eine Farbe war, mit deiner Mutter hatte diese Frau am Telefon kaum mehr etwas zu tun.
Die Andere, die du am Abend auf dem Treppenabsatz fandst, zusammengesackt, mit einer erloschenen Zigarette zwischen den Fingern, von der sich der Aschewurm nach unten krümmte, wolltest du dann nur noch loswerden. Du hast sie an der Schulter berührt, die Asche fiel von der Kippe auf den Bademantel. Obwohl ihr Gesicht sehr blass war, schien etwas darin zu brennen; waren es die geröteten Augen, die ihr diesen hitzig starren Ausdruck verliehen, die fiebrigen, scharf abgegrenzten Flecken auf den Wangen, wie ein soeben erblühter Ausschlag, oder doch das Haar mit seinem giftigen Kupferton, das dieses Elendsbild rahmte?
Du hättest dich einfach verdrücken können. Endgültig über sie hinwegsteigen, hmir reicht’s, htschüs hMama! Mit dem Geld, das Daniel geschickt hatte, wärst du ein paar Wochen ausgekommen. Die Scheine lagen auf dem Boden verstreut, quollen aus der gepackten Reisetasche hervor, zwischen Kleidern, Toilettenartikeln und einem Buch, das du auf der Zugfahrt lesen wolltest. Im Wohnzimmer rauschten die Lautsprecher des Plattenspielers, der sich in den Stunden zuvor mit der immergleichen Scheibe darauf gedreht hatte und sie sich um ihn, This is the end, my only friend, in Endlosschleife.
Jetzt eierte auf dem Teller die in zwei Hälften zerbrochene Platte, streifte mit einer Kante bei jeder Umdrehung die hochgestellte Nadel, erzeugte kleine explosionsartige Geräusche. Deine Hände wollten sich einfach nicht öffnen, als du ihnen befahlst, Marga loszulassen, zurück auf die Treppe zu stoßen, soll sie doch da liegen, bis sie verschimmelt! Sie schluchzte tränenlos und mit trockener Stimme, die anschwoll, für einen Moment aussetzte und wieder abebbte, wie die von Katzen, die sich oft nach Anbruch der Dunkelheit auf dem Heidedamm anheulen, langgezogene, jämmerliche Laute der Nacht.
Du hast ihren Fuß von der Diele gerissen und auf den nächsten Absatz gezwungen. Ich will nicht, wehrte sie sich, die Ferse rutschte wieder weg. Sie könne das nicht, niemand dürfe das von ihr verlangen. hWas?, hast du gerufen und ihr gegen die Fessel geboxt. Was genau war es, das sie plötzlich nicht mehr zu schaffen schien, doch nicht etwa die Treppe mit den paar Stufen? Lächerlich! Auch der Eingriff, der ihr am nächsten Tag bevorstand, war doch in Wahrheit ein Klacks, jede Geburt ungleich riskanter, hatte sie selbst noch den Arzt am Telefon zitiert, der anscheinend auch, wie alle holländischen Abtreiber und Abtreibungsgehilfen, des Deutschen mächtig war.
In deiner Hand zuckte der kalte Leib, das Wrack, dachtest du, ein schweres, unbewegliches Trumm die ganze Mutter, das zerrende Kind daran, das ihr doch nur helfen will, der Klotz am Bein. Sie schüttelte dich ab, flennte weiter, spuckte Drohungen und Flüche, doch dir war, als meinte sie gar nicht mehr dich, sondern einen anderen, Abwesenden, Daniel vielleicht, der sie hatte hängenlassen, alle Männer, die ihr je eine Abfuhr erteilt hatten, du wüsstest ja nicht, was sie damals mit dir durchgemacht habe, und unmoralisch sei nicht die Sache an sich, nur die Art und Weise, wie man in Deutschland mit Frauen wie ihr umgehe, die sich diese dreihundert Mark nicht leisten könnten, und sie fischte nach einem Schein auf dem Boden.
So viel Geld, Liebling, hauchte sie plötzlich fast zärtlich und legte dir die Hand auf die Wange, kostest du mich jeden Monat, und ob du dir überhaupt vorstellen könntest, was es für sie und auch für dich bedeuten würde, gleich zwei Kinder durchbringen zu müssen, von wegen Studium, das könntest du dann direkt auf dem Acker betreiben und täglich den Lohn nach Hause bringen, und sie packte dich bei den Schultern und schüttelte dich, für dreihundert Mark im Monat nimmt deine Tante dich bestimmt bei sich auf, und sie schleuderte den Schein in die Luft und sackte auf dem Treppenabsatz wieder in sich zusammen.
Dann fall doch! Die Worte kamen ohne ein Stocken, kaum mehr gehaucht, nur ein wenig außer Atem, mit einem Moment des Erschreckens danach, zwei, drei Sekunden lang, bis sich im Wohnzimmer die Platte einmal herumgedreht hatte, mit der Bruchkante gegen die Nadel stieß und die Stille zerschoss; dann hast du sie losgelassen. Im nächsten Moment würde sie nach hinten überkippen, kaputtfallen, und das Kind in ihrem Bauch gleich mit, dann müsstet ihr nicht nach Holland und hättet dabei noch was gespart. Nein!, rief sie, packte dich bei der Schulter und stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf dich. Den Gefallen tue sie dir nicht, und ob du sie jetzt damit einfach allein lassen willst? Aus ihrer Stimme war der klagende Ton verschwunden, sie sprach jetzt deutlich, sogar ein wenig drohend.
Wie schnell sie doch umschwenkt, wenn du nicht kuschst! Sie nahm dein Gesicht in die Hände und drückte es an ihre Brust. Trotz allem roch sie wie immer. Als du wieder zu atmen wagtest, hatten die Erinnerungen den bitteren Nachgeschmack ihrer Worte überdeckt. Sie saugte die Lippen ein, krümmte den Rücken, machte auf hilflose Greisin, verlangte die Pantomime. Du hättest sie ja gar nicht mehr gern, nuschelte sie und steckte dir die Nase ins Ohr, schlang sich gleichzeitig deine Arme um die Hüften, wo sie herunterhingen, ins Leere der Treppentiefe, die dich nach unten zog, als wäre dein Körper plötzlich verflüssigt, ohne Muskeln und Knochen, ein häutiger Schlauch voll trüber Gedanken und verwaschener Empfindungen, der hinfällige Kinderleib im Schlafanzug, du sankst zurück in ihre Arme.
Wer hat schließlich wen auf die Stufen gezerrt? In deinem Kopf ist auch jetzt noch, Wochen danach, diese Blase, die euch plötzlich umgab, ein trüber Filter vor den Bewegungen, die euch auf die Treppe zwangen, ein gegenseitiges Stoßen, vielleicht ein kurzer Kampf, verschwommen, schwerfällig und seltsam verlangsamt, wie unter Wasser. Sie saß nun auf dir, die Beine gespreizt, ihre Hände umklammerten deine Unterarme, eine Position, wie du sie oft bei den Raufereien im Pausenhof beobachtet hattest, wenn der Stärkere den Verlierer unterwirft. Deine alte Mutter wirst du nicht los, lachte sie, oder wimmerte sie es nun wieder, ihre Stimme klang plötzlich fremd, sie war nun ganz die Andere geworden, die in diesem Moment den Rest der Marga, wie du sie immer gekannt hattest, absorbiert und ausgelöscht hatte.
Du wandest den Kopf aus der Umklammerung, hattest längst kapituliert. Ihre Brust drückte gegen dein Gesicht, im Ohr brannte ihr Atem, juckte an der empfindlichen Stelle am Hals. Von hinten bohrte sich die Treppenkante in dein Kreuz, ein sich langsam ausdehnender Schmerz, der den Körper in zwei Hälften teilte; während die Arme noch aufzuckten, fühltest du dich vom Becken abwärts schon gelähmt, als würde dein Leib plötzlich mit dem Rumpf enden, an der Stelle, wo sie nun zu fingern begann. Wenn du jetzt die Fersen über die Kante geschoben und die Knie durchgestreckt hättest, die ihr ganzes Gewicht trugen, wärst du sie los gewesen. Nur eine winzige Bewegung, unwillkürlich, im Reflex, als sie ihre Hand zwischen deine zusammengepressten Beine schob, die du nicht öffnen wolltest. Ihr bloß nicht das herausgeben, wonach sie grub, es klein halten, einziehen, wegquetschen, sie zischte: Stell dich nicht so an!
In ihrer Hand sahst du das kleine, schrumpelige Stück, wurmartig wie eine zusammengerollte Larve, die man aus tiefer Erde wühlt. Nun würde sie es in ihren Schoß legen, wo es gedeihen und schlüpfen sollte, beschützt und gewärmt von ihrem Bauch, der dir plötzlich, so über dich gewölbt, doch ziemlich dick erschien, angeschwollen vom Wasser, das sich in der Schwimmblase ihres Unterleibs gestaut hatte und nicht mehr abfließen konnte, so dass man sie würde aufschneiden müssen, damit das Kind in ihr nicht ertrinkt, das man noch gerade rechtzeitig aus ihr rettet, mit dem Schlauch, hatte sie dir erklärt, sie würden es einfach wegsaugen, das Leib-, das Frucht-, das Moorwasser, ein kleines, weißes, rochenartiges Wesen darin, die zwei noch blinden Äuglein in einem Klümpchen Kopf, Hände und Füße wie winzige Flossen aus der Mutter abpumpen ins Rohr, und du hast treppab geblickt, vier Stufen bis zum Boden, kaum einen Meter; früher, als du noch sehr klein warst, hast du die Tiefe als bedrohlich empfunden, dir gewünscht, dass sie dich an der Hand nimmt und führt. Hast du mich wieder lieb?, haucht sie, und das Kind, kurz bevor es eintaucht: hMama, hnicht!
Natürlich hatte sie auf den Ausflug ans Meer dann keine Lust mehr gehabt. Auf dem Rückweg stand der Zug wegen eines Lokschadens lange auf offener Strecke, am Grenzbahnhof war der Anschluss schon weg. Als ihr in Fenndorf aus dem Bus stiegt, war es bereits dunkel. In der Küche schmierte sie eilig ein paar Brote, schob dir den Teller hin, iss, befahl sie und schenkte sich ein Glas Wein ein, das sei ein anstrengender Tag gewesen. Du hast ihr eine Schnitte hingehalten, sie schüttelte den Kopf, beobachtete dich beim Kauen, klaute dir dann doch mit einer flinken Bewegung die Stulle, biss ihre Signatur hinein, gab sie zurück und lächelte dir zu, das erste Mal seit Tagen.
Morgen gibt’s Allestopf mit Schwein, sagte sie, und auch ihre Stimme, aus der die harten, klirrenden Höhen verschwunden waren, ließ dich hoffen, dass von nun an wieder alles wie früher würde. Sie stand auf und räumte das Geschirr weg, obwohl du noch nicht aufgegessen hattest. Sie müsse jetzt ein wenig allein sein, sagte sie, plötzlich vorwurfsvoll, als hättest du sie während der Reise zu sehr strapaziert. Ohne Blick und Gutenachtgruß ging sie aus der Küche, ein wenig taumelnd. Du bist ihr auf den Fersen gefolgt, halb verärgert, halb in der Angst, sie könnte es wieder nicht die Treppe hoch schaffen. Doch sie schwankte nicht, nahm sogar zwei Stufen auf einmal. Vorm Schlafzimmer drehte sie sich abrupt um, blickte dich müde an und sagte: Was willst du noch? Sie ging hinein und zog Daniels Bettzeug von der rechten Matratze unterm Fenster. Den Packen warf sie dir in die Arme, dann, als bereute sie die brüske Geste, strubbelte sie dir durchs Haar, wofür du sie in diesem Moment besonders hasstest. Du bist zwischen ihr und dem Türrahmen hindurchgewischt und hast die Bettdecke zurück auf die Matratze geschleudert. Sie lachte auf, jetzt war da doch ein gläserner Ton in ihrer Stimme, auch ihre Bewegungen schienen dir wieder zu schnell: Wie sie näher kam, sich vor dir aufbaute, tief einatmete, als würde sie jeden Moment losschreien, dich dann am Kragen packte, heranzog, fast ihren Mund auf deinen presste, mit einem Millimeter Abstand dazwischen, wo ihr Atem sich staute. Sie könne sich das alles nicht mehr leisten, sagte sie leise. Der Satz strömte dir in die Mundhöhle, schmeckte sauer und alt, von fern bekannt, aus schwarzen, fast vergessenen Gefühlen, die Erinnerung an ihren Kollaps darin, damals im Herbst; ging all das nun wieder von vorn los?
Ihr Körper sank gegen dich, lastete auf dir, dann stieß sie dich unvermittelt weg und starrte zum Fenster, wo du im Widerschein vor der Nacht die gleiche Szene spiegelverkehrt sahst, zwei reglose, fast gleich große Silhouetten, eine Frau und einen sehr jungen Mann mit verzerrten, wie aufgeplatzten Gesichtern, bis sie die Tür vor das Bild knallte und du auf dem Flur im Dunkeln standst.
Der Holländer, dachtest du. Der Fremde, den sie in Groningen getroffen hatte. Irgendeiner, den sie nur deshalb angesprochen, sich vielleicht sogar zu diesem Zweck seine Telefonnummer notiert hatte. Wenn Daniel sich weigerte, würdet ihr eben in stillem Einvernehmen den Holländer zum Vater, Stiefvater des Bruders machen, den du dir um jeden Preis zurück in ihren Bauch wünschtest.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Klinik war sie vor einem Café stehen geblieben. Heulende deutsche Frauen fallen hier auf, hatte sie gesagt und auf ihr bekümmertes Spiegelbild in der großen Glasscheibe gedeutet, hinter der junge Leute dichtgedrängt an den Tischen saßen. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch, befahl dir, draußen zu warten, und ging hinein. Du hast dich an ein Verkehrsschild gelehnt und die plappernden Grüppchen beobachtet, die sich in der Tür stauten. Nach zehn Minuten war sie noch immer nicht zurück. Der Termin war für ein Uhr angesetzt, jetzt rückte der Zeiger deiner Armbanduhr auf Viertel vor. Auf der Straße herrschte dichter Verkehr, Passanten eilten vorüber, niemand beachtete dich. Du hast den Gesprächsfetzen gelauscht, verzischte oder schlurrende Laute einer fremden Sprache, die du im Kopf zu Buchstabenfolgen zusammenfügtest, die nur weiche Konsonanten enthielten. Ob du auch auf Niederländisch stottern würdest?, fragtest du dich. Jede Bewegung der schweren Glastür ließ dich aufschrecken. Neben dem großen, blonden Mann hättest du sie fast nicht erkannt. Sie war geschminkt und frisch frisiert, in den Gläsern ihrer schwarzen Brille spiegelte sich die Sonne, als sie zu dir herübernickte. Der Mann beugte sich vor, flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie lachte auf, gab ihm die Hand und sagte laut: Tot ziens.
Du hast die Worte im Kopf nachgesprochen, mit deutschen Konsonanten klangen sie spitzer und härter, eher wie ein Schlachtruf: Tott Zzienz! Sie kam auf dich zu, zog dich von der Metallstange weg, nahm deine Hand und sagte: Bringen wir’s hinter uns, mit übertriebenem holländischem Akzent, so dass du erst ein paar Sekunden später verstanden hast, was sie gemeint hatte. Im Kopf drehtest du das Wort weiter, immer herum um seine eigenen Konsonanten, bis sie genauso geschmeidig schnurrten wie der Singsang der Satzfetzen, die herüberflogen, aus den Gesprächen der Fußgänger, die nun alle die Köpfe wandten und mit neugierigen Blicken der deutschen Mutter mit ihrem jungen Geliebten an der Hand in die Abtreibungsklinik folgten, während es von allen Seiten tot ziens! zischelte, und tatsächlich hast du am Abend in ihrer Handtasche, die du vorm Schlafengehen durchwühltest, einen zusammengeknüllten Zettel gefunden, darauf eine lange Telefonnummer mit ausländischer Vorwahl und ein eilig hingekritzelter Gruß: Bis bald!
◆◆
Der Countdown läuft, die Zeitbombe tickt, in der Ferne tönt eine Sirene. Sie räumen die Gebäude diesseits der Jumme, den Kliewe-Hof und die Lagerhallen des Holzhandels, denn der Wind hat gedreht. Noch steht die Sonne voll Kraft im Mittag, die Dörfler sitzen zu Tisch oder beugen sich über die Arbeit, niemand schaut jetzt zum Teich, keiner würde dich sehen; der Augenblick, Dion, ist günstig. Die Armbanduhr zeigt kurz vor eins. Dein Bus fährt in fünfzehn Minuten vom Kirchplatz ab; wenn du wie geplant zwei Haltestellen weiter, am Abzweig Pellhof, einsteigen willst, wo nie jemand wartet, musst du jetzt los. Was zögerst du noch? Alles, was für deinen Entschluss nötig ist, hast du durchdacht, geordnet und die nötigen Konsequenzen gezogen.
Vergewissere dich noch einmal mit einem letzten Blick: dort die Ebene, das Gras, die Brüche und Birken, Schlenken und Bulte, das eintönige Auf und Ab der Linien, unverändert in all den Jahren, immer gleich von deinem Platz auf dem Stumpf aus gesehen, grün, braun und selten rot, in unscheinbarer Blüte, zaudernder Fäulnis oder ohne jede Form und Farbe im Schnee, mal kahl, mal belaubt, voller Gestalten im Nebel und unsichtbar hinter der Regenwand, das Moor, wie du es kennst.
Du löst die Augen vom Horizont. Stehst auf, schulterst den Rucksack, drehst dich um.
Halt, Dion, hast du nicht noch etwas vergessen?
Du zögerst, doch nichts und niemand mehr gibt dir ein Zeichen. Schließlich kramst du die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. Zwischen den Filterenden steckt das Feuerzeug. Das hat dich starr gemacht vor Angst: Alles Mögliche vergisst sie in ihrem Brass; den Haustürschlüssel, das Portemonnaie, die Post an das Amt, die du erledigt hast, selbst dich hat sie einen ganzen Winter lang liegenlassen. Doch wenn sie nicht einmal mehr an ihre Kippen denkt, muss ihr Zustand wirklich lebensbedrohlich sein.
Du schnupperst am Tabak, steckst dir den Filter zwischen die Lippen. Lässt das Flämmchen aus dem Feuerzeug springen. Unter deinen Schuhen knistert das todessüchtige Gras. Du paffst deine erste Zigarette nach ihrem Vorbild: zwei Finger gespreizt, ein kurzer Blick auf die Spitze, dann der energische Zug. Der Rauch beißt in der Kehle, schnürt dir die Luft ab, Tränen schießen dir in die Augen. Was sie nur daran gefunden hat, denkst du und spuckst mehrmals aus. Als Erwachsener würdest du einmal alle Raucher verabscheuen, jetzt aber schmeckt die Zigarette schon beim zweiten Inhalieren nach ihr; ihrem Mund, dem Gutenachtkuss, wie Kindheit.
Nach der dritten Rauchwolke krampfen die Lungen nicht mehr, der Hustenreiz ist überwunden, dein Kopf fühlt sich weit und groß an, der Körper wie trunken, deine Schritte federn auf dem Grund; noch nie war der Schwingrasen unter deinen Füßen so schwankend wie bei deinem letzten Gang zurück ins Dorf. Hinter dir, wo du die Kippe ins Gras geschnickt hast, schmiegt sich ein Halm an die Glut.
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Was dir vom Frühling bleibt? Ein Himmel, der nach Sonnenuntergang noch lange nachglomm, orange und flammengelb am Horizont, übergehend in die perlmutterne Leere des Zenits und sich langsam selbst ertränkend im tintigen Nachtblau des Ostens, von wo aus er plötzlich erlosch und sich acht Stunden später erneut entzündete.
Halbgrüne Wände im Haus, dazwischen offene Farbeimer, wo sich Haut bildete, verkrustete Pinsel darin, die niemand wegräumen wollte.
Der Wahnsinn der Striche auf Margas Bild; ein Rot, das dich zu bedrängen begann, aggressiver wurde mit jedem Tag, seitdem du wusstest, dass es wieder so weit war; sie hatte abermals als Mutter versagt.
Daniels Gesicht, in dem du plötzlich nichts Väterliches mehr entdecken konntest, das nun tatsächlich eine Fresse war, hart und im immergleichen Ausdruck der Kränkung wie in Holz geschnitzt.
Ihr Mund, der jetzt wieder öfters an dir nagte. Je seltener er sich Daniel zuwandte, desto ungestümer schmiegte er sich an deine Lippen, meist dann, wenn die anderen sie abgewiesen hatten. Er riss auf, verzerrte sich zum Maul, spuckte Gemeinheiten oder grollendes Gelächter, wenn Daniel darauf bestand, eine Lösung zu finden, und Marga, plötzlich fast lippenlos, erwiderte: Wenn du eine Lösung suchst, was ist dann das Problem?
Ihr Gutenachtkuss, der jetzt nicht mehr knapp und spitz, sondern lang und suchend war, mit angehaltenem Atem und dieser tastenden Zunge. In den Nächten, wenn Daniel in Hamburg blieb, kroch sie unter deine Decke, zog deine Hand unterm Rücken hervor und legte sie auf ihren Bauch. Dass du zu ihr halten müsstest, dass sie nun auf dich zähle, er gönne dir keinen Bruder, dann würde es eben nicht sein Kind werden, und sie streichelte deinen Unterarm und starrte ins Dunkle.
Ihr Leib unter deiner Hand war wieder eingefallen, seitdem sie kaum mehr etwas aß, nur hastig an der Zigarette zog, mit der Gabel die Brocken auf dem Teller hin- und herschob und große Schlucke aus der Weinflasche trank, die Daniel ihr einmal aus der Hand gerissen hatte. So kriegst du dich auch kaputt, rief er und kippte den Rest in den Ausguss. Und dieses Mal kostet es dich nichts, erwiderte sie, stand auf, ging zum Schrank und knallte die nächste Flasche auf den Tisch, die niemand öffnete.
Jungennamen, die sie dir ins Ohr flüsterte: Demian, Robert, Victor, nein, einen Victor wolle sie nicht, keinen Siegertypen, lieber einen sanften Träumer wie dich. Sie wühlte dir im Haar, was du jetzt ertrugst, auch deine Hand zogst du zuletzt nicht mehr zwischen ihren Schenkeln heraus, der feuchten Klammer. Sie sagte lang nichts und irgendwann: Leon, was du schon im Schlaf zu hören glaubtest, Dion und Leon, hallte es durch deinen Traum, zwei-, dreimal hintereinander erst der eine, dann der andere Name vom Haus herüber zum Teich, wo sie ihre Runde schwimmt.
Unterhalb des Asts hält sie inne, greift ins Wasser und drückt etwas in die Tiefe, das du dir, wenn es auftauchen könnte, schwarz und unberührt vorstellst, namenlos, noch nie gesehen, etwas längst Vergessenes, konserviert im Torf. Dion und Leon, tönt es noch einmal vom Haus, wo Marga plötzlich im Garten steht und zum Teich herüberwinkt, der jetzt still und rot zwischen den Binsen liegt, fein gestrichelt von winzigsten Wellen und den Strahlen der Morgensonne, die durchs Erlenlaub zittern und für den Bruchteil einer Sekunde dein Gesicht aufs Wasser zeichnen. Dion und Leon!, ruft sie und teilt die Binsen, in der Astklaue hängt das tote Kind.
Als du stöhnend aus dem Traum hochfuhrst, war sie weg. Drüben glaubtest du, ein Wimmern zu hören, hast leise die Tür zum Schlafzimmer aufgedrückt. Sie lag eingerollt neben Daniel, der spät aus der Stadt zurückgekommen sein musste. Ihr Gesicht war bleich, doch der Mund nicht vom Weinen verzerrt, eher hübsch, fast lächelnd im Mondlicht, oder war das Zimmer in Wirklichkeit dunkel, hast du den Mond nur später in die Erinnerung gehängt?
In diesem Licht siehst du Daniel zucken, als du an das Bett herantrittst und eine Diele knackt. Du duckst dich hinter die Fußblende, doch er wacht nicht auf, dreht sich zur Seite, näher an sie heran. Jetzt droht sie zu erwachen. Ihr Mund, auf den nur der Schatten einer Haarsträhne das Lächeln gezeichnet hat, verzieht sich, du hältst den Atem an. Sie brummt etwas, streckt die Beine aus, wirft sich herum und schläft weiter, das Gesicht jetzt auf gleicher Höhe mit seinem, zwischen den einander zugewandten Augen eine Armlänge Dunkelheit, weich, warm und einladend zwischen ihrem und seinem Körper, wie geschaffen für ein Kind.
Du kletterst aufs Bett und legst dich zwischen sie. Er schnauft, sie murrt, beide kommen näher und strecken die Hände nach einander aus, tastend über deine Schultern, bis sie sich ineinander verschränken und die eine dich von links, der andere von rechts in die Arme zieht. Sie drückt ihre Brust, er das Becken an dich, sie schiebt dir die Hand zwischen die Schenkel, er legt dir das schwere Knie aufs Geschlecht. Einer sucht des anderen Lippen, die von beiden Seiten über deine Wangen kriechen und sich auf deinem Mund finden, wo du erst ihren, dann seinen Kuss stiehlst; kurz bevor die Berührung wieder auseinanderreißt und jeder zurücksinkt in seinen einsamen Schlaf, steckst du die Zunge in das Chaos aus Haut und Bartstoppeln, Geliebter und Geliebtem, Vater und Mutter.
Vielleicht, denkt der Junge in deinem Buch, ist genau das meine Familie; nicht das Miteinander um den Abendbrottisch, die Schwester, die mich in den Hühnerstall sperrt, und der Bruder, der mir den Fußball in den Bauch schießt, kein je gesehenes Bild aus den Stuben und Gärten des Dorfes, sondern sie zur einen Seite, er zur anderen, dazwischen ICH, von beiden gehalten und gestreichelt, in diesem Moment zum ersten Mal geliebt.
Sie habe zugleich die Augen aufgeschlagen. Noch zwei, drei Sekunden, schreibst du, sei ihr Gesicht das alte, vertraute gewesen, so, wie du es immer gekannt hast vom Gutenacht- oder Morgenkuss, unmittelbar vor oder nach dem Schlaf. Dann sei es geplatzt, vom Mund ausgehend wie von einem Riss.
Sie fing an zu lachen, erst in leisen, ruckenden Stößen, dann lauter, klirrender, bis sie sich auf den Rücken warf und sich unter den Salven krümmte. Daniel stieß dich weg und sprang aus dem Bett. Du glaubst dich zu erinnern, dass er sich mit der Hand über den Mund fuhr und ausspuckte. Er stand nackt auf dem Läufer, starrte angewidert auf euch herab, packte sie schließlich an den Haaren, riss sie hoch und zischte: Du verfotztes Miststück!, was sie nur noch mehr aufstachelte. Ein solch gellender Laut entfuhr ihr, dass auch du dich nicht mehr zurückhalten konntest.
Du hattest keine andere Wahl. Die einzige Möglichkeit, über diesen Moment hinwegzukommen, sei es gewesen, mit einzustimmen, Daniel ins Abseits zu lachen, ihr Komplize zu werden. In deinem Buch schreibst du von einem ansteckenden und wuchernden Gelächter, das sich, übertragen durch ein winziges Tröpfchen Spucke, wie ein aggressives Virus in deinen Körper fraß, wo es alles zersetzte, was sich eben noch, in der dreisamen Umarmung, gut und richtig angefühlt hatte.
Daniel packte die Bettdecke und zog ab, was ihr Lachen in einem markerschütternden Kreischen kulminieren ließ. Danach flaute der Ausbruch ab, ihr Gestöhn wurde langsam leiser – du wusstest nicht mehr, heißt es im Buch, ob sie noch immer lachte oder schon weinte.
Von diesem Moment an hast du nichts mehr empfunden. Im Innern sei nur noch Asche gewesen, wie nach einer Feuersbrunst, vernichtend und befreiend zugleich. Irgendwann habt ihr voneinander abgelassen und euch auf den Rücken gedreht, jeder auf seine Betthälfte, wo ihr, gleich einem Liebespaar nach dem Höhepunkt, noch eine Weile schwitzend und von Nachbeben geschüttelt lagt, bis die Körper erschlafften.
Sie zog dich heran, presste das heiße Gesicht an deinen Hals und schlief ein. Noch lange hast du mit pochenden Schläfen in die Dunkelheit gelauscht, fünf, vielleicht zehn Minuten, bis du hinterm Dröhnen des Bluts in den Adern wieder die Laute der Nacht hörtest – den Wind in den Ranken an der Hauswand, das unregelmäßige Flappen der Plastikplane, die noch immer vom Gerüst des Dachdeckers hing, draußen in der Ebene den katzenhaften Schrei einer Sumpfohreule, aus deinem Zimmer das Knarzen des Lattenrosts, bald gefolgt von Daniels Schnarchen, dazwischen wieder der Wind, der Vogel, die Mutter, die in dein Ohr atmete, und irgendwann nichts mehr, nur noch meine Stimme, die langsam im Traum ertrank.
Der Teich liegt verlassen, niemand stört das Spiel von Licht und Schatten auf dem Wasser, keiner sieht darin ein Gesicht, eine Hand. Die Äste sind tot oder treiben aus, die Steine backen in der Sonne, die Larven kriechen durch den Schlamm, Wurzeln ragen kreuz und quer. Die Binsen stehen gerade, beugen sich dann leicht nach Osten, gefolgt von den dünneren Zweigen. Ein wenig Laub wirbelt auf. Die Sonne steht hoch in ihrem weißen Loch. Der Baumstumpf kann sich nicht erinnern, wer eben noch auf ihm saß. Die vertrockneten Mooskissen werden nach dem nächsten Regen wieder grün sein, jemand wird seinen Finger hineinbohren und die Berührung als zärtlich empfinden. Der Himmel ist hellblau und groß. Keine Wolken, kein Rauch am Horizont, nicht einmal ein Helikopter in der Luft. Du bist schon auf der Landstraße, als aus dem Gras das winzige Flämmchen schlägt.
◆◆
An einer Stelle hast du vom Mofa aus tatsächlich Feuer gesehen. Wo Hannes das Gas drosselte und die Landstraße unvermittelt nach rechts schwenkt, nachdem sie für Kilometer schnurgerade auf dem Damm verlaufen ist. Hinter dem Föhrenwäldchen, durch dessen löchrige Reihen du in blonden Streifen das Pfeifengras schimmern sahst, dazwischen dunkle Mulden, manchmal ein kleiner, tief eingegrabener Bach, kurz aufblitzend im Vorbeiflug und gleich wieder weggewischt von den Wedeln der Nadelhölzer am Rande der Trasse, die in einem weiten Bogen um die Ebene herumführt, am Ende der Kurve fast wieder in entgegengesetzte Richtung, als würde die Straße doch noch einen Vorstoß in das Gelände wagen, um aber dann, im letzten Moment, wenn schon die ersten Risse im Boden unterhalb der Böschung klaffen, wieder nach links abzuknicken, nach Westen auf die Jumme zu, dort blickst du dich um.
In deinem Rücken das Grasland, ein bärtiges, silbrig flimmerndes Band zwischen den Forsten, aufgefädelt an der hartgespannten Horizontlinie mit dem blassen, in der staubigen Luft ein wenig verzitterten Zacken des Fenndorfer Kirchturms. Hier, vom Ende aus gesehen, erscheint dir das Moor viel kleiner als auf der anderen Seite, an seinen Eingängen hinter den Erlen am Teich, wenn auf deinen Streifzügen das heimatliche Dorf nach wenigen hundert Metern außer Sichtweite gelegen hatte und du schon bald der einzige Mensch in einer unbewohnten und weglosen Wildnis warst, wohl eine optische Täuschung, denkst du jetzt, als Hannes plötzlich abbiegt und dein Blick sich im Wald verliert.
Er steuert das Mofa in eine tunnelartige Schneise. Es wird augenblicklich düster und kalt. Noch nie hast du dich in dunklen Wäldern und auf ungesicherten Wegen gefürchtet, kennst das mulmige Gefühl nur vom Pausenhof oder inmitten lärmender Spiele am Badestrand. Du klammerst dich an den Gepäckträger, der dir mit seinen scharfen Metallkanten in die Finger schneidet.
Schon wenige Kilometer hinter der Bushaltestelle haben deine Hände zu schmerzen begonnen, doch du hast dich nicht getraut, den Griff zu lockern oder sogar deine Arme um Hannes zu legen, vielleicht den Kopf zwischen seine Schulterblätter, zum Schutz vor dem Fahrtwind, wie du es oft bei den Mädchen aus der Zehnten gesehen hast, die sich abends am Wartehäuschen versammeln, wo ihre Typen sie abholen. Nur einmal, als das Mofa auf der Landstraße gleichmäßig geradeaus fuhr, hast du losgelassen, die Schwankungen mit dem Oberkörper ausbalanciert und sogar ein wenig die Arme abgespreizt, im Rausch der Geschwindigkeit erfüllt von einem plötzlichen Glück, das gleichzeitig ein Erschrecken war, das Wissen um die Gefahr, hier, so dicht bei Hannes, ihm ausgeliefert, seinen Fahrkünsten, einem Ziel, das nur er kannte, ein blaues Gefühl, tief und offen wie der Himmel, der beim Blick nach oben über dir hinwegraste, ohne sich zu verändern, nur immer größer und leerer wurde, je weiter ihr euch von Fenndorf entferntet.
Die Gedanken an Marga, die dich vorhin noch so bedrängt hatten, flatterten weg, waren nur mehr wie die Stämme der Bäume, die in unregelmäßigem Stakkato vorüberflogen, harte, schwarze Schnitte vor einem grenzenlosen Raum aus Licht, gesehen, gedacht, vergessen. Und wenn Hannes sich jetzt scharf in eine Kurve legen oder eine plötzliche Unebenheit dich von der Maschine schleudern würde, mit dem Kopf auf den Asphalt, denn du trägst keinen Helm, was würde sie tun? Wo dich suchen?, ja, würde sie überhaupt weinen, wenn du auf der Stelle tot wärst, und du sahst dich von weit oben, aus diesem blauen, gänzlich offenen und unbehausten Gefühl heraus, die Arme weiter anheben und langsam die Handflächen nach außen drehen, doch dann hat Hannes plötzlich die Bremse gezogen.
Das Mofa schlingert über die Buckelpiste. Du stößt mit der Stirn gegen den Helm, packst unwillkürlich seine Schultern. Als der Weg im Unterholz endet, setzt er den Fuß auf die Erde, damit ihr nicht kippt. Du knetest die Finger, die vom Klammern ganz steif sind. Das ist euer Platz. Hier wirst du ihn das erste Mal so berühren, wie du es dir immer vorgestellt hast. Die Straße liegt verborgen hinter den Bäumen. Der Pfad endet an einem Zopfholzhaufen, abgerissenes Kronengeäst, Überreste des Wintersturms, davor eine Schütte zusammengeschobener Erde. Der Boden ist zerwühlt, Rinnen und Furchen führen kreuz und quer, in den Baggerspuren wächst junges Gras. Dort könnt ihr euch hinkauern. Das Holz wird nicht mehr abgeholt. Wer hier gearbeitet hat, kann sich an die Stelle kaum mehr erinnern. Sie ist wie jede zweite in den Bruchwäldern am Rande der Straße.
Auf der schmalen Trift, die tiefer ins Dickicht führt, kreuzen nur Rehe oder die Heidschnucken, die man wegen der Feuergefahr längst in die Ställe getrieben hat. Jetzt werdet ihr darauf gehen, hintereinander her, mal nach rechts, mal nach links, mit gesenktem Kopf, die Hände, die zum anderen hinwollen, noch in die Hosentaschen gegraben, bis die Schritte langsamer werden, die Fäuste schweißig und der eine den anderen fasst. Es gibt noch immer Wege durchs Moor, die du nicht kennst.
Doch er steigt nicht ab. Sitzt reglos im Sattel, die Hand am Gashebel, als wollte er gleich wieder durchstarten, und erst als du seinem Blick folgst, siehst du hinter dem Föhrengewirr wieder Rauch. Er kriecht über die Torfrippen, wo das Gestrüpp sich öffnet. Darüber gleißt die Ebene, kaum ein Strahl dringt herein. Als Hannes den Motor abstellt, ist es sehr still. Irgendwo rauscht Wind, oder drüben der Verkehr. Jetzt siehst du an einer anderen Stelle den Qualm, ein blinder Fleck zwischen den blinkenden Halmen, dann plötzlich mehrere rußende Flecken, noch sehr weit weg.
Ich geh mal löschen, sagt er, schwingt sich vom Mofa und drückt dir den Lenker in die Hand. Das Vorderrad klappt herum, die Maschine droht dir zwischen den Beinen wegzurutschen. Du stemmst die Hacken in den weichen, von Kiefernnadeln bedeckten Boden, findest auch dort keinen Halt. Wenn du jetzt stürzt, und das Ding mit dir, hält er dich für einen Schwächling, doch da hat er das Mofa schon mit einem Ruck aufgebockt. Seine Hand, die für einen Moment auf deiner liegt, ist trocken und rau. Er nimmt den Helm ab, hängt ihn an den Lenker, fährt sich durch die Haare.
Bin gleich wieder da. Auf deinem Handrücken erkaltet die Berührung, ein flaues, bedrückendes Gefühl; warum hast du ihn nicht festgehalten? Du hättest ihn gleich umfassen sollen, als er dich an der Bushaltestelle aufgegabelt hat, einfach so die Arme um ihn herum, der Motor röhrt auf, okay, los! Die Mädchen schieben die Hände von hinten unter die Jacken ihrer Kerle, wühlen sich durch das Gewirr der Stoffe bis auf den nackten Bauch. Er war auf dem Weg nach Zeeve, angeblich zu einem Kumpel. Doch der Rucksack, den er vom Gepäckträger zog und am Lenker festzurrte, schien dir für einen Nachmittagsbesuch beim Freund zu prall gepackt.
Unter seinen Schuhen knacken Zweige, als er den Holzhaufen untersucht. Er blickt zurück, verharrt, macht noch ein paar Schritte, jetzt wieder zu dir hin. Schaut dich dabei nicht an, doch du weißt, dass sein Blick dich einschließt. Zwischen den Beinen spürst du das Mofa wegrutschen, der schwere Gepäcksack plumpst zu Boden. Das Durcheinander der Äste und Stämme, die unregelmäßigen Windstöße, das Hin und Her des Qualms machen das Bild unscharf und verwackelt, nirgends können deine Augen ruhen. Jetzt glaubst du den Rauch zu riechen, harzig wie Tannenzweige im Kaminfeuer. Er steht nun seitlich zu dir, schaut zum Brandfeld, und erst als er den Hosenstall öffnet, verstehst du, was er mit löschen gemeint hat.
Doch er pinkelt nicht. Steht nur da, ruckt am Gürtel, gräbt die Schuhspitze in den Boden und scharrt das Holz beiseite, als wollte er einen Platz für euch schaffen. Jetzt spürst auch du wieder den Blasendruck, wie schon vorhin, am Abzweig Pellhof, wo du dich nicht getraut hast, hinter das Wartehäuschen zu gehen, als er plötzlich herankurvte. Du spannst die Bauchdecke an, drüben rast ein Auto vorüber, für den Bruchteil einer Sekunde blitzt die Karosserie in der Sonne auf. Keiner würde es sehen, wenn er dir plötzlich beim Pinkeln die Beine wegreißt, im Schwitzkasten, hinter dem Haufen. Niemand schaut hier in den Wald. Die Kurve ist gefährlich, jeder kennt das Holzkreuz, das an der Straßenböschung steht, stets mit frischen Blumen geschmückt, obwohl der Sohn des Bürgermeisters von Rahse schon seit über fünf Jahren tot ist. Wenn er dich hier fertigmacht, bist du verloren. Liegst da mit irgendeinem Bruch, womöglich bewusstlos. Dabei hast du nur kurz zu ihm hinübergeschielt, wolltest sehen, wie er ihn hält, und warum der Pinkelstrahl wieder zweigeteilt ist, wie damals an der Jauchegrube. Glotz mir nicht auf den Schwanz, du schwule Sau!, zischt er herüber, dann schlägt er zu.
Noch lange liegt das Knattern des frisierten Motors in der Luft. Du kannst vor Schmerzen nicht aufstehen, robbst über den Boden, der Holzhaufen ist plötzlich steil und hoch. Als du es zur anderen Seite hin versuchst, siehst du die Flammenwoge, die aus dem Unterholz auf dich zuwalzt, sprühendes Nadelgezweig auf dem Kamm. Unten in der Glut knallen die Zapfen.
Dion, wovor hast du solchen Schiss? Hannes ist kein Schläger, ein Knochenbrecher und Sadist nur in deinen dunkelsten Träumen, und auch der Katzenmord an der Jauchegrube war ja nichts als eine Ausgeburt deiner Phantasie, ein bedauerlicher Unfall wie alles, wofür du deinem Cousin die Schuld gibst oder geben willst. Die Katzen haben auf dem Brett geturnt, das über den Grubenrand ragte und vom Gewicht ins Kippen geriet, das ist die schnöde Wahrheit. Auch der Hartgesottenste steigt nicht freiwillig in das Abwasserloch, das derart sprudelnd und schäumend vom hineingepumpten Sauerstoff, der die Gärung beschleunigen soll, den besten Schwimmer verschlingen würde. Hätte Hannes sein Leben für ein paar Tiere aufs Spiel setzen sollen, die keiner braucht? Dabei wagt er so einiges, um den ungeliebten Nachwuchs vor der Schippe des Knechts zu retten.
Erst letzte Woche hast du ihn im Moor gesehen, bei den Magerwiesen vor Kleenze, wo die Kühe des Milchbauern weiden. Obwohl kein Weg von der Ebene aus an die Zäune stößt, war er mit dem Mofa gekommen. Es hatte aufgebockt vor einem Farnfeld gestanden. Du warst der Reifenspur gefolgt, die sich vom Teich aus durch die Grasmatten zog. In Schlangenlinien, manchmal durch eine Senke mit staubweiß getrocknetem Schlamm, den höhergelegenen Bulten ausweichend, führte sie zielstrebig an die Viehzäune heran; Hannes scheint sich im weglosen Teil des Moores ebenso gut auszukennen wie du.
Er hockte im Gras und fuchtelte mit den Händen, als müsste er Insekten verscheuchen, die ihn attackierten. Erst jetzt hörtest du das klägliche Weinen, und wie du dich vorsichtig, im Zeitlupentempo, damit kein Holz knackt, aus dem Gagelbusch herausgedreht hast, sahst du die vier Kätzchen, zwei schwarze, die anderen schwarzweiß gefleckt, genau wie die Stoppelkatzen im Vorjahr an der Grube, aber viel kleiner, jedes einzelne kaum eine Handvoll.
Los weg!, rief Hannes und wedelte mit der Hand, nun lauft schon! Er setzte die kleinen Leiber ins Gras und stupste sie an, doch sie fielen um, wanden sich fiepsend zwischen den Binsen, robbten mal hierhin, mal dorthin und reckten die Köpfchen, auf der Suche nach den Zitzen der Mutter. Hannes stieß einen Laut aus, der nun ebenfalls maunzend wie von einer Katze klang, die ihre Jungen verrecken sieht. Scheißviecher!, fluchte er und schaufelte den zappelnden Welpenhaufen unter dem Stromdraht hindurch, zu den Kühen, die dort in einer Reihe standen. Sie kauten, glotzten und funkten, was sie sahen, an die höhere Macht.
Er zeigte zum Hof des Bauern Öhlke und zischte: Dahin! Dort gibt’s Fressen, entnervt, doch nicht ohne Zärtlichkeit in der Stimme, als tadelte er eine Schar unfolgsamer Kinder. Tatsächlich machten die Tiere unter dem Zaun kehrt und krochen zurück in den Schutz seines Schoßes. Da packte er das piepsende schwarzweiße Gewimmel in seine große Hand und steckte die Kätzchen eins nach dem anderen zurück in den Sack, der neben ihm im Gras lag. Er schwang sich den Beutel über die Schulter, knotete ihn, zurück an der Maschine, am Gürtel fest, grätschte sich auf den Sattel und trat die Zündung. Drüben senkten die Kühe zufrieden die feucht glänzenden Nüstern ins Gras.
Du bist aus deinem Versteck hervorgetaucht, gleichermaßen erleichtert wie bestürzt über die missglückte Verbannung, doch auch ein wenig stolz, Hannes in diesem schwachen Moment gesehen zu haben, für den er sich anscheinend so sehr schämte, dass er, statt das kurze Stück nach Kleenze auf der Landstraße zu fahren, den mühsamen und gefährlichen Umweg durchs Moor genommen hatte. Du wusstest nicht, was du in diesem Moment mehr bedauern solltest – das ungewisse Schicksal der Maikätzchen, Hannes, der nun die ganze Verantwortung dafür trug, oder das verwüstete Feld des Sonnentaus, der unter den Reifen wegspritzte, als Hannes mit aufheulendem Motor durchstartete, am Schenkel den schlackernden Katzensack. Und wegen eines solchen Weichlings, Dion, machst du dir jetzt fast in die Hose?
Ein Geräusch reißt dich aus deinen Gedanken. Hannes steht wieder näher, in der Faust einen Stock. Du zuckst zurück, er grinst mit schiefem Mund, lässt die zersplitterte Spitze in seine Handfläche schnalzen, prüft die Härte, riecht am Holz, bricht es dann in der Mitte entzwei, ein Knacken, das dir tief in die Knochen fährt. Das brennt hier wie Zunder, sagt er, wirft die Stücke weg, kommt noch einen Schritt auf dich zu. Der Pinkeldruck wird stechend, du ziehst die Bauchdecke ein, spürst, wie ein Tropfen abgeht. Halt, flüstert er und hebt die Hand, nicht bewegen jetzt! Die Föhren sind näher gerückt, fassen sich gegenseitig an den Zweigen, bereit, das Schauspiel zu verdecken. Du hältst die Luft an, spannst schon die Muskeln an gegen den Schlag. Drüben am Waldrand strahlt der Mittag, ein weißes Loch zwischen den Bäumen, gefüllt mit Sonne und Rauch.
Keine Angst, Dion, es wird nicht lange wehtun. Nur ein kurzer Schmerz, der dich aus deiner Taubheit reißt. Du sackst weg, richtest dich dann wieder auf, holst Luft. Hast viel zu lange nicht geschrien. Das Dorf ist weit weg, du hast es endgültig hinter dir gelassen.
Jemand hat am Heidedamm den Qualm gesehen. Hinter den rasch sich verdunkelnden Schwaden wirkt das Haus noch ferner und verlassener, dem Dorf abgewandt, ein unzugänglicher Ort weit draußen im Moor. Die Feuerwehr ist an einem anderen Ort im Einsatz; als der Löschtrupp endlich eintrifft, stehen die Dörfler bereits auf der Straße Spalier, Kinder laufen hinter den Fahrzeugen her, wehren sich gegen die zupackenden Mütter. Zwischen Scheune und Torfstich steht die graue, wabernde Wand, in der sich die Blicke verlieren. Der Wind treibt glühende Nester auf die Veranda, an der Wand des Schuppens loht das trockene Gestrüpp. Polizisten drängen die Schaulustigen zurück, versperren die Zufahrt. Die Männer in den Schutzanzügen rollen Schläuche aus, die wie leere Schlangenhäute im Gras liegen, sich dann blähen und hochzucken. Die Düsen zielen blind in die Rußwolke, an der Scheune splittert eine Scheibe.
Die Streifenwagen fahren Patrouille. Sie umkreisen die Ebene, kontrollieren jeden Feldweg, auf der Suche nach Rauch. Die Ferngläser sind scharf gestellt. Auf der feingerasterten Landkarte ist euer Platz schon markiert. Vor der Wache in Zeeve knacken die Funkgeräte. Noch ein paar Minuten, dann sind sie hier. Wo ihr jetzt steht, wird zwischen den Bäumen das rotweiße Band flattern. Der Blick zurück ist Sperrgebiet, das Betreten des Geländes bis auf weiteres untersagt. Vergessen droht.
Hannes wischt dir die Libelle so schnell von der Schulter, dass er dich dabei kaum streift. Gefangen, grinst er und hält dir die Faust unter die Nase. Als er langsam die Finger öffnet, liegt das Insekt reglos in seiner Handfläche. Du warst auf alles gefasst, hast das Schlimmste erwartet: seinen Schlag, der dich zu Boden reißt, einen unentrinnbaren Griff, der dich heranzieht, so nah, dass du im ersten Moment seinen Kaugummi-Atem riechst, doch schon im nächsten würde er dich wegstoßen und ins Gestrüpp schleudern, jetzt bist du dran! Seine Rache wäre brutal, grenzenlos seine Wut, dass alle ihm als dem Älteren die Schuld an Tanjas Unfall geben.
Obwohl nichts an dem spindeligen Tier verletzt scheint, glaubst du es tot. Es ist eine junge Blutrote Heidelibelle, vielleicht erst vor ein paar Tagen geschlüpft; zwar sind Kopfschild, Rücken und die Segmente des Hinterleibs wie bei den meisten Jungtieren gelb gefärbt, doch du erkennst die seltene Art an den schwarzen Beinen, die sie von der Gemeinen Heidelibelle unterscheidet. Keines der filigranen Gelenke ist abgeknickt. Die feingeäderten Häute der Flügelpaare stehen unversehrt vom Körper ab, doch bewegen sie sich nicht, obwohl du Wind auf der Wange spürst. Selbst in den Augen findest du kein Zeichen von Leben, sie wirken aber auch nicht wirklich tot; groß und pupillenlos starren sie ins Leere, aufgefächert zu Abertausenden Einzelblicken, gefangen in einer anderen, um ein Vielfaches verlangsamten Zeit und verborgen hinter einem leicht gläsernen Film, in dem sich die Tiefe des Föhrenwalds spiegelt.
Das Loch im Dickicht, wo sich die Schneise auf die Ebene öffnet, strahlt nicht mehr; Qualm zieht herein, vermischt sich mit dem Nadelgrün zu einem blinden Dämmer, schluckt jeden Laut. Noch immer pocht in deinem Körper das Druckgefühl, obwohl du plötzlich nicht mehr pinkeln musst. Der dumpfe Schmerz ist nach oben gewandert, staut sich in der Brust, drängt in die Kehle, ein Gefühl unmittelbarer Not wie kurz vor einem Schrei.
Sie lebt, flüstert er und hebt langsam die Hand, bis die Libelle dicht vor deinem Gesicht steht. Wie du dich leicht nach vorne beugst, siehst du in den Augen eine winzige Bewegung, doch es ist nur dein eigener Schatten, der den Anschein erweckt, als blickte das Insekt dich an. Im selben Moment hebt es ab, zackt über deinen Kopf hinweg und Richtung Straße, ein kleiner, unsteter Punkt, der sich in der Stille auflöst, und es ist das beklemmend Lautlose am Flug der Libelle, das dich aus der Starre reißt.
Du springst vom Mofa und stolperst den Pfad entlang. Der Brandgeruch wird betäubend, schlägt dich zurück. Du kletterst auf den Haufen, sinkst ein, haschst nach einem herabhängenden Zweig, ziehst dich hoch. Unter dir lodern kniehoch die Flammen. Etwas schnellt an deinem Kopf vorbei, ein Aschefetzen oder vom Hitzesog hochgewirbelte Halme, dann, als du aufblickst, siehst du sie: Libellen, erst zwei, drei, plötzlich mehr, ein ganzer Schwarm, auf der Flucht vor dem Feuer. Sie schießen aus dem Dickicht, schneiden über dich hinweg und verschwinden zwischen den Stämmen, ihre winzigen Leiber kaum sichtbar im Dämmerlicht und ohne jeden Laut.
Stets hast du geglaubt, den Flug der Libellen hören zu können. Weit draußen in der Ebene, wo schon das Knacken eines Gehölzes an windstillen Tagen einer Detonation gleicht, an den tief in die Torfmulden eingesickerten Tümpeln, deren Wasser, oft mit Staubschlieren oder von einem öligen Film bedeckt, eine Art Membran bildet, die jede kleinste Erschütterung zum Vibrieren bringt, war das einzige Geräusch, das zu dir heraufdrang, der Tanz der Libellen gewesen, vielleicht weniger ein Ton, eher diese im Spiegel des Wassers zur Bewegung gewordene Stimme aus Licht wie das bernsteinfarbene Flackern der Sonnenstrahlen in der Tiefe, das silbrige Blinken der Halme, der rastlose Zug der Wolken darüber, ihre durch die Ebene wandernden Schatten, das ferne Flimmern des Horizonts, ein lastendes Schweigen darin, dein Geheimnis.
Hannes jagt den Motor hoch und winkt dich herbei. Das Dröhnen schwillt an. Durch eine Lücke zwischen den Kronen siehst du am Himmel den Hubschrauber kreisen, springst vom Haufen ins weiche Moos. Lass uns hier abhauen, ruft Hannes herüber und stülpt sich den Helm auf den Kopf. Du schwingst dich auf den Gepäckträger, doch er startet nicht durch, dreht sich stattdessen um und blickt dich an. In der engen Schale wirkt sein Gesicht noch schmaler, die kleinen, aneinandergedrängten Augen wie pupillenlos. Ich meine, so richtig weg von hier, sagt er. Als du nach Sekunden, in denen du trotz des Getöses deinen Herzschlag zu hören glaubst, endlich nickst, fährt er so ruckartig an, dass du gar nicht anders kannst, als seine Schultern zu packen.
Der plötzliche Lichtwechsel am Ende des Tunnels schmerzt in den Augen. Die Sonne wärmt nicht, doch du spürst ihre Kraft. Auf der sandigen, von Reifenspuren zerfurchten Auffahrt zur Straße bremst Hannes ab, das Mofa bricht aus, gleichzeitig setzt ihr die Füße auf den Boden. Am Straßenrand steht ein Streifenwagen. Jemand kurbelt das Fenster herunter. Feuer, schreit Hannes und deutet hinter sich in den Wald. Der Polizist mustert euch durch die Gläser einer verspiegelten Sonnenbrille, taucht dann weg, auf dem Beifahrersitz erkennst du eine zweite Person, die etwas ins Funkgerät spricht. Der Wagen biegt auf den Feldweg. Wo dein Helm sei, ruft noch der Fahrer, doch im selben Moment jagt Hannes die Maschine die Böschung hinauf. Du bohrst die Fingernägel in die Jacke. Er lenkt auf die Straße, stoppt wieder, streckt den Kopf über die Schulter. Besser so, sagt er und schlingt sich deine Arme um den Bauch. In der Biegung siehst du, wie der Polizeiwagen im Wald verschwindet, dann, auf der Brücke über die Jumme, verliert sich dein Blick.
Irgendwo auf offener Straße haltet ihr an und pinkelt ins Feld, getrennt von der Fahrbahn. Keiner schaut dabei hoch. Dennoch schirmst du dich ab. Der Strahl spritzt zweigeteilt hinter deiner Hand hervor, versickert zwischen den blassgrün aufschießenden Halmen des Weizens. Am Bahnhof von Zeeve, wo Hannes dich absetzen wollte, zieht er vorüber. Die Häuserzeilen enden abrupt, weite Felder erstrecken sich entlang der Trasse, die meisten besät, manche noch brach, durchsetzt von den dunklen Flecken der Forste im Wechsel mit kleinen Siedlungen aus schwarzem oder rußig rotem Klinker und lichten Apfelplantagen, in denen kaum ein Baum tot oder zersplittert ist.
An der großen Ampelkreuzung biegt ihr auf die Bundesstraße ab, die nach Hamburg führt, dicht von Lastwagen befahren und zeitweise parallel zur Autobahn, auf einen nah gerückten, von Strommasten, Fabrikschloten, Brückenpfeilern und zuletzt von den hoch aufragenden Gerippen der Hafenkräne durchbrochenen Horizont zu, immer weg vom Moor und hin zum Meer.