eins.
HERBST

Niemand spricht hier. Wo du hinlauschst, ist Wasser, stehen Erlen, in den Binsen zerrt Wind. Auch der Nebel hat keinen Ton, nur seine Gestalten, die aus dem Nichts kommen, dich anstarren und gehen. Den Worten am ähnlichsten ist noch der Regen. Er rauscht in fließenden Sätzen herab, gerät über den Bäumen ins Stocken, stottert auf Blätter die Konsonanten, gluckst dunkle Vokale in Mulden, und wenn das eine ins andere tropft, eine Bö fauchend durchs Laub fährt, flinke Wellen aufwirft, den Dunst zerreißt und das Schilf verwirrt, hörst du in alldem doch meine Stimme.

Du hockst auf dem Baumstumpf, Schirm vorm Gesicht, Schultern gebuckelt, dein Finger steckt im Mooskissen an der Wurzel, oder ist es die Pflanze, die am Finger klebt, eine geheime Berührung, irgendwie zärtlich. Der Film auf den Blättern fühlt sich schmierig an, wie der Tropfen, den du dir am Morgen aus der Schlafanzughose gewischt hast. Du gibst dem Gefühl die Farbe Weiß. Weiß sind die Morgen mit Marga am Teich. Ihr Bademantel, der Dampf in den Gräben, das unentschlossene Licht zwischen den Stämmen und ihr Spiegelbild auf dem Wasser, das erst braun und durchsichtig wird, wenn die Sonne steigt. Als du noch Kind warst, musstest du an Cola denken, ein tiefes Loch voll dort, wo der alte Ast hineingreift und etwas beharrlich nach unten drückt, du hast dir vorgestellt, wie es ist, in der Brause zu ertrinken. Doch der Baum hat sich noch nie bewegt, nichts tauchte je auf, jetzt bist du dreizehn, und selbst wenn die Mittagssonne senkrecht steht, ist das Wasser dort schwarz, grimmig und verschwiegen, wie heute in dem Traum, aus dem Marga dich weckte.

Du warst nackt und in lebensgefährlicher Tiefe, mehr hast du nicht mehr gewusst, als sie die Bettdecke wegzog und dein Blick wie jeden Morgen auf die große Wanduhr fiel, auf der ursprünglich ein dottergelber Mond freundlich grinste, den sie als Geburtstagsgeschenk zum blutroten Kopf einer Heidelibelle übermalt hatte, ihr erster Angriff auf deine Kindheit, so dass nun nicht mehr das gütige Nachtgesicht, sondern ein Raubinsekt die Zeit deiner Träume bemisst, aus den Facettenaugen des Zifferblatts, das kurz nach sieben anzeigte, und das Zimmer noch dunkel, jetzt war der Sommer endgültig vorbei. Sie drückte dir den Kuss mit dem Schlafgeruch auf die Stirn und sagte: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?

Du blickst auf deine Armbanduhr. Schon kurz vor halb acht. In vierzig Minuten beginnt die Deutschstunde, in der du dein Referat halten musst, Thema: die Libelle. Du hättest es gerne noch mit der Mutter geübt. Sie steht im Nachthemd am Ufer, im feuchten Seidenstoff zeichnen sich die Konturen ihres Körpers ab, Brust, Hüftknochen, die Höcker des Rückgrats wie unter einer zweiten Haut. Sie pellt sich heraus, ruft: Schau zu den Erlen!, und wirft dir das Bündel zu. Du streckst die Hand aus, eine automatische Bewegung, bei Wind und Wetter an unzähligen Morgen einstudiert, du beherrschst sie buchstäblich im Schlaf, denn die Müdigkeit kehrt zurück und lähmt deine Augen, die eine Sekunde zu tief in das Nest zwischen ihren Schenkeln dringen, das sie dir in der Wurfbewegung zukehrt und gleichzeitig vor dir verbirgt, einen Arm halb ausgestreckt, den anderen geknickt über dem Schoß, wie zwei zaghaft auffächernde Flügel. Wenn eine Libelle schlüpft, heißt es in deinem Vortrag, ist ihr der neue Körper noch fremd. Der Moment kommt dir verlangsamt vor, eine Zeitlupe wie am Morgen, als du beim Erwachen die Holzuhr sahst und sich auf dem Insekt der Sekundenzeiger nicht mehr zu regen schien, dann aber doch zur nächsten Ziffer sprang.

Das Nachthemd klatscht dir kalt ins Gesicht, du schreckst hoch. Jeden Tag hat sie sich vor dir ausgezogen, doch erst jetzt verstehst du, warum du immer zu den Erlen schauen solltest. Sie kreist die Arme, dehnt den Rücken, steht schon mit den Füßen im Wasser. Du frierst vom Hals abwärts, nur auf den Wangen spürst du plötzlich die Hitze. Wie sie dir ihre Blöße vorführt. Dein Blick flieht ans gegenüberliegende Ufer, doch die Erlen sind überall, die Erlen umstehen den ganzen Teich, erst bei dem abgespaltenen Ast bleibst du hängen. In dem Traum, erinnerst du dich, warst du an dieser Stelle unter Wasser, eingeschlossen in das brausende Dunkel, und als du um Hilfe rufen wolltest, quoll dir der Torf in den Mund. Dein Körper schwoll von innen gegen die Haut und zerbarst. Dann muss der Ast dich hochgerissen haben, du schlugst die Augen auf.

Zu spät, sie hielt dich schon in der Hand. Du hast sie weggestoßen und dich umgedreht, in die Ritze zwischen Wand und Matratze. Die Erektion fühlte sich anders an, härter, fordernd, war nicht mehr so zufällig wie gestern, als du dich noch schlafend auf den steilen Gipfel gewälzt hast und von dem plötzlichen Druckgefühl erwachtest. Auch die Libelle auf der Uhr kam dir röter vor, lauernd, die Mundwerkzeuge schienen nur darauf zu warten, beim nächsten Ruck des Sekundenzeigers vorzuschnellen. Marga beugte sich über dich, du hast ihr Gewicht an deinem Hals gespürt und das Badeöl gerochen, Lavendel, ihren sogenannten Wohlfühlduft, in dem sie sich bis Mitternacht räkelt. Hast kaum atmen können, im Kragen staute sich die Luft. Die Feuchtigkeit löste auch die Gerüche aus tieferen Hautschichten, bitteren Schlafschweiß, der von ihren Tabletten rührt, Spuren von Parfum und kaltem Qualm, darunter etwas Saures, Abgestandenes, von ihrem Besäufnis am Vorabend oder noch vom Teich. Da hast du die Augen wieder geschlossen, um dir mehr Platz zu schaffen. Dich zurück in den Schlaf gewünscht, als sie deine Hand unter das Nachthemd auf den Bauchnabel schob. Weiter unten das Haar, weicher als Wollgras, doch borstiger als am Baumstumpf das Moos. Heute Nacht, sagte sie, habe sie geträumt, sie sei wieder mit dir schwanger. Das knotige Nabelloch mit der Grasritze darunter hast du dir als Eingang zu einer mit Moorwasser gefüllten Schwimmblase vorgestellt, die ein stummes, glitschiges Wesen ausquetscht, dich, Dion, den schmiegsamen Jungen mit dem komischen Namen, für den du nichts als Spott und Gelächter geerntet hast. Alle Kinder hat der Storch gebracht, nur Dion nicht, den hat das Moor gemacht, das war der Spruch gewesen, der dir entgegenkrähte, wenn du morgens vom Teich in den Kindergarten gestolpert bist, regennass und mit schmutzigen Schuhen an den anderen Müttern vorbei, die ihre Söhne und Töchter trocken und warm verpackt hatten. Ob sie dir nicht reiche, hatte Marga erwidert, als du sie wieder einmal nach deinem Vater fragtest. Tatsächlich ähnelst du keinem Mann im Dorf, ja kaum deiner Mutter. Sie ist strohblond, du hast moorbraunes Haar mit Rotstich und Sommersprossen um die Nase, die im August, deinem Geburtsmonat, zeitgleich mit der Besenheide blühen, auf einer schlaffen, ein wenig schwammigen, sommers wie winters farblosen Haut, die keine Hitze verträgt, sich in der Sonne buchstäblich aufzulösen droht wie morgens der Nebel. In Margas Augen spiegelt sich grau bis kobaltblau der Himmel, deine aber haben schon immer lieber in die dunklen Tümpel gestarrt, den Libellenlarven entgegen, die zum Schlüpfen ans Licht steigen.

Selbst deine Sprache hast du angeblich von mir. Das hat Gorbach dir gesteckt, der Klassenlehrer, als dir beim Vorlesen aus dem Deutschbuch nur ein Blubbern über die Lippen kam. Du bist stumm wie ein Tümpel, hat er gestöhnt und den Nächsten aufgerufen. Die Klasse kicherte, Benno, dein Banknachbar, las wie geschmiert, unter deiner Zunge staute sich noch immer der Speichel, ein Tröpfeln und Drippeln wie in den verborgenen Rinnsalen der Schlenken, wo das Wasser steigt und fällt und doch nie fließt. Beim Vorlesen, Abfragen und Referieren quellen dir die Worte in den Mund, sauber gereiht zu langen, strömenden Sätzen, die dann als Spuckebläschen in die Welt platzen, mitten hinein in dein Gestammel und in die Sehnsucht nach einer anderen und ungefährlichen Sprache ohne Klingen und Kanten, weich und makellos wie morgens die Stille am Teich. Du willst nur noch in den Geräuschen des Moores sprechen, mit meinen Stimmen dein Schweigen durchbrechen, flüsternd bei Regen, brüllend im Sturm, und wenn du dich doch an einem Wort feststotterst, hören die anderen von dir nur ein Pladdern in den Traufen oder das leise Knacken der Tothölzer draußen im Bruch.

Irgendwann bist du raus aus der Enge ihrer Umarmung und mit einem Sprung vor die offene Schranktür, die deine Erregung halbwegs verbarg. Sie stand auf, ging zum Fenster und war plötzlich sehr weiß vor dem aufscheinenden Tag. Deinen Pimmel habe ich schon gekannt, als er noch eine Larve war, sagte sie in die Morgendämmerung hinaus, sprach es in den Nebel, der sicher bald als Regen niedergehen würde, mit einer Stimme, die scharf und beleidigt klang, wie immer, wenn du sie verärgert hast. Einen quälend langen Moment der Drang, sie in den Arm nehmen und trösten zu müssen, für etwas, das du nicht benennen konntest. Noch immer sauer wegen gestern?, fragte sie und kam herüber, und da erst hast du die kaputte Lippe gesehen.

Der Zustand ihres Mundes ist schon immer ein Gradmesser für ihre Stimmungen gewesen. Du kannst ihr die Laune buchstäblich von den Lippen ablesen, glatte bedeuten guter, aufgeplatzte schlechter Tag, dann hat sie nicht malen können und auf der Unterlippe gekaut, eine schlaflose Nacht gehabt oder etwas getan, das sie im Nachhinein bereut, selten sind Mund und Gemüt deiner Mutter ohne Risse und Wunden.

Ute sei krank geworden, da habe sie einspringen müssen. Sie legte dir die Hand auf die Schulter, du hast sie weggewischt und im selben Moment wieder nehmen und fest an dich drücken wollen. In der Galerie war viel los, fügte sie hinzu, keine Zeit zum Anrufen, eine Behauptung, die du ihr noch nie geglaubt hast. Sie sagte es vorwurfsvoll, als hätte Ute sie abgehalten, die Galeristin, die einmal aus Hamburg gekommen war, um mit ihr Bilder auszuwählen, und dich sogar nach deinen Favoriten gefragt hatte. Du hast auf die Moorbilder gedeutet, die dir gefallen, Birkenstümpfe wie Skelette, ein Gewitter über dem Teich, wo Wolken sich zu Fratzen ballen. Ute sagte, hübsch, und entschied sich für die Akte, meist Selbstporträts, die deine Mutter seitdem jeden Mittwoch ausstellt, wenn im Viertel Kunstmarkt ist und die Galerie angeblich mit Touristen überfüllt.

Sobald du aus dem Haus bist, fährt sie mit einem Kofferraum voll Nackter weg und kommt spät in der Nacht mit denselben wieder zurück. Du hast dir angewöhnt, die Bilder zu zählen, wenn du ihr beim Ein- und Ausladen hilfst, und bisher hat noch nie eines gefehlt. Wenn sie gegen Mitternacht heimkommt, ist ihre Laune mies. Sie raucht auf der Veranda noch zwei Zigaretten und trinkt in der Küche hastig den Wein. Du hörst sie kommen und steckst dein Tagebuch schnell in die Bettritze. Schreibst du wieder schlecht über mich, grinst sie, zieht dir den Stift aus der Hand und legt sich in kalten Kleidern zu dir. Mittwochs riecht sie anders als sonst, nach Stadt. Sie liegt ein paar Minuten reglos da und atmet schwer. Was hast du gemacht?, fragt sie, obwohl sie es weiß. Du warst wie immer vormittags in der Schule, später bei den Hausaufgaben und danach draußen an den entlegenen Tümpeln, wo du den Adlerfarn und die Stängel des Schnabelrieds nach den Schlupfhäuten der Libellenlarven für deine Sammlung abgesucht hast. Du stützt den Kopf in die Hände und schaust sie an. Manchmal beben die Nasenflügel, eine Haarsträhne, die über ihrem Mund liegt, zittert im Atem, ein Lid zuckt. Sie tut, als schliefe sie, doch du weißt, dass sie noch etwas will. Trotz Puder scheint sie dir blass und abgekämpft, das Kajal um ihre Augen ist zerlaufen, den Lippenstift hat sie schon abgewischt und die Heilsalbe aufgetragen; mit all den Schichten im Gesicht ist dir die Mittwochsmutter stets ein wenig fremd. Mittwochs hat sie oft keine Zeit oder Lust, zum Teich zu gehen, zieht schwarze Strümpfe an, tupft Parfum auf den Hals und toupiert sich das Haar, stundenlang ist das Bad besetzt, du pinkelst auf dem Schulweg gegen den Zaun. Morgens summt sie die Radioschlager mit und flucht am Abend über den Saustall im Haus, den sie selbst angerichtet hat. Erst ist ihr Mund blutrot, dann, nach ihrer Rückkehr, weiß von der Creme. Den Mittwoch hast du nie gemocht; er macht dich einsam und traurig, und Marga bekommt er nicht gut. Du suchst auf ihrem Mund einen Hinweis, warum der Mittwoch ein böser Tag ist, doch wegen der Schmiere darauf kannst du nicht sehen, wie es ihr tatsächlich geht. Sie dreht dir das Gesicht hin, zieht eine Schnute und verlangt den verdienten Kuss. Du beugst dich über sie, nimmst die Haarsträhne zwischen die Lippen und legst sie ihr auf die Schläfe. Sie sagt: Alles wieder gut.

Doch gestern, Dion, war gar nicht Mittwoch und sie trotzdem fort bis spät in die Nacht. Nach der Schule lag ein Zettel auf dem Tisch: Muss in die Galerie, und in ihrer steilen Kinderhandschrift darunter: Essen nicht vergessen. Dein Magen zog sich zusammen, ein Schmerz begann darin zu wühlen, Bisse wie von einem mit Zähnen bespickten Maul. Du hast den Deckel vom Pott gehoben, darin der duftende Allestopf, der so heißt, weil man praktisch alles, was die Vorratsschränke hergeben, in dem Sud verkochen kann. Wenigstens hatte sie dir das Leibgericht zubereitet, das zu essen du aber dann doch verweigert hast, aus Protest gegen die Lüge. In der Scheune nämlich hat kein Bild gefehlt, all die Kofferraumnackten standen herum, darauf posierte die Mutter in Grätsche und gefährlich verkrümmt, zwischen den Beinen ein schwarzer Zacken, kein Wollgrasnest, ein tiefer Spalt, noch nie war dienstags Kunstmarkt gewesen. Der Schmerz kaute und fraß, du hast an den Farbtuben und Terpentinbechern geschnüffelt, der Lösungsmittelgeruch riss die Bauchwunde noch größer, ein rotes Gefühl, weil du plötzlich an den Sonnentau denken musstest, wenn du die kleinen Mücken von deinem Arm auf die wie Blutstropfen leuchtenden Tentakel der Moorpflanze schnickst, die sofort zupacken und beginnen, ihr Opfer bei lebendigem Leib zu verdauen.

In Gedanken hast du sie übel beschimpft und einen Verdacht in die Kladde gekritzelt. Den Rest des Nachmittags dann im Zimmer verhockt, immer mit Blick auf den Heidedamm, wo nie ein Wagen fährt außer dem Trecker und ihrem alten Ford. Hast im Kopf wieder und wieder das Referat abgespult, um die Zeit rumzukriegen. Doch die Hoffnung, mit ihr wenigstens einmal einen Durchlauf zu proben, war zerstört, aufgefressen von diesem Gefühl, das noch qualvoller war als das Gespött der Klasse und deine Stotterangst. Es schien sogar die Zeiger auf der Libellenuhr zu bremsen, die bei jedem Blick zur Wand langsamer wurden, krochen, voranzuckten, wieder krochen, bis kurz nach vier. Du hast dich aufs Bett geschmissen, reglos dagelegen und zugesehen, wie die Libelle mit ihren Zangen die Zeit aus deinem Körper riss. Dann war es plötzlich fünf, mittwochs um fünf ruft sie aus der Galerie an und will wissen, ob du gegessen, deine Hausaufgaben gemacht und dein Zimmer aufgeräumt hast. Manchmal, wenn gerade niemand zuhört, fragt sie leise, ob du sie vermisst. Da bist du raus aus dem Bett und runter zum Telefon, doch um Viertel nach war der Apparat noch immer stumm und das Loch in deinem Bauch so groß, dass das Haus, der Heidedamm, das Dorf und das ganze Moor mit seinem ewig unbehausten Himmel darin zu verschwinden drohten. Irgendwann hast du den Hörer abgenommen und in dem leeren Ton meine Stimme gehört.

Sie kam spät nach Hause, später als sonst, fett und vollgefressen saß die Libelle auf Viertel nach eins. Du hast dem Knirschen der Reifen auf dem Schotter gelauscht, bis der Motor des Fords verstummte, dann das Licht gelöscht und dich schlafend gestellt. Erst nach mindestens drei Zigarettenlängen schlug die Verandatür. In der Küche knallte ein Korken, dann blieb es lange still, der Schlaf lockte und zerrte, du hast dich stur dagegengestemmt. Traumfetzen verklebten dir die Augen, beim Blinzeln sahst du sie im Türrahmen stehen. Dann spürtest du sie. Ein Beben ging durch die Matratze, du hast dich in die Ritze gedrückt. Sie war jetzt so nah, dass sie dir den Atem in die Nase blies, er stank nach Zigaretten und Wein. Plötzlich begann ihr Körper zu zittern, sie legte das schwere Bein auf dich und presste ihr Gesicht an deinen Hals, wo es nach einer Weile warm und feucht wurde. Obwohl es wie verrückt juckte, hast du dich nicht gerührt. Sie zerrte deinen Arm unter der Bettdecke hervor und zwang ihn um ihren Leib, und als würde die Geste eine tiefe Lähmung in dir lösen, hast du sie endlich herangezogen. Das Jucken ließ nach, nichts bewegte sich mehr. Nur die Augen der Libelle wanderten von euren Füßen über die Körper zu den Köpfen und durch die rote Nacht wieder zu den Füßen zurück, Minuten, in denen du noch einmal das Kind warst, das tastend die Haarsträhne auf ihrer Wange sucht und sich wünscht, nie mehr anders zu schlafen, kein anderer zu sein, so und nicht anders mit ihr zu bleiben. Da drehte sie den Kopf, vielleicht selbst erschrocken über die plötzliche Enge; statt um die Strähne schloss dein Mund sich um die Lippenkruste. Sie schmeckte nach Teich, ein wenig bitter und rostig. Ein einziges Mal hattest du einen Tropfen probiert, ihn, verführt von der Farbe, aus der Handfläche geleckt und die eisensaure Moorbrühe angeekelt wieder ausgespuckt. Die Enttäuschung war ähnlich gewesen, farblos und taub, kein Gefühl eigentlich, eher etwas, das plötzlich fehlte.

Da hast du sie weggestoßen und zum Lichtschalter gelangt. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, stützte sich auf und sagte: Alles wieder gut, doch du wusstest, dass der Satz, genau wie der Zettel am Morgen, gelogen war. Auch ihr Kleid erschien dir wie ein Verrat. Es gehörte nicht zu ihrer Mittwochsgarderobe und war rot. Der Gutenachtkuss war verpatzt, das Kind von der Mutter geprellt, der Teich hat noch nie nach Cola geschmeckt, sondern schon immer ein wenig wie altes Blut; es wird Zeit, Dion, dass ich dir über all das endlich die Wahrheit sage. Sie sah dein misstrauisches Gesicht, löschte das Licht und ging ins Bad, wo du noch lange dem Plätschern aus der Wanne gelauscht hast, bis ich sie ins Wasser tauchte und dich in den Schlaf.

Du schreckst aus deinen Gedanken hoch. Sie steht schon bis zu den Hüften im Teich, planscht und schlingt die Arme um die Brust, die Einleitung zu ihrer Regenpantomime, wie du im Tagebuch das allmorgendliche Badetheater bei diesem Sauwetter nennst; was jetzt kommt, kennst du genauso auswendig wie deinen Vortrag, der, stellst du mit einem weiteren Blick auf die Uhr fest, in weniger als einer halben Stunde aus deinem Hirn auf die Zunge und hinaus in die Welt muss.

Im Kopf durchkämmst du das Referat noch einmal Satz für Satz nach Stotterfallen, streichst Konsonantenfolgen aus oder ersetzt sie durch vom Sinn her ähnliche Worte, an denen weniger Widerhaken drohen. Lässt dabei die Mutter nicht aus den Augen, lachst sogar zu ihr hin, bist ganz liebes Kind. Sie steckt sich das Haar mit der Spange hoch, was sinnlos ist, denn es klebt ihr bereits nass im Nacken. Gleich wird sie eintauchen und dabei die Mimose spielen, obwohl das Wasser vom Sommer noch wärmer ist als die Luft. Dann schwimmt sie mit Giraffenhals, wie um die Frisur zu schonen, eine Runde und zum Ufer zurück, wo du sie mit dem Schirm abholen und ihr den Bademantel reichen musst. Sie findet das lustig, dir kommt es kindisch vor, doch sie weiß, dass du ihr keine Bitte abschlagen kannst, wie heute Morgen, als sie dich doch noch rumgekriegt hat.

Hätte sie dich wenigstens einmal nach dem Referat gefragt. Das bevorstehende Morgenritual erschien dir jetzt lästig, lächerlich die Marotte, zu einer Zeit schwimmen zu gehen, wo andere frühstücken, noch schlafen oder schon arbeiten. Früher hast du geglaubt, dass der Teich deine Mutter verjüngt. Solange sie morgens zum Wasser ging, wurde es ein guter Tag, Gefahr drohte, wenn sie den Gang verschlief. Nach dem Baden war ihr Gesicht oft jugendlich und voller Lachen, an Schlaftagen zerknittert und kalt wie aus Stein. Du wolltest die junge Marga, die selbst beim Putzen kurze Röcke trägt; die steinerne macht dir auch heute noch Angst, sie hockt bis zum Abend im Stuhl, das Nachthemd klebt ihr am Leib wie eine Haut aus Schimmel, spinnwebenartig das ungekämmte Haar in der Stirn und die Augen dahinter wie von der Jesusfigur in der Kirche, die der Bildhauer auszupinseln vergessen hat. Die Steinmutter kocht keinen Allestopf, schmiert kein Pausenbrot, qualmt aus der Mundspalte und schluckt kieselgroße Tabletten. Du hievst die zum Grabmal gewordene Marga ins Bett, damit sie sich wieder lebendig schläft. Setzt ihre Füße zentimeterweise auf die Stufen und flehst, sie möge sich am Geländer festhalten, jetzt bloß nicht umkippen, denkst du, und zerschellen. Selbst das Wimmern aus ihrem Innern wird bei jedem Schritt schwerer, ist zuletzt eher ein Knarren. Du schiebst und schwitzt, rollst die Mutter die Treppe hinauf wie Sisyphos den Fels auf den Berg. An Steintagen kann sie nicht zum Teich, sie würde auf der Stelle versinken, es bräuchte Seile, Winden und den Trecker, um sie wieder herauszuziehen, doch dann wäre es schon zu spät, also wickelst du den kalten Leib in die Decke.

Sie deutete zum Fenster und zupfte dich am Ärmel, wie immer, wenn du etwas für sie tun sollst, Rasenmähen, ans Amt schreiben oder ihr im Bett den Rücken massieren, abends, wenn sie aus der Werkstatt kommt und vom Starren und Stricheln ganz krumm ist. Kann ich nicht dableiben?, hast du erwidern wollen und schon am K von Kann gewürgt. Der Buchstabe K war schon immer dein größter Feind. Er ist so spitz, wie er aussieht, ein Vierzack mit scharfer Klinge, und in seinem unmittelbaren Gefolge steht das D, das so dick und rund daherkommt und dir doch im Hals feststeckt.

K und D am Anfang und Ende von Kann ich nicht dableiben lieferten sich in deinem Mund eine heillose Schlacht, metzelten alle noch so kampfbereiten Vokale und auch das furchtsame und wehrlose ich nieder, das sich zwischen ihre Front gewagt hatte. Du hast es hinuntergeschluckt und bist noch vor dem Ende des Satzes verstummt. Wenn K und D gemeinsam aufmarschieren, kannst du nur die Waffen strecken, zum Beispiel beim Aussprechen deines Namens: Dion Katthusen, ein Massaker, wenn Marga nicht zu Hause ist und du ans Telefon musst. Vorstellungsrunden wie zu Schuljahresbeginn oder in der Konfirmandengruppe überlebst du nur unter der Deckung des Buchstabens H in der Mitte deines Nachnamens, bei dem du Luft holen kannst und Zeit gewinnst, weil er fast unsichtbar beziehungsweise tonlos ist, weich und leicht wie Wind in stacheligen Binsen.

Du denkst dir beim Reden einen Hauch um alle Worte, umhüllst das Geröll deiner nur mühsam in Reih und Glied, Silbe und Satz gebrachten Gedanken, sagst: hDihon hKatt-husen und hKann hich hnicht hdahbleiben. Deine Sprache zerfächelt zu Vagheit und Dunst, was du willst, löst sich auf, wer du bist, weißt du kaum selbst, ziehst mit deinem Geheimnis durch die Welt wie eine ziellos wandernde Nebelbank über das tückische Wasserland, kein Wunder, Dion, dass sich alle fragen, was du mit mir zu schaffen hast.

Nur die Mutter versteht ihr stotterndes Kind. Du brauchtest den Satz gar nicht zu Ende zu bringen. Sie tue das alles doch nur für dich, sagte sie und zeigte mit der Hand halb zu dir, halb zum Fenster hinaus, eine Geste, die nichts erfasste und alles einschloss, dich, das Haus, das Dorf, den tiefen Himmel, die Scheune mit all den unbrauchbaren Bildern darin, ihre Arbeit in Hamburg, den gestrigen Tag, den du ihr immer noch nicht verzeihen wolltest. Du hast betreten an ihr vorbei und hinaus zu mir geblickt, am Fenster flüsterte der Regen. Nie hast du diesen Satz wirklich verstanden, aber stets gewusst, was sie nach einer kurzen Pause noch hinzufügen würde. Hast du mich denn nicht mehr lieb?, fragte sie nach zwei drohend verlangsamten Sekunden, die Antwort kannte sie schon. Das hdoch steckte wieder im Hals fest, kam zu spät und dann mit so viel H, dass du selbst es kaum hörtest. Da hatte sie längst die Badetasche in der Hand, grinste zufrieden und boxte dich zur Tür. Unten nahm sie den Schirm aus dem Kübel und spannte ihn auf. Dann trieb sie dich raus in den Regen.

Zwanzig vor acht. Noch ist sie nicht am gegenüberliegenden Ufer, hat zu deinem Ärger sogar den Umweg über die Mündung des Grabens genommen, aus dem das Sickerwasser strömt. Sie zieht eine Schneise in den Laubteppich, Blätter und abgerissene Erlenkätzchen versinken in den Strudeln unter den Händen. Auf der Uhr hastet der Sekundenzeiger von Strich zu Strich, du willst ihn ausbremsen und gleichzeitig die Mutter antreiben, noch neunzehn Minuten, dann musst du sprechen.

Sie denkt tatsächlich, das Referat wäre ein Aufsatz. Dein Stottern scheint sie nicht zu hören, oder sie hört es, ohne dass es sie stört, sie hört und sieht Tag für Tag deine Qualen und Kämpfe und ist auch noch froh, einen Sohn zu haben, der nicht ununterbrochen plappert und kräht, unter hundert Kindern, hat sie einmal gesagt und dir den Finger auf den krampfenden Mund gelegt, würde sie dich sofort heraushören. Doch sie hat gelogen, Dion. Wahr ist, dass du unter hundert Kindern verloren bist. Schon vor den zwanzig aus deiner Klasse wird es dir buchstäblich die Sprache verschlagen, wenn du gleich das Thema deines Vortrags nennen sollst, das Gorbach im Glauben, dir damit zu helfen, an die Tafel schreibt: Der Lebenszyklus der Libellen. In den Bankreihen stöhnt jemand genervt, ganz hinten meldet sich David Voss und ruft: Schreibt man Zyklus nicht in der Mitte mit H?

Allein mit der Überschrift ist die ganze Sache schon gelaufen. Du hättest statt Der Lebenszyklus einfach nur Das Leben sagen sollen, das Z ist der zornige kleine Bruder des K und ihm mit vier Spitzen wie aus dem Gesicht geschnitten. Besser noch wäre Das Verhalten gewesen, so hättest du dich wenigstens einmal hinter ein H ducken können, aber das fällt dir zu spät ein. Jetzt bleibt dir auch noch die Spucke weg, deine Hände beginnen zu zittern, auf dem Blatt verrutscht der Text, sieben Seiten gewissenhaft ausformulierte Sätze, obwohl Gorbach nur Stichworte erlaubt hat.

Tagelang hast du den Duden im Abschnitt H gewälzt und in jeden Halbsatz ein paar zusätzliche Worte eingehakt, damit du einigermaßen heil über die Klippen kommst. Du hast die Hauptwörter im Satz hin und her und Hilfsverben hinein- und hinausgeschoben, der Text war vom H schon ganz umnebelt, und abends im Bett, wenn du in Gedanken wieder und wieder die Sätze durchdachtest, hat dich ihr heller Klang, vorm offenen Fenster eine bereits herbstlich kühle Nacht und die Hoffnung, dir vor Mittwoch doch noch eine Grippe zu holen, langsam in den Schlaf gehaucht.

Seit Sonntag ist alles fertig, du hast das Referat mehrmals abgeschrieben und Marga beim Mittagessen die Seiten neben den Teller gelegt. Dich nach ihrem Lob gesehnt, doch sie maulte nur, wann sie das alles lesen solle, räumte ab und ging malen. Den Rest des Tages hast du mit den gefalteten Bögen unterm Hintern in der Werkstatt verhockt, wo sie rastlos strichelte, angeblich fehlte ihr für die Bewerbung an der Hamburger Akademie noch ein Porträt. Sie schaute runter, wieder hoch und dabei ständig durch dich hindurch, rief: Brust raus! Gesicht weiter nach rechts! Nein, nicht bewegen jetzt!, oder: Guck doch nicht so gelangweilt!, ließ plötzlich den Kohlestift sinken, kaute auf den Lippen und blickte verdrossen zum Fenster. Der Nebel war bis dicht ans Haus gekrochen und glotzte aus blinden Augen zurück.

Auf diesen Moment hattest du gewartet. Wenn sie aus dem Fenster zu starren beginnt, ist ihre Idee weg, hat sich vor dem leeren Himmel in Luft aufgelöst. Du hast die oberste Seite hervorgezogen und schon tief eingeatmet für den ersten Satz mit sage und schreibe sechs Hs. Noch vor dem ersten Wort kratzte ihr Stift wieder auf dem Nessel. Sie sagte: Nicht lesen jetzt, kam herüber, nahm dir die Seiten ab, zog dir Pullover und Hemd über den Kopf, verschränkte deine Arme im Nacken und drückte dir wie zur Ermahnung, dich von nun an nicht mehr zu rühren, ihren Mund auf. Endlose Minuten hast du halbnackt im Gerümpel gehangen, mit einer Hinterbacke auf deinem Vortrag, eine unbequeme Unterlage, die sich dir ins Fleisch bohrte, trotz all der Hs. Der Kohlestift schürfte, der Nebel leckte am Fenster, wollte sich ihre Idee holen und dir beim Sprechen helfen, doch sie schaute nicht mehr zurück, weder hinaus noch zu dir, war voll in Fahrt. Draußen erlosch ohne Übergang das letzte Licht, sie knipste die Lampe an, in der Scheibe spiegelte sich jetzt dein Körper, der dir in so groben Umrissen kräftiger und älter erschien, beinahe erwachsen. Dann doch ein Blick zum Fenster, ein langer, blitzender, kein Starren ins Leere, eher wie eine Beschwörung. Jetzt sah sie nur noch auf ihre Zeichnung oder hinüber zu deinem Spiegelbild vor der Nacht, tat, als wärst du gar nicht mehr da. Das Geräusch des Stifts wurde leiser, setzte schließlich ganz aus, oder war der Nebel nun doch in die Scheune gedrungen, fraß alle spitzen Laute und hüllte dich ein? Die Kiste in deinem Rücken hörte auf, ins Kreuz zu stechen, und selbst das Referat stellte in deinem Kopf sein Gestammel ein. Beim letzten Blinzeln sahst du die Mutter glücklich und sehr jung hinterm Arbeitstisch.

Als sie dich weckte, sahst du ein Bild, auf dem ein junger Mann nackt und mit überstrecktem Kopf über einen Gegenstand gebreitet lag, den du zuerst für die Kiste gehalten, bei genauerem Hinsehen aber als den Baumstumpf am Teich erkannt hast. Ein Arm hing locker zu Boden, die andere Hand ruhte auf dem Schenkel und verdeckte halb das Geschlecht, das steil hinter dem Handrücken aufragte. Erst als du dich an der Stelle festgestarrt hattest, sahst du, verborgen im Gewirr der Striche, das Insekt. Die geschlossenen Finger bildeten die Flügel, Handgelenk und Knöchel den Kopf, den die Libelle in die Höhe reckte, in der Art, wie du es am Teich beobachtet hattest, beim Balztanz, wenn das männliche Tier das weibliche mit der Greifzange am Ende des Hinterleibs packt und sie miteinander ein Paarungsrad bilden, wobei die Insekten auf dem Schilfblatt, wo sie sich ineinander verkeilen, oft den Halt verlieren und in Form eines Herzens davonfliegen.

Erschrocken hast du an dir heruntergeblickt, doch die Hose hattest du an. Das ist gut, sagte sie, ihre Stimme klang dennoch verzagt. Im Drang, die peinliche Blöße auf dem Bild zu bedecken, schobst du wie im Reflex die Hand zwischen die Beine, fandest, sie hatte schon Besseres zustande gebracht. Was sollte der Junge mit dem Libellenschwanz? In der Akademie, wo die Professoren das Bild bewerten, würden sie denken, deine Mutter sei ohne Anstand. Außerdem hatte sie dich schlecht getroffen, als Porträt hättest du es durchfallen lassen. Die verwischte Person auf dem Baumstumpf erschien dir jetzt nicht mehr als schlafend, sondern mit der spärlichen, fast erloschenen Mimik eher wie tot. Das bin nicht ich, hast du protestiert, der Satz hat elend lange gedauert, sie hat nach der zweiten Silbe schon gewusst, was du sagen willst, sprach jedes Wort stimmlos mit, als wollte sie dir helfen, es über die Lippen zu bringen, und kam dabei ganz nah. Glaub nie einem Bild, zwinkerte sie und warf dir den Pullover hin. Und dir?, fuhrst du sie an, und ihr seid beide erschrocken, weil in den zwei Worten weder Hauch noch Stockung gewesen sind. Sie packte ihre Pinsel weg, du hast dich angezogen und bist hinüber zum Haus, das du auf zwanzig Meter kaum sehen konntest. Als du dich auf der Veranda nach ihr umdrehtest, hatte sich der Nebel deine Mutter doch noch geholt.

Viertel vor acht. Sie ist jetzt bei der Erle mit dem dreifach gespaltenen Stamm angelangt, die mit dem schon welken Laub ein wenig an eine verlumpte Gestalt erinnert und einst viergliedrig, wie mit Beinen und Armen, gewesen sein muss, bevor ein Blitz in einen der Äste fuhr, der dann aufs Wasser stürzte. Gleich wird sie sich auf den Rücken drehen und noch ein Stück weiter schwimmen, bis unter die abgestorbenen Zweige, in denen du schon immer die Finger einer Hand gesehen hast. Dort wendet sie sich wieder um und schaut in die Tiefe. Jeden Morgen hast du dich gefragt, was sie dort sucht, in diesen zerdehnten Sekunden unter der Erlenklaue, wo sie sich kaum mehr rührt und langsam sinkt, bis ihr Kopf eintaucht und du auf dem Stumpf die Luft anhältst; erst wenn die Sonne über die Horizontlinie tritt und das Licht den dunklen Spiegel des Teichs zerreißt, blickt sie wieder hoch, und du atmest auf.

Doch heute, hoffst du und schaust abermals auf die Uhr: dreizehn vor acht, heute, denkst du und löst schon die Schnallen am Ranzen, denn sie ist schon beim Ast, heute, Dion, ist deine Kindheit endgültig vorbei, das Wasser hat keine Bilder mehr, der Teich ist stimmlos wie dein Leben, das viel zu lange keine Luft bekommen hat. Es gibt keine Klaue, keine Erlengeister, nirgends Binsengeflüster und Windgeraune, und dass du mir angeblich ähnlich siehst, ist Quatsch. Haarfarbe, Sommersprossen und die moorbraunen Augen kommen nach deinem Vater, und deinen Namen hat dir, wie soll es anders sein, die Mutter verpasst. Niemand redet, wenn du mich belauschst. In Wahrheit bin ich stumm wie ein Fisch, doch nicht einmal Fische sind in den Tümpeln zu finden, nur Alpträume und Schauergeschichten, totes Zeug, das im sauren Wasser nicht verwesen kann. Dazwischen legen die Libellen ihre Eier. Also steh auf, und nimm dein gottverdammtes Referat in die Hand! Gleich wird sie zum Ufer zurückschwimmen, wo du mit dem Schirm stehen und ihr das Handtuch reichen wirst, die beste Gelegenheit, ihr all das, was ich dir bis jetzt eingeflüstert habe, nicht entgegenzustottern, sondern zu -schreien, und selbst vor der Klasse wird es dann kein Halten mehr geben, ihr Hasenfüße, rufst du, ihr Hosenscheißer, hört mir gefälligst zu!, mit messerscharfer Stimme, die selbst das H zischt, so dass in den Bänken vor Staunen die Münder aufklappen und David Voss, dein Erzfeind, sich hinter Thorsten Hinrich duckt, vergeblich, denn was du zu sagen hast, wird ein Sturm sein, falsch, ein Hurrikan, der alles niederbrüllt.

Nur Tanja Deichsen verschonst du. Die Pfarrerstochter, die mit dem letzten Klingeln und nicht selten ein paar Minuten später ins Klassenzimmer stolpert, oft noch nach dir, wofür Gorbach euch beide nachsitzen lässt, mittags, wenn das Schulhaus leer und es zwischen den Bänken so still geworden ist, dass der Kopf des Deutschlehrers immer tiefer über die Aufsätze auf das Pult sinkt und sie schließlich herübernickt, leise ihre Sachen zusammenpackt und zur Tür hinkt. In Sekundenschnelle hast du den Ranzen geschultert und sie auf dem Korridor eingeholt, doch du wahrst den Meter Abstand, in dem all die unaussprechbaren Gefühle Platz haben, und erst an der Kirche dreht sie sich um und sagt: tschüss –, in geheimer Komplizenschaft, scheint dir, weil Tanja ähnlich wie du das ist, was man behindert nennt, und nicht Knochen wie jedermann, sondern gläserne hat, genauer gesagt ein Skelett, dem ein wichtiger Baustein fehlt, weshalb es schon bei der geringsten Belastung zersplittert. Sie ist kleinwüchsig und zierlicher als die anderen Mädchen in ihrem Alter, auch ein wenig krumm von einem schlechtverheilten Bruch, eine, die du schon im Kindergarten abseits stehen sahst, oft mit Gips. Aus ihren blau eingetrübten Augen, die ihr etwas Geheimnisvolles und Fremdartiges verleihen, betrachtete sie still das Gedränge der anderen und erschrak, wenn ein Missgeschick passierte, jemand von der Schaukel stürzte oder sich beim Fangenspiel flachlegte, stimmte aber stets in das Gelächter mit ein, sobald der Tollpatsch sich wieder aufrappelte und weitertobte. Beide seid ihr die Kinder vom Rand des Spielplatzes gewesen, du der Sprech-, sie der Gehkrüppel, der eine der Hauchjunge, die andere das Glasknochenmädchen, das auf eine unerklärliche Art und Weise mit dir verbunden schien, und auch jetzt wird sie aus ihrer Bankreihe links außen zusehen, wie du das Schulhaus, ja, die ganze Welt niederschreist, sie wird einfach nur dasitzen und dich anschauen, ohne Lob oder Tadel, mit diesem blau entzündeten, beunruhigenden Blick, der Bescheid weiß.

Später, wenn der Schülerpulk mit Ohrensausen den Raum verlassen und dir Gorbach wortlos eine Eins eingetragen hat, trippelt sie über den Korridor davon. Du überholst sie, hältst ihr die schwere Zwischentür auf, und der Satz, der sie zu einem Gang durchs Moor einlädt, kommt dir leicht über die Lippen, weil sie, wenn du sprichst, nicht wegschaut wie alle anderen. Sie hat noch nicht geantwortet, da siehst du im Spiegel der Glasscheibe Hannes Lambert, den hochaufgeschossenen Sechzehnjährigen mit eckigem Schädel und blonder Haarmatte vor den Augen, die unruhig umherwandern, wenn er raubtierhaft und stets gefolgt von einer Clique Oberklässler über den Korridor stolziert und die Herumstehenden unwillkürlich zurückweichen. Er kommt auf dich zu, sein Blick schert nicht aus, ist auf einen halben Meter Entfernung wie ein scharfer grüner Strahl, der dir in die Stirn dringt. Du glaubst, es liegt an den ein wenig zu eng beieinanderstehenden Augen, dass er im letzten Moment doch knapp an dir vorbeischaut. Er knackt mit dem Kaugummi und schlägt dir die Tür aus der Hand. Als Ältester der vier vom Bauern Lambert muss er nachmittags im Stall mit anpacken, im Gegensatz zum Knecht riecht er aber nie nach Schwein, oder hast du, immer wenn er dich streifte, die Luft angehalten, aus Angst, sein Geruch könnte ein noch ganz anderer sein?

Jetzt saugst du ihn ein, doch er ist schon vorüber, zwischen den Brauen bleibt ein Gefühl von Kälte, als wäre dort, wo sein Blick dich traf, plötzlich ein Loch. Tanja steht drüben am schwarzen Brett bei den Mädchen. Die Hannesmeute zieht durch die Tür, die Görenschar schnattert und macht ihren Füchsen schöne Augen, nur Tanja blickt weg zu den Aushängen und, als das Rudel um die Ecke ist, noch einmal zu dir hin. Doch statt ihres Gesichts siehst du plötzlich David Voss. K-k-kotzen, würgt er, verdreht die Augen, zuckt mit dem Kopf und rotzt dir auf den Schuh. K-k-kacken, äfft Hinrich ihn nach und furzt. Sie packen dich beide und drücken dich in den Gestank. Jemand zieht dir die Beine weg, du schmeckst die Borsten des faserigen Bodenbelags. Noch lange hörst du das Geknatter ihrer Spottlaute im Gebäude. Irgendwann hebst du den Kopf und suchst Hilfe bei Tanja, doch da ist niemand mehr.

Auch Marga ist weg. Du springst auf, wirfst den Schirm hin, er rutscht in den Teich. Mama!, rufst du, die Panik hat keine Kanten, dein Schrei ist glatt und geschliffen wie ein Geschoss. Eine Krickente schreckt auf und fliegt ins Moor, aus der Ferne tönt ihr Gelächter. Du rennst in die Binsen, stehst starr, sinkst ein, siehst unterm Ast nichts als die Tiefe. Der Schmerz, sie aus den Augen gelassen, für immer verloren zu haben, ist wie ein Schnitt durch deinen Körper. Du reißt dich los und stolperst von Erle zu Erle. Die Bäume spielen deine Angst hin und her, stoßen sie weg und fangen sie auf, jeder Stamm zeigt dir vom Teich ein anderes Bild, mal ist er Pfütze, mal tobendes Meer, erst Höllenschlund, dann gleißendes Licht, in das du eintauchst und fällst. Im Sturz siehst du unter dir das verlassene Haus, die offene Verandatür, die Wäsche an der Leine, auf dem Tisch den Aschenbecher, den sie stets zu leeren vergisst, bis der Wind die Kippen zerstreut. Dort die Scheune, das gekittete Fenster, die Löcher im Dach, du weißt nicht, wie man das repariert und wohin das Gerümpel bringen, ihre Bilder, wo, wenn sie tot ist, den Sarg bestellen, wen anrufen, wer soll neben dir stehen am Grab, dich stützen, wenn du die Rose hinabwirfst, doch Rosen, fällt dir ein, hat sie schon immer gehasst und mit dir einmal heimlich Terpentin an die Stöcke von Ilse Bloch gegossen.

Du rennst zum Baumstumpf zurück, hoffst, sie nur verpasst, im Strauchgewirr übersehen zu haben, siehst schon ihren Schatten im Wasser aufsteigen und legst dir Worte der Reue und Treue zurecht, doch der Teich bleibt glatt und hart, ein Spiegel. Bis zu den Knien brichst du ein. Der Torf quillt dir in die Schuhe, ein weiches, beinahe tröstliches Gefühl. Aus flehenden Augen starrst du hinüber zum Ast mit dem schweigenden Wasser darunter, noch nie ist das Bild, das ich dir zeige, so leer und wahrhaftig gewesen wie in diesem Moment.

Sie taucht auf, prustet, fingert sich Laub aus den Haaren. Wie lange das gewesen sei, keucht sie herüber und lacht. Die Minute, die sie unter Wasser war, scheint dir wie Tage und Wochen, so alt ist plötzlich der Schmerz, das weiße Gefühl vom Morgen am Teich tot und vergilbt, es fällt von dir ab wie ein welkes Blatt. Ich werde es fressen, du wirst es vergessen. Du trittst einen Schritt zurück, dann wieder vor, doch die Erleichterung bleibt aus, ist nun eher wie ein Gewicht, das dich noch tiefer in den Grund drückt. Der Regen wird stärker, Wind beugt die Zweige, fegt den letzten Dunst aus den Erlen. Ob du dich vorher nicht ausziehen willst, grinst sie und merkt nicht, wie groß deine Sorge war. Du beginnst zu frieren, auch sie schlingt die Arme um die Brust, schiebt dich ans Ufer und angelt den Schirm aus dem Wasser, der langsam zu sinken beginnt. Zieht das Badetuch aus der Tasche, trocknet dich ab. Du kämpfst gegen den Druck im Hals, kannst dich noch immer kaum rühren. Bist froh über das Handtuch auf dem Gesicht, sie soll nicht sehen, dass du weinst. Sie hält es für Regen, trocknet nun auch sich ab, drückt dir in die eine Hand den Schirm und in die andere einen Zipfel, damit du sie abreibst, wie du es als Kind immer getan hast. Früher gab es auf ihrem Körper gemeinsame und eigene Territorien, du hast ihr Rücken und Hals betupft, sie die Stellen, die an Müttern den Vätern gehören. Jetzt weißt du plötzlich nicht mehr, wohin mit den Händen. In deiner Kehle brennt es, als hättest du in den letzten Minuten ununterbrochen geschrien.

Was denn los sei, sagt sie, schüttelt dich und die Taubheit aus deinen Gliedern, zieht das Badetuch weg und verneigt sich. Früher hat das Kind zum Abschluss der Pantomime geklatscht, jetzt starrst du gegen die Bäume, wünschst dich mit ihr zurück unter den Schirm, in die warme Handtuchglocke, wo die Welt noch einmal zusammengeschrumpft wäre auf ein vertrautes, altbekanntes Gefühl. Dort hättest du ihr alles erzählt, was du dir in den letzten Jahren an Kenntnissen über den Lebenszyklus der Libellen aus Büchern und durch deine Beobachtungen im Moor angeeignet hast. Im Takt des trommelnden und tropfenden Regens und in langen Sätzen, die dir aus dem Mund perlen wie die Wasserschnüre vom Schirm, hättest du sie in das Geheimnis des Insekts eingeweiht, das auf dem Grund des Teichs eine langwierige und reizarme Kindheit verbringt, bis zu dem einzigartigen, gleichzeitig aber auch gefährlichsten Moment seines Lebens, wenn es in den frühen Morgenstunden an einem Binsenhalm hochklettert, sich aus der alten Haut zwängt und dabei schutzlos seinen Feinden ausgeliefert ist. Der Akt der Verwandlung selbst kann misslingen, wenn die junge Libelle mit den noch ungelenken Flügeln in der Schlupfhaut oder an einem Dorn hängen bleibt. Auch der erste Flugversuch, der Jungfernflug, ist unbeholfen, das Insekt ein gefundenes Fressen für Vögel, denn in dieser Phase ist die adoleszente Libelle, Imago genannt, ganz auf die Erprobung ihres neuen Körpers konzentriert, den sie noch kaum beherrscht. Doch je höher sie in die Luft steigt, umso sicherer und eleganter werden ihre Kreise, schon bald schlägt sie um den Vogelschnabel gekonnt einen Haken, schraubt sich in den Himmel und fliegt lautlos ins Moor, wo sie, so lautet der letzte Satz des Referats, herkommt und hingehört.

Alles wieder gut?, fragt sie, zieht den Bademantel aus der Tasche und wickelt sich in den weißen, flauschigen Stoff. Als du zu ihr schaust, stellst du fest, dass eure Blicke sich fast auf horizontaler Linie begegnen, als hätte dich plötzlich die Zeit überholt, obwohl doch in den letzten Minuten nichts weiter passiert ist, als dass du dich von deinem Baumstumpf erhoben hast.

Du schnappst den Ranzen. Sie hält dich am Arm fest und verlangt den Kuss. Viel Glück bei deinem Aufsatz, sagt sie, der eine glatte Eins werde, was sie jetzt schon wisse, glaub mir, lacht sie, Mütter haben da einen sechsten Sinn. Fünf vor acht. Du reißt dich los und rennst über den Heidedamm ins Dorf; wie der wohl aussieht, denkst du, so ein übermenschlicher mütterlicher Sinn, der dich zum Reden bringt? Zieh dich vorher um, ruft sie dir hinterher, da hat der Regen sie schon aus dem Teichbild gelöscht.

Der Schulhof ist leer, auch die Aula haben die letzten Nachzügler bereits verlassen. Du stürzt die Treppe hoch, rennst durch den Lichthof, der Korridor dahinter erscheint dir dunkel und endlos lang. Aus dem Klassenzimmer dringt Geplapper, dazwischen bellt Gorbach seine Kommandos. Es klingelt zum Unterrichtsbeginn. Als du endlich vor der Tür stehst, schlägt dein Herz so laut, dass du den letzten Ton der Glocke kaum noch hörst. Dann mischt sich plötzlich ein anderer Takt hinein, schleifend, unregelmäßig und vertraut. Tanja hastet im gelben Regenmantel über den Flur, mit hüpfendem Tornister und nachgezogenem Fuß. Sie bleibt atemlos vor dir stehen, sagt: Kommst du nicht mit rein? Du blickst lange zu Boden, auf die Borsten des Teppichs, sagst schließlich: hdoch. Sie nickt und schlüpft durch die Tür. Du willst hinterher, doch das Kind rennt zurück in den Tunnel und raus ins Moor, durch den Regen in die Stille zu mir.

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Sie hängt das nasse Handtuch über die Balustrade und den Bademantel an den Haken, müsste auch die Wäsche von der Leine nehmen, es sieht nicht aus, als würde es heute noch aufhören zu regnen. In der Küche türmt sich das Geschirr, im Keller ein Klamottenberg, der noch in die Maschine muss. Sie darf das Leergut nicht vergessen, im Supermarkt in Zeeve ist die Zitronenlimonade billiger als im Laden von Ilse Bloch, außerdem hat sie dort ihre Ruhe, kein Getuschel, keine Blicke im Rücken. Sie fingert eine Zigarette aus der Schachtel, die Streichhölzer sind klamm, brechen ab, erst beim dritten zischt das Flämmchen. Der Filter klebt an der Unterlippe fest und reißt den Grind ab, beim ersten Zug schmeckt sie Blut, dann Ruß, auch das Papier ist feucht. Sie lässt die Zigaretten neuerdings draußen auf dem Tisch liegen; seitdem sie sich zum Rauchen auf die Veranda zwingt, ist ihr Verbrauch auf eine Schachtel täglich geschrumpft, wenigstens das, denkt sie, habe ich geschafft. Nicht wirklich ein Erfolg, denn drüben in der Werkstatt, beim Starren auf die Nesselbahn, wo ihre Augen Linien zeichnen, die ihre Hand einfach nicht nachziehen kann, verglüht die Kippe im Aschenbecher, in ihren Fingern schon die nächste, und so weiter, bis die Farbe am Pinsel eingetrocknet ist. Wenn sie es irgendwann doch wagt, vorsichtig, fast widerwillig die stille, kalte Oberfläche zu berühren, so, wie man mit einem Stöckchen ein verletztes Tier antippt, um zu prüfen, ob es noch lebt, ist die Schachtel leer und ihre Idee oder das Bild, das in ihrem Kopf eben noch ein wildes, schönes Biest war, längst verreckt.

Das ist ihr Vormittag, zehn bis zwanzig Zigaretten, je nach Zähigkeit des Viehs, das es zu stellen gilt. Gestern hat es noch lange gezuckt, ein widerspenstiges Exemplar, dabei hatte sie ihren Einfall wirklich gut gefunden, noch mit Spülschaum an den Händen ist sie vom Abwasch weg und hinüber in die Scheune. Nach drei Stunden hat der Hals geschmerzt, die Leinwand war vom Starren regelrecht durchlöchert, die Unterlippe schon wundgekaut, doch das Miststück biss zurück. Ein letzter Stoß mit dem gröbsten ihrer Pinsel, endlich zwei schwarze Zacken auf zu viel Weiß, mit der Spachtel noch einmal nachgebohrt, dann war Ruhe.

Die ständig leeren Zigarettenschachteln und Bilderleichen sind der Beweis, dass sie zwar den Willen, nicht aber das Talent besitzt, ihre Ideen in Taten und Werke, also Bargeld umzusetzen. Marga Katthusen, knurrte das halbtote Tier, sieh endlich ein, dass du eine Traumtänzerin und Möchtegernmalerin bist, die sich weigert, wie jeder andere Mensch in deinem Alter zu arbeiten, hinter einer Ladentheke, auf dem Feld, bei Nordfrost, der Tiefkühlfabrik, am Fließband oder wenigstens vorm Herd, zwei Kinder am Rockzipfel, das dritte im Bauch, am Tisch den hungrigen Mann – und sie raucht nun doch die zweite Zigarette und betrachtet dabei die tropfenden Kleidungsstücke an der Leine, deine Unterhosen, die dicht an dicht mit ihrer Spitzenwäsche und den schwarzen Netzstrumpfhosen hängen, die bei den Dorffrauen für Blicke sorgen.

Sie weiß, dass du lieber einer von ihnen wärst, ein Krämerkind oder Bauernjunge, den Schweinezüchter Karl Lambert als Vater und mit einer Mutterglucke wie Marianne, deiner Tante, die dir manchmal einen Apfel oder ein paar frische Eier zusteckt, mit frommer Miene und einem Gruß an die Mutter, diese Heuchlerin, denkt sie, die damals jedem im Dorf von der Schande geflüstert hat, die ihre, Margas, Hochzeit mit Karls Bruder, deinem Vater, über die Familie brachte. Auch ihrem Schwager Karl, der es auf ihr Haus und das Grundstück abgesehen hat, hätte sie die verrotteten Mauern längst verkauft, würde sie dann nicht als Geschasste mit einem Handkarren voll Besitz von dannen ziehen müssen, ein Triumph, den sie ihm nicht gönnt, dem Schlächter, der ihren Mann auf dem Gewissen hat, mit solchen Gedanken hat sie sich auch gestern am Arbeitstisch wieder fertiggemacht, statt den Stier, wie man sagt, bei den Hörnern zu packen. Sie blickte auf die Uhr, fast Mittag. Dienstags hast du Unterricht bis zur fünften Stunde, dann kommst du heim und willst essen. Sie nahm irgendeinen Pinsel, irgendeine Farbe und stach noch einmal blind in das Gemetzel auf der Leinwand, wo auch zuvor schon nichts lebendig gewesen war. Dann stand sie auf.

Zweimal war die Leitung besetzt, beim dritten Wählversuch endlich eine mürrische Männerstimme, die ihr die Öffnungszeiten des Arbeitsamts Hamburg-Eimsbüttel mitteilte, dienstags bis 16.30 Uhr, das müsste sie schaffen. Sie öffnete den Kühlschrank, zwei Paprikaschoten, ein angebrochenes Glas Bockwürstchen, Gewürzgurken, im Korb unterm Spültisch fand sie Zwiebeln und ein paar Kartoffeln. Der Allestopf wäre dem Jungen ein kleiner Trost für den einsamen Nachmittag, zubereitet in zwanzig Minuten. Eine Zwiebel andünsten, Gemüsestücke und Kartoffelscheiben dazu, das Ganze mit Brühe aufgießen, Salz, Pfeffer, scharfes Paprikapulver, bei kleiner Flamme eine halbe Stunde kochen, die sie genutzt hat, um sich zurechtzumachen, Puder, Haarspray, ein Spritzer Parfum, den Kajalstrich ein wenig über den Lidrand hinausgezogen, was den Augenaufschlag betont, sollte sie im Amt an einen Mann geraten. Am Wangenschatten hat sie verbissener gemalt als zuvor an ihrem Bild. Den Lippenstift, der zu buhlerisch wirkte, wischte sie wieder ab, doch jetzt sah man den Grind, zu labil, dachte sie, egal.

Im Schlafzimmer durchwühlte sie den Schrank nach dem beigefarbenen Kostüm, das sie bieder findet und deshalb ins hinterste Eck verbannt hat, für einen Behördengang aber schien es ihr die passende Garderobe. Von der Küche herauf roch es angebrannt, sie hatte bei der Auswahl der Bluse zu lange gezögert, zurück am Herd, klebte der Papp am Topfboden fest, doch die obere Schicht würdest du essen können. Sie löste das Haar wieder aus dem Knoten, der ihr jetzt altjüngferlich vorkam. Eilig schnitt sie Bockwurst und Gurken klein und rührte alles mit etwas Schmant in den Sud, fertig.

Am längsten dauerte das Schreiben der Nachricht an dich. Die Wahrheit kam nicht in Frage, würde sie in Erklärungsnot bringen, außerdem, dachte sie, wollen Kinder von ihren Müttern belogen werden, der Nikolaus, das Christkind, der Storch, der die Babys im Schnabel bringt, und auch die Geschichte, in der dein Vater kurz vor deiner Geburt bei einem Arbeitsunfall in der Torfgrube ums Leben kommt, ist nur ein Teil der Wahrheit, denn der Stich war ja damals bereits geflutet und mit Erlen bepflanzt, der Teich am Ende des Heidedamms mit seinen Rindengesichtern und Nebelgeistern schon immer ein Ort von Trug und Täuschung gewesen.

Sie entschied sich für einen Notfall in der Galerie, formulierte den Satz im Kopf, doch verhunzte ihn dann, verdrehte, wie immer, wenn sie unter Druck steht, die Buchstaben in den Wörtern, eine Schreibschwäche, die ihr selbst erst in der dritten Klasse aufgefallen war, als sie ihren Namen auf das Tischschildchen gekritzelt und die neue Lehrerin sie fortan Magret gerufen hatte, nicht Magra, wie es auf dem Kärtchen stand, und schon gar nicht Marga oder wenigstens Margareta, so lautet ihr Vorname im Pass. Selbst für die Mitschülerinnen war sie plötzlich die Magret, die nicht schreiben konnte oder wollte, Magret lautete fortan der Name ihrer Verweigerung von Fleiß und Pflichtbewusstsein, sogar auf dem Abschlusszeugnis, schwarz auf weiß über den entsprechenden Noten, die sie für eine Ausbildung in einem Betrieb kaum qualifizierten, geschweige denn für ein Studium, womit ihre Tante recht behielt, die einzige noch lebende Verwandte in Hamburg, die ihr gleich geraten hatte, sich schleunigst eine Arbeit mit Kost und Logis zu suchen, und weil sie, Marga, bei dieser Tante zweiten Grades, Tante Frederike, die mit ihrer Nachbarin unentwegt Rommé spielte und nach Kohlrouladen roch, sowieso nicht hatte bleiben wollen, schlenderte sie am Tag ihrer Entlassung aus dem Diakonissenheim Richtung Altona, wo sie in den Gassen die Schaufenster betrachtete und in der Glastür eines Geschäfts mit dem Namen Modehaus Siana einen Aushang entdeckte: Weibliche Aushilfe gesucht.

Sie erinnert sich genau an die roten, von Goldfäden durchwirkten Teppiche auf dem Parkett und an den sich auf dem Holz spiegelnden Schein ebenso roter und goldener Lämpchen, die ihr gefielen, weil sie ein warmes Licht abstrahlten, das auf den Stoffen der Herrenanzüge glänzte und alles edel und teuer erscheinen ließ. Die akkurat gefalteten Hemden in den Regalen, die Hosen mit ihren Bügelfalten und die steifen Aufschläge der Fräcke und Jacketts bildeten einen Kontrast zu den verzierten Spiegeln, den Sitzecken mit Plüschkissen, dem Kitsch und Plunder der Schaufensterdekoration und den gerafften Stores vor den Umkleidekabinen, wo mit Bändern drapierte Schlitze ihren Blick fingen, aber nicht eindringen ließen, und sich der Stoff leicht im Luftzug bauschte, als irgendwo im Innern des Hauses eine Tür schlug und leise das Gelächter einer Frau aus den Hinterräumen drang.

Erst jetzt sah sie die hagere Verkäuferin, die rauchend hinter einem großen Mahagonitisch saß, auf dem nichts stand, keine Kasse, keine Stellagen. Was sie dort herumstehe, rief die Fremde mit einem harten, raspelnden Akzent, der ihr russisch erschien, obwohl sie noch nie einen Russen hatte sprechen hören. Die Frau, vermutlich die Besitzerin der Boutique, hob ihre üppig beringte Hand und winkte sie heran, in die Tiefe des Raumes, wo die Herrenausstatterin in Rot und Gold gekleidet im Sessel lehnte, so sehr eins mit den Farben ihres Modehauses, dass man nicht hätte sagen können, wer zuerst da gewesen war, der Laden oder seine Inhaberin, wie überhaupt in jedem Detail ein perfektes und kunstvolles, ja fast malerisches Mit- und Gegeneinander von Strenge und Ornament, Verschwendung und Zurückhaltung, Zeigen und Verstecken herrschte, das ihr, Marga, jetzt wie eines der farbenprächtigen und vielschichtigen Bilder erschien, die einmal unter ihrer Hand entstehen sollten, später, in ihrer Zukunft als Künstlerin, von der sie in ihren Jugendjahren zwischen den schimmelfleckigen Kalkwänden der Schlaf- und Unterrichtssäle des Heims oft geträumt hatte, und als sie unter dem prüfenden Blick der stark parfümierten, mit Perlen behängten Frau so etwas wie einen Personalbogen ausfüllen sollte, den ihr die neue Chefin schließlich ungeduldig aus der Hand nahm und überflog, wobei sie, morsche, vom Rauchen vergilbte Zähne bleckend, plötzlich auflachte und sagte: Du heißt doch sicherlich Marga, nicht Magra, hatte das Mädchen, das deine Mutter damals war, gespürt, dass es hier richtig ist.

Sie hat dann doch noch eine Nachricht an dich zustande gebracht. Unter die knappen Zeilen kritzelte sie ein großes M., das, egal, wie herum sie es dreht, immer gleich aussieht und so etwas wie ihre Unterschrift geworden ist, auf die sich ihre Schreibtätigkeit heute beschränkt, denn Offizielles und Amtliches drückt sie zur Erledigung dir in die Hand, zusammen mit einem Fünfzig-Pfennig-Stück. Sie malte um den Buchstaben ein Herz, eine Anstellung als Sekretärin, dachte sie und warf den Stift hin, kommt schon mal nicht in Frage. Auf dem Weg zum Wagen ging sie noch einmal in die Scheune und zog die Nesselbahn vom Haufen mit den verworfenen Arbeiten. Der schwarze Zacken gefiel ihr jetzt, etwas Gewalttätiges ging von ihm aus, gleichzeitig wirkte er wie ein geschundener Körper, halb tot. Darunter, im leeren Weiß, erschien ihr ein Gesicht, bleich, fast bläulich, verzittert unter durchlässigen Pinselstrichen und verwischten Wirbeln, wie tief im Wasser; vielleicht, dachte sie und pinnte das Bild zurück an die Arbeitswand, lässt sich daraus noch etwas machen.

Der Motor stotterte, bitte nicht verrecken jetzt, beschwor sie die Karre, wenn ich das Bild verkaufe, kriegst du Öl und Zündkerzen und einen neuen Keilriemen und alles, was du brauchst, und tatsächlich: Der Wagen stöhnte und sprang an. Sie schnippte die Zigarette aus dem Fenster in die Rosenstöcke von Ilse Bloch und trat vorm Schulgebäude, an dem sie schnell vorüber sein wollte, aufs Gas. Es war kurz vor David Voss’ kämpferischem Schule-aus!-Ruf, der täglich die Bolz- und Kampfspiele auf der Dorfwiese einleitete, noch zehn Minuten bis zum Ende der Mathematikstunde, als du plötzlich das vertraute Geräusch gehört und den Blick von der Algebra gehoben hast. Ein Schatten schoss zum Fenster herein, das Trösch, der Lehrer, geöffnet hatte, weil David mit einem Deodorantzerstäuber auf seinen Banknachbarn Thorsten Hinrich zu zielen begonnen hatte, der angeblich nach Schweiß stank. Es war eine Blutrote Heidelibelle, die jetzt über deinen Scheitel hinwegschnitt, ein besonders großes, schillerndes Exemplar, das sich beim Beuteflug ins Klassenzimmer verirrt haben musste. Die Köpfe klappten hin und her, jemand rief: Fliegeralarm!, und warf einen Radiergummi nach dem Insekt. Trösch packte das Klassenbuch und wedelte damit durch die Luft. Die Schüler rollten ihre Hefte zu Gewehrläufen zusammen, erklommen die Bänke und ballerten los. Die Libelle zackte panisch durch den Mittelgang. Hinrich krachte vom Tisch, Elke Niedeck stach ihre Banknachbarin mit dem Lineal nieder, und David Voss feuerte aus der Giftgasdose. Nur Tanja Deichsen saß still und mit zuckenden Mundwinkeln auf ihrem Platz. Irgendwann streckte sie einen Arm in die Luft, doch nicht angriffslustig, eher, als wollte sie dem Tier anbieten, auf ihrer Hand zu landen. Sie schaute dabei zu dir, lachte auf und zeigte die spitzen, gräulich verfärbten Zähne. Dein Blick irrte umher, fand schließlich Halt im Fenster, draußen am Horizont der Ebene, bei mir. Als die Libelle endlich den Weg zurück ins Freie fand und das Weite suchte, war dir, als hättest du etwas, das eben noch ganz dir gehört hatte, unwiederbringlich verloren.

Die Klasse johlte, Trösch hatte Mühe, den Pulk zurück in die Bänke zu scheuchen. Irgendwann war jeder wieder in die Rechenaufgaben vertieft. Noch immer glaubtest du, das Brummen des Insekts zu hören, und obwohl du es gar nicht wolltest, hast du dich abermals zu Tanja gedreht, wie um dich mit ihr gegen eine drohende Gefahr zu verbünden, doch sie löste jetzt konzentriert die Bruchrechnungen. Auf der Straße fuhr der Wagen deiner Mutter vorbei. Trösch riss dir die Referatblätter vom Schoß, die schon seit Anfang der Stunde dort lagen, Mathe, Katthusen, knurrte er, hier ist Mathe, nicht Deutsch. Dann klingelte es, und Voss rief zur Nachmittagsschlacht.

◆◆

Sie ist von der Autobahn runter, auf der Elbbrücke stockt der Verkehr, schemenhaft ragen im Nebel die Kräne. Der Wischer schaufelt das Wasser von der Scheibe, kommt kaum gegen den Regen an. Schon Viertel vor zehn. In ein paar Minuten öffnet das Modehaus, dann wartet Herr Kaltenbronn bereits in der Sitzecke, ein sanfter älterer Herr in tadellosen Anzügen, schwerhörig, schwerreich, meistens will er nicht viel und gibt mehr, als er muss. Guten Morgen, Frollein Mira, begrüßt er sie, helfen Sie mir aus diesem billigen Tuch, und bringen Sie mir etwas Feines. Nach was ihm denn heute der Sinn stehe? Ganz nach Ihren Vorstellungen, ruft er laut herüber und winkt mit dem ersten Schein. Sie zieht einen der Seidenschals aus dem Fach, die ihn schnell kirre machen, und schiebt den Greis in die Kabine. Sie, Mira, sei wahrlich ein Wunder, seufzt er und schmiegt sich in den kühlen Stoff. Nicht nur auf die Erlesenheit der Kunden, auch auf Schliff und Benimm ihrer Angestellten legt Siana, die Chefin, großen Wert, und dass sich die sogenannten Künstlernamen ihrer Mädchen in Klang und Stil von den zahllosen Gabys, Rosis und Mizzis aus den Koberfenstern der Herbertstraße unterscheiden.

Auf der Mitte der Brücke kommt der Autotross zum Stehen. Drüben am Kai Blaulicht, Sirenen, ein Unfall. Sie flucht, starrt auf den großen, grauen Fluss, in den Docks die Frachter, in der Ferne manövriert schwerfällig ein riesiges Kreuzfahrtschiff. Sie wird den Termin versäumen, ist zu spät von zu Hause los, hat noch schnell die Wäsche abgenommen, doch das rote Kleid, das sie wieder anziehen wollte, wurde auch mit dem Föhn nicht ganz trocken, am Kragen spürt sie die Feuchtigkeit. Sie hat es gestern noch schnell in die Maschine gesteckt. Ob der Junge etwas gemerkt hatte? Siana, die in ihren Parfums zu baden scheint, schreibt ihren Mädchen vor, keine oder nur dezente Düfte zu verwenden, damit die Ehefrauen der Kunden nichts wittern, doch an ihr selbst kleben am Abend die Spuren der Aftershaves. Vielleicht war ihre Nachricht keine gute Ausrede, der angebliche Krankheitsfall in der Galerie, die stets für alles herhalten muss, irgendwann, denkt sie, verplappert sich Ute oder sagt, wie es ist: Bist du wieder gesund?, fragst du die Galeristin bei ihrem nächsten Besuch, aber sie sei doch gar nicht krank gewesen, erwidert Ute, und deine Mutter sieht schon dein verblüfftes Gesicht, in den Augen Enttäuschung und Wut, dann hupt der Hintermann und reißt sie aus ihren Gedanken.

Sie tritt aufs Gas, der Wagen säuft ab. Neuerdings ist sie unvorsichtig geworden, macht Fehler, gestern den Anruf vergessen, ein teures Kleid gekauft, obwohl der Junge sie bei der Arbeit glaubte, im Stoff, das hatte sie erst beim Ausziehen bemerkt, hing noch der Zigarrenrauch des Amerikaners, der zum ersten Mal ins Modehaus gekommen war und nicht so recht gewusst hatte, was er wollte, sich dieses und jenes von ihr zeigen ließ, bis weit nach fünf Uhr. Sie dreht den Zündschlüssel bis zum Anschlag und jagt den Motor hoch, bitte nicht schlappmachen jetzt, sonst kann ich den Job endgültig vergessen, der letzte Bus zurück geht um sechs, und ab Rhase müsste sie laufen, im Dunkeln querfeldein durch das Moor.

Sie riechen ja wieder so frisch, Frollein Marga, pflegt Kaltenbronn zu sagen, wenn sie sich über ihn beugt, das Landleben, lacht sie zurück, doch frisch ist es ja nun weiß Gott nicht, ihr Fristen und Frusten in Fenndorf, seitdem ihr Mann, dein Vater, Dion, sie vor vierzehn Jahren in dieses Kaff verschleppt hat, ein Gefängnis aus roten Klinkermauern und Schweineställen. Jeden Morgen führt sie dich zum Torfstich wie andere Witwen ihre Kinder ans Grab, beißt die Zähne zusammen, springt ins kalte Wasser und spielt die trauernde Mutter. Wahr ist, dass ihr der Hausarzt gegen ihre Anfälligkeit für Hautpilz Moorwasserbäder empfohlen hat, wegen des hohen Säuregehalts. Also steigt sie so oft wie möglich und nicht ohne Widerwillen in die braune Brühe, wo einst dein Vater ums Leben kam. Beim Schwimmen, behauptet sie, fühle sie sich ihm wieder nahe, sei dort für ein paar Minuten noch einmal das Mädchen von damals, kaum zwanzig und schwanger von einem Mann, in den sie, was du nicht wissen sollst, kaum verliebt war, eher hatte sie mit den Versprechungen geliebäugelt, die er ihr machte, von einem Leben in Wohlstand, in dem sie sich ganz auf ihre Arbeit, das Malen, konzentrieren könnte, also hat sie all ihre Talente in ihn hineingeäugt und seine Familie dafür in Kauf genommen, den Schweinezüchterclan, den sie schon damals verachtete, allen voran Marianne, deine Tante, die es als junge Frau einst auf deinen Vater abgesehen hatte, bis sie dann, weil es beschlossene Sache war, seinen älteren Bruder Karl heiratete, und trotzdem, erinnert sie sich, war ihre Nebenbuhlerin noch monatelang um das Haus geschlichen, hatte hier etwas im Garten gepflanzt, dort ein paar Sachen aus der Scheune geräumt oder abends geklopft, um das frischgebackene Brot zu bringen, das er, dein Vater, angeblich so gerne aß, sicher habe sie, Marga, in der Hausarbeit noch wenig Erfahrung, und sie steckte ihr das Rezept zu, während sie die Küche inspizierte und Vorschläge für die Einrichtung der Zimmer machte, die vom Junggesellenleben verwahrlost waren.

Wenn sie sich bei ihrem Mann über die Aufdringlichkeit beklagte, verteidigte er die Schwägerin, die auch ihre guten Seiten habe. Derartige, höhnte deine Mutter und quetschte sich den Busen, an den er sich, seitdem sie schwanger war, nur noch selten schmiegte, zum Glück. Mit deinem keimenden Körperchen in ihrem Bauch hielt sie sich den Bauern erfolgreich vom Leib. Sei ein wenig dankbar, wies der sie zurecht. Sie hätte ihm Marianne, denkt sie heute, sogar für eine Nacht geborgt, um ihre Ruhe vor beiden zu haben. Doch Andeutungen in diese Richtung verschärften sein plötzliches Misstrauen, wie man überhaupt über sie, Marga, die Neue im Dorf, zu reden begann, zotiges Gewitzel im Dorfkrug, erinnert sie sich, dem Dions Vater nichts entgegensetzen konnte oder wollte.

Sie sagt und denkt stets Dions Vater, der Begriff macht ihn zu einer Unperson, keinem Unmenschen zwar, und doch ist er heute für sie nicht mehr als der Erzeuger ihres Sohnes, ein Mann, der geglaubt hatte, er könnte sie mit einem alten Bauernhaus und dem Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, glücklich machen. Seine Torfgeschäfte hatte sie von Anfang an verabscheut, der Buchhaltung wegen, die sie übernehmen sollte. Das Schreiben einer einfachen Rechnung hatte sie viertel und halbe Stunden des Ringens und Verzweifelns gekostet. Mit den Zahlen, den Lieferbeträgen und Gewinnsummen, hätte sie es aufnehmen können, aber Briefe, Mahnungen, Korrespondenzen verfassen, das wäre ohnehin bald das Ende dieser Ehe gewesen. Irgendwann hätte sie ihm die ganze Wahrheit sagen müssen, über die sie auch heute noch ungern spricht, da kam ihr sein plötzlicher Tod gerade recht.

Im Dorf kennen alle die Geschichte vom Unfall in der Torfgrube, und jeder erzählt sie anders, abhängig von Sympathie oder Groll gegenüber dem Verstorbenen und der Anzahl der Schnäpse im Dorfkrug, die das Erinnerte in die eine oder die andere Richtung verzerren. In allen Varianten ist die Schuldige letztendlich deine Mutter, die seine Liebe oder das Leben, das er ihr bot, verschmähte, in jeder Erzählung bricht, einige Monate nach der Hochzeit und nach einer kurzen Phase sogenannten Glücks, der Gewittersturm los, in der Sommernacht, als er vom Teich nicht mehr zurückgekommen ist. Er wollte mit seinem Bruder die Planen über den Torfsoden verzurren, die abfuhrbereit auf der Wiese lagerten, behaupten jene, die Karl Lamberts Version unterstützen. Der eifersüchtige Schweinezüchter habe die Gelegenheit genutzt, ihm, dem kleinen Bruder und Weiberhelden, einen Dämpfer zu verpassen, halten die wenigen anderen dagegen, denen der einflussreiche Großbauer mit seiner Land- und Geldgier schon immer ein Dorn im Auge war. Einig aber sind sich alle, dass deine Mutter ihn mit ihrer Kaltherzigkeit bereits zermürbt hatte. Lass doch, soll sie ihn angeblafft haben, als er sich aufmachte, die wertvollen Soden vor dem Unwetter zu bergen, es sei doch bloß Dreck. Von dem Dreck, faucht er in der Variante der Lambert-Gegner zurück, leben wir aber, da hat sie ihn angeblich gepackt und gerufen: Ihr lebt davon, nicht ich!, doch er stieß sie weg und rannte zum Hof des Bruders, in allen Geschichten zucken ab dieser Stelle Blitze im Himmel über dem Teich, wo dein Vater, sagen sie, von einem herabstürzenden Erlenast ins Wasser gerissen wurde, falsch, entgegnen die anderen, zwar sei der Ast vom Sturm abgespalten und herabgeschleudert worden, aber ins Wasser befördert habe ihn die Hand des Schweinebauern.

Unverhofft ist er aus dem Leben geschieden, hatte der Pfarrer die auseinanderstrebenden Meinungen auf der Beerdigung wieder zusammengeführt, und ein Schluchzen war aus der ersten Reihe aufgestiegen, wo Marianne Lambert den Schleier tiefer ins Gesicht zog. Als deine Mutter die Schippe, mit der sie einen Torfklumpen ins Grab hinabwarf, an Karl Lambert weiterreichte, zitterte dessen Faust, vor Gram, sagen die einen, noch immer im Zorn, die anderen, deine Mutter aber, heißt es, hochschwanger und Erbin eines beträchtlichen, wenn auch fruchtlosen Streifens Land, habe sich rasch von der Begräbnisstätte abgewandt und schon am nächsten Tag den Bus nach Hamburg genommen.

Von ihrer Trauer drangen, wenn überhaupt, nur die dumpfen Geräusche der Stadt zu dir herab in die Bauchhöhle, Bruchstücke von fremdartigen Lauten, die du heute freilich nicht mehr erinnerst, aber doch manchmal im Traum zu hören glaubst: das Zischen von Bustüren, Stimmengewirr und Verkehrsdröhnen in den Straßen, durch die sie schlenderte, hinein in die Boutiquen, wo Türglocken bimmelten und Verkäuferinnen säuselten, und du spürst die plötzliche Druckveränderung um dich herum, als das schmalgeschnittene Kleid oder Mieder ihren Unterleib zusammendrückt und dich noch tiefer in die Enge des bildlosen Traumes schnürt, in dem du dich wälzt, ein schweres, auswegloses Dunkel mit ihrer Stimme von weit oben oder draußen, fern und vergurgelt wie durch Wasser hindurch, da schlagt ihr in euren Betten fast gleichzeitig die Augen auf und lauscht hinüber zum anderen, von Zimmer zu Zimmer in die Stille der Nacht, hinaus zu mir.

Bei der Erinnerung an den Traum, aus dem sie am Morgen hochfuhr, erschaudert sie wieder. Sie hatte ihn schon fast vergessen, doch hier, auf der Elbbrücke im Stau, wo die Zeit sich dehnt, durchzucken sie erneut die Bilder, als sie dich träumend in ihrem Bauch noch einmal mit in die Stadt genommen hat, nicht wie damals als das ungeborene Menschlein, nein, den Dreizehnjährigen, dem die Arme und Beine in die Länge schießen, wie sich auch an anderen Stellen deines Körpers bereits der Mann zeigt, der in diesem Traum, eher einem Alb, mitten bei der Arbeit – sie war, erinnert sie sich, mit Kaltenbronn beschäftigt gewesen – aus ihr herauszudrängen begann, so dass sie erschrocken hingelangt, dein nasses Gesicht gespürt und dir die Hand auf den Mund gepresst hat, damit du nicht schreist, jetzt, da du plötzlich sehen würdest, was sie ein Leben lang vor dir verborgen hat.

An dieser Stelle ist sie aufgewacht und hat in das Beben ihres Körpers gehorcht, das nur langsam verebbte. Noch immer spürt sie das Unbehagen, die Scham, die von der Nacht geblieben ist, wie ein Hall, der sie nun wieder einholt, als wäre da jemand, der heimlich ihre Gedanken liest und dir von Hamburg nach Fenndorf, auf hundert Kilometer Entfernung, zuflüstert, was sie denkt und fühlt, und sie steckt die Nase in den Kragen ihres Kleides und riecht trotz des Schaumbades, das sie am Morgen genommen hat, auf ihrer Haut einen Hauch vom eisensauren Wasser des Teiches, ihren von Kaltenbronn so geschätzten Landduft, das Moor.

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Am Schultor war die Wasserwand über dir zusammengebrochen, eine Woge der Erleichterung, die dich weg vom Klassenzimmer und die Dorfstraße hinunter zum Heidedamm spülte, wo der Fußpfad beginnt, auf dem früher die Torfstecher die Karren schoben, heute aber höchstens noch ein Vogelkundler oder ein verirrter Tourist wandert, der wahnsinnig genug ist, sich allein auf den ungesicherten Weg zu wagen, der hinter den Ställen von Lamberts Hof abzweigt, eine Weile dem Lauf eines Drängrabens folgt, aus dem die Spiegelbilder der verkrüppelten Kopfweiden heraufstarren, dann den Teich mit seinem Erlenhain linker Hand liegen lässt, über vier lose aneinandergelegte Planken den dunklen Bach quert, der aus den Torfrippen des ehemaligen Stichs hervorsickert, sich kurz im Gagelgebüsch verliert und zwischen den Wollgrasfeldern, wo es kaum mehr ein Baum, nur noch hartes Gesträuch und die ein oder andere zähe Birke in die Höhe schaffen, seinen unentschlossenen Vorstoß in das versteppte Gelände endgültig aufgibt.

Dort hast du dich umgedreht, halb erleichtert, halb erschrocken; das Dorf, nur wenige hundert Meter entfernt, war bereits im Regendunst versunken, der Blick zurück nach Hause gleich dem in die Ferne, hüben wie drüben ein weißes, wallendes Nichts. Kurz hast du überlegt, umzukehren, doch der Trotz trieb dich weiter auf den Schwingrasen hinaus. In einer Furche brachst du ein und hast die Augen hochgerissen, hinüber zum Haus, der einzigen Kontur, die sich noch vor dem aufgelösten Himmel abzeichnete. Der Wagen stand in der Einfahrt, vor der Scheune, die von hier aus gesehen schon im Binsengestrüpp versank. Noch hättest du sie an der Tür abfangen können, doch sie würde, dachtest du, ohnehin keine Zeit für dich haben, nichts von dem verweigerten Referat wissen wollen, der Sechs, die Gorbach nun in sein Notenbuch eintragen wird. Dabei hätte sie nur im Sekretariat anrufen müssen, um dich krankzumelden, eine Kleinigkeit, und Tanja, so hattest du ihren Blick vor der Klassenzimmertür gedeutet, würde schon dichthalten.

Aber wie hättest du es ihr sagen wollen, in deiner Ecke, wo du sie stumm beobachtest, wie sie von der Küche ins Bad und vom Bad zur Haustür stolpert, in der einen Hand ihre Pumps, die Zahnbürste in der anderen, und hätte sie eine dritte, sie schöbe dich genervt aus dem Weg, nicht jetzt, Liebling, ich muss wirklich los. Noch bevor dir der erste Laut über die Lippen kommt, ist die Haustür zugefallen.

Schon in der Nacht zuvor bist du, schlaflos und gequält von den Gedanken an die bevorstehende Referat-Blamage, um ihr Bett herumgeschlichen, wo aber nicht sie, Marga, sondern nur ihr hingefetztes rotes Kleid lag, daneben die Schachtel Lexotax, die sie immer dann aus dem Nachttisch zieht, wenn etwas nicht stimmt. Du hast das Kleid aufgehoben, die Nase hineingedrückt und dir dabei vorgestellt, wie sie, womöglich in Begleitung irgendeines Kerls, durch die Stadt streift, in verrauchten Lokalen tanzt und keinen Gedanken an dich verschwendet, ja sogar erleichtert ist, dich endlich für ein paar Stunden los zu sein. Hast dann das Kleid und den Slip, der sich darunter versteckte, in die Ecke gefeuert, beides jedoch wieder zurückgeholt und trotz des Ekels, der dich plötzlich schüttelte, an der Unterhose geschnuppert, die nach ihrem Badeöl roch. Die Sachen ließen sich nur schwer wieder so auf dem Bett drapieren, dass sie nichts merken würde. Eine Weile hast du hilflos herumgestanden und dem Aufruhr in deinem Innern gelauscht, der dich in alle Richtungen zerrte, der Brand in der Kehle runter zum Kühlschrank, die Müdigkeit zurück ins Bett, doch da war plötzlich die Stotterangst und stieß dich zurück.

Schließlich hast du eine Pille aus dem Blister in die Hand gedrückt, in diesem Patt der Gefühle schien es dir der einzig noch mögliche Weg zu ihr hin. Als du schlucktest, war dir, als ließe der Druck in deinem Leib bereits nach. Du hast zum Fenster geblickt und dir vorgestellt, wie sie dich von der Scheune aus beobachtet, und die Bestürzung in ihrem Gesicht löste dich aus dem Krampf. Im Spiegel der Scheibe sahst du dein Gesicht vor dem trüben Schein der Nachttischlampe, die harte Schattenkanten auf deine Züge legte. Der, den ich dir vor dem leeren Dunkel der Ebene zeigte, war fast schon kein Kind mehr.

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Wie immer kein Parkplatz vor der Galerie. Ein paar Straßen weiter rangiert sie den Wagen in eine Lücke, der Motor verröchelt mit einem Geräusch, als wäre das nun sein letzter Atemzug gewesen. Ich kann mich nicht einmal um ein Auto kümmern, denkt sie und zwängt sich ins Freie, wie soll ich es da mit einem Kind schaffen; sie öffnet den Kofferraum und starrt ratlos hinein. Das sparsam mit dunkler Farbe nachgetuschte Bild, das sie gestern doch noch fertiggestellt hat, von dem schlafenden Jungen, der sich in eine Libelle verwandelt, liegt ganz oben auf dem Stapel.

Sie schaut auf die Uhr, noch knapp zwei Stunden, das müsste reichen, Ute, ihre Galeristin, davon zu überzeugen, dass es das Beste ist, was sie seit langem zustande gebracht hat. Danach muss sie ohne Umwege ins Modehaus, wo zur Mittagszeit oft mehr Betrieb herrscht als am Abend, der den Familien der Kunden gehört, dem Stammtisch oder Sportverein. Um zwölf kommt Schiereisen, der Wiener Handelsvertreter, und lässt sich die maßgeschneiderte Unterwäsche abstecken, au weh, gib doch Obacht, du Trutscherl, seufzt er wohlig, oh, bitte verzeihen Sie, Herr Schiereisen, dann schaut sie weg und sticht die Nadel tiefer, weil er bereits zu stöhnen beginnt. Danach, sie hat kaum Zeit, sich die Hände zu waschen, die Bosse von der Hansawerft, mit Herrn Nikaido, dem japanischen Turbinenbauer, der sich davor und danach höflich verbeugt und in Dollar bezahlt, wofür Siana das Außerordentlichste auffährt, was der Laden zu bieten hat. Das darf sie nicht auch noch vermasseln, hat schon Kaltenbronn versetzt, der in seiner Sitzecke bestimmt schon die Zeitung zusammengeschlagen und sich verabschiedet hat, während Siana ihn vermutlich aufzuhalten versuchte und ihm ein anderes Mädchen empfahl: Ach, lassen Sie nur, Frollein Siana, das nächste Mal wieder, und die Chefin, die ja nun wahrlich kein Fräulein mehr ist, knirscht mit den schlechten Zähnen, wegen ihr, Marga, ihrer mittlerweile ältesten Angestellten, ist ihr erneut ein Geschäft durch die Lappen gegangen. Siana wird ihr wieder mit dem Rausschmiss drohen, soll sie doch, denkt sie, der Job hängt ihr wie ein Klotz am Bein, kettet und kotzt sie an, sie hasst ihn, wie sie ihn braucht, ekelt sich am Mittwochabend vor sich selbst und spürt dienstags drauf doch wieder diesen Drang; und die Forderungen, die sie in den letzten Jahren an Siana gestellt hat, sind auch nicht gerade ohne, private Krankenversicherung für den Jungen, höhere Umsatzbeteiligung, selbstbestimmte Arbeitszeiten, doch all das kann ja kaum den Schuldenberg tilgen, der wächst und wuchert, mit diesem baufälligen Haus, das in Schuss gehalten werden will, einem kostspieligen – so spottet Siana – Hobby, dem Malen, und einem Sohn, dem sie bald ein Studium wird finanzieren müssen, wenn er nicht am Fließband von Nordfrost enden soll oder bei den Lambert’schen Schweinen. Doch woher das Geld nehmen, ohne das Modehaus, ohne vorzeigbare Berufsausbildung, das hat sie gestern auf der Behörde deutlich zu spüren bekommen.

Die vom Amt war eine Beißzange gewesen. Die blassen Typen in ihren Jacketts, die sie durch offen stehende Türen hinter die Tische geduckt sah, während sie den Schnipsel mit der Wartenummer auf Fingernagelgröße faltete, hätte sie zu nehmen gewusst, ein Typ Mann, den sie gut kennt, um die vierzig, verheiratet, zwei Kinder, taucht ab und an bei Siana auf, hat Sonderwünsche, macht auf Dandy, obwohl im Herzen knickerig, die Kinder tragen auch mal was Guterhaltenes von der Diakonie, wo die Gattin ehrenamtlich und so weiter. Gegen den Drachen aber, der sie empfing, als die mechanische Zähluhr an der Wand endlich auf ihre Nummer sprang, hatte sie von Anfang an keine Chance.

Suchen Sie etwas Bestimmtes?, fragte die Beamtin und musterte sie von Kopf bis Fuß. Etwas Einfaches, erwiderte Marga und biss sich auf die Unterlippe, falsche Antwort, sie verkaufte sich unter Wert. Eine überschaubare, zeitlich begrenzte Arbeit, verbesserte sie sich und schlug die Beine übereinander, sie sei alleinerziehende Mutter. Die Angestellte überflog mit den Augen ihren Personalausweis, für die Region Zeeve sei sie nicht zuständig, und sie schob das Dokument über den Tisch, der Fall schien damit für sie erledigt. Marga triumphierte. Mit dem Wort Mutter hatte sie ihr den ersten Stich versetzt, gleich in die Brust, an der noch nie ein Kind eingeschlafen war, das hatte sie der Frau gleich angesehen, die auch in Beige gekleidet war.

Ich suche etwas in Hamburg. Marga beugte sich vor und sah, wie die Augen hinter den Brillengläsern sich verengten. Sobald sie mit ihrem Sohn umgezogen sei, fügte sie hinzu, die Angestellte rutschte mit dem Sessel ein Stück zurück, so dass der gebotene Abstand nun wieder gewahrt war.

Den Entschluss hatte sie in den letzten Tagen gefasst, als die Arbeit im Atelier wieder stockte. Das neue Leben, zu dem sie sich nun bereit fühlte, hatte ihr plötzlich ganz deutlich vor Augen gestanden, war wie eines jener vollkommenen Kopfbilder gewesen, die sich erst auf dem Papier als stümperhaft erweisen. Die Wohnung, die sie würde kaufen können, wenn sie Haus und Grundstück der Familie ihres Schwagers und seinen Schweinen überlässt, läge in der Susannenstraße, mitten im Stadtteil der Studenten, Künstler und Hausbesetzer, wo sie schon damals, im letzten Heimjahr, während des Sonntagsausgangs in einem der Straßencafés gesessen und die jungen Menschen beobachtet hatte, die ihr frei und lebenshungrig erschienen waren. Die Anstellung – so hatte das Bild in ihrem Kopf Gestalt angenommen –, die sie heute auf dem Amt fände, würde ihr genug Zeit für die Malerei lassen, ihr trotzdem das Auskommen sichern, dem Jungen außerdem später einen Platz an der Universität.

Sie hatte sich dabei ertappt, wie du in dieser Phantasie abends, wenn sie vom Atelier zurückkommt, neben ihr auf dem Bett liegst und von deinem Tag erzählst. Sie lauscht deinen Witzen über die Professoren, während du ihre neuerdings glatten und gesunden Lippen betrachtest. Das Haar trägst du schulterlang, wie es heute bei den Studenten Mode ist. Darunter wölben sich die Muskeln an den Armen, die du beim Unisport stählst, und in der Schlüsselbeinmulde sprießt, wie damals bei deinem Vater, das dunkle Haar. Sie selbst aber – und bei dem Gedanken war sie zusammengezuckt – ist auf diesem Bild noch immer die Einunddreißigjährige; die Mädchen an der Uni, sagt sie und öffnet dir den Kragenknopf, gefallen sie dir? Du grinst und rückst näher, sie riecht Zigaretten, Nachmittagsbier, ja, sagst du und beugst dich über sie, aber noch besser die Jungs. Soll mir recht sein, lacht sie und dreht dir den Mund hin.

Wie alt ihr Sohn sei, wollte die Beamtin wissen. Eine dicke Schicht Puder auf ihrem Gesicht ließ die Züge maskenhaft wirken. Jetzt war es Marga, die zurückwich, voll Abscheu vor dieser Spießerin, die vielleicht ahnt, so dachte sie, dass sie selbst noch fast ein Kind war, als ihr Junge zur Welt kam. Er ist dreizehn, erwiderte sie, die andere lächelte sauertöpfisch.

Auf dem Porträt, das dich während der Verwandlung in die Libelle zeigt, hatte sie dich ohne erkennbares Alter gezeichnet, weder als Kind noch als Mann, im Zwischenzustand eines diffusen Lichts, in das ihre Augen plötzlich eingetaucht waren, als es im Fenster zu dunkeln begonnen hatte. Staub und Schatten über dem Spiegelbild in der Scheibe verwischten die charakteristischen Merkmale deiner Züge, auf der planen, nur vage umrissenen Fläche deines Körpers schienen ihr nun alle Denkarten für ihr Bild möglich.

Erst jetzt sah sie, dass du in deiner Ecke eingeschlafen warst. Sie stand auf, ging hinüber und begann, dich mit behutsamen Griffen in Pose zu biegen, wobei sie sich an ein Gemälde erinnerte, das sie vor langer Zeit in einem Katalog entdeckt hatte: Der Nachtmahr von Johann Heinrich Füssli, wo sich ein schlafendes Mädchen dem Alptraum, der es heimsucht, einem affenartigen, auf seiner Brust hockenden Gnom, lustvoll und mit leicht gespreizten Schenkeln hingibt. Das unheimliche Wesen wendet dem Betrachter das Gesicht zu und glotzt ihn an, und jeder weiß, was dem Mädchen in seinem Traum gerade widerfährt. Du aber, stellte sie sich vor, solltest auf ihrem Bild, das sie nun ganz deutlich vor sich sah, von einer Libelle träumen, die zum Paarungsakt dem Partner ihren Hinterleib entgegenreckt, so nämlich hattest du es ihr an einem Sommermorgen einmal am Teich erklärt, als ein ineinander verhaktes Libellenpaar über das Wasser getrudelt war.

Du hast etwas im Schlaf gemurmelt, sie hielt den Atem an, blickte dir eine Weile ins Gesicht, kehrte dann leise an den Zeichentisch zurück und schaute erst vom Blatt auf, als sich auf dem Papier ein praller, schuppiger Phallus aus deinem Schoß emporreckte, halb Insektenleib, halb männliches Glied, mit einer Kerbe auf der Eichel oder Schwanzspitze, die sich bei der Libelle dort, wo die Greifzange sitzt, knorpelartig verdickt, und auf ihrem Bild an ein grinsendes Maul erinnerte, das geile Grinsen des Alptraums, der den schutzlosen Jungen beschläft, drüben im Gerümpel, wo du plötzlich die Augen aufschlugst.

Ob sie schon eine Wohnadresse habe, fragte die Beamtin und zückte den Stift. Susannenstraße, log Marga und sah, wie die Frau eine Augenbraue hoch und den Mundwinkel nach unten zog. Jetzt, dachte sie, hat sie die Spur aufgenommen, wittert Ehebruch und in ihr die Abtrünnige, die vom Land in eine Kommune in Hamburgs Lotterviertel flüchtet. In welcher Branche sie bisher tätig gewesen sei? Herrenmode, erwiderte Marga. Als Schneiderin? Sie zögerte einen Augenblick. Beratung, sagte sie dann, Verkauf. Die Angestellte nickte und blätterte in ihren Akten. Nein, fuhr Marga dazwischen, nichts dergleichen mehr! Sie suche etwas gänzlich Neues.

Frau Gabriele Holst, so hatte es auf dem Türschild gestanden, schnaufte erschöpft. Der Name kam ihr bekannt vor; ein Herr Holst, Friedrich Holst, war eine Zeitlang Stammkunde im Modehaus gewesen, ein gepflegter, stets ein wenig bekümmert wirkender Herr, der es immer sehr eilig hatte. Doch das, dachte sie, wäre nun wirklich Zufall, Holst war ein in Hamburg geläufiger Name.

Die Arbeitsvermittlerin erkundigte sich nach ihrer Ausbildung. Marga zuckte die Achseln. Ohne Abschluss, gab die andere zurück, sei das, was sie anbieten könnte, leider recht beschränkt, Gebäudereinigung, Nachtwache –

Ich bin Malerin, sagte Marga.

Die strenge Amtsmiene zerbröselte. Anstreicher? Lackierer? Als Frau?

Marga sank im Stuhl zusammen. Jeglicher Kampfgeist hatte sie verlassen. Wo sie eben noch Lust verspürt hatte, diese Büroschranze zu provozieren, machten sich Erschöpfung und Leere breit. Das Gespräch war gelaufen, ab jetzt würde es nur noch schlimmer werden. Sie wäre nun gezwungen, zu erklären, was sie den ganzen Tag in der Scheune treibt, würde, um Worte ringend, eine Tätigkeit beschreiben, die sie seit über einem Jahrzehnt ausübt, ohne sie im Geringsten zu beherrschen, stammelnd einen Beruf erklären, den sie selbst eher als Zwang und Obsession empfindet, nicht einmal mit Leidenschaft und Verve, eher zermürbend wie eine chronische Krankheit. Frau Holst würde nach Erfolgen, Stipendien und Ausstellungen fragen und ihren Bleistift in die Bruchstellen ihrer Biografie bohren. Bei Siana, dachte sie, hatte sie noch nie ihre Würde verloren, in fünfzehn Jahren Anstellung kein einziges Mal, von der ersten Begegnung mit Miklos, dem eigentlichen Boss des Ladens, einmal abgesehen, und jetzt ein Besuch auf der Stellenbehörde, in der Welt deutscher Ordnung und Tugend, erniedrigend, entblößend, ein Hurengang.

Sie stand auf und strich ihr Kostüm glatt. Lass dir nichts anmerken, dachte sie, einfach weitergehen, lächeln, wie sie es einst bei Siana gelernt hatte, in dem großen Spiegel des Hinterzimmers, vor den die Herrenausstatterin sie geschoben hatte. Schau dich an, sagte die Chefin mit ihrem Reibeisenakzent, über dessen Ursprung sie auch heute noch beharrlich schweigt, schau dich genau an, Mädchen, und wenn dir gefällt, was du siehst, dann lächle – und sie, Marga, hatte ihre Mundwinkel hochgequält –, nicht mich, dich sollst du anlächeln, herrschte Siana sie an und quetschte mit den spitzgefeilten Nägeln von Daumen und Zeigefinger die Kinnlade. Dein Lächeln, fuhr sie fort, legt alles fest, wenn du lächelst – und sie stach ihr die Nägel in die Haut –, hast du den Kunden schon in der Tasche, einfach lächeln, sagte sie, und das Geschäft ist bereits gelaufen. Doch das Wichtigste sei – und sie bohrte ihr die Finger noch tiefer, so dass nun wie von selbst der Mund aufklappte –, die große Herausforderung ist, liebes Mädchen, dass du den Kerl in diesem Moment dazu bringst, sich seine Investition selbst zu verzeihen. Habe sie das geschafft, würde er weich wie Butter, du schmierst ihn dir einfach aufs Brot, flüsterte die Chefin, und er kommt jede Woche wieder.

Siana ließ abrupt ihre Wangen los, wo zwei schmerzhafte Kerben zurückblieben, die sich langsam rot färbten. Der Rest, sagte sie und betrachtete ihre Finger, als suchte sie dort Schmutzspuren, ist Routine und Training, aber das Lächeln, das kann man nicht lernen, nicht einmal bei mir, und sie strich ihr übers Haar. Solch ein Talent sei eine Gabe, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu und deutete in den Spiegel, wo der kleinen verschüchterten Magret, als die endlich den Blick von der perlweißen und rubinroten, schwere Düfte verströmenden Frau gelöst hatte, eine hübsche, jetzt, da die Mundwinkel langsam nach oben wanderten, sogar ausnehmend schöne Siebzehnjährige entgegenstarrte, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst begrüßte. Ab sofort sollst du anders heißen, sagte Siana, und sie: Mira. Die Herrenausstatterin tätschelte ihr die Schulter und nickte: Nicht schlecht.

Die eigentliche Aufnahme ins Modehaus war aber doch anders erfolgt. Auch diese Bilder drängten nun wieder herauf, während die Arbeitsvermittlerin sie ein wenig mitleidig musterte, oder war es sogar Verachtung, die Marga in ihrem Blick zu sehen glaubte, als würde nun auch die Frau vom Amt mit den kleinen, gierigen Augen in ihre Vergangenheit hinabtauchen, wo sich tief unter den Schichten verworrener Erinnerungen auch heute noch das vielleicht dunkelste Bild verbirgt, aus dem sie für ihre Malerei die drückenden Schwarz-, Grau- und Umbratöne schöpft, die auf vielen ihrer bisherigen Arbeiten die dominierenden Farben sind, wie überhaupt in den Hinterräumen des Modehauses ein Licht geherrscht hatte, das es kaum ermöglichte, einen Saum gerade abzustecken oder mit den Nähmaschinen, die dort herumstanden, eine saubere Naht zu ziehen, eine Aufgabe oder Prüfung, die sie nun glaubte unter den strengen Augen ihrer Vorgesetzten bestehen zu müssen, als ein Mann unbestimmbaren Alters in Glanzsakko, Seidenhemd und mit der ausgeprägten Halsmuskulatur eines Karatekämpfers, Miklos, der Geschäftsführer des Hauses, den Siana herbeitelefoniert hatte, sie durch die Kabine hindurch in das sogenannte Ankleidezimmer führte, das sich hinter dem Spiegel der Umkleide und einer sich im Kabinenspiegel durch Knopfdruck zu öffnenden Tür verbarg, die sie auf einen fensterlosen, nach Chlorreiniger riechenden Korridor schleuste, und durch eine weitere Tür in das Nähzimmer direkt vor das große Bett mit dem Eisengestell, das ihr in der Sekunde, als sie eintrat, in einer Schneiderwerkstatt noch fehl am Platz erschien.

Während des kurzen Wegs durch den Flur hatte Siana mit ihrem Kollegen diese harte, konsonantenreiche Sprache gesprochen, die sie noch immer für Russisch hielt, und auch das Genital, das der Mann nun aus dem Hosenschlitz wühlte und hochwichste, erschien ihr auf eine gewisse Art und Weise als sowjetisch, mit dieser in Arbeitsbereitschaft schwellenden, fast sichelförmigen Krümmung, die ihr ungeahnte und bis dahin unbekannte Schmerzen bereitete, obwohl ihr die Handgriffe, mit denen er, Miklos, der Boss, sie, Mira, die Neue, in die Routinen des Modehauses einwies, längst kein Geheimnis mehr waren. Doch wie der Kerl sie in die Hundestellung mehr trat als bog, dabei ihr Gesicht ins Kissen drückte, sie dann gegen den Eisenpfosten des Bettes keilte und mit seinem nicht minder stahlharten Gerät in sie hineinzusicheln begann, schneller und schärfer, bis ihr Kopf gegen das Bettgestell und das Bettgestell gegen die Wand schlugen, wobei zwischen den akkurat auf Garderobenstangen gereihten Herrenanzügen die Kleiderbügel zu schwingen begannen, nahm der Schmerz im Unterleib, den sie in abgeschwächter Form schon von den ersten Liebesabenteuern während ihrer nächtlichen Fluchten aus dem Mädchenheim kannte, plötzlich eine gänzlich neue Dimension und für alle Zukunft den Geruch des Ankleidezimmers an, leicht staubig wie die Anzugmodelle auf ihren Bügeln, stets ein wenig muffig von den Ausdünstungen der Körper und geschwängert vom Parfum der Herrenausstatterin, die nun die Hand auf ihren Rücken legte, genau auf die kleine Narbe zwischen den Schulterblättern, wo sie, Mira, nun kühl, fast mildernd das Metall eines Fingerrings spürte.

Der Schrei, der sich in ihrer Kehle angestaut hatte, rann ihr mit einem Spuckebläschen als dünnes Gewimmer über die Lippen. Siana streichelte ihren Rücken. Lächele, befahl die rauchige Stimme, dann plötzlich näher, sanfter: egal, was du dabei fühlst, Worte, die an ihrem Ohr vibrierten, doch vielleicht hatte sich auch nur ihr Körper aufgebäumt, als ihr ein weiterer, schon hellerer und weniger krampfartiger Laut entfuhr, den ihr Siana mit der anderen Hand von den Lippen pflückte, in einer beschwörenden Geste, als wollte die Chefin sie in Trance versetzen. Streng dich an, mahnte sie, drückte von außen gegen den Kieferknochen und zwängte ihr die Finger in den Mund. Der Russe stöhnte. Sie spürte seinen Schweiß auf ihren Arsch tropfen, dann biss sie zu. Gut so, sagte Siana und koste weiterhin ihren Rücken. Neben dem Bett tackten die Kleiderbügel an der Stange, stimmten mit ein in den Rhythmus, in dem der massige Leib des Zureiters gegen ihre Hinterbacken klatschte. Lust, kein Geheul, hörte sie Siana von oben, mit der zerrenden Hand zwischen den Zähnen klappte ihr Kopf hin und her wie bei einem Hund, dem man einen Knochen zu entwinden versucht. Tatsächlich jaulte sie jetzt. Mehr, rief Siana und bohrte die Finger tiefer, als wüsste sie, dass Seufzer der Wonne irgendwo im Körper ihres neuen Mädchens schlummern. Mira verspürte einen Brechreiz, der ein weiteres Winseln herauswürgte, dann schmeckte sie Blut. Schon besser, sagte Siana, plötzlich wieder weiter weg, dumpf wie durch Wände hindurch, sie glaubte, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. Der nächste Schrei kam weich, fast gurrend aus der Tiefe der Eingeweide, wo sie den Russen wüten spürte. Noch mehr, dröhnte es aus der Wand, die Kleiderbügel schlugen im Takt, in diesem Chaos der Stimmen kein Geräusch, eher der Puls, der ihren Körper in Schwingung versetzte, wie von einem Metronom in einem unbehausten Raum, das, einmal angestoßen, fühlbar macht, was vorher still und leer, ja gar nicht vorhanden gewesen ist.

Marga räusperte sich. Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe es mir doch anders überlegt. Eigentlich, erklärte sie, sei sie mit ihrer bisherigen Arbeit doch recht zufrieden. Sie drehte sich um, zu dem Garderobenständer, wo Frau Holst ihre Regenhaut sorgsam auf einen Holzbügel gehängt hatte. Ein anderer daneben begann zu schwanken, als sie ihren Mantel vom Haken zog. Jetzt fiel ihr wieder ein, wie sie die Bügel ein paar Tage nach ihrem Arbeitsbeginn aus dem Modehaus geräumt und in die Mülltonne geworfen hatte, wobei sie von Export-Ida erwischt wurde, der Putzfrau, die früher auch einmal die Kunden aus- und angekleidet hatte, bevor sie dem Bier verfallen war, dem Elbstern Export, das ihr erst das Gesicht, zuletzt auch das Hirn verwüstete, so dass Siana sie schließlich aus dem Innen- in den Außen-, also den Putz- und Bringdienst versetzte, wo sie nun das geliebte Getränk den Modehauskunden in schlanken Gläsern servierte, auf dem Papierserviettchen daneben die angebrochene Flasche, die manch Freier in der Eile zu leeren vergaß, was dann Ida erledigte, bei den Mülltonnen im Hinterhof, wo sie die beargwöhnte Neue mit dem außergewöhnlich blonden Haar bei der Kleiderbügelentsorgung beobachtete, was sie sofort Siana meldete, die anordnete, die Dinger wieder zurück an die Stange zu hängen, von der sie, Mira, die nutzlosen Attrappen wieder herunterfegte. So ging das ein paar Mal hin und her, bis eines Nachmittags Siana ins Zimmer trat und den Schub Bügel auf den Boden krachen ließ. Sie war, erinnert sich Marga, gerade mit einem Kerl beschäftigt. Wer hier rausfliegt, bestimme ich, rief die Chefin, hinter ihr im Flur bückte sich Export-Ida triumphierend über den Feudel. Ihre Mädchenstreiche seien jetzt Vergangenheit, zischte Siana und trat mit der Hacke ihrer Pumps noch einmal in den Haufen, so dass die Hölzer und Haken sich klackend ineinanderkeilten, ähnlich wie am Tag ihrer Aufnahmeprüfung, als Miklos, der Lude, sich endlich grunzend in ihr entleert und ihren bebenden Leib ins Kissen geschleudert hatte, wo sich unter ihrem Mund langsam ein Blutfleck ausbreitete. Siana wischte sich am Bettzeug die Finger ab, streichelte ihr noch einmal über den Rücken und sagte: Gut.

Sie sprang auf, stürzte ins Badezimmer und erbrach sich in die Toilettenschüssel. Als sie zurück ins Zimmer kroch, tatsächlich auf allen vieren, weil sich ihr Rückgrat wie verkantet anfühlte, war Miklos verschwunden. Siana half ihr zurück ins Bett, deckte sie zu, zog die Schublade der Kommode auf und drückte drei Pillen aus einem Tablettenstreifen. Gleich ist alles wieder gut, sagte sie und öffnete mit den Fingern ihre Lippen. Sie schluckte zusammen mit etwas blutiger Spucke und einem Rest vom Erbrochenen. Ihr Magen zog sich zusammen, für einen Moment glaubte sie, sich noch einmal übergeben zu müssen, dann war ihr plötzlich, als löste sich in ihrem Körper der Krampf. Sie streckte das schmerzende Kreuz durch. Du hast Talent, hörte sie die plötzlich weiche, fast zärtliche Stimme von Siana, die sich zu ihr herabbeugte und ihr sacht die überschminkten Lippen auf den Mund drückte. Es war der erste Gutenachtkuss gewesen, den sie in ihrem bisherigen Leben bekommen hatte. Sie schloss die Augen. Das also würde ihre Arbeit im Modehaus sein, dachte sie noch, dann musste sie infolge des Medikaments, von dem betäubt und fast seines Schreckens beraubt dieser Gedanke schon war, tatsächlich eingeschlafen sein. Auf dem leeren, stillen Bild, durch das sie im Traum tauchte, dem Lebensbild, das sie irgendwann einmal würde malen müssen, holte sie die Lust doch noch ein, vielleicht weniger ein Gefühl des Verlangens, eher eine Art hohle Gier, verspätet und von allem, was sie bisher kannte und wusste, losgelöst wie ein durch ihren Körper irrendes Echo ohne Ursprung und Ziel.

Auf der Schwelle des Büros drehte sie sich noch einmal um. Ach, Frau Holst, sagte sie, und bitte grüßen Sie Ihren Mann Friedrich von mir, Mira, er weiß dann schon Bescheid. Sie sah noch das verblüffte Gesicht der Beamtin, dann schlüpfte sie hinaus und schloss leise die Tür. In der Halle erhaschte sie in einem Spiegel ihren Schatten, blieb stehen und betrachtete sich. Der Rock spannte an den Hüften, warf unvorteilhafte Falten und verriet, dass sie in den letzten Monaten zugelegt hatte. Außerdem machte er ihr X-Beine, die hochgeschlossene Bluse zudem einen Gänsehals, sie zog den Bauch ein, streckte den Rücken durch, hätte sich das Kostüm am liebsten auf der Stelle vom Leib gerissen. Von dieser Pleite, dachte sie noch, erzählt sie ihrem Jungen lieber nichts. Dann ist sie, süchtig nach Farben und Licht, raus aus dem Amt und rein in die nächste Boutique.

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Doch nicht nur ihre kostspielige Kleidersucht schürt dein Misstrauen, das Wühlen und Scharren in den Läden der Stadt nach immer neuen Modellen und Schnitten, die dann, einmal getragen, in der Schrankecke zerknittern, wenn sie das Neue und Teure nicht plötzlich auftrennt, zerschneidet und zu etwas gänzlich anderem verprünt, das nach stundenlanger Flickerei oft halb fertig und untragbar in der Altkleidersammlung landet.

Aus ihrer Handtasche, die du gestern Nacht noch durchsucht hast, rutschte dir die Rechnung entgegen, hundertfünfzig Tacken hatte sie für den roten Fetzen hingelegt, der mehr Aussparungen als Stoff vorweist, du selbst aber wartest schon seit einem Jahr auf das neue Fahrrad. Auch das sechsbändige Naturlexikon, das du dir für deine Moorpflanzen- und Libellenforschungen von ihr wünschst, ist bisher nur ein leeres Versprechen geblieben. Doch statt zu protestieren, packst du dich in Nebel und Stille. Schon immer ist der große, hinter einem schier undurchdringlichen Schilfgürtel verborgene Kolk im Herzen der Ebene, woher die meisten deiner Funde stammen, Ziel deiner Fluchten gewesen, Versteck vor den mündlichen Schulprüfungen und Rückzugsort, wenn du die Launen der Mutter nicht mehr ertrugst.

Unter deinen Füßen federt der Schwingrasen, verleiht dir eine fast traumwandlerische Leichtigkeit, und auch die Entfernung zum Dorf ist dir bei deinen Exkursionen heimwärts stets weiter erschienen, denn der schwammartige, vom Wasser geblähte Grund, den du springend querst, trügt den Wanderer in seinem Gefühl, über die aufgeworfenen Bulte mehr zu schweben als mühsam zu stolpern, bis nach vielen Kilometern plötzlich, auf einem trittfesten Stück Weg, die Erschöpfung den Schritt ausbremst, meist dann, wenn ringsum kein Kirchturm oder Futtersilo eines Gehöfts mehr ragt, nur noch die löcherigen Reihen des Gagelstrauchs, struppige Farnfelder und die wie zernagte Buhnen aus dem von Wollgrasinseln durchsetzten Binsenmeer starrenden Zeilen der abgestorbenen Birken vor den immergleichen, sommers dumpfgrün, ab November in den Farben des Hochnebels schimmernden Forsten, die in der Ferne die Ebene säumen.

Dort dringt dir der Regen bis auf die Haut. Vor deinen Augen zeichnet der Nebel Fratzen in die Heidegehölze, die bereits kahlen, oft zersplitterten Zweige wie Glieder und Flechsen. Du drehst dich noch einmal um, Richtung Dorf, doch da sind nur noch Gras, Wasser, totes Holz, ab und zu eine verkrüppelte, im Zickzack gewachsene Kiefer und dahinter wieder der Wellenteppich aus Pfeifengras und Schnabelried, in dem adrig die dunklen Rinnen schimmern; wo du hinschaust, überall bin nur noch ich.

Lauf weiter, zischt es aus der gluckernden Spalte, zu Hause gibt’s für dich nichts zu holen, drüben grinst das Birkenskelett. Selbst wenn sie noch da ist, hörst du es unter den Sohlen flüstern, sie hätte für deine Not jetzt kein Ohr, in der Wanne, von wo aus sie dich mit Schaumkränzen an den Fingern herbeiwinkt, Liebling, girrt sie, machst du mir die Beine? Dampf wallt dir entgegen, der betäubende Lavendelduft, dann ihr Atem, schal wie meistens am Morgen, wenn sie nachts noch in der Scheune gearbeitet und dabei gesoffen hat, den billigen Wein, den du kurz vor Ladenschluss für sie hast holen müssen, im Laden von Ilse Bloch, die die Flasche in der Hand dreht, als würde sie das Preisschild nicht finden.

Ihr Oberkörper rutscht tiefer ins Wasser, nur die Knie ragen aus dem Schaum, du denkst an die Schlenken im Winter, wenn erster Pulverschnee die Mooshöcker bedeckt und die Ebene einem Meer solcher Kuppen gleicht, Bult, Spalte, Bult, dazwischen das leise Klirren gefrorener Halme, ihr Körper endlos am Horizont. Sie drückt dir den Rasierapparat in die Hand und sagt: Das Einzige, was deine Mutter heute verkaufen wird, sind ihre Beine. Ihre Haut quietscht auf der Emaille, als sie den Fuß in die Höhe streckt und dir dabei den Zigarettenrauch ins Gesicht bläst; doch es ist ja nur Regendunst, der flüchtige Umriss ihrer Figur, der in dünnen Fäden aus der Furche steigt. Nun lauf schon, Dion, locke ich dich tiefer hinein in das Nebelbild, die Prozedur war dir doch schon immer ein Graus: Sie stippt dir mit dem Zeh Schaum auf die Nase, schlägt nun auch das andere Bein über den Wannenrand und seufzt: Schöne Beine sind auf dem Kunstmarkt wichtiger als gute Bilder, also streng dich an! Vorsichtig setzt du den Rasierer an und ziehst die erste Bahn, kennst schon das Geschäft, und wie heikel es ist, wenn deine Aufmerksamkeit oder ihre Stimmung auf der Kippe stehen. Du lässt den Apparat wie gewohnt nach unten gleiten, so konzentriert, dass dir dabei der Schweiß ausbricht, wegen der Hitze im Badezimmer oder vor Ärger, weil sie sich räkelt und gähnt: Gut machst du das.

Wie zu einem Knecht!, denkst du und springst auf den nächsten Buckel, aus dem das Wasser quillt. Wie der Freier zur Nutte!, kichert’s im Moos. Du stolperst, fängst dich ab, läufst weiter. Denk: leck mich!, zischelt ein Farnbüschel, sag: mach’s doch selber, stimme ich mit ein, hör auf, ihr Prügelknabe zu sein, der für alles herhalten muss, für ihre miese Laune, ihre schlechte Kunst, und auch die Schramme am Bein ging natürlich auf deine Kappe, weil dir beim letzten Mal der Rasierapparat plötzlich aus der Hand über ihren Knöchel gerutscht ist, oder hast du die Klinge doch absichtlich über ihren Fußknöchel in den Schaum geratscht, der sich von dem Blutstropfen rosa verfärbte?

Idiot!, rief sie und fuhr in der Wanne hoch. Du hast benommen auf die Tropfen gestarrt, die von der Brust zum Bauchnabel rannen. Wieder das Hautgeräusch auf der Emaille, dann ihre Stimme, metallisch jetzt, du bist wie dein Vater, ein Bauer! Sie stieg heraus, schob dich weg und schnappte das Handtuch.

Etwas Rotes spritzt dir gegen das Bein, kein Blut, nur ein Blatt des Sonnentaus, den du unter den Sohlen zermalmt hast. Die seltene Moorpflanze steht schon herbstlich welk in ihrer kleinen Gesellschaft am Rand des Tümpels, in den hinein du beinahe gestolpert bist. Die feinen Tentakel haben ihre leuchtende Farbe verloren und sind zu Krusten vertrocknet, zwischen deinen Fingern zerbröselt das Blatt wie Grind. Erinnerst du dich? Auch von dem Rasierunfall war am nächsten Tag nur ein Kratzer am Schienbein zu sehen gewesen, der auch von einem scharfen Binsenhalm hätte rühren können, nicht der Rede wert. Dennoch war ihre Laune schlecht, als sie im Regen mit dir zum Teich stapfte, du wieder mit Schirm auf dem Baumstumpf, sie nackt zwischen den Binsen. Sie hat nicht herübergezwinkert, spulte ihre Pantomime ab, als wäre es eine lästige Pflicht. Wie sie dir das Nachthemd zuwarf, die Spange ins Haar pfriemelte, mit Ekelmiene das Wasser durchpflügte, schien dir, als täte sie es mehr für dich als für sich selbst, so, wie du heute mehr zu ihrer als zu deiner Erheiterung noch immer ab und zu den Alten Mann spielst, indem du dir Wollgrasbüschel auf die Oberlippe und in die Ohrmuscheln klebst und auf den Besenstiel gestützt vor ihr herumtaperst, weil sie wieder mit Steingesicht und nachmittags noch immer im Bademantel auf der Veranda hockt und das einzige Lebenszeichen aus ihrem Inneren die Rauchschwaden sind, die von ihrem Mund aufsteigen, bis sie schließlich doch noch den Kopf bewegt, ins Spiel mit einsteigt und die Greisin mimt, die dich müde anlächelt, die Lippen einsaugt und nuschelt: Liebling, hast du mein Gebiss gesehen?

Doch an jenem Morgen hätte auch das alte Spiel nichts mehr ausgerichtet. Ihre Zickigkeit als Strafe für die kleine Wunde erschien dir ungerecht und gehässig, doch worauf warst du eigentlich wütend? Als sie aus dem Wasser stieg und nach dem Handtuch verlangte, hast du deinen Ärger hinuntergeschluckt, tief eingeatmet und: hEs htut hmir hleid, hervorgepresst. Die halbe Nacht hattest du gegrübelt, was eigentlich dein Fehler gewesen war, und je weiter die Zeiger auf der Libellenuhr voranrückten, desto drückender legte sich der Gedanke auf dich, dass nicht deine Ungeschicklichkeit beim Rasieren sie so vergrätzt hatte, nein, Dion, schallt es nun von allen Seiten aus dem Gras, der Grund für ihr Unglück bist du!

Sie wickelte sich ins Badetuch und blickte dich verdrossen an. Was?, blaffte sie und boxte dich gegen die Schulter. Was das sei, das dir leidtue? Der Regen tropfte dir kalt in den offen stehenden Mund. Das etwa?, und sie deutete auf den Teich, dann in einer Ruderbewegung zum Dorf, zum Haus, ins Moor hinaus, zuletzt auf dich. Auch mir tut das leid! Sie fasste dich am Kinn und drückte dir den Kiefer auseinander, als wollte sie irgendeine Reaktion aus dir herausquetschen, doch es kam kein Wort.

Ein Zweig peitscht dir ins Gesicht, so unvermittelt und brutal, wie sie dich damals packte. Du schlägst zurück, trittst sie in Gedanken weg, das Holz zerbricht, kein Blatt hängt mehr an dem toten Strauch, unter den du dich wegduckst. Dein Fuß bleibt im Grasfilz hängen, du fällst hin und beißt ins Moos. Hättest dir ihre Umarmung gewünscht, wenigstens ein Lächeln, den schmierigen Salben-Kuss, irgendetwas, das dir versichert: Alles wieder gut.

Die Erde schmeckt bitter, nach Rost, du spuckst aus, raffst dich hoch und rennst weiter in deinem einsamen Trotz, denn ihre Liebe, Dion, oder nach was auch immer du hier suchst, ist nichts als Schall und Rauch, ein Hirngespinst und Nebelphantom, das dich hätschelt, Dornengesträuch, das dich tätschelt, und der eisige Wind, der dir Zärtlichkeiten ins Ohr haucht, ein Schauergedicht, in dem das Kind durch die Moorhölzer bricht, bis du nur noch den Himmel siehst, der dich verschluckt, Erde, die in deine Spur das Wasser drückt, und hier und da eine nackte Birke, wo du mal links, mal rechts abbiegst, was keinen Unterschied mehr macht und den Horizont nur um eine weitere Linie nach hinten verschiebt, denn hast du einmal den Fußpfad verlassen, der über eingesackte Dämme und in den Schlamm geworfene Bretter durch die Mäander der Schlenken von Rahse nach Fenndorf führt und bei Regen selbst für den kundigsten Torfstecher zum Labyrinth wird, sind all meine Richtungen gleich.

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An der Ecke zur Seitenstraße, in der die Galerie liegt, bleibt sie vor einem Praxisschild stehen: Sebastian Klingohr, Sprachheilkunde, Sprechzeiten nach Vereinbarung, darunter die Telefonnummer. Ein Name wie die Faust aufs Auge, denkt sie und durchwühlt ihre Handtasche nach einem Stift, findet aber nur leere Zigarettenschachteln, Haarspangen, die Packung Lexotax, ein Kondom. Sei froh, dass ich mich um dich Stotterer kümmere, scheint die Frau, die gerade aus der Tür tritt, ihrem Kind sagen zu wollen, einem blassen, vielleicht zehnjährigen Jungen mit verkniffenem Mund und Augen, die sie, Marga, furchtsam mustern.

Die Mutter, kaum älter als sie, drückt sich an ihr vorbei auf die Straße. Marga spürt den prüfenden Blick auf ihrem Körper, das Kleid, das ihr plötzlich doch zu kurz erscheint, oder ist es das Bild in ihrer Hand, das sie verrät? Schnell klemmt sie es sich unter den Arm und eilt weiter, dreht sich nach ein paar Metern doch wieder um. Ob sie sich die Praxis nicht wenigstens einmal anschauen sollte? Drüben zieht die Frau ihren Jungen über die Straße, zwischen den parkenden Autos blickt er plötzlich zurück, wie um sie noch einmal vor dem Sprachheiler zu warnen. Sie kann ja doch alles nur falsch machen, denkt sie, wie sie dich auch anpackt, es ist immer verkehrt.

Tatsächlich drängten Erinnerungen aus der eigenen Schulzeit herauf, als sie heute Morgen beim Bettenmachen die Abschriften deines Referats auf dem Schreibtisch fand. Was sie da in Händen hielt, war nicht die Vorübung zu einem Schulaufsatz, sondern ein Zeugnis größter Bedrängnis. Sie brauchte die engbekritzelten Seiten nur zu überfliegen, um das Bild der Angst, das sich in den Zeilen verbarg, in seiner ganzen Verworrenheit zu erkennen. Hastig folgte sie mit den Augen den Verrenkungen der Sätze. Obwohl sie die Worte im Chaos der Korrekturzeichen und Einfügungen nur schwer entziffern und die einzelnen Abschnitte kaum in Zusammenhang bringen konnte, ihr das Buchstabengewirr auf den Seiten vielmehr wie eine komplizierte und abstrakte Zeichnung aus Chiffren und Pfeilen erschien, schlug ihr daraus eine Wortgewalt entgegen, die zugleich ein Abgrund war, etwas Bodenloses, fast Besessenes, das aus den Blättern sprach und eine tiefe Beklommenheit in ihr hervorrief, ja sogar etwas wie Kränkung, als sie sich eingestehen musste, dass du ihre Hilfe anscheinend gerade dann verschmähst, wenn du sie am nötigsten hast, wie in diesem Kampf, den du ganz alleine auf dem Papier ausgefochten hattest.

Auf ihrer Armbanduhr war es kurz vor halb neun, zu spät, dachte sie, nun ist er schon dran. Noch einmal fuhr sie mit dem Finger die Zeilen entlang, die unter ihrem Blick wegrutschten und sich an anderer Stelle wieder zusammenstauchten, in einem ungleich größeren Durcheinander, als sie selbst es je in einem Text angerichtet hatte. Nach einer halben Seite kapitulierte sie. Eine Weile stand sie unschlüssig herum und betrachtete die Libellenuhr, die kurz nach halb acht anzeigte, so dass ihr die Minuten, in denen sie überlegte, was nun zu tun sei, rückblickend wie ein Zeitloch erschienen. Wie lange hatte sie dort verharrt und nachgedacht? Erst jetzt begriff sie, dass die Zeiger auf der Libelle stehengeblieben waren. Noch könnte sie im Sekretariat anrufen und Gorbach, den Deutschlehrer, ans Telefon rufen lassen. Oder doch besser gleich hinfahren und den Jungen unter einem Vorwand abholen, ein vergessener Arzttermin, ein Todesfall in der Familie, in welcher Familie aber, wischte sie den Gedanken weg, und nichts schlimmer als eine besorgte Mutter, die ihr Kind aus der Klasse zerrt.

Sie hätte ihn damit nur dem Gespött der Mitschüler ausgesetzt, einer neuen Attacke von David, dem missratenen Spross der Gertrude Voss, die auch eine Zugezogene, eine Bessere aus der Stadt ist, mit Hamburger Autokennzeichen und verheiratet in zweiter Ehe mit dem Zahnarzt, dem sie ein kleines Monster herangezüchtet hat, das noch verkommener ist als die tumben Dorfkinder, die prügeln, weil ihre Eltern prügeln, und später saufen werden, weil auch der Vater schon seinen Frust, wie man sagt, im Korn ertränkt hat. Davids Schikanen aber, das war ihr schon aufgefallen, als Dion noch in die Grundschule ging, haben Taktik, eine Brutalität aus gutem Hause.

Es ist noch nicht lange her, als du deine Mutter fragtest, ob es stimme, dass du bist, was David behauptet hatte: ein Hurensohn. Immerhin hatte sie daraufhin eine Unterredung beim Rektor bewirkt, wo Gertrude Voss energisch die Verteidigung des Sohnes übernahm, ihres David, der es dank ihrer liberalen Erziehung schon früh gelernt habe, seine Mitmenschen genau einzuschätzen. Von der einen Seite flogen Begriffe wie Gluckenmutter und Mutterkomplex, von der anderen die Worte Mutterpflicht und Mutterversagen wie Geschosse durch den Raum. Du hast stumm in der Ecke gestanden, David grinste hämisch herüber. Schließlich war der Schulleiter aufgesprungen und hatte den zankenden Pulk aus dem Direktorenzimmer geschoben, eine Schlappe für David Voss, der sich vor aller Augen bei dir entschuldigen musste. Doch kaum aus der Tür heraus, verpasste er dir eine Kopfnuss, so dass die brünette Mutter den blonden und die blonde den braunhaarigen Übeltäter am Arm packte und über den Korridor davonzerrte, wo es von hüben Schleimerin! und von drüben Schlampe!, vom einen Ende Mamasöhnchen!, vom anderen hBastard! schallte, was nicht gelogen war, denn im ganzen Dorf war bekannt, dass Gertrude Voss ihren David in die Ehe mit dem Zahnarzt nicht geboren, sondern aus der Stadt mitgebracht hatte, und es also am Ende dieses Streits offenblieb, wer nun eigentlich die Verkommenere der beiden Mütter war, du kennst das Wort Hure nicht nur vom Blättern und Suchen nach H-Hilfen im Duden, wo es unter den guten und heilsamen Wörtern steht, zwischen Hürde und hurra.

Am nächsten Tag trumpfte David Voss vor der Klasse mit dem Witz über deine Mutter auf, die im Schlussverkauf am Wühltisch steht und ruft: Nur ich bin billiger! Wieder spürst du in deiner Brust den Schrei festsitzen, der sich in diesem Moment nicht gegen deinen Erzfeind Voss und die prustenden Mitschüler, sondern gegen sie, Marga, richtete, eine erstickende Wut, die dich jetzt vor sich hertreibt, immer tiefer in den Muttersumpf und Mutterdreck, in das Muttermoor, das dich seit Jahr und Tag in seinen Buchstabenmorast hinabzieht, denn allein die Nominalverbindungen mit dem Wort Mutter – auch das hast du beim Suchen im Duden entdeckt – füllen dort fast drei Spalten, von Mutterband über Mutterherz bis Mutterwitz, und nicht nur David Voss spottet, das ganze Dorf stichelt mit scheelen Blicken und Geflüster, so dass Marga statt eines warm pulsierenden Mutterherzens einen Klumpen aus verhornten Kränkungen in ihrer Brust trägt, an dem du dir die Zähne ausbeißt, wenn auch du ein Stück von dem Liebeskuchen abhaben willst, an dem David Voss sich satt frisst, auch jedes andere Kind im Dorf, das von seiner Mutter zur Musikschule und zum Turnverein, am Wochenende zu den Großeltern und jeden Sommer ans Meer oder zumindest ins Zeltlager gefahren wird, und wer trotzdem noch kränkelt, der muss zu Ärzten und in Kuren, wie Tanja, deren Mutter, Frau Deichsen, keine Mühen und Kosten scheut, das Glasinnere ihrer Tochter in Spezialkrankenhäusern härten und stärken zu lassen, obwohl, wie alle im Dorf wissen, die Krankheit nicht heilbar, das allmähliche Zersplittern ihrer Knochen also unaufhaltsam ist und ihr vielleicht schon in ein paar Jahren der Rollstuhl droht, weshalb die Pfarrersfrau das Kind selbstverständlich jeden Mittwoch hundert Kilometer nach Hamburg zur Therapie bringt, dich aber, Dion, hat deine Mutter noch nie mit in die Stadt genommen, wo es Stotterheiler, sogenannte Logopäden, in Hülle und Fülle gibt.

Jedes Kind, Dion, gurgelt es im trüben Wasser, hat zeitlebens die falsche Mutter. Deine Mutter bringst du nicht hinter dich, bis zu ihrem Tod klebt ihre Liebe an dir und danach für den Rest deines Lebens der alte Groll, denn immer wird das, was sie für dich getan hat, zu viel oder zu wenig, Unterlassung oder Übergriff gewesen sein, die Rabenmutter schert sich um dich einen Dreck, die Glucke schleift dich zum Stotterarzt, die eine wie die andere hat deine wahren Nöte und Sorgen bis zuletzt nicht erkannt, das Brodeln unter der Oberfläche deines Schweigens, das du selbst hättest brechen müssen, oder woher sonst, wenn du nicht Tacheles redest, soll sie wissen, dass es sich bei der Deutscharbeit nicht, wie sie bis zum heutigen Morgen noch glaubte, um einen Übungsaufsatz handelt, bei dem sie dir ohnehin keine Stütze gewesen wäre, als die Schreibgestörte, die einst ihren eigenen Namen und mit einem einzigen Buchstabendreher ihr ganzes Leben versaut hat.

Also hast du die Referatabschriften absichtlich auf dem Schreibtisch liegenlassen. Sehen sollte sie, dass du nachmittagelang den Duden gewälzt hast, um möglichst viele H-Wörter wie Brücken und Seile in deinen von scharfkantigen Konsonanten zerklüfteten Text einzuhaken. Hatte sie wirklich all die Tage zuvor geglaubt, es handele sich um einen Aufsatz? Den hättest du, wenn er nur zu schreiben und nicht zu sprechen gewesen wäre, in einer halben Stunde hingesetzt, sozusagen aus dem Effeff – und du hörst den Wind drüben in der Föhre fisteln und darin den scharfen Pfiff des Buchstabens F, der nicht nur dem Aussehen nach einer Kralle gleicht und im Wörterbuch ganze achtundsiebzig Seiten für sich beansprucht, von Fabel bis Fuzzi, während das für dich lebensnotwendige H es zum Glück auf hundertdrei Seiten bringt, die Mundsperre M – Marga, Moor, Mutter – dich hingegen ganze fünfundsiebzig Seiten knebelt, was im Katalog der alphabetischen Folterinstrumente noch vom klauenartigen K übertroffen wird, K wie Katthusen, eine hunderteinundzwanzig Seiten und eine ganze Kindheit andauernde Katastrophe, nein, Havarie –

Doch wie du den Duden auch gedreht und gewendet hast, Der Lebenszyklus der Libellen, den es vorzutragen galt, bestand aus sechsundzwanzig Buchstaben, die dich alle fast ersticken, und selbst in einer nur hingehauchten, einer nur aus H-Wörtern und H-Sätzen wie aus Luftmaschen gehäkelten Welt würde niemand dich hören, so oder so führt deine Schreiberei stets hinaus in die Stummheit der Heiden und Haine und hinein in das Wasser, das so trügerisch aussieht wie sein Name klingt, denn der Buchstabe W lockt wohlig und weich, ein dunkles Wispern und Vibrieren aus tiefer Erde, das einlädt, sich darin zu wälzen zwischen hochgewachsenen Wiesen, und auch die Wolken, die drüber herziehen, scheinen dich ganz ohne Stachel und Dorn bewachen und bewahren zu wollen, alles Schwachsinn, alles Wortwischerei und Sprachwahn, denn tatsächlich ist das W mit seinen fünf Spitzen der im Alphabet am schwersten bewaffnete Buchstabe, der noch tödlicher zuzustoßen gewillt ist als das mit seinen Zacken drohende Z oder das kantige K, und du springst todesmutig über das Wasserloch auf die nächste Wollgrasinsel und rennst durch Wind und niederwallendes Gewölk in die Weite, die Wüste, in das verworrene und verwucherte Wörterland, immer weiter hinaus zu mir.

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Marga!, ruft Ute und schwebt ihr entgegen, elegant und luftig wie immer, das fünfzigjährige Gesicht von den besten Chirurgen der Stadt auf ewige Ende dreißig getrimmt. Komplizierter Duft umweht sie und schlichte grüne Seide, wenn in der Galerie nichts los ist, geht Ute zu Chanel nebenan. Sie küsst Marga mit spitzen Lippen links und rechts, das Lächeln danach wirkt gequält. Sie habe ja längst anrufen wollen, doch es gehe, seufzt sie, mal wieder alles drunter und drüber. Sie deutet auf die Leinwände, die noch in Luftpolsterfolie verpackt an der Wand lehnen. Neue Ausstellung? Die Galeristin winkt ab. Und was mit ihren Bildern sei?, hakt Marga nach; die kleine Auswahl an Gemälden, die auszustellen Ute sich nach langen Diskussionen bereit erklärt hatte, war in den letzten Monaten immer weiter ins Vergessen geraten, sie wanderte von der Schaufensterwand zum Mittelgang und schließlich in den Hinterraum. Sie spürt Utes Hand im Rücken, die sie zur Sitzgruppe steuert, doch sie schert aus und betrachtet die neuen Werke mit den knalligen Farben. Kaffee?, ruft Ute ihr zu. Marga lupft eine Folie, darunter ein schematisiertes Frauenporträt, in vier verschiedenen roten Farbfeldern wie Puzzleteile aneinandergelegt, irgendein Druckverfahren.

Daniel Röcker, schwärmt Ute, die plötzlich mit zwei Tassen in der Hand hinter ihr steht. Schwierige Farben, erwidert Marga, Rot kommt, sagt die Galeristin, nippt an der Tasse und deutet auf Margas neues Kleid. Röcker sei Meisterschüler von Professor Wiepersfürth, sie habe sich breitschlagen lassen, seine Abschlussausstellung zu präsentieren. Breitschlagen lassen, denkt Marga, und dass sie selbst Ute, das kalte Eisen, jahrelang bearbeitet und es doch nicht geschafft hat, auch nur in den Dunstkreis von Wiepersfürth zu gelangen, ein Anruf hätte genügt, und sie wäre drin gewesen, in der Meisterklasse, im Gespräch, im Leben. Sie sucht in Utes Gesicht einen Hinweis auf ihr Verhältnis zu diesem Maler, dessen Namen sie zu kennen glaubt. Ute lächelt mit schmalen Lippen und wachen Augen hinter entspiegelten Gläsern, jede möglicherweise entlarvende Gefühlsregung ist aus ihren Zügen verbannt. Im Meisterwerk, das ihr Gesicht nun ist, sind die Brüche, die auch ihre, Utes, Biografie zerklüften, kaum mehr zu erkennen, ausgemerzt und übermalt die Sorgenfalten und Trauerränder aus einer Zeit, da sie sich als aufstrebende Kunstkritikerin gegen ihren einstigen Traum, selbst als Malerin erfolgreich zu werden, entschieden hatte, auch gegen die Schwangerschaft, die ihre Pläne durchkreuzte.

Doch Marga weiß um die sentimentale Sehnsucht, die sie als alleinerziehende Mutter bei ihrer Galeristin weckt und die vielleicht der Grund ist, warum ihre Werke trotz fehlender Verkäufe noch immer in der hintersten Ecke dieser Räume hängen. Kampfbereit zieht sie aus der Folie das Bild des Libellenjungen. Ute mustert es überrascht. Marga wendet sich ab, geht ein paar Schritte, betrachtet die popfarbige neue Ausstellung und aus den Augenwinkeln die Galeristin, die mit einem Gesicht, das kein Urteil verrät, unter einer der Deckenlampen steht, die den Raum in ein weiches, diffuses Licht tauchen, in dem alles stets ein wenig besser und teurer erscheint, als es in Wahrheit ist. Aber das ist ja Dion, sagt Ute nach einer Weile, und Marga spürt einen bitteren Triumph. Viertausend Mark mindestens, erwidert sie, und du zeigst es Wiepersfürth. Dieses Mal, denkt sie grimmig, wird es nicht bei einer lobenden Erwähnung bleiben, wie damals vor drei Jahren, als die Kunststiftung einer Hamburger Bank ihr bei einem Wettbewerb diese drittklassige Auszeichnung ohne Preisgeld und Karrierefolgen zuerkannt hatte.

Du fängst dich gerade noch rechtzeitig vor dem jäh im Gras klaffenden Moorauge ab, blickst in das stille, vom Regen angeschwollene Wasser. Erinnere dich an den Abend, Dion!, scheint dir die schwarze Tiefe entgegenrufen zu wollen, darin das flüchtige Bild, in das du nun wieder eintauchst: Wie deine Mutter im Foyer des Stiftungsgebäudes die meiste Zeit neben ihrem Gemälde an der Wand gelehnt hatte, wo sie wie jemand, der sich an einer Straßenecke mit einem Fremden verabredet hat, durch den Rauch ihrer Zigarette hindurch die Gäste beobachtete, die plaudernd heranschlenderten und beiläufig das lobend erwähnte Werk betrachteten. Sie nickten ihr zu und reihten sich in den Pulk ein, der sich um den Preisträger gebildet hatte. Marga stieß energisch den Rauch durch die Nasenlöcher und grinste dich an. Gut siehst du aus, sagte sie, doch du hast das Zittern ihrer Hand gespürt, als sie dir das Revers des Anzugs zurechtrückte, den sie, wie sie nicht müde geworden war zu betonen, extra für diesen Anlass genäht hatte.

Du beugst dich über das Wasser. Auf der mattglänzenden, ein wenig ölig wirkenden Oberfläche siehst du den bleichen Schatten deines Gesichts. Wie eine Schaufensterpuppe sahst du damals aus, in diesem Kostüm mit Krawatte, die dir die Gurgel abschnürte. Du hattest Hunger und keine Lust mehr, für sie das Maskottchen zu spielen. Deine Füße schmerzten in den harten Lederschuhen, die du schon immer verabscheut hast, und das Lächeln, das sie mit dir am Abend zuvor vorm Garderobenspiegel geübt hatte, war in deinem Gesicht längst zu einer Grimasse gefroren. So schmieren wir sie uns aufs Brot, hatte sie gesagt und mit den Fingernägeln deine Wangen zusammengedrückt, und du hattest den Mund aufgeklappt und die Zähne gebleckt. Lächeln, nicht drohen, lachte sie und biss dir knurrend in die Lippe.

Doch ihre gute Laune war längst in Gereiztheit umgeschlagen. Als du sie zum Büfett drängtest, zog sie den Krawattenknoten fester und deutete mit den Augen auf eine Frau, die gerade auf den Preisträger zueilte, einen jungen, etwas zu schrill gekleideten Typen mit dunkler Haarmähne, fusseligem Bart und weißen Cowboystiefeln. Sie beugte sich zu dir herab und flüsterte: Die Alte da ist die Galeristin Ute Hassforther. Die müssen wir uns schnappen. Im selben Moment drehte der Typ sich um und blickte herüber.

Die Tür springt auf, reißt sie aus ihren Gedanken. Sie starrt hin zu dem Kerl, der plötzlich vor ihr steht, im knallbunten Hemd, zwei Knöpfe offen. Daniel!, tut Ute überrascht. Marga spürt seinen Blick, der ihren Körper taxiert, von den Fußspitzen bis zum Dekolleté, wo er eine Sekunde zu lang verweilt. So sieht man sich wieder, grinst er, sie nickt einen knappen Gruß, dann schnalzen die Wangenküsse, über Utes Schulter hinweg blinzelt Röcker ihr komplizenhaft zu; schon bei der Vernissage, erinnert sie sich, hatte er ihr aufschneiderisch zugezwinkert, und auch dir, Dion, war damals nicht entgangen, dass da etwas, wie es heißt, im Busch war.

Von irgendwoher zuckt ein Licht über deinen Kopf hinweg. Du drehst dich um und siehst über der Ebene den Himmel aufreißen, hinter Wolkenfetzen steht wachsbleich die ausgewaschene Sonne. Deine Glieder schmerzen vom Rennen und Stolpern, pochen in den nassen Kleidern, die dir plötzlich zu eng erscheinen, als hätte sich dein Körper während deiner Flucht ausgedehnt und rebellierte nun von innen gegen die eigene Haut, ein Gefühl wie an jenem Abend, als du dir den Kinderanzug am liebsten vom Leib gerissen hättest. Wie du sie in diesem Moment verflucht hast! Du schleuderst den regennassen Schal von dir, wirfst den Ranzen ins Gras. Ja, zeig es ihr!, tönt es zu dir herauf. Sie hat dich für diesen Kerl einfach stehenlassen, nach dem sie schon den ganzen Abend gelinst hatte; wie er von Grüppchen zu Grüppchen geschlendert war, umringt von Journalisten und Kulturfunktionären, sie hingegen stand meistens allein neben dir an der Wand.

Ihr Kopf, erinnert sie sich nun wieder, während sie Röcker aus den Augenwinkeln betrachtet, schmerzte vom Kettenrauchen und von den drei Lexotax, die kaum halfen, ihren Widerwillen gegen diese Veranstaltung zu betäuben. Ihr Magen war vom Sekt übersäuert, sie fühlte sich ausgezehrt und von all den geheuchelten Komplimenten zugleich überfüttert, wollte weiter vom Lob der anderen fressen und gleichzeitig alles wieder auskotzen, sah den Preishengst aus der Menge heraustreten und mit Hüftschwung und einem letzten Blick zu ihr hin im Kloflur verschwinden. Warte hier auf mich, sagte sie, drückte dir ihr Glas in die Hand und stieß sich von der Wand ab.

Röcker präsentiert sein neuestes Werk. Unter der Folie erkennt Marga die gepuzzelte Frau, jetzt in Gelb. Ute schält das Gemälde aus der Verpackung, lobt Farbverlauf und Komposition, schiebt ihr dabei den Libellenjungen zurück in die Hand. Sie verbirgt das Bild hinterm Rücken, Röcker schielt nach ihrem Arsch, das Beste dieses Abends, ein Hauptgewinn, hatte er damals gesagt und in der Klokabine ihre Backen gepackt. Jetzt lässt er die Luft zwischen den Zähnen hindurchströmen, streicht sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und blickt Marga herausfordernd an. Heute ohne deinen Sohn? Ute äugt verblüfft hin und her. Ihr kennt euch? Sparkasse, nickt Röcker. Ach Gott ja!, ruft Ute etwas zu laut; in ihrem Gesicht bricht sich nun doch die Anspannung Bahn. Sie kippt die Leinwand ins Licht, wirklich gut!, wiederholt sie, es klingt wie ein Befehl. Marga fühlt sich genötigt, etwas zu sagen, murmelt: Ich mag kein Gelb, was nicht gelogen ist, steht doch Gelb gleich neben Rot auf ihrer Liste der zu vermeidenden Farben, die an die primitiven Instinkte rühren, gelb sind in ihrer Farbwelt die Kinderzimmer, Sonne, Mond, der Judenstern, Rosen auf Krankenhaustischen, Eiter und Tod.

Ich bring’s nach hinten, lenkt Röcker ab und empfiehlt sich mit dem Zeigefinger an der von schweren Locken gerahmten Stirn. Aber da hängt doch mein Zeug, protestiert Marga. Im Gesicht der Galeristin zuckt eine Braue. Du räumst den ganzen Laden für diesen Scheiß? Utes Züge geraten ins Rutschen. Weder sei ihre Galerie ein Laden, schnappt sie, noch dieses Bild ein Scheiß.

Deine Mutter lacht auf, kurz und schrill, der gleiche Laut, halb Verzweiflung, halb Angriff, der damals aus der Toilette zu dir herausdrang. Als sie nach fünf Minuten noch immer nicht zurück gewesen war, hattest du deinen Wachposten an ihrem Gemälde aufgegeben und warst mehrmals am Büfett auf und ab gelaufen, wo ein solches Gedränge geherrscht hatte, dass es dir nicht gelang, zwischen den sich herumschiebenden Leibern in ihren Anzügen und Abendkleidern eine Frikadelle zu ergattern. Auch an der Bar fandest du keinen Sitzplatz, wo du wenigstens ein paar Salzstangen hättest knabbern können. Auf einem Hocker sahst du den Mann von der Stiftung, der euch zu Beginn des Abends hoffärtig empfangen hatte. Jetzt hob er sein Glas und prostete dir zu. Ob du deine Mutter verloren hättest, rief er schwerzüngig herüber, seine Mutter?, lachte der Typ neben ihm, er habe gedacht, der Lütt sei ihr Leibwächter. Die Männer grölten und drehten sich weg. Du hast den Druck hinter den Augen gespürt, das Brennen in der Kehle, das vom Magen herauf bis zum Knoten der Krawatte stieg, die du nach einigem Gezerre auf den Boden geschleudert hast, und weil du plötzlich glaubtest, dich in der nächsten Sekunde vor Hunger oder Wut übergeben zu müssen, bist du schließlich doch in den Toilettenflur gerannt, vor die zweite Kabine bei den Männern, wo du im Spalt über dem Boden die spitzen, weißen Cowboystiefel sahst, zwischen den Pfennigabsätzen ihrer Pumps.

Vom Geräusch deiner Hände auf der Tür schreckte sie hoch; erst ein zaghaftes Klopfen, dann plötzlich Fausthiebe. Röcker erstarrte, sie nahm seine Hand und schob sie wieder unter ihr Kleid, doch er zog sie zurück und zischte: Scheiße, wer ist das? Sie spürte eine große Ermattung, die Gewissheit, endgültig erledigt zu sein, als sie von draußen deine Stimme hörte, hMama?, erst wie die bange Frage aus der Dunkelheit einer Kindernacht, dann, nach einer kurzen Pause, hart und ohne Stockung, der Wutschrei eines Erwachsenen am Ende aller Enttäuschungen.

Der Typ schnalzte genervt und packte sich weg. Sie schnellte vor und wühlte seinen Schwanz aus der Hose, rutschte auf die Knie und saugte, vom Geruch ihres eigenen Speichels, der am Schaft klebte, wurde ihr übel. Wieder deine Faust auf der Tür, Röckers Fluchen, das bringt jetzt auch nichts mehr!, ein Furz nebenan, gefolgt von einem tiefen Stöhnen, dann die Wassergeräusche, das Gurgeln der Menschenmenge im Foyer, das dazwischenschwappte, alles gedämpft, abgehackt, als wären plötzlich ihre Ohren verstopft; die Wirkung der Tabletten holte sie von einer Sekunde auf die andere ein, riss sie mit der Wucht einer Welle nach unten, in ein Gefühl des Fallens. Sie sackte in sich zusammen, empfand die Lust, eher eine feindselige Gier, die sie eben noch durchbebt hatte, jetzt außerhalb ihres Körpers, eng, eisern, wie einen Panzer, der sie zu erdrücken drohte. Nebenan rauschte die Spülung, ein Türschloss knackte, dann deine krampfende Stimme, hkomm hraus hda, Röcker schwoll nicht mehr an, sie stieß ihn weg. In den Knall, mit dem er gegen die Kabinenwand taumelte, platzte ihr Gelächter, verstummte so schnell, wie es aus ihr hervorgebrochen war.

Es war nicht das schwache, ein wenig schleppende Lachen, das sie endlich aus ihrer Erstarrung löst, wenn du ihr beim Alter-Mann-Spiel die Wollgrasbüschel mit den Lippen ins Gesicht reibst, sondern ein kaltes und splitterndes. Es schallt aus der Ebene herüber, als du dir die Jacke vom Leib zerrst und ins Gras wirfst. Erschrocken blickst du auf, doch es war nur ein Knarren toter Hölzer im Wind, das dich trog, der hohle Ton aus der Stille, in die hinein du jetzt auch Pullover, Hemd und schließlich sogar deine Hose schleuderst. Träge versinken die Jeans in dem schwarzen, von Moosinseln durchhöckerten, im aufsteigenden Regendunst uferlos scheinenden See, zu dem du auf deinen bisherigen Erkundungsgängen noch nie vorgedrungen bist, wo überhaupt noch kein menschliches Ohr das Geflüster der Weite gehört hat, wie von feinsten Flügelschlägen über dem starrenden Wasser, das so tot und sauer ist, dass die daraus aufragenden Birken, kaum haben sie es zu krummen Stämmen und krüppligen Ästen gebracht, absterben, im Wind zerspleißen und als leer in den Himmel greifende Skeletthände an eine Jugend erinnern, die hier ohne Wachstum und Hoffnung ist, am großen Kolk, wo alle Pfade enden und die Fußspuren nur noch in den Morast hinein-, nicht aber mehr herausführen, im träge pumpenden, von Binsenwällen, wie Stacheldraht ineinander verzwirnten Gehölzen und den hartnäckigen Nebeln verschlossenen Herzen des Hochmoores, aus dem die Bäche und Gräben das Wasser ziehen, das über viele Kilometer verborgen durch die Torfschichten sickert und sich erst in den Gagelhainen und Bruchwäldern zaudernd zum Lauf des Flüsschens Jumme vereint, das am Dorfrand mäandert und weiter nach Norden, zur Elbe hin strömt, hier aber unter deinen Füßen entspringt, aus unzähligen, tief ins Erdreich hinabwurzelnden Adern am höchsten Punkt der Ebene, inmitten der aufgeworfenen Bulte, deren hartblättrige, filigran gewirkte Moosdächer wie rotgeschindelte Kuppeln langsam über das Umland hinaus in die Höhe wachsen, weniger als einen Millimeter im Jahr und so lautlos, dass das einzige und letzte Geräusch über dem nicht cola-, sondern eher bernsteinfarbenen Wasser, würde je ein Mensch noch dorthin finden, der Flug der Libellen wäre, die allein noch diese Wüste durchsirren, kein Geräusch eigentlich, eher ein mehr spür- als hörbarer Ton der Verlassenheit, jetzt, da du mit angehaltenem Atem ins reglose Wasser steigst, das unter deinem Fuß zerreißt wie eine Membran. Als du langsam, Schritt für Schritt, mit sich dunkel färbender Haut, in mich eintauchst, wird es um dich und in dir für einen Moment vollkommen still.

Sie erinnert sich jetzt wieder genau: Wie Röcker sich an ihr vorbei aus der Kabine drücken wollte, doch sie stellte sich ihm in den Weg und blockierte den Türgriff. Spinnst du?, zischte er, lass mich raus! Sie drehte sich weg und schob das Gesicht in die Ecke, roch ihren Zigarettenatem, der gegen die Verschalung strömte, sein Aftershave auf ihrer Oberlippe, beides ekelte sie. Eine Weile hörte sie nur den Puls, der in ihren Ohren flatterte, schnelle, sich überlagernde Schläge, dann flutete wieder das Stimmengewirr aus dem Foyer heran. Irgendwo plätscherte ein Wasserhahn, jemand betätigte mehrmals den Händetrockner, plötzlich, ganz nahe, ein ratschendes Geräusch wie das Reißen von Stoff. Röcker entriegelte die Tür und stolperte davon. Sie zog sie schnell wieder zu und schloss ab.

Was ist los, Dion?, fragte sie leise, nicht einmal beim Scheißen lässt du deine Mutter in Ruhe. Wieder das Reißgeräusch, gefolgt von einem Schaben und Strampeln, dann rutschte ein schwarzes Hosenbein in den Spalt. Warum du nicht mehr neben dem Bild aufpasst? Die Erschöpfung verzerrte den Satz, er klang mechanisch. hIch hasse hdein hBild, hörte sie dich draußen stottern, mühevoller und verquälter, als sie es sonst von dir kannte. Sie klappte den Klodeckel herunter, lehnte sich gegen den Spülkasten und schloss die Augen, verspürte den überwältigenden Drang zu schlafen, sich alldem zu entziehen. Die angstlösende Wirkung der Tabletten lullte sie ein in ein Gefühl erzwungener Gleichgültigkeit, das dennoch erlösend, ja rauschhaft war. Bald wurden ihre Gedanken lauter als die Stimmen aus der Halle. Er muss es ja hassen, dachte sie bleiern. Vielleicht hatte sie das Gemälde, das sie vor zehn Jahren begonnen und nach einer kurzen Phase fast besessener Arbeit doch wieder verworfen hatte, für diesen Wettbewerb nur fertiggestellt, damit du, Dion, deine Mutter nun ebenfalls hassen kannst. War nicht das letztendlich Ziel all ihrer Kämpfe gewesen? Wenn sie dich auch seit über einem Jahrzehnt täuschte und belog, auf ihrem Bild sprach sie die Wahrheit aus, unverstellter und brutaler, als sie es je hätte in Worte fassen können.

Nicht ihr Talent und handwerkliches Geschick, nein ihren eigenen Überdruss hatte die Jury der Kunststiftung lobend erwähnt, als sie dieses Bild auswählte, ein Zynismus, der sie nun mit bitterer Genugtuung erfüllte. Dabei war das Ereignis, das sie einst zu dieser Idee gebracht hatte, ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen: Wenige Monate nachdem sie nach Fenndorf gezogen war, schwanger im siebten Monat, hatten die Torfarbeiter im Grubengelände mit dem Bagger einen Körper zutage gefördert. Sie selbst hatte die Leiche nie zu Gesicht bekommen und dem Vorfall zunächst wenig Beachtung geschenkt, war von der Aufregung einer sich an Mord- und Schauergeschichten ergötzenden Dorfgemeinschaft verunsichert und angewidert gewesen. Dions Vater, erinnert sie sich nun wieder, hatte tagelang nicht aufhören können, davon zu reden. Der Tote habe ihn aus Augen angeschaut, als wäre er noch lebendig, hatte er am Tag des Funds beim Abendessen gestammelt, in seiner Hand zitterte die Gabel. Nachts war er aufgewacht, hatte sich von hinten an sie gepresst und gestöhnt, er habe den Leichnam vor Schmerz wimmern hören; beim Aushub hatte die Baggerschaufel eine Hand abgetrennt, die später von den Archäologen aus dem abgeriegelten Stich geborgen wurde, vollständig erhalten, wie es hieß, mit einem nachweisbaren Knochenbruch am zweiten Glied des Zeigefingers, was Spekulationen über einen gewaltsamen Tod des Menschen schürte, der einst in den tiefen Schwarztorfschichten sein feuchtes, aber steriles, von jeglicher Sauerstoffzufuhr abgeschlossenes Grab gefunden hatte.

Die Lokalzeitung berichtete ausführlich über die Sensation und druckte ein in dunklen Tönen gehaltenes Foto der Moorleiche ab, deren Mund – selbst der Lippenschwung, erinnert sie sich, war noch deutlich zu erkennen gewesen – halb offen stand, tatsächlich wie schreiend oder im Moment des Todes im Schrei erstarrt. Aus dem Dorftratsch und weiteren Zeitungsberichten setzte sich in ihrem Kopf ein in seiner plötzlichen Gegenwärtigkeit auf eine gleichermaßen verstörende wie erregende Weise lebendiger Leib zusammen, das Bild eines ausgemergelten, mit der von den Huminsäuren gegerbten Haut wie verkohlt wirkenden Kindes, fast schon jungen Mannes, vermutlich mehrere tausend Jahre alt, wie es in einem der Artikel hieß, die auch in den nächsten Tagen und Wochen die verdorrten Sehnen und Muskelfasern auf den knochigen Gliedern zur Schau stellten, das ledrige Gesicht mit der darin versteinerten Todesangst und sogar die verschrumpelten Geschlechtsteile des Jungen, den die Spezialisten zum Zeitpunkt seines Ablebens auf zwölf- bis vierzehnjährig schätzten.

Gerichtsmediziner, die den mumifizierten Körper untersuchten, wollten noch weitere Spuren von Gewaltanwendung gefunden haben, Würge- und Schürfmale am Hals und ein ausgerenktes Schultergelenk; außerdem habe man im Umfeld der Grube Fasern eines Stricks geborgen, den, mutmaßten die Forscher, der Tote um das Genick getragen haben könnte, bevor dieser vom Bagger abgerissen worden sei. Sogar sein letztes Essen, sozusagen die Henkersmahlzeit, ließ sich durch die Untersuchungen rekonstruieren: Aus dem Magen des ertränkten oder anderweitig hingerichteten Jungen schnitt man drei Apfelkerne, woraus die Wissenschaftler auf einen Todeszeitpunkt im Herbst oder Winter schlossen. All das führte dazu, dass im Dorfladen, wo Ilse Bloch das unangefochtene Erstrecht an den Neuigkeiten des Tages besaß, bald das Gerücht umging, unter den Urahnen der heutigen Fenndorfer habe in grauen Vorzeiten ein kaltblütiger Kindsmörder gehaust.

Das Bild des versunkenen Jungen begann sie zu verfolgen. Sie sah sein Gesicht mit dem zahnlos aufgerissenen Mund aus dem trüben Abwaschwasser heraufstarren, im düsteren Bürozimmer, wo sie über den Rechnungen saß, knitterte in ihren Händen statt Papier plötzlich die brüchige Lederhaut, und nachts, in einem wirren Traum, warf ihr der Torfstecher, den sie vor kurzem geheiratet hatte, mit der Schippe einen schwarzen Säugling in den Schoß. Sie schlug die Augen auf, lauschte in ihren Leib und legte die Hände auf den Bauch, der sich bereits zu einer steilen Kuppe aufwölbte, darin eine Stille und Reglosigkeit wie in einem Sarg.

Ihr Körper wurde bleiern und heiß. Sie fühlte, wie das feuchte Bettzeug sich um ihre Hüften wickelte und sie in die Matratze hinabzog, weg von dem Mann, der geräuschvoll neben ihr atmete, hinunter in ein weiches, lüsternes Dunkel. Sie trat die Zudecke weg, stand auf und ging ins Badezimmer. Dort stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete ihren Körper, der mit jedem Tag mehr aus der Form geriet; auch ihr Leben, dachte sie, würde nach der Geburt ihres Kindes zu einem Klumpatsch verkommen, sich stauen und blähen in einem eintönigen und endlosen Alltag zwischen Küche, Kontor, Kinderzimmer und den biersauren Küssen ihres Mannes, die sie nur mehr erduldete, um danach, wenn die kurze Aufwallung seiner Leidenschaft wieder verebbt war, ihren Ideen nachzuhängen, meist nachts in ihrer Werkecke, die sie sich in der Gerätescheune eingerichtet hatte, am alten Holzofen gegenüber der staubblinden Fensterfront, die früher ein Tor gewesen war, nun aber selbst bei Sonnenschein das Licht gleichmäßig auf die Arbeitswand warf, zum Malen ideal.

Sie reckte sich vorm Spiegel, doch ihre einst so schlanken Hüften, wo vor wenigen Monaten noch alles an seinem Platz und in Maß und Lot gewesen war, blieben ein unansehnlicher Wulst. Sie berührte ihre festen, spitzen Brüste, die, stellte sie sich vor, bald ein aufgedunsenes Gesäuge sein würden, quetschte ihren Bauch, der sich nicht wegdrücken ließ und zwischen ihren Händen hervorquoll. Auf dem Pellhof, wusste sie, an einem Abzweig der Landstraße zwischen Fenndorf und Rahse, wohnt die alte Pettersen, die früher einmal Krankenschwester auf einer Frauenstation war und sich manchmal ein Zubrot verdient hatte, zu Hause in ihrer Küche beziehungsweise Praxis, die, so erzählte man sich, nur aus einer Pritsche und ein paar ausgemusterten medizinischen Gerätschaften bestand, mit denen sie die Mädchen, die von den Müttern der Umgebung heimlich zu ihr gebracht wurden, von den Folgen ihrer Ausflüge in die Baracken der Torfstecher befreite.

Wäre sie, Marga, so phantasierte sie weiter, ein paar Monate zuvor nachts die Landstraße entlang oder über den Pfad durchs Moor zu ihr gekommen, die Greisin, mittlerweile steinalt, hätte auch heute noch das Bündel Scheine entgegengenommen und ihr mit einem Schlauch die Lauge eingeflößt, die ihr das Problem kurzerhand aus dem Leib geätzt und in ihrem Leben den unumkehrbaren Fehler ausgemerzt hätte, den sie begangen hatte, als sie sich schon bei der dritten Begegnung von ihm, Dions Vater, eine Verlobung hatte aufschwatzen lassen, und sie zerrte am Hochzeitsring, doch er ließ sich nicht über den geschwollenen Fingerknöchel streifen, selbst ihre Hände, dachte sie und strafte ihr Spiegelbild mit einem abfälligen Blick, waren schon nicht mehr die magischen Werkzeuge einer Malerin und, wie Siana manchmal in einem seltenen Anflug von Gefühlsseligkeit ihre Mädchen genannt hatte, Messalina, sondern die Pranken eines Muttertiers.

Sie hätte auch eine Stricknadel nehmen können. Herausstochern den sie von Tag zu Tag mehr auftreibenden und verunstaltenden Kindskörper, der vor wenigen Monaten noch ein leicht zu entfernender Zellhaufen gewesen war, nur etwas Unförmiges, kaum Menschliches, wahrscheinlich Fühlloses, das, von der Nadelspitze angepiekt, irgendwann aus ihr herausgeblutet wäre, ja sogar noch jetzt, in diesem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium, würde sicherlich alles, dachte sie, wenn auch nicht ohne Schmerzen, Fieber womöglich, einer schweren Folgeentzündung, aus ihrem Unterleib abfließen, schon mit Augen oder Ansätzen von Augäpfeln, weißen Häutchen, die sie aus dem Eimer herauf anstarren, blind und nun, noch lang vor der ersten Erfahrung von Licht, ins ewig Dunkle verbannt, und sogar Arme hätten vielleicht aus dem Matsch emporgeragt, ein Füßlein, Zellklumpen in Kopfform, über deren Anblick sie vermutlich in Ohnmacht gefallen wäre, vor Schmerzen oder wegen des Blutverlusts, wie im vergangenen Jahr das Mädchen aus dem Modehaus, Nadina, die auf einem der Überseefrachter, unter Deck versteckt hinter Bergen unreifen Obsts, aus Argentinien gekommen war und von Siana Naranja getauft wurde, nachdem die ihre Brüste befühlt hatte, die fest und fleischig seien wie zwei Orangen. Die besten Titten auf dem Kiez, hatte auch sie, Marga, der Chefin zustimmen müssen, wie überhaupt das Mädchen eine mit Kurven und Kerlen üppig ausgestattete Schönheit war, wohl der Grund, warum Naranja oder Nadina schon wenige Monate nach ihrer Anstellung im Modehaus von einem Kunden oder einem ihrer schnell wechselnden Liebhaber, die manchmal rauchend vorm Laden auf sie warteten, schwanger wurde, ein Dilemma, das Sianas wachsamen Augen nicht entgangen wäre, anders konnte sie, Marga, sich nicht erklären, warum die Argentinierin, wahrscheinlich aus Angst vor dem Rausschmiss oder einfach wegen Geldmangels, der es ihr nicht erlaubte, eine Professionelle wie die alte Pettersen aufzusuchen, selbst zur Stricknadel gegriffen hatte, allein zu Hause und betäubt von einem der starken Joints, die sie unentwegt, auch bei der Arbeit, rauchte.

Durch die Droge von Gewissensbissen und Zweifeln befreit, hatte sie die Nadel in heißem Wasser abgebrüht, wie sie ihr, Marga, wenige Wochen nach ihrer Entlassung in einer Kneipe erzählte, beiläufig, als würde sie die Ratschläge einer Geübten weitergeben, die ihr Werkzeug sorgfältig präpariert, bevor sie es in sich einführt, auf einen Stuhl gespreizt, so Naranja weiter in ihrem Erfahrungsbericht, die Füße in zwei Stuhllehnen verkeilt und mit Gürteln festgezurrt, damit du im Reflex nicht die Beine schließt, und dann langsam vortasten, du spürst das schon, wenn du da bist, sagte Naranja in ihrem starken, fast unverständlichen Akzent und inhalierte gierig den harzig duftenden Rauch. Aber mach’s richtig, sonst schmeißt sie dich auch noch raus, die alte Hexe, fluchte sie und meinte damit Siana, die für den zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt ihrer illegalen Angestellten auch schmerzhaft hatte bluten müssen, allerdings in Bargeld. Marga hatte beim Kellner, der immer wieder zu ihnen herübergrinste, eine weitere Runde Whisky-Cola bestellt und nach diesem Gespräch von Frau zu Frau Naranja, die schöne, schwarz gelockte Latina mit den Orangenbrüsten, nie wiedergesehen.

Aufgewühlt von diesen Erinnerungen rückte deine Mutter in jener Nacht näher an den Spiegel heran, zog die Bauchdecke ein, presste dann abrupt von innen dagegen, spannte die Muskulatur am Beckenboden an, in einem ruckartigen Stakkato, bis das Zwerchfell leicht zu brennen begann. Doch das Bauchinnere ließ sich nicht wegpumpen. Eine Weile stand sie reglos da und betrachtete die weiße Fläche ihrer Haut, drehte dann die Leuchte über dem Spiegel gegen die Wand, so dass sich im Halbschatten die Wölbung ihres Leibs zu glätten schien. Sie nahm den Rasierapparat deines Vaters von der Konsole, pulte mit einer Schere die Klinge heraus, reinigte sie unter ein paar Spritzern seines Rasierwassers und setzte die Schneide an. In einer senkrechten und einer waagrechten Linie, die sich im Nabel kreuzten, vorsichtig und konzentriert wie beim Auftragen einer heiklen Farbe, die ein fast fertiges Gemälde entweder vervollkommnen oder zerstören kann, dabei tief in den Schmerz hinabatmend, ritzte sie die Haut, sternförmig, wie man eine Orange am Stängelansatz einschneidet, um die Schale besser abpellen zu können.

Das zäh austretende Blut verwandelte das schlichte rote Kreuz auf weißem Grund sofort in ein kompliziertes Gebilde, das sich in feinste Adern verzweigte, bis ins Schamhaar hinab, wo sie die Wärme und Klebrigkeit der Rinnsale spürte, die sie kitzelten und zum Kratzen verführten, ein Drang, dem sie erst widerstand, dann aber, als der Reiz in ein Gefühl der Erregung umschlug, nachgab, erst in zögerlichen, noch beklommenen Berührungen, bis sich das Blut auf den Fingerkuppen mit der Feuchtigkeit ihres Geschlechts vermischte und sie den Finger tiefer schob, wieder zurückzog und mit einem zweiten, schließlich dem dritten erneut eindrang und dabei auf die Nabelwunde im Spiegel starrte, die sich unter ihren stoßweisen Bewegungen leicht blähte, sich unmerklich zu öffnen und wieder zu schließen schien wie ein tonlos flüsternder, in winzigen Tropfen speichelnder Mund. Sie verbiss sich jeden Laut. Drüben hörte sie das Bett knarren, gefolgt vom leisen Schnarchen deines Vaters.

Noch eine Weile betrachtete sie, den Atem verhaltend, das stille, dunkel sickernde Gemälde ihres verstümmelten Bauches, dann wischte sie alles mit Klopapier weg, wusch sich die Hände, klebte ein Pflaster auf den Schnitt und schlich in die Küche, wo sie sich Wein eingoss und am offenen Fenster rauchte, obwohl ihr der Arzt von beidem abgeraten hatte. Sie zog die von Ölfarben verschmierte Arbeitsjeans an, warf sich eine Jacke über, löschte das Licht und stahl sich durch den Hof in die Scheune, angewidert und zugleich gelockt von der Vorstellung, dass die Leiche des Jungen aus dem Moor einen tausendjährigen Tod in sich trägt, während sein Körper gleichzeitig noch immer in der engen Haut einer Kindheit steckt, aus der es nun kein Entrinnen mehr gibt, unerlöst von allen noch namenlosen Begierden und ohne Antwort auf die Fragen, die seinen Mund in dem Moment, als er im Morast versunken war, zu einem Schrei geformt hatte, der nicht mehr verklingt.