zwei.
WINTER

Wenn der Schnee kommt, wird die Stille zur Bewegung. Der Himmel löst die Wolken auf, löscht den Horizont, nur die Krähe auf dem Baumstumpf steckt noch im Weiß, ein letzter Strich, bald verwischt. Darüber bildet der Dunst eine zweite Schicht, in Raureif gehüllt, ragen die Birken hinein, flüchtige, filigrane Gebilde aus Kälte und Licht. Dann legt sich der Wind. Hier dringt noch ein Rascheln aus dem Gagelstrauch, dort das Knacken eines toten Holzes von jenseits des Grabens, hinter dem alles aufzuhören scheint, die Kinderspiele, die Sommerversprechen, der Herbst mit seinen hinfälligen Geräuschen, hüben wie drüben das Verstummen aller Echos unter der dünnen Eisschicht, die sich über Nacht auf dem Wasser gebildet hat, ein leises Glucksen darin, aufsteigende Gase, ein winziger Hohlraum unterm Eis, die Augen des Winters. Schließlich das Starren der Blasen in den blinden Himmel, das Klagen der Krähe, die mit einem Stück Aas im Schnabel aus den Binsen stößt, ihr schwerer Flügelschlag, die schwindende schwarze Spur in den Schneewolken, und dann nichts mehr, nur noch Stille, die langsam, ganz langsam zu fallen beginnt.

So erinnerst du mich in deinem Buch: den Beginn des Schneesturms, als sie Marga abholten, unter einem kreiselnden Licht, das noch lange in der Dunkelheit flackerte, blau und stumm. Es war nicht nötig gewesen, das Martinshorn wieder einzuschalten, kein Wagen stellte sich auf der nächtlichen Landstraße in den Weg, niemand fuhr in Fenndorf nach zehn Uhr abends noch irgendwohin. Sie haben sie weggeschafft, still, diskret, fast heimlich, als würden sich selbst noch die Sanitäter ihrer schämen. Einer von ihnen zog ihr die graue Wolldecke bis zum Hals. Doch alle haben ihr erloschenes Gesicht gesehen, fahler noch im Blaulicht, das eine Zeitlang im Hof wirbelte und jedes Mal, wenn es die Scheunenwand streifte, in den Scheiben aufgleißte, wegen der Bruchstelle im Glas wie gezähnt, als wollte es sich ins Innere vorbeißen und die Blicke auf Margas Arbeitstisch lenken, ins Zentrum der Tragödie, um die herum sich die Dörfler gerottet hatten, Spalier standen und auf die Trage glotzten.

Die Schatten der Männer, die sich über sie beugten, sprangen riesenhaft über die Mauern, wenn das Sirenenlicht die Körper erfasste. Sie trugen rote Schutzanzüge mit silbernen Reflektorstreifen, die in den Lichtsalven aufblitzten und noch heute deine Träume befeuern, in denen Marga wieder in der Scheune sitzt, malt oder wenigstens zu malen versucht oder doch nur hockt, starrt und säuft, bis die letzte Flasche in die Ecke rollt, zusammen mit einer verlorenen Tablette, und die weiße Leinwand sich vor ihren Augen zu krümmen beginnt und in Flocken zerfällt, Schnee, der den Sturm entfesselt. Doch zerrt nicht der Wind, der in jener Nacht wieder aufgekommen war, rückblickend viel stärker an dir, als du es damals tatsächlich empfandst?

Irgendwann war das Blaulicht in der Ferne verzuckt. Die Herumstehenden kehrten in die Häuser zurück, ihre von den Kapuzen vermummten Gesichter wandten sich noch einmal nach dir um, so dass du zu Boden blicktest, auf deine nackten Füße unterm Schlafanzugsaum, die bereits die Farbe und ein Gefühl wie von Eis angenommen hatten. Nur Marianne Lambert stand noch neben dir. Heute beschreibst du die Tante kleiner und gebeugter, als damals der Junge sie gesehen hat: Du warst ein verängstigtes Kind, dem sie in diesem Moment riesenhaft und bedrohlich erschienen sein muss, obwohl kaum vierzig, doch bereits aus der Form gegangen wie ein altes Weib, in ihrem speckigen Morgenrock und den Filzpantoffeln, mit denen sie aus dem Haus gestürzt war.

Sie kam noch näher, packte deinen Kopf und presste ihn in ihre nach Sauerteig riechende Achselhöhle, als solltest du im harschen Laub die Reifenspuren nicht sehen, die abtransportierte Trage, Margas von Erbrochenem verklebten Mund mit dem Beatmungsschlauch darin, ein Bild wie der Splitter eines zerschlagenen Glücks, der sich bereits tief in deinen Körper gebohrt hatte und dort alles abzutöten begann, denn spätestens diese Nacht, heißt es in deinem Buch, sei der Beginn einer langen, vielleicht lebenslänglichen Kälte gewesen. Aber ist Kälte überhaupt ein Wort für den Zustand, in dem du seither erstarrt bist?

Der Frost jedenfalls war früh hereingebrochen, nach den Stürmen, die meist um den Reformationstag herum von Norden kamen und das letzte Laub aus den Bäumen fegten, Blätter, so porös, dass sie am Boden zerbrachen, und du hörtest das Geräusch, zogst den Kopf aus der Umarmung der Tante und sahst ihr vor Schreck oder heimlicher Genugtuung verzerrtes Gesicht vor dem bläulichen Schein am Horizont, der nicht verglimmen wollte und vielleicht schon das erste Morgenlicht war, verfangen im Gezweig der Weide, die eben noch im Wind gewippt und letzte Blätter abgeschüttelt hatte, nun aber die Äste nackt in die Höhe streckte, als zerrte der Baum die Stille herab, um sich zu bekleiden; und tatsächlich: Es begann zu schneien.

All das sind heute unscharfe Konturen, zögerliche Striche auf der Skizze zu einem Bild, das du nun zu Ende bringen musst, von dem du aber nicht weißt, wohin es führen und warum gerade du es fertigstellen sollst. Marga selbst könnte es gemalt haben, in der ihr eigenen Technik, die nie eine konkrete Form und selten eindeutige Farben zuließ. Sobald sich etwas auf der Leinwand abzeichnete oder eines ihrer selbst angerührten Pigmente sich mit einem anderen zu einer Farbe vermischte, die ein Kind dieser Gegend wiedererkennen könnte, jeden deiner im Kopf entstehenden Gedanken an etwas, das du kanntest oder liebtest, verwischte sie mit dem Schwamm oder schmierte schnell eine neue Schicht auf die Leinwand.

Du erinnerst dich, wie du manchmal ungeduldig und sogar wütend wurdest, wenn du ihr beim Malen zuschautest, während du so tatst, als wühltest du im Gerümpel: Sie sei wie eine Zauberin gewesen, die dir Spielzeug hinhielt, das sie dann mit einem Zwinkern in ihrem Ärmel verschwinden ließ. Wahr ist, dass dein Kinderspiel nicht mehr zog. Noch an einem der Abende zuvor hatte sie trotz Kälte im Negligé und rauchend auf der Veranda gestanden, du vor ihr mit Wollgrasbüscheln in Haar und Mund. Wenn du nicht wärst, sagte sie, würde ich Schluss machen mit allem, und du hattest ärgerlich mit den Schultern gezuckt und dir die Moormaskerade vom Gesicht gerissen; alles schien dir genauso wenig eine Farbe wie Schwarz oder Weiß, alles war nichts, leer wie ihre Bilder oft blieben oder zugeschlammt von Gemischen, in denen sie am Ende versackten.

Aber genau das hatte sie ja gemeint: ihren Kampf mit dem Malen, das für sie tatsächlich alles zu bedeuten schien, auch ihre Arbeit in Hamburg, wo sie nicht mehr hinging, weil sie, wie sie behauptete, krankgemeldet war, obwohl sie dir nicht krank erschien, nicht wie von einer Grippe. Was diese Krankheit in Wirklichkeit war, solltest du erst viel später begreifen, auch dass man sich wegen so etwas gar nicht krankmelden konnte, damals jedenfalls noch nicht. Damals dachtest du noch, sie hätte vielleicht endlich das Rauchen aufgeben wollen, denn sie starrte in diesem Moment angewidert auf die Zigarette und drückte sie aus, doch solche Sprüche kanntest du schon: Ab morgen ist Schluss damit, und dann, zack, die nächste Fluppe. Oder war es doch die öde Hausarbeit, die ewigen Zahnpastaspuren im Waschbecken und das Kochen für dich? Es hatte in den Wochen zuvor keinen Allestopf mehr gegeben, nicht einmal Pellkartoffeln, nur Butterbrote mit viel Zimt. Darauf hatte sie noch immer Lust. Alles Mögliche hast du in Erwägung gezogen, nur das nicht: Blaulicht, Sanitäter, die Kotze in deinem Bett, die noch tagelang aus der Matratze stank und deine Nächte in Wüsten verwandelte, sauer, voll abgestorbenem Leben, du schreibst: wie das Moor.

Sie hat dir dann doch noch ein Grasbüschel von der Oberlippe geblasen, ein wenig gelangweilt. Spitzte den Mund, stieß widerwillig den Atem aus, oder war es schon ihr letzter Seufzer gewesen, diese Art Todesröcheln, an dem du hättest merken müssen, wie lästig ihr alles geworden war, das Malen, die Maloche in Hamburg, das baufällige Haus mit dem ewig unfertigen Kind darin, dem Rockzipfelzerrer und Sprechkrüppel, den sie nun am Arm packte und dabei sagte: Aber du bist eben da, ein Satz, der gleichermaßen Trost wie Anklage war, und weil du wieder nicht genau wusstest, wie sie das meinte, hast du den Alten Mann weitergespielt.

Sie hat dir den Greisenkuss aufgedrückt, am nächsten Tag einen neuen Rahmen mit Nessel bespannt, den Allestopf gekocht, sogar mit Würstchen, ist wie immer rauchend hin und her über den Hof, doch dann, zwei Tage später, mit einer Schachtel Lexotax intus zu dir ins Bett. Ihr Torkeln, die seltsame Blässe, der Klammergriff mit den nach Kippen und Terpentin stinkenden Fingern, das hingespeichelte, fast schon ausgewürgte Ich lieb dich doch so! an deiner Wange, bevor sie wegkippte, was du schon nicht mehr mitbekamst, weil du im nächsten Moment wieder eingeschlafen bist, eine Schwäche, die du dir bis heute nicht verzeihst. Irgendwann ein Stoß unter der Bettdecke, ihr Körper, der sich verkrampfte, ein Stöhnen, das du im Traum zu hören glaubtest, mehr ein Blubbern, wie unter Wasser, als tauchte sie ein letztes Mal durch den Teich. Plötzlich der Kotzeschwall auf dem Kopfkissen, deine Panik, Hände überall, ihr Körper jetzt schlaff, labberig, wie ohne Knochen, die Augen geschlossen, auch beim Rütteln und Schütteln, selbst nach der Ohrfeige, die durchs Zimmer hallte, war der Augapfel im Lidbett ganz weiß; es war das erste Mal, dass du sie geschlagen hast, und dann gleich ins Gesicht.

Sekunden, in denen du nicht wusstest, was tun. Eine unbeschreibliche Angst, die wie Feuer aus dem Bauch durch die Kehle stieg und an deinen Schläfen plötzlich zu Eis wurde, ein Zitterkrampf oder Schüttelfrost, bis du nichts mehr anderes wolltest als schlafen. Dann doch runter zum Telefon, das Freizeichen in der Stille ein schwarzes Loch, das alles verschlang, also den Hörer wieder eingehängt, hättest ohnehin kein Wort herausgebracht. Stattdessen rüber zum Bauern Lambert, barfuß, Steine, die sich dir in die Fußsohlen bohrten, die Stiche fast außerhalb des Körpers, schon damals eine Art Phantomschmerz. Stolpern, noch mehr Steine, die irgendwie tröstliche Vorstellung einer Blutspur auf dem Heidedamm, aber auch das ist erst später im Buch hinzugekommen.

Die Dunkelheit zwischen den Treckern war fast flüssig, ein Klumpen darin, der Kettenhund, der nicht kläffte, nur müde mit den Eisen rasselte, weil er schon damals taub gewesen war oder dich erkannte. Eine Ewigkeit, bis jemand öffnete. Es war Hannes, im Schlafanzug und mit vom Kopfkissen zerdrückten Haaren. Er schaute genervt und gähnte dich an. Erschrecken darüber, dass du beim Blick in sein aufgerissenes Mundloch für eine Sekunde vergessen hast, warum du hier standst. Doch da drehte er sich schon um und rief: Mudder!

Auch bei Marianne bliebst du stumm, doch in deinen Augen hatte sie es bereits gelesen; trotz ihres Übergewichts und der Schlaftrunkenheit war sie sehr flink. Sie warf den Morgenmantel über, kramte in einer Schublade, nach einem Schlüssel, einer Taschenlampe vielleicht, doch wozu hier die Taschenlampe, am Heidedamm gab es schon damals Laternen, außerdem war es ihr eigener so oft begangener Grund.

Plötzlich fuhr sie herum, schüttelte dich und rief: Junge!, nur dieses Wort, das haltlos durch die Diele schallte; auf der Treppe erschien dein Onkel Karl. Die Nacht jetzt kälter als noch Minuten zuvor. Wieder rüber zum Haus, das Flappen von Mariannes Pantoffeln, ein leises Fluchen, vielleicht ein Kiesel im Schuh? In deiner Erinnerung bleibt sie an dieser Stelle stehen, bückt sich, holt wieder auf, jetzt doch die Taschenlampe in der Hand. Du begannst zu schlottern. In der Diele baumelte der Telefonhörer an der Schnur, du warst dir sicher, ihn aufgelegt zu haben, hofftest, sie wäre wieder zu sich gekommen, hätte selbst den Notruf gewählt. Doch sie lag noch immer bäuchlings in deinem Bett, das Gesicht auf dem Kissen dir zugewandt, schlafend, schön wie eh und je. Davor, wie eine Glaswand, der Geruch von Kotze, Kinderschlaf, Tod. Marianne prallte zurück und rief: Herrgott, Marga!, verärgert, als hätte sie all das bereits kommen sehen. Sie stürzte hin, hievte sie hoch, der Kopf klappte vor, Marianne hielt das Kinn, strich ihr das Haar aus der Stirn. Ihre Hände auf Margas Herz, am Handgelenk, Sekunden atemloser Stille, dann rief sie: Puls!

Wo hast du in diesem Moment gestanden? Noch auf dem Flur, im Türrahmen oder schon am Bett? Eine Weile kommt der Junge auf diesen Bildern überhaupt nicht vor, als wärst du in ein Zeitloch gerutscht, durch deine aufgefächerten Blicke hindurch in den eigenen Kopf: dort das Haus, vom Teich aus gesehen hell erleuchtet, zackig der Giebel, rußige Klinker, Lichtsprengsel darüber, fast wie ein Feuer in der mondlosen Nacht, niedergewalzt von schneeschweren Wolken. An den Rändern des Bildes, wo es ausfranst und in das nächste übergeht, beginnt es zu grieseln.

Mariannes Stimme dringt aus der offenen Haustür, sie ruft, als Schattenriss in der Diele stehend, mehrmals die Adresse in den Telefonhörer. Drei, vier Mal wiederholt sie die Wegbeschreibung zu einem Haus in Fenndorf, das sie schließlich als das letzte Gebäude hinter den Ställen bezeichnet; offiziell gab es am Heidedamm nur die Nummer zwei, den Schweinehof, und dahinter nichts mehr, nur noch Moor.

Als sie nach oben kam, schien sie ruhiger. Sie blieb im Türrahmen stehen, reglos, fast ehrfürchtig, wie man für einen Moment von einem Gipfel oder Turm aus in eine unverhoffte Aussicht versinkt. Nur ihr Busen schwoll und schwoll; sie schien nur noch ein-, doch nicht mehr auszuatmen. Plötzlich ist auch der Junge wieder im Bild: Er steht vor der Tür zu Margas Schlafzimmer, die er zugezogen hat, weil auf dem Bett die aufgerissene Lexotax-Schachtel liegt. Marianne schiebt ihn zur Seite, stößt die Tür auf, stöhnt: Herrje! Zwischen ihren Fingern knistert ein Blister, der Beipackzettel, lies vor, ich hab die Brille nicht hier, sagt sie und drückt ihm das Papier in die Hand.

Hier hättest du etwas sagen müssen. Erzählen, dass sie das Zeug seit Jahren schluckt und wie es auch dich schon hat schwanken und kippen lassen. Doch in deiner Kehle kein Wortstau, nicht einmal ein quersitzender Konsonant, nur die Zunge stocherte in der Zahnlücke, als du unter Anwendungsgebiete noch einmal die Gründe gelesen hast, warum Marga mit allem hat Schluss machen wollen, und fast erleichtert gewesen bist, dass dort jetzt nicht dein Name stand, doch auch das eher eine Idee von heute als der tatsächliche Gedanke des Kindes, der hilflose Versuch eines Schlaglichts in einem Tunnel aus Stummheit und Angst.

Nun sag schon!, rief Marianne und riss dir den Zettel aus der Hand. Sie starrte lange darauf, presste dich dann an ihre Brust und seufzte: Mein armer Junge, ein Satz, der Marga gehörte. Sie eilte ins Zimmer zurück und zerrte deine Mutter auf die Seite. Das Kissen tauschte sie aus, deckte sie zu und ging ins Bad. Du hörtest das Wasser rauschen und im Rauschen noch einmal den Seufzer, dachtest an die Zahnpastaspuren im Becken und dass Marianne bei sich zu Hause so etwas nie geduldet hätte. Sie kam mit dem Putzeimer zurück und begann zu feudeln.

Wieder ist der Junge hier eine Zeitlang nicht im Bild. Übergroß stattdessen die Libellenuhr an der Wand, die halb acht anzeigt, sieben Uhr achtundzwanzig, um genau zu sein, seit dem Tag in deinem Leben, an dem die Zeiger auf den blasenartigen Facettenaugen stehengeblieben waren. Marga wollte Batterien aus der Stadt mitbringen, war aber seitdem nicht mehr hingefahren. Seit in deinem Zimmer die Zeit stillstand, war alles anders geworden: die Tage kürzer, die Sonne rar, endlos die Nächte, weil sie dich morgens nicht mehr weckte. Du bist mit dem Pausenklingeln ins Klassenzimmer gestürzt. Strafarbeiten, deine erste Fünf im Hausaufsatz, niemand hatte dir das Blatt mit der Aufgabe gegeben, nicht einmal Tanja, die dich im Unterricht herausfordernd musterte, als wüsste sie um dein Versagen.

Gorbach schrieb wegen der Unpünktlichkeit einen Tadel nach dem anderen, die Marga nicht abzeichnete, auch die Klassenarbeiten nicht, einmal raunzte sie nur: Ich hatte keine Mutter für jeden Scheiß. Dann die Vorladung des Direktors, der sie nicht folgte. Auf allen weiteren Drohpapieren hast du ihre Unterschrift, das M., gefälscht, war ja nicht schwer. In einer Schublade fandest du einen alten Wecker, sein Morgenruf war kalt und schrill. Du hast dich nach ihren Lippen auf deiner Stirn gesehnt, ihrem Flüstern, dem Haar, das dir über die Wangen fiel und dich hochkitzelte in den Tag. Doch da glotzte nur die Libelle mit blutrotem Kopf.

Weil angeblich auch das Moor sich von seiner feindseligsten Seite gezeigt, dir also mit Regen und Graupelschauern die Erkundungsgänge verhagelt hat, bist du damals, in diesem späten Oktober, viel in der Ritze gewesen. Doch auch die sei dir nun anders erschienen, weiter, schreibst du in deinem Buch, langweiliger, kein enger Schlund mehr in unbegreifliche Tiefen, nur ein Spalt, der sich langsam zum Fußende hin öffnete, ein Grab für Staub, Spinnen, vertrocknete Popel, Kindheitsrätsel.

Draußen stieg mit dem anhaltenden Regen das Wasser, drückte aus dem Drän auf die Äcker, gluckste bei jedem Schritt unter den Schuhen, lauerte überall. Der Teich war angeschwollen, eine metallisch schimmernde Beule zwischen den Torfrippen, das Wollgras platt, die Erlen abgesoffen. Lamberts Knecht legte Bretter und Bohlen aus, damit der Trecker in den Mulden nicht einsackte. Aus dem Heidedamm wurde ein Pfützenband, dann ein trüber See, der sich langsam ans Haus heranfraß. Du sahst die Brühe im Keller sickern und schwappen, dann war das Klo verstopft, deine Kacke ging nicht mehr runter. Du hast dich dafür geschämt und fortan das große Geschäft in der Schule, den Rest hinter der Scheune erledigt, wo der Regen spülte und spülte.

Wann Marga schiss? Vielleicht gar nicht mehr bei den paar Happen, die sie noch aß. Sie qualmte jetzt auch beim Essen, in einer Hand den Löffel, in der anderen die Fluppe, aber das kanntest du schon von früher, aus den Tagen, wenn sie langsam versteinerte, bis du den Mutterbrocken die Treppe hochschaffen musstest. Manchmal verwechselte sie Besteck und Zigarette; sie spitzte die Lippen, klemmte dann aber statt des Filters den Löffel dazwischen oder biss auf die Kippe. Du hast dich am Lachen verschluckt und den Messergriff ins Nasenloch gebohrt. Deine Mutter wird debil, lallte sie und machte auf Idiot. Du hast erleichtert genickt und weitergefuttert.

Genaugenommen war alles wie immer gewesen. Aber gerade dieses Immer hat sich in deiner Erinnerung mit den Jahren mehr und mehr verändert. In jeder von Margas altbekannten Gesten, in all ihren so oft gehörten Witzen, über die du lachtest, weil du schon immer darüber gelacht hattest, in jedem Blick deiner Mutter siehst du heute das letzte Mal.

Auch Karl Lambert schien das Finale nicht verpassen zu wollen. Er stand plötzlich im Flur, mit Schirmmütze und im Overall, als wollte er in den Stall. Was hat sie?, brummte er und deutete ins Zimmer. Das Zeug hat sie geschluckt, sagte Marianne und schmiss ihm die Tablettenschachtel hin. Er warf einen Blick darauf und zeigte zu dir: Ich hab seinem Vater damals gleich gesagt, dass die nichts taugt. Deine Tante baute sich vor ihm auf, ein Schwall Wasser spritzte aus dem Eimer auf den Boden. Beide nun bildfüllend, fast überlebensgroß, die fahlen, von Müdigkeit und Fragen entstellten Gesichter, talgige, auf Karls Wangen pockennarbige Haut, die Haare wirr, an Mariannes Schläfen bereits ergraut. Dass sie zur Hölle fahren soll, hast du gesagt, zischt sie, und dein Bruder gleich mit!, und sie macht eine fahrige Bewegung zum Bildrand, halb nach vorn, halb in die Höhe, in einen imaginären Himmel. Dann ist sie plötzlich weg und Karl allein. Der lehnt sich gegen den Türrahmen und sinkt ein Stück in die Knie. Im Bad jetzt das Gurgeln der Klospülung, einmal, dann, nach ein paar Sekunden, ein zweites Mal; die Kotze der Mutter, die verseuchte Verwandtschaft das Rohr runter und weg. Aber das Klo, denkt der Junge in der Ecke, ist doch verstopft, und er sieht in Gedanken das schwarze Wasser über die Schüssel schwappen und das Moor hinein in das Haus.

Als Marianne mit einem Handtuch wiederkam, ging sie wortlos an Karl vorbei. Mall im Kopf ist sie gewesen, rief der ihr hinterher, von Anfang an! Marianne wischte den Bettpfosten ab, dann Margas Mund, schlug das Handtuch auf, es peitschte durch die Luft: Halt endlich die Schnauze, du Arsch! Karl schnellte vor, wirbelte sie herum, du!, rief er, du nennst mich so nicht! Sie hob den Lappen gegen ihn wie eine Waffe. Nee?, höhnte sie, aber ihr’n Arsch – und sie deutete zum Bett –, den find’ste doch nicht übel! Sie riss sich los, taumelte kurz, und ab.

Auftritt des Jungen. Er stolpert aus irgendeinem Winkel zum Bett, direkt in Karls Hände. Der kräftige Leib schwankt unter den Schlägen, die der Bauch abfedert, Fußtritten, die ins Leere gehen, einem Schrei, der in der großen Hand erstickt. Am Ende die Ohrfeige, der ein kurzes Schwarzbild folgt, als hättest du versucht, hier aus dem Film etwas herauszuschneiden. Ihn schlägst du nicht auch noch!, rief Marianne, zog dich von Karl weg und drückte dich an ihren Kittel. Der Sauerteiggeruch, das schwarze, flimmernde Bild, Karls Schnauben darin für mehrere Sekunden, eine Viertelminute vielleicht, in der du daran dachtest, dass du am anderen Tag Ute Hassforther würdest anrufen müssen, um ihr zu sagen, dass Marga länger krank sei, wieder, immer noch krank, eine Vorstellung, die dir die Kehle zuschnürte; war es die Angst vor dem Telefon, die dich so würgte, oder die Tatsache, dass du entweder lügen oder die Wahrheit sagen musstest? Dazwischen schien es nichts mehr zu geben, keine Möglichkeit, etwas ungeschehen zu machen; nur noch das Schwarzbild am Busen der Tante, die dich nun in ihr Haus holen würde, wo du Sülzfleisch kauen und Hannes, Martin, Ole und der brutalen Kerstin, die auch fast ein Junge war, der neue Bruder sein müsstest, der beim Ballwegschießen den Fuß zwischen die Beine kriegt, und je länger Marianne deinen Kopf streichelte, desto unerträglicher wurde dein Verlangen nach Margas Zimtkuchen, du hättest Zimt fressen wollen bis ans Ende deiner Tage, wie Marga den Quark, das Butterbrot, den Zeigefinger damit bestäuben, ja, selbst die Pellkartoffeln hättest du in Zimt gewälzt und, wenn euch irgendwann auch noch das Geld für die Kartoffeln ausgegangen wäre, das Zimtfässchen selbst noch genüsslich zwischen den Zähnen zerknackt, alles getan, damit sie wieder die Augen aufschlägt, dir zuzwinkert und sagt: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?

Doch stattdessen, als Marianne den Jungen endlich entlässt, das Tatütata in der Ferne oder auch keine Sirene, gar kein Geräusch, nur draußen vorm Fenster der Schnee und die roten Männer, die plötzlich im Zimmer stehen. Vielleicht, schreibst du, waren sie schon auf dem Hinweg ohne Martinshorn, nur mit Blaulicht gekommen, aus Rücksicht auf die Träume der schlafenden Kinder.

◆◆

Marga schlägt das Buch zu und schiebt es weg, angeekelt wie von einem ungenießbaren Gericht. Tatsächlich ist ihr, als müsste sie alles auswürgen, ihren Ärger über die Lügen, die bittere Kränkung, die ihr wie Galle aufstößt. Wahr ist, dass an jenem Novemberabend, von dem er schreibt, zwar die Sanitäter ins Haus gekommen sind. Aber nicht er, Dion, oder Marianne, die Schwägerin, haben den Rettungswagen gerufen. Ja, gut, sie hatte sich übergeben müssen, zum Glück! So ist sie von den Tabletten nicht bewusstlos geworden, sondern selbst oder, fällt ihr nun wieder ein, von ihm gestützt, die Treppe hinunter zum Telefon gekrochen, doch auch gekrochen scheint ihr eines der herabwürdigenden Romanworte zu sein, mit denen ihr Junge sie hier verunglimpft. Überhaupt, sein ganzes Buch ein bewusster Schlag ins Gesicht. Von wegen späte Einsichten und versöhnliche Rückschau!

Sie springt auf und torkelt benommen zum Fenster, als hätten die Wortohrfeigen des Buches sie aus einer jahrzehntelangen Ohnmacht gerissen. In ihrem Negligé fühlt sie sich nackt, ausgezogen und vorgeführt von den unsichtbaren Blicken der Stadt. Er will mich bewusst denunzieren, denkt sie und flüchtet zur Wand, vor eines ihrer Selbstporträts aus ihrer jüngsten Reihe mit dem Arbeitstitel Mira, Akte einer in die Jahre gekommenen, ebenfalls nackten, ihren gealterten Körper zur Schau stellenden Frau, doch auch dort stößt der entlarvende Blick sie zurück. Mag sein, sagt die Alte auf dem Bild und deutet zum Tisch, wo das Buch liegt und schweigt, aber kapiert hast du’s trotzdem nicht.

Stimmt, was Lesen und Schreiben angeht, hat er sie schon immer für doof gehalten. Nicht die Szene, wie sie wirklich war, schwebt ihr nun vor Augen, sondern die Seite im Buch ihres Jungen, die sie jetzt nicht wiederfindet, obwohl sie sich die Stelle gemerkt hat, zwar nicht den Wortlaut, aber das abstrakte Gebilde, das sich auf den ersten Blick aus dem Druck ergeben hatte, so findet sie sich in Büchern am besten zurecht: Von Passagen, die sie noch einmal lesen will oder muss, merkt sie sich die Anordnung der Zeilen und Absätze auf der Seite.

Du glaubst ihm also auch?, zischt sie zu Mira hin, die mit spöttisch verzogenem Mund von der Arbeitswand glotzt. In der Wohnung darüber jallert der Fernseher von Frau Schäfer. Sie schüttelt sich. Jallern, denkt sie, ist nicht mein Wort, auch das muss dem Schreiberhirn ihres Jungen entsprungen sein. Sie hat es in ihrem Leben immer mit den klaren Ansagen gehalten. Der Fernseher der alleinstehenden Rentnerin nervt sie, wie auch der Geruch, der oft im Treppenhaus hängt, wenn die Schäfer das Mittagessen auf dem Herd vergisst und sie, Marga, weil der Gestank von Verbranntem schon unter ihrer Tür hindurchkriecht, nach oben stürzt. Sie hat neuerdings den Wohnungsschlüssel, reiner Selbstschutz. Das verkokelte Spiegelei kippt sie in den Müll, spült ab, scheuert den Herd, bereitet ein neues zu, ein perfektes, bei dem die Haut auf dem Eigelb noch glasig ist, und serviert es Frau Schäfer in ihrem Sessel vor dem Apparat. Die Greisin beäugt das Gebratene, tadelt, sie habe bereits genachtmahlt. Sie trägt einen Dutt und zwei unterschiedliche Paar Strümpfe. Es ist drei Uhr nachmittags. Der Fernseher jallert.

Jede Nacht reißt das Geplärre sie aus dem Schlaf, sie muss mindestens zwei Lexotax schlucken, um irgendwann im Morgengrauen doch noch wegzudämmern. Auch das Buch ihres Jungen hat sie zuletzt derart aufgestachelt, dass es nur noch mit den Tabletten auszuhalten war. Die Lektüre und der Lärm aus der Flimmerkiste hatten ihre Nerven blankgelegt und in ihrem Kopf ein Stimmengewirr erzeugt. Überhaupt schien sich ihr Körper wie Löschpapier vollzusaugen mit den Schmierereien, in die er, Dion, sie hineingemengt hatte. Auf die Hirngespinste eines Kindes, denkt sie, das er wohl noch immer ist, sollte man nichts geben, schon gar nicht als Mutter.

Am Morgen hatte sie das Buch aus dem Umschlag gezogen, zusammen mit einem Brief. Es war ein unterkühltes, fast förmliches Schreiben in Computerschrift, Liebe Marga, dann ein paar Zeilen, die ihr mitteilten, dass er, Dion, sich im August auf Sylt aufhalten werde, Anlass: die Verleihung eines Literaturpreises, zu der er sie immerhin herzlich einlud. Keine Frage nach ihrem Befinden, ihrem Leben und ob sie das überhaupt will und kann; das Unbehagen, das sie beim Gedanken an ein Wiedersehen augenblicklich verspürte, hatte er mit einem Postskriptum kommentiert: Falls du bereit für einen Neuanfang bist, lautete der angefügte letzte Satz, als hätte sie ihn damals vorsätzlich verlassen, enttäuscht wie eine betrogene Geliebte. Dabei war er es gewesen, der dem Jugendamt dies und das aus ihrem Leben gesteckt und das ein oder andere noch draufgelegt hatte, so dass die Behörden ihr den Jungen per Gerichtsbeschluss wegnahmen und Marianne unterschoben, die Schwägerin also kurzerhand mit allen Rechten und Pflichten einer sogenannten Pflegemutter ausstatteten.

Ihr Kampf war von Anfang an ausweglos gewesen, zu schwer die Geschütze der Psychiater, die ihr, der nach ICD 8 Ziffer 301.1. Persönlichkeitsgestörten, in den Gutachten nicht zutrauten, mit ihrem Jungen wieder ein normales Leben zu führen, freilich verbessert, mit gewissen Disziplinierungen und Verzichten ihrerseits, wie sie den Ärzten zugesichert hatte, die ihren Widerstand so lange mit Medikamenten, Elektrokrampftherapien und tiefenpsychologischen Gesprächen zu brechen versuchten, bis ihr Trotz, an dem verschiedene Anwälte zwei Jahre lang gut verdient hatten, endgültig in Gleichgültigkeit umgeschlagen war, ein Zustand, in dem ein Weiterleben vielleicht nicht besonders erfüllt, aber möglich war, wenn sie die alte Wut, die manchmal jäh wieder aufflammte, durch zwei oder drei Lexotax herabdämpfte, der einzigen Pille, die ihr je Erleichterung verschafft hatte, wie auch heute Morgen, als sie nach dem Klingeln des Postboten das Päckchen aufriss und es in ihrem Innern zu kochen begann.

Sie hatte sich regelrecht krank gefühlt, wie im Fieber. Mit zitternden Händen fummelte sie den Brief ins Kuvert und versuchte sogar, es wieder zu verschließen, als könnte sie die Zweifel, die aufstiegen, zurückverbannen in die Vergangenheit, ins Verdrängte und per Gerichtsstempel ad acta Gelegte. Sie war nicht bereit für ein Wiedersehen, war es zu keinem Zeitpunkt nach ihrer gewaltsamen Trennung gewesen, wie sie nun spürte, als sie den Klappentext des Buches überflog, die Zusammenfassung einer Romanhandlung, die ihr erschreckend bekannt vorkam.

Dion war nach dem Abitur am Gymnasium in Zeeve zum Studium nach München gezogen, möglichst weit weg von Hamburg und seiner Mutter, so hatte sie damals geargwöhnt. Später dann erreichte sie die obligatorische Weihnachtskarte aus Westberlin, von wo aus er sie auch zum Geburtstag anrief, Herzlichen Glückwunsch, Mama, wie geht’s dir / es geht so / kommst du klar / ja, und du? / muss ja, und so weiter, er hatte, erinnert sie sich, dabei noch immer schlimm gestottert, der Junge, oder vielleicht jetzt wieder, wegen all dem, was sie sich hätten sagen wollen und müssen, doch nicht konnten oder durften, weil der Gerichtsbeschluss, ob man ihn nun für angemessen hielt oder nicht, eben Tacheles geredet hatte oder weil jemand im Hintergrund stand und zuhörte, mal ein Kerl bei ihr, dann einer bei ihm, denn Dion, das immerhin hatte er ihr doch noch anvertraut, bevorzugte nun die Männer.

Doch selbst diese schwergängigen Geburtstagstelefonate hatte er in den letzten Jahren eingestellt. Was darin endlich zu klären gewesen wäre, hatte er nun ohne ihr Wissen zwischen zwei Buchdeckel gebracht, und auch den Titel des Romans empfand sie als bewussten Angriff auf ihr Innerstes, ihr von der Psychiatrie kaltgestelltes Mutterherz: Es war der Name, den sie einst ihrem Ölgemälde gegeben hatte, dem einzigen preisverdächtigen, von der Hamburger Kunststiftung immerhin lobend erwähnten ihres gesamten früheren Werkes, das damals bis auf den letzten Rahmen in der Fenndorfer Scheune verbrannt war, was sie bis zu diesem Moment nie als Verlust, ja sogar als Befreiungsschlag und Möglichkeit zu einem Neuanfang empfunden hatte.

Jetzt aber holte sie von einer Sekunde auf die andere die Vergangenheit wieder ein. Gedankenleer vom Lexotax, hockte sie bis zum Mittag im Sessel und starrte hinaus in den grellen Julitag. Von der Arbeitswand glotzten hämisch die Nackten. Ihr Blick in die Welt war zuletzt nur noch auf den eigenen Körper gerichtet gewesen, dessen Verfall sie nach Fotovorlagen auf großformatige Leinwände erst projiziert, dann den Schattenriss mit dem Pinsel oder der Spraydose in groben Zügen gebannt hatte, besessen von der Vorstellung, das langsame Erkalten und Verkrusten ihres Leibes, wenn es schon nicht aufzuhalten war, zumindest dem sogenannten Kunstmarkt zwar ungeschönt, aber, da war sie sich ihrer Sache dieses Mal ganz sicher, formvollendet wie noch in keiner ihrer bisherigen Arbeiten, vor Augen zu führen. Doch Augen hatte der Kunstmarkt ja noch nie gehabt, Fazit: Keine Galerie, weder in Hamburg noch sonst wo, hatte, wie sie sich kürzlich bei ihrem Friseur beklagte, Lust auf eine alte Fotze.

Einzig Herr Dröhmer machte ihr noch, wie man sagt, schöne Augen. Der ebenfalls in die Jahre gekommene Personalchef warf ihr lange Blicke zu, aus dem Glaskasten seines Büros im Callcenter des Warenhauses, wo sie sich seit einigen Monaten mit einem Headset auf dem Kopf, das ihr die Frisur zerdrückt, im Schichtdienst die Beschwerden der Kunden anhören muss, für neun Euro die Stunde, brutto. Was bei diesem Job an Schreibarbeit anfällt, tippt sie mit zwei Fingern in vorgefertigte Masken auf dem Computer, Buchstabendreher unterlaufen hier selbst den Germanistikstudenten, die sich in der Telefonzentrale ihr Zubrot verdienen.

Um vierzehn Uhr, als ihr Dienst begann, saß sie noch immer zu Hause und blätterte im Buch, ohne einen Satz richtig zu lesen. Dabei hätte ein Anruf bei Dröhmer genügt, ein Hüsteln, die Stimme absichtlich ein wenig gequetscht, und er würde die Schicht kurzerhand umbesetzen; ein langer Gegenblick durch die Glaswand hätte ihn auch diesen Schnitzer, der in ihrem neuen Anstellungsverhältnis nicht der erste war, schnell vergessen lassen, am nächsten Tag, wenn sie sich wieder selbstbewusst genug gefühlt hätte, ihren Platz zwischen all den Studenten und jungen Aushilfskräften einzunehmen.

Doch selbst ein solch lapidarer Anruf schien ihr von einem Moment auf den anderen nicht mehr möglich. Jetzt war sie wahrscheinlich auch diesen Job los. Egal, dachte sie, Freundlichkeit und Geduld sind nicht ihre Stärken. Sie wollte ohnehin kündigen, wegen Julius, der eines Tages plötzlich zwischen Dröhmer und ihr in der Blickachse gesessen hatte.

Der BWL-Student, der sie nach ein paar gemeinsamen Schichten an der Kantinentheke angequatscht hatte und den sie, wegen seiner charmant auf die Serviette gekritzelten Telefonnummer und weil sie sich vorm Einschlafen plötzlich auf die Arbeit freute, schließlich doch angerufen hatte, brachte am verabredeten Abend Blumen, tatsächlich Rosen, die sie schon immer beargwöhnt hatte, und zwei Flaschen Wein. Das Hemd trug er offen, es entblößte eine ausgeprägte Schlüsselbeinmulde. Während sie ein Curry vom Thailänder aßen und in großen Schlucken den Wein dazu tranken, rutschte er immer tiefer in den Sessel und streckte die Beine unter ihren Stuhl. Plötzlich stellte er den Teller weg, stand auf und betrachtete die Bilder an der Arbeitswand, eins nach dem anderen aus sehr geringem Abstand. Ganz schön heiß hier, sagte er, was sie ermutigte, beim Toilettengang die langärmelige Baumwollbluse auszuziehen. Als sie zurückkam, fläzte Julius auf der Couch, die Hände im Nacken verschränkt. Er musterte das dünne Trägershirt über ihrer Brust und zog eine Schnute.

Ob sie eine Strickjacke habe? So ein Oma-Ding, sie wisse schon. Und auf keinen Fall dürfe sie das Haar offen tragen. Er sprang auf und drückte ihr die frisch geföhnten Locken zu einer Art Dutt zusammen, irgendwie so, sagte er und kam noch näher. Die Strickjacke, die einzige, die sie besaß, eine von Chanel, die sie einen viertel Monatslohn gekostet hatte, fand er zu elegant. Hast du nicht noch irgendwas von deiner Mutter? Er fasste ihre Hand und presste seinen Mund zielsicher auf das braune Mal, das sie erst kürzlich entdeckt hatte.

Jetzt geht’s los, hatte sie gedacht und vorm Spiegel an dem Altersfleck herumgekratzt. Von ihrer Pension, wie sie auf dem letzten Bescheid der Rentenversicherung mit Entsetzen feststellen musste, würde sie nicht einmal eine Kaltmiete bestreiten können, und selbst mit Sozialleistungen wäre sie noch weit davon entfernt, sich hinter den Schutzschilden von Status und Wohlstand gelassen dem Rundumangriff der Cellulite zu ergeben. Julius untersuchte ihren Arm. Mehr nicht?, fragte er, fand das Hautknötchen neben der Achsel und leckte darüber. Sie stieß ihn weg. Was willst du eigentlich?, fragte sie; es sollte überlegen klingen, doch sie hörte ihre Stimme eher flehen. Ich fürchte, so wird das nichts, sagte er, drehte sich um und verließ die Wohnung. Die Tür schloss er nicht. Brandgeruch zog herein. Sie trank die Flasche Wein leer, schnupperte an den Rosen, die nicht rochen, setzte sich in den Sessel und starrte an die Arbeitswand, wo Mira, die Nackte, ihr mit dem sich auflösenden Körper aus faserigen Pinselstrichen zu sagen schien: Du hast eben doch kein Talent.

Die Gewitterfront, die in den nächsten Tagen über die Stadt hinwegzog, brachte Abkühlung. Blitze zuckten stumm am Himmel, ohne Donner, der Dunst schien alle Geräusche zu schlucken, selbst von oben kein Geplapper mehr; wenn sie von der Spätschicht nach Hause kam, flackerte in Frau Schäfers Fenster das bläuliche Licht des Fernsehapparats. Jetzt beunruhigte sie die Stille. Sie ging hinauf und klingelte, die Rentnerin öffnete mit Eidotterspuren am Kinn, bei der Programmsuche hatte sie versehentlich den Ton abgestellt, doch als Marga den Regler zurückdrehte, schien Frau Schäfer den Unterschied gar nicht zu bemerken.

Im Callcenter trug sie, auch wegen des feuchten Wetters, weite Stoffhosen, Langärmeliges und Zeitloses, was Herrn Dröhmer zu missfallen schien; in seinen Blicken, die durch die Glaswand hindurch zu ihrem Platz wanderten, glaubte sie, Bedauern zu lesen. Als sie Julius auf dem Flur begegnete, schaute er weg. In der Kantine schäkerte er mit der Köchin, einer übergewichtigen Alten, die mit schwieligen Händen labberige Hähnchenschenkel über die Theke schob. Während der Schicht saß er am anderen Ende des Raumes, er war jetzt für die Bestellungen zuständig, sie sah ihn tagelang nur von hinten. Manchmal streckte er die Arme in die Luft, räkelte sich und präsentierte unterm knappen T-Shirt den fest durchmuskelten Rücken, überhaupt der ganze Rumpf wie von einer antiken Skulptur.

Beim Toilettengang prüfte sie vorm Spiegel ihr Haar. Von der vielen Färberei war es spröde geworden, nur am Ansatz schon dunkler; bis das Blond rausgewachsen war und das Grau sich durchsetzte, würden Monate vergehen. Sie durchstöberte die Regale von Boutiquen, in denen sie zuvor noch nie war, doch auch die Mode für die sogenannte reifere Frau machte auf jugendlich. Die altmodische Strickjacke, die sie zuletzt bei C&A fand, war nur noch in Übergröße vorrätig, die Verkäuferin war dafür extra ins Lager gegangen, trat dann am Spiegel neben sie und riet ihr ab.

Sie klingelte bei Frau Schäfer. Die Rentnerin erschien in Kittelschürze, durch die champagnerfarbene Nylonstrumpfhose drückten sich blaue Aderwürmer. Ob sie ein paar Sachen zu waschen habe?, fragte Marga, sie sei auf dem Weg zur Reinigung. Frau Schäfer winkte ab. Dann ein zehnminütiges Lamento über die Gelenkschmerzen, die Wohngemeinschaft nebenan, das Fernsehprogramm. Marga versprach einen Ausflug ins Teehaus, in ihrer, Schäfers, schönsten Robe, und drängte sich an ihr vorbei ins Schlafzimmer.

Aus dem Kleiderschrank stieg der Muff. Sie durchsuchte alles hastig, prüfte Stoffe und Schnitte. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, saß Frau Schäfer vorm Fernseher und verfolgte mit trübem Blick eine Talkshow; der Kopfhörer, den sie ihr neulich mitgebracht hatte, lag auf dem Apparat, das Kabel war angeschlossen, aus den gepolsterten Lautsprechern knisterten die Stimmen. Sie habe ein paar hübsche Sachen gefunden, sagte Marga und präsentierte ihre Auswahl. Frau Schäfer klagte über die Tonstörung, schien den versprochenen Ausflug ins Teehaus vergessen zu haben. Marga setzte ihr den Kopfhörer auf, vorsichtig, damit sich der Haarknoten nicht löste.

Am Abend stand sie vor Julius’ Tür. Sie trug einen schweren Rock und eine Strickjacke aus grauer Schurwolle, der Kragen kratzte am Hals. Frau Schäfers BH hatte nicht gepasst, sie hatte zwei zusätzliche Häkchen annähen müssen, war dafür extra nochmal ins Kaufhaus. Julius öffnete mit nacktem Oberkörper. Er atmete schnell, auf den Schultern glitzerte der Schweiß. Technomusik drang aus einem Zimmer, auf dem Flur lagen Hanteln, ein Handtuch auf dem Linoleum. Sie betrat unaufgefordert die Wohnung. Es roch nach Bratfett aus dem Backofen, von Tiefkühlpizza oder Pommes frites. Sie schloss die Tür, die Bässe wummerten ihr ins Hirn, sie wünschte sich Stöpsel, Kopfhörer, irgendetwas Dämpfendes, Stillung; die Lexotax, die sie zuvor geschluckt hatte, zeigten nicht die geringste Wirkung.

Sie fragte nach dem Bad, er machte eine Kopfbewegung. Drin sah sie sich um, durchwühlte sogar den Wäschekorb, fand kein Stück, das eine noch ältere Geliebte hinterlassen haben könnte. Sie wagte es nicht, in den Spiegel zu schauen. Auch das Mieder hatte sie noch umgenäht. Sie drückte den Spülknopf zweimal, ließ dann lange den Wasserhahn rauschen, wollte nicht hören, wie ungestüm ihr Herz in der Schäferbrust hämmerte.

Julius hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Sein Anblick würgte sie jetzt. Er stand da wie ein Götze, glatt, kalt, uneinnehmbar, ein Kunstwerk. Sie ging hin, vor ihm in die Knie. Mit dem Fuß tippte sie eine Hantel an, die träge in die andere Richtung rollte. Alles schien sich abzuwenden; die Kommode kam ihr schief vor, die Schatten flohen in die Ecken, auch das Licht empfand sie plötzlich dunkler, wie in diesen Momenten, wenn eine leichte Schwankung in der Stromversorgung die Glühbirne flackern lässt. Die Musik endete abrupt, der Bass dröhnte in ihren Ohren nach, als wehrte sich ihr Gehör gegen die Stille. Irgendwo draußen ein Martinshorn, es kam näher, wurde bedrängend laut, verstummte plötzlich, als stoppte der Rettungswagen vorm Haus.

Die Trainingshose war aus blauer Ballonseide mit weißen Streifen, die im Lampenschein reflektierten. Sie kriegte den Knoten im Zugband nicht auf. Seine Hände hingen reglos über die Hüften, zu Fäusten geballt. Sie stieß ihre Zunge in seinen Bauchnabel, glaubte, mit dem ganzen Körper hineinzustürzen, so tief schien ihr plötzlich das Loch, bodenlos die Sehnsucht des Künstlers nach dem vollkommenen Bild.

Schließlich zerrte sie den Bund über das Becken. Das Geschlecht duckte sich unter das V-förmig gemeißelte Schambein mit den sorgsam gestutzten Haaren darauf. Es schmeckte salzig. Sie atmete flach den Geruch von Frau Schäfers Schlafzimmer, der aus ihrer Kleidung stieg. Sie hatte nicht an passende Schuhe gedacht und sich am Ende für die flachen Stiefel entschieden, ein Stilbruch. Jetzt klemmte ihr das harte Leder die Fesseln ein. Sie arbeitete umständlich aus der Hocke. Er legte ihr nicht einmal die Hand auf den Dutt. Nach endlosen zwei Minuten war alles noch wie zuvor. Was ist denn los mit dir?, fuhr sie ihn an. Er zog die Hose hoch und packte sich weg. Komm in zehn Jahren wieder, sagte er und ging über dem Handtuch in den Liegestütz.

Nach der Reinigung rochen Frau Schäfers Sachen nach Lavendel. Sie hatte die Duftnote auf dem Auftragsblatt ankreuzen können: Sommerfrisch, Zeder, neutral. Lavendel, hatte sie gedacht, passt am besten zu einer alten Frau, doch jetzt erinnerte sie der Geruch an den Badezusatz, den sie früher, in Fenndorf, oft benutzt hatte. Auch der hatte sie irgendwann zu ekeln begonnen, heute badet sie ganz ohne Schaum. Kein Wirkstoff hat ihr je die versprochene Entspannung gebracht.

Frau Schäfer nestelte die Kleidung aus der Folie. Ach, behalten Sie das ruhig, sagte sie, dafür sei sie schon zu alt. Sie trug die Kopfhörer auf den Ohren, der Stecker baumelte in ihrem Schoß. Aus dem Wohnzimmer jallerte der Fernseher, lauter denn je.

Endlich hat sie die Seite im Buch wiedergefunden, die ihr bei der Lektüre so bitter aufgestoßen war, eine dicht beschriebene voller sich bösartig windender Bandwurmsätze, absatzlos, als gönnte Dion ihr unterm Beschuss seiner Erinnerungen kein Atemholen und Innehalten, nirgends eine Zeile, wo sie hätte einhaken und zur Gegenwehr ansetzen können. Wahr ist, dass sie in jener Novembernacht ihren Selbstmordversuch schon im nächsten Moment bereut hatte. Mit dem Rotstift sollte sie hier einfügen, wie sehr ihr Gewissen sie plagte, nachdem sie die Tabletten geschluckt hatte.

Zugegeben, sie war betrunken gewesen, erschöpft, am Ende; seitdem Ute Hassforther sie abserviert hatte, war es vorbei mit dem Malen, selbst das Starren auf die immer weiße Nesselbahn hatte sie schließlich eingestellt und war nur noch in die Scheune gegangen, um dir, Dion, das Gröbste und Grausamste ihrer Depression zu ersparen. Dort nämlich, in ihrer Werkecke, tat sie nichts, falls sich dieses kleine, ebenso unmaßgebliche wie allmächtige Wort überhaupt noch an einer zum Stillstand gekommenen Handlung festmachen lässt, denn selbst eine Bewegung, die, wenn auch unwillkürlich, noch immer ein Handeln voraussetzt oder bewirkt, war nicht mehr zu erkennen, wie sie dort auf dem alten Sofa lag, dem Schmerz in ihrem Rücken lauschte und ihre Folterer auf sich einwirken ließ – den kleinen, eher harmlosen der sich ihr ins Kreuz bohrenden Metallfedern wie auch den großen, unsichtbaren, der ihr von oben herab zusetzte und ihren Körper auf die Drahtspitzen spießte. Bei der Vorstellung, dass es mit ihr nun bald vorbei sein würde, verspürte sie sogar eine Art Lust, die letzte Empfindung, zu der ein halb zu Tode Geschundener noch fähig ist, sein letztes klägliches Aufbäumen kurz vor dem Nichts.

Wer soll ohne Hoffnung noch leben, dachte sie, drückte eine Träne heraus, die es, so bleiern von diesem Gedanken, kaum über das Augenlid schaffte, griff zu der Weinflasche auf dem Arbeitstisch, die noch vom Vortag dort stand, kippte sie in einem Zug und ging hinüber ins Haus. Dem Nichts war es egal, dass der Kühlschrank seit Tagen leer war, du aber hattest Hunger, warst ihr Kind, wolltest die Mutter.

In seinem Zimmer, erinnert sie sich, brannte noch Licht. Sie sah ihn im Bett über sein Heft gebeugt, in das er mit eiliger Hand schrieb, im Schein der Lampe. Sie schob ihr Gesicht in den Türspalt, in der Hand den Teller mit dem Rest Eintopf, den sie im Tiefkühlfach gefunden und auf heißer Flamme schnell aufgetaut hatte.

Tatsächlich hast du innegehalten, doch nicht aufgeblickt, nur in den Flur gehorcht, wo aber nichts anderes war als diese Stille, seit Tagen. Dich dann wieder in deine Aufzeichnungen vertieft und weitergeschrieben, mit einem Gefühl von Bedauern, in das hinein nun eine Art Gewissheit strömte, etwas sehr Klares, fast Erlösendes wie ein kühler Luftzug in einen erstickend schwülen Raum.

Jetzt liest sie an entsprechender Stelle in deinem Buch, dass sie gar nicht hereinkommen wollte, um dir eine gute Nacht zu wünschen; das, schreibst du, sei nicht ihre Absicht gewesen, noch nie Ziel ihrer Gänge hoch und hin zu dir. Nein, vielmehr habe sie vor der Tür gelauert und darauf gewartet, dass du sie mit einer Umarmung, einem Kuss, dem hingestammelten Alles wieder gut aus ihrem Elend reißt.

Welches Elend aber?, fragst du dich oder sie oder mich schon in der nächsten Zeile. Sie blättert um, liest mit einem Würgegefühl in der Kehle weiter, kann nicht glauben, was ihr Junge da über sie in die Welt setzt: War sie nicht in Wahrheit von Anfang an diese Gefühllose und Gleichgültige gewesen, nur eine menschliche Hülle, die leere Mutter? Ist der Kleiderbügel der Diakonissen, der ihr die Narben schlug, nichts als ein Symbol? Phantasieobjekt und Krücke eines Sprachkrüppels, der um Worte ringt für etwas, das nicht zu beschreiben, bar jeder Angriffsfläche, eben einfach nur nichts ist? Hat der hier gegen die Mutter erhobene Kleiderbügel ihr die sogenannte Seele, oder was das Liebende eines Menschen ausmacht, gar nicht heraus-, sondern in ihren hohlen Körper erst hineingeprügelt? Sie mit Schmerz belebt, damit sie sich überhaupt regt und bewegt? Er, ihr Junge selbst, muss sie sich im nächsten Absatz anhören, sei in Wahrheit der Schläger, der sie in diesem Buch absichtlich entstellt, im Verlangen nach einer Antwort auf ihre Ferne und Kälte. Nicht ohne Grund sollte sie diese Kuckucksmutter sein, die ihr Ei allzu gern in ein Moorloch geworfen hätte oder zumindest in ein fremdes Nest, nämlich das warme, gut bebrütete von Marianne Lambert, denkt sie, die Dion mit ihrem Mastbusen und dem Achselgeruch ja schwer beeindruckt haben muss.

Angeblich hat die Schwägerin ihr, Marga, damals nach ihrem Suizidversuch nicht nur das Leben gerettet, sondern ihm, schreibt ihr Junge, später, nach der Adoption, endlich auch die Geborgenheit und Fürsorge zukommen lassen, die ein Kind braucht, um lebensfähig zu werden, und sie knurrt ein Lachen zu Mira hinauf, den Butterkuchen!, höhnt sie, das Nackensteak!, den Kirchgang sonntags um zehn!

Da ist sie ja billig davongekommen, sagt die Gemalte, und Marga denkt, genau!, und dass Marianne, die Geizerin, den Ausbau ihres Schweinestalls zum Schweineimperium schon immer ihren Kindern vom Mund abgespart hat. Sie erinnert sich, wie sie einmal den Kuchen probierte, als Dion eine Platte mit Übriggebliebenem vom Adventsbazar mit nach Hause brachte, staubtrocken war der! Nicht mit Butter, sondern mit Pflanzenfett gebacken. Bei mir aber, belehrt sie die Zweifelnde auf dem Bild, hat es trotz Geldnot stets Butter gegeben! Nicht eher Zimt?, wiegt Mira den Kopf. Pellkartoffeln mit Butter!, widerspricht Marga, Butterstullen als Pausenbrot, gebutterten Kohl, und ihr Zimtkuchen, wenn der hier schon gegen sie aufgetischt wird, war von der Butter stets so saftig gewesen, dass er ihrem Jungen auf der Zunge schmolz, und Mira in ihren spärlichen Farblumpen ruft: Butter bei die Fische!

Ein Kleiderbügel, liest sie, wäre ja noch etwas gewesen. Eine tiefe innere Verletzung hätte ihm, Dion, schon als Grund gereicht, warum sie im nächsten Moment zu der Lexotax-Schachtel gegriffen, dann aber nur ein paar Pillen in ihre Hand gedrückt und den Streifen halb geleert auf dem Bett platziert habe, wo er ihn finden würde und sollte. Das Einzige, was sie je gekonnt habe, fährt der letzte Satz des Abschnitts sie hasserfüllt an, sei es gewesen, dem Nichts in ihrem Innern ein Schnippchen zu schlagen, für ein kleines, schäbiges Gefühl von Leben, wie ein Junkie, der sich den Schuss setzt.

Das ist nicht wahr! Sie feuert den Roman in die Ecke, wo er aufgeblättert liegen bleibt und klafft wie ein Maul. Sie hat doch immer alles für ihn getan! Alles mit ihm geteilt! Sich für ihn schier zerrissen zwischen Kunst, Kochen und Karriere! Lobende Erwähnung!, ruft sie Mira zu, doch die verzieht nur den dünn gemalten Brauenstrich. Allestopf!, droht Marga und hebt gegen das Werk einen herumliegenden Pinsel, der es mit einem einzigen Hieb vernichten könnte, doch das Porträt zuckt mit den Achseln und sagt: Du hast ihn abgewichst! Sechsbändiges Naturlexikon, fleht Marga zur Ecke hinüber, wo das Buch liegt, und die Sommernacht weht zum Fenster herein und blättert die Seiten um, aus denen das Gleiche noch einmal tönt.

Dabei hatte sie sich für ihren miserablen Zustand wirklich vor dir geschämt. Versuchte deshalb, es möglichst gut vor dir zu verstecken: ihr ungewaschenes Haar, den sauren Weingeruch ihrer Küsse, die Tränen, die ihr schwallartig übers Gesicht stürzten, das sich, von der Verzweiflung so jäh und maßlos überschwemmt, schon im nächsten Moment wieder zu einer steinernen Maske verschloss, ausdruckslos und kalt, als hätte sie seit Jahrzehnten nicht mehr geweint. Doch wie verbirgt man eine Abwesenheit, das Nichts? Sie probierte es mit Trotz, dazu immerhin konnte sie sich in Momenten noch aufraffen, vielleicht, denkt sie jetzt, war das der Fehler.

Weil du sie beim Morgenkuss mehrmals weggemault hattest, war sie schließlich deinem Zimmer ferngeblieben. Er ist alt genug, sich den Wecker zu stellen, dachte sie, drehte sich im Bett um und schluckte noch eine Tablette. Die Tadel des Klassenlehrers würden ihn schon wach rütteln, und mit diesem Gedanken stürzte sie wieder ab ins gnädige Schwarz des Betäubungsschlafs. Wieso sie jetzt dafür geradestehen soll?, raunzte sie später und schob den Stift weg, den du ihr auf den Tisch warfst, damit sie den maßregelnden Wisch mit ihrem M. abzeichnete.

Verhetzt wie sie in diesen Tagen war, ziellos die Leere in ihrem Kopf durchpflügend, immer auf der Suche nach den richtigen Worten für eine Aussprache, verbrannte ihr der Allestopf auf dem Herd. Schweigend und mit gesenkten Köpfen habt ihr vor euren Tellern gehockt. Sobald sie sich räusperte und das Besteck zur Seite legte, erntete sie von dir einen solch verächtlichen Blick, dass sie den Satz beklommen hinunterschluckte, zusammen mit dem brandigen Papp. Irgendwann hast du den Fraß weggestoßen, stotterfrei ekelhaft! gezischt und oben die Zimmertür geknallt.

Danach, sie weiß es noch genau, war er gar nicht mehr zu Tisch gekommen. Er schmiss seinen Ranzen in die Ecke, drängte sich an ihr vorbei und zog aus der Schublade eine Süßigkeit. Erst essen, sagte sie, und er: Hab schon hbei hMarianne. Sie: Dann zieh doch gleich rüber. Er: hBin schon hdabei. Sie räumte sein Gedeck weg, kratzte das Gemüse in den Müll, zerschlug beim Spülen vor Ärger den Teller. Später, in der Scheune, quetschte sie die Schnittwunde am Finger, die einfach nicht bluten wollte. Sie wusste nicht mehr, wie sie ihm noch beikommen sollte.

Ach herrje, stöhnt Mira auf dem Bild. Marga fährt herum. Hat sie gerade selbst herrje gesagt? Noch nie in ihrem Leben ist ihr ein solches Wort über die Lippen gekommen. Verdammt! wäre ihre Formel gewesen, verfluchte Scheiße!. Sie erinnert sich, wie Marianne diesen Gottesseufzer ausstieß, als sie damals ins Zimmer kam. Sie hat ihn genau gehört, den Hilferuf, den die Bäuerin zum Himmel schickte, bevor sie Hand an die lästerliche Schwägerin legte, die so mit ihrem Leben spielte. Umständlich tastete sie nach dem Puls.

Lass das, hatte deine Mutter schwerzüngig erwidert und Marianne weggestoßen, noch lebe sie ja. Dann hat sie sich von dir weg und zur Wand gedreht. Sie wollte dir den Anblick ersparen. Zu diesem Zeitpunkt war sie nämlich noch gar nicht bewusstlos gewesen, anders, als du schreibst. Erst im Rettungswagen ist sie langsam weggekippt. Vorher hat sie den Notruf gewählt und dich rüber zur Tante geschickt, falls sie doch gleich schlappmachen sollte. Sich vorsorglich über dem Klo noch einmal den Finger in den Hals gesteckt, um den Rest der Lexotax auszuwürgen, ein paar Gläser Wasser nachgetrunken, sogar das eingekotzte Bett hat sie, schon mit pelzigen Fingern, noch abgezogen, damit Marianne keine Arbeit damit hat. Dann erst hat sie sich auf dein Kissen gelegt.

Frau Schäfer, scheint ihr, hat den Fernseher noch lauter gedreht, das Haus bebt von Stimmen. Sie schüttelt sich und duckt sich unter die Blöße des Bildes, als fände sie nur dort noch Schutz. Der Lärm aus der oberen Wohnung – oder ist es die Party nebenan? – hat bereits die Lampe in Schwingung versetzt, und von der Tür, glaubt sie, riecht es plötzlich nach Spiegelei.

Nicht nur die Pfannen der Greisin scheuert sie mittlerweile fast täglich. Letzthin hat sie die Schäfer sogar gewindelt, wofür sie sich selbstredend einen Fünfziger aus dem Portemonnaie genommen hat. Keine Polin, denkt sie, macht sich dafür die Hände schmutzig! Richtig besudelt hat sie sich nach dem Geschäft gefühlt, der Gestank wollte trotz Gallseife und Wurzelbürste nicht mehr von ihren Händen runter. Oder war es am Ende schon ihre eigene Haut, die derart zu riechen begann? Der Altweibermief geht ihr nicht mehr aus dem Sinn, wird sie nun auf Schritt und Tritt begleiten, und sie hebt das Buch vom Boden auf und gräbt die Nase tief in den Falz. Kunst stinkt nicht, tadelt die Gemalte, und Marga schüttelt das Buch in ihren Händen, blättert vor und zurück, klopft Seite für Seite ab auf eine winzige Stelle Wahrheit, eine Spur Achtung und Liebe ihres Sohnes, und tatsächlich fällt ein einziges Wort heraus, zwei zuckende Silben, liegt nackt und kümmerlich auf dem Boden wie ein der schützenden Krume entrissener Wurm und wimmert hMa-hma!, und sie beugt sich über die nächste Seite und liest mit zitternden Händen und stolperndem Blick, wie ihr Junge weint und sich windet in seinem Winteralptraum vom Schneesturm über dem Moor.

◆◆

Du erwachst von einem Schlag. Die Stille im Haus wie mit Kanten und Klingen, sie stottert dich aus dem Schlaf. Du klammerst dich ins Kissen, zerrst die Decke über dich, glaubst, sie knirschen zu hören, so kalt ist es plötzlich im Zimmer. Blinzeln, blinde Flecken vor den Augen, dann ist alles wieder da: Blaulicht, die roten Männer, Margas leeres Gesicht. Ein Klappern und Fauchen, das Malmen im Dachstuhl, von Splittern oder Scherben, Satzfetzen aus einem wütenden Draußen, und du fährst hoch und siehst mich durchs Fenster starren, den Schlund aus Eis und Schnee.

Aber Schnee, denkst du und schließt wieder die Augen, ist doch ein Hauchwort, viel zu leise und weich für das Getöse, das dich jetzt in den Tag schreit, hSchnee wie hMoor oder hMeer, lose Silben mit Doppelvokal, nach hinten offen, mit weitem Horizont und nichts als Luft darin, eine Sprache aus Schnee, das wäre die Lösung.

Falsch, sage ich und schlage dir mit einer Bö den Fensterladen um die Ohren, das ist erst der Anfang der Sprachtortur. Erinnere dich an Mariannes Verhör in ihrer Küche, während draußen die Nacht langsam weiß wurde: bohrende Fragen, die du hartnäckig weggeschwiegen hast, obwohl die Worte in dir heraufdrängten wie niemals zuvor. Du hättest nicht mehr aufgehört zu reden, ein Stotterinferno entfesselt, krachend und kollernd wären all die unbeschreiblichen Gefühle aus dir herausgeplatzt.

hLass hmich!, hast du gegen den Wind angeheult, als die Tante dich über den Heidedamm auf ihren Hof zog. Schneeschleier stoben vor deinen Augen, ließen ihre Züge grob und maskenhaft erscheinen. Keine Widerrede, rief sie und schüttelte dich, heute Nacht bleibst du bei uns! Oder wohin willst du sonst gehen? Sie ließ dich los und eilte mit großen Schritten weiter. Den Rest des Weges bist du mit eingezogenem Kopf neben ihr her, durch die sich rasch verdichtenden Wirbel.

Der Schnee fiel hastig und drängend, als wollte er schnell bedecken, was du gesehen hattest, die Spur verwischen, die nun unwiderruflich gelegt war. In dem wilden Gestöber konntest du kaum die Bahn einer einzelnen Flocke verfolgen. Für einen Moment hieltst du sie mit Augen fest, wie sie herabtrudelte und dich mit sich riss, dann glitt dir die nächste in den Blick, hob dich wieder empor. Plötzlich eine, die größer und schöner war als alle anderen. Sie tanzte auf dich zu, zitterte eine Weile über deiner Stirn, wurde vom Wind erfasst und wieder in die Höhe geschleudert, wo sie sich mit einer anderen Flocke verband und wieder zu stürzen begann.

So ging das bis fast vor die Haustür. Du flogst mit dem Schnee in die Nacht hinaus, durch die weiße Dunkelheit, hast für einen Augenblick sogar all die quälenden Fragen vergessen: wohin die Sanitäter Marga fuhren, ob man sie dir wiederbringt, warum Marianne, deine von Marga so hartnäckig gemiedene Tante, sich plötzlich so mütterlich gab und ob du am Tisch nun neben Hannes sitzen würdest, als sein neuer Bruder.

Du hast dir vorgestellt, im Innern des Schnees zu leben, eingeschlossen von Eiskristallen, die dir glichen und sich doch alle voneinander unterschieden, in feinsten Nuancen; nur eine Libelle mit ihren abertausend Einzelaugen hätte sehen können, dass du die Seele einer Schneeflocke bist, nicht mehr sprach-, doch lautlos, eine reine, zu sich selbst gekommene Stille, die keine Worte mehr hervorpressen muss. Im Innern des Schnees würdest du nicht mehr stottern; seine Bewegung vom Himmel abwärts, der langsame, weiche Fall auf die Erde wäre die vollkommene Syntax: das Geräusch, mit dem er auf einen Ast fällt oder sich auf den Boden schmiegt, dieses für den Menschen nicht hörbare Knistern, wenn das nicht schon zu viel Lärm für den mikroskopischen Konsonanten ist, Anlaut des großen Schweigens, das jedes Wort, das du je gesprochen und verbrochen hast, tilgt und erlöst und jeden Satz, der noch vor dir liegt, bereits in sich trüge, nur ein unbedeutender Ton im absoluten Klang deiner Stimme, denn der Schnee hatte bereits begonnen, den Heidedamm in eine neue, noch nie gesehene Landschaft zu verwandeln.

Beim Blick zurück sahst du dein Zuhause geweißt vor der Nacht, die Dunkelheit bis an die Ränder gedrängt, das blanke Bild, in dem die Leere bereits den Rahmen zu sprengen begann. Marga war darauf längst verschwunden, die Ebene nur mehr Ahnung und Erinnerung, ich selbst ein stummes schwarzweißes Rauschen abseits des Weges. Als Marianne dir unter dem Vordach befahl, den Schnee von Kleidung und Schuhen zu klopfen, hast du beschlossen, von nun an kein Wort mehr zu sprechen.

Du hast den Butterkuchen gegessen, der gar nicht nach Pflanzenfett schmeckte, den Becher heiße Milch getrunken, in den Marianne einen großen Löffel Honig gerührt hatte. An der Küchenwand hing ein Teppichklopfer, aus Weidenruten geflochten und gleich neben dem Kreuz, als wäre in deiner Erinnerung dieses Schlaginstrument das zwangsläufige Beiwerk auf dem ewigen Bild der Bauernküche, so, wie der Todeshügel Golgatha nicht mehr denkbar ist ohne die Antoniuskreuze der Schächer aus dem einfachen Volk, deren stummes, von niemandem bestauntes Siechen und Sterben das Zentrum des Bildes mit dem wehklagenden Gottessohn erst zur Metapher macht.

Ihre Fragen hast du nicht beantwortet. Sie wollte wissen, was Marga am Abend zuvor gemacht, ob sie getrunken hatte. Sie fragte dich auch, was du getan hast und ob dir in letzter Zeit nichts aufgefallen sei. Ein neuer Mann, irgendeine unglückliche Liebesaffäre, warum sonst dieser plötzliche Kummer? Dann bohrte sie tiefer, mitten hinein in die Wunden; es war, so verloren und voll der drängenden Worte, wie du an ihrem Tisch hocktest, der richtige Zeitpunkt dafür. Sie verhörte dich regelrecht; wo der Wagen abgeblieben und warum Marga nicht mehr arbeiten gegangen sei; ob du überhaupt wüsstest, von welchem Verdienst ihr lebt? Sie benutzte tatsächlich dieses umständliche Wort, das sie auch noch besonders betonte und dabei die Stimme ein wenig senkte. Sie sah dein Schulterzucken und musterte dich tadelnd. Spricht sie wirklich nie über deinen Vater? Sie beugte sich vor und nahm deine Hand. Bete ab und zu für ihn, Dion! Du hast den Honig vom Becherboden gekratzt und schläfrig geblinzelt. Und heute Nacht, fügte sie mit einem Blick zum Kreuz hinzu, beten wir auch für deine Mutter!

Sie atmete schwer aus, seufzte noch einmal mein armer Junge und drückte dich an sich; für einen Augenblick hörtest du ihr Herz in der Brust klopfen, zwei zähe, kaum zusammenhängende Schläge. Dann stand sie auf, räumte das Geschwirr weg, kehrte die Krümel von der Tischplatte in ihre Handfläche, schien einen Moment zu überlegen, wohin damit, und steckte die Faust schließlich in die Kitteltasche. Morgen wird alles schon ganz anders sein, versprach sie und schob dich die Treppe hoch. Die Stufen knarrten, das gleiche uralte Geräusch wie von den Dielen zu Hause, das dir oft weit nach Mitternacht Margas Kommen angekündigt hatte, manchmal schon als erstes Echo des Schlafs. Durch eine offen stehende Tür sahst du im Bett die Silhouette des Onkels, hörtest sein Schnarchen und fragtest dich, wie und wann er hereingekommen und ob er vorhin tatsächlich drüben im Haus gewesen war. Überhaupt erschienen dir die Geschehnisse, vielleicht vor Erschöpfung, verworren und widersinnig wie ein böser Traum.

Als sie die Tür zu Hannes’ Zimmer öffnete, schlug dir der Schlafgeruch entgegen. Sie knipste das Licht an, es schmerzte in den Augen. Dein Cousin schlief in gekrümmter Haltung, verwickelt in die Bettdecke wie in einen Kokon, aus dem ein Bein herausstach. Du starrtest hin, blonder Flaum auf der Wade, eine Schürfwunde am Schienbein, wolltest rückwärts über die Schwelle, doch Marianne hielt dich fest und sagte: Keine Widerrede!, so herrisch und laut, dass Hannes erwachte. Aus den Tiefen des Schlafs heraus schien sein Blick tückisch und voll ungarer Pläne. Am Boden standen Pantoffeln, alte, ausgelatschte Schlurren, wie auch Karl Lambert sie trägt, du hattest Hannes’ Füße bisher nur in den Stallkloben, seinen eitel gepflegten weißen Turnschuhen oder nackt, mit vom Feuerruß geschwärzten Sohlen am Jummestrand gesehen, fandest die Vorstellung von den behausschuhten Quanten des Dorfhelden, der seiner Gefolgschaft aus pickligen Oberklässlern stets ein Stück vorausgeht, gleichermaßen beruhigend wie trostlos.

Auch das Stofftier am Fußende, Bär oder Hund, passte nicht in das Bild eines Kerls, der die Stoppelkatzen in der Grube ersäuft. Vielleicht hatte den Teddy ja einer seiner Brüder hier vergessen, als der für den Älteren, der Anspruch auf Privatsphäre zu erheben begann, das gemeinsame Zimmer räumen musste, das dir jedoch groß genug für die geheimen Nachmittagsleben zweier Heranwachsender erschien, wie geschaffen für dich und ihn. Oder hast du das Kuscheltier selbst auf dem Bett platziert, später, in deinem Buch? Dort werden all diese Erinnerungen voller Details sein, und mit jedem neuen Blick darauf kommt ein weiteres hinzu. In diesem Moment aber muss alles, was der dreizehnjährige Junge sah, dessen Mutter man soeben ins Krankenhaus gebracht hatte, wüst und kahl gewesen sein, herausgerissen aus der Überfülle der Kindheit. Jeder Gang und Schritt, den du hier tust, ist eine Bewegung von später, angestoßen von deiner Stummheit, vom Stillstand bedroht und künstlich am Leben erhalten durch meine Stimme, den langen, kalt gewordenen Atem deiner Sehnsucht.

Da fällt der Teddy auch schon vom Bett, raus aus dem Bild. Hannes dreht sich maulend zur Wand. Geh runter auf die Couch, sagt Marianne und schlägt die Bettdecke zurück. Weil der Schlafanzug auf dem Bauch ihres Sohnes verrutscht ist und Haariges entblößt, blickt sie zu Boden, der Junge an ihrer Hand jedoch direkt hinein in das Geschlinge, bevor Hannes das Kissen darauf wirft, sich umständlich aus dem Bett hievt, dabei die Decke hinter sich herzieht und auf die Eindringlinge flucht.

Nimm dir Bettzeug aus dem Schrank!, rief Marianne ihm hinterher und haschte nach der Daunendecke, die von seinen Schultern glitt, wobei er mit der Hand auf die Hinterbacke klatschte, was alles heißen konnte, leck mich, einen Scheiß werd ich tun, den Arsch des Kleinen schon noch kriegen. Marianne zischte ein Herrgottnochmal!, stützte sich aufs Bett und strich das Laken glatt. Dann drückte sie dich auf die Matratze und sagte: Schlaf jetzt! Doch statt die Augen zu schließen, reißt der Junge in deinem Buch sie auf und reckt den Kopf in die Höhe, raus aus dem Hannesmief, weg von den Bildern der kollabierenden Mutter, die wieder über ihm zusammenbrechen würden, sobald die Tante das Licht löscht, und er stemmt sich hoch und blickt zum Fenster, wo der Schnee tanzt. Sie mustert den Neffen fragend, als hätte sie noch etwas Wichtiges vergessen, dann beugt sie sich herab und drückt ihm den Gutenachtkuss auf die Stirn, sagt: Du kannst so lange hierbleiben, wie du willst, und ahnt dabei selbst noch nicht, dass es Monate und Jahre sein würden.

Der Junge erwacht von einem Schlag. Das Zimmer ist heller als zuvor, die Dunkelheit weniger tief, der Schnee draußen vervielfacht das Licht, wirft alles in seinen Traum. Am Fußende des Bettes sitzt das Kuscheltier und glotzt ihn an, aus leeren schwarzen Augen und mit offenem Maul. Erst jetzt blickt er auf.

Hannes steht über dir, in einer seltsam verkanteten Haltung, einen Arm hochgerissen, den Kopf gleichzeitig nach unten gestreckt, wie verfangen im Netz der Lichtfäden, die sich vom Fenster aus durch den Raum spinnen. Glaub nicht, dass du jetzt dazugehörst, flüstert er und lässt den Teppichklopfer auf dich herabsausen, stoppt kurz vor deiner Brust. Du zuckst nicht weg, liegst nur da und starrst ihn an. Er kommt noch näher, hebt den Schläger wieder ein Stück in die Höhe und dreht ihn in der Hand, senkt ihn dann bis fast auf die Nasenspitze. Du kannst das Weidenholz riechen, Staub aus den Teppichläufern, den Schmutz seiner Träume. Er presst die Kante auf deine Lippen, du drehst dich langsam aus der Klammer, schwer und taub lastet die Zunge im Mund. Jetzt spürst du das Holzgeflecht über deine Wange streichen, zur Schläfe hinauf, wo er sacht zudrückt. Das Gitternetz ziept im Haar, schnellt dann nach oben, verschwindet für einen Moment aus deinem Blickfeld, es wäre der richtige Zeitpunkt, zu fliehen oder aber rasch wieder einzuschlafen. Doch jetzt willst du wach sein, empfänglich mit allen Sinnen, es sehen, spüren, verstehen: wie der Teppichklopfer wieder herabfällt bis kurz vor die Brust, einer Wünschelrute gleich deinen Körper abfährt, auf der Suche nach der geheimen Stelle, wo der Zauber wohnt. Du zuckst unwillkürlich hoch, öffnest dich schon dem Schlag, als könntest du die Gewalt abfedern, wenn du ihr zärtlich entgegenkommst. Er hebt eine Braue, seine Augen blitzen etwas wie denkste, du sinkst zurück aufs Bett. Wenn du was sagst, bist du dran, flüstert er und schiebt sich den Stock in die Schlafanzughose.

Die Nacht draußen jetzt fast weiß, mit Resten von Dunkelheit an den Rändern. Der Junge steht plötzlich im Fluchtpunkt, sein Umriss schält sich langsam aus dem Hintergrund, Schritt für Schritt schneidet er eine Achse. Sein gedrungener Körper frontal, die nackten Füße in Hannes’ Filzpantoffeln, die ihm zu groß sind und beim Laufen im Schnee stecken bleiben; noch ein, zwei Jahre, und er wird sie ausfüllen, morgens hinein- und abends wieder herausschlüpfen, um sie auf ihren Platz am Bettfuß zu stellen, alle bei den Lamberts machen das so.

Das Kind dreht sich erschrocken um, als fürchte es einen Verfolger. Im Hintergrund das langgestreckte Bauernhaus mit den Rippen der angegliederten Ställe wie der Kadaver eines riesenhaften, im Schnee verendeten Tieres. Die Spur führt zurück zum Hof, verrät seine Flucht. Er überlegt, ob er in der Eile die Haustür zugezogen oder, um das Geräusch zu vermeiden, nur angelehnt hat; der Wind würde sie erfassen, gegen die Wand schlagen und Marianne aus dem Schlaf reißen. Sie wittert den kalten Luftzug, das leere Zimmer nebenan und rüttelt ihren Mann wach, der sich stöhnend das Kissen über den Kopf zieht, genervt von der Familientragödie, die einfach kein Ende nimmt.

Jetzt verschwindet der Hof hinter einer Wand aus Schnee, die aus dem Moor heranrollt. Der Junge kämpft sich gegen die Böen hin zum Haus, das nun auf der anderen Seite des Bildes erscheint, am Ende des Heidedamms, der zwischen den Schneeverwehungen hindurch wie ein Tunnel darauf zuführt. Gleich, denkt er, wird Marianne ihn eingeholt haben, am Arm packen und abermals mit sich zerren, vom Haus zurück zum Bauernhof, und dann immer und immer wieder die gleichen Bilder, das Kind an der Hand der Tante, dann am Butterkuchen, am Milchbecher, später, weil es noch immer schweigt, büßend vorm Kreuz und schließlich, weil auch das nicht hilft, sich windend und krümmend unterm Teppichklopfer, der den Sturkopf schon noch zum Reden bringen, die Wahrheit aus ihm herausklopfen wird.

Das Haus ist beinahe ausgelöscht, das sichere Daheim kaum mehr zu erahnen, die Sehnsucht nach Wärme, Schlaf und festen, altbewährten Formen vergraben im Schnee. Er läuft darauf zu, mit gegen den Sturm gestemmter Stirn hinein in den Schlund, der ihn im nächsten Moment schon verschluckt hat. Nur meine Stimme dringt noch daraus hervor, wogend und walzend, der weiße Gesang.

An dieser Stelle des Traums musst du erwacht sein. Die Bilder der letzten Nacht klingen noch nach, stacheln dich mit ihrem schrägen Echo. Das nächste Crescendo, Windstärke 9, reißt die Dachrinne aus der Schelle, du springst aus dem Bett. Im Fenster der stürzende Schatten, doch du wartest vergebens auf den Aufprall, erkennst draußen nur noch ein paar verlorene Formen: die Weiden am Drän ausgedünnt, Wallhecken begraben unter sanften Hügeln, ganz hinten der Schweinehof wie das Relief einer bald eingeebneten Welt. Wo der Heidedamm verlief, stäuben Schneeschlieren von den Abbruchkanten der Verwehungen in den Graben, der sich als flache Rinne im Nichts verliert. Immer mehr Schnee wälzt sich aus der Ebene auf das Dorf zu, verschalt die Baumstämme, türmt sich an Böschungen und Treckerrampen. Auf den Torfrippen am Stich kratze ich die Grasnarbe frei, um den Abhub woanders gegen alles zu häufen, was noch ragt und steht. Vom Teich aus gesehen ist das Haus die einzige Erhebung weit und breit, dein Leben darin noch das Wehrhafteste, das sich mir in den Weg stellt. Ich spiele Krieg. Auf dich habe ich es abgesehen. Noch ein paar Böen, der unüberwindbare Schneeberg vor der Tür, quer liegende Bäume auf der Zufahrt, dann habe ich dich endgültig ins Abseits gedrängt. Selbst der Trecker mit dem vorgespannten Pflug hätte Mühe, durch die Verwehungen, die wie Schratten die Landschaft zerklüften, zu dir vorzudringen.

Doch den Teufel wird Karl Lambert tun, dich hier rauszuholen. Er sitzt in der Stube, starrt zum Fenster und pafft eine der billigen Zigarren aus Ilse Blochs Laden. Am frühen Morgen habe ich eine Dachplatte vom Stall gerissen, eine Sau hat’s erwischt, als das Wellblech herunterkam. Er musste notschlachten, die übrigen Tiere in den Nachbarstall treiben, der auch nicht orkansicher ist; morsche Balken, geflickte Wände, alles zu eng und überstrapaziert, er braucht, denkt er, dringend den Heidedamm, die neuen Masthallen nach holländischem Vorbild, mit Stahlpferchen und Gitterböden, und dann statt zweihundert Schweinen zweitausend, der Antrag auf Zuschuss liegt beim Landwirtschaftsministerium, er wartet auf grünes Licht.

Schau doch wenigstens nach, ob die Fenster drüben dicht sind, sagt Marianne und stellt ihm den Pott hin. Karl führt ihn zum Mund, hätte sie halt mal den Glaser geholt. Er spuckt den Kaffee zurück, sag mal, willste mich verbrühen? Marianne schiebt ihm das Milchkännchen rüber. In der Scheune, tadelt sie, kleben schon seit Jahren die Pappen. Da verrosten dir die Maschinen. Karl kippt Milch nach, soll der Sturm doch den Schuppen plattmachen, erwidert er, dann muss ich’s nicht selber tun. Sie macht eine abfällige Handbewegung, steht auf, geht in die Küche und kommt mit einem Karton voller Lebensmittel zurück. Bring ihm das rüber, und sie stellt die Kiste auf den Tisch, wenn er schon nicht hierbleiben will. Karl blickt fragend auf. Sie wollen Marga morgen in die Nervenklinik überstellen, sagt sie, da kommt die so schnell nicht wieder raus. Sie schiebt ihrem Mann die Vorräte hin, packt den in Alufolie gewickelten Rest vom Butterkuchen dazu. Und wir sollen ihn jetzt durchfüttern? Er wühlt in den Sachen, fischt eine Tafel Marzipanschokolade heraus, das mögen die Kinder nicht, rechtfertigt Marianne die Verschwendung. Schließlich ist er dein Neffe! Karl steht auf, geht zur Treppe, sagt: Mein Rücken, ich leg mich aufs Ohr. Dann schick ich eben Hannes, ruft sie ihm hinterher, und von oben: Der soll den Brühkessel saubermachen.

Doch Hannes will nach der Schule zum Pfarrhaus. Mit den Hausaufgaben für Tanja hättest du ihm zuvorkommen können. Erst hat dein Banknachbar Benno Fendrich wegen der Grippe gefehlt, dann Tanja, schließlich hast du auch Hannes nicht mehr auf dem Pausenhof gesehen, was dir verdächtig vorkam. Machten sie etwa zusammen krank, liebesfiebernd mal in seinem, mal in ihrem Zimmer? Bald klafften in den Bankreihen große Lücken. Beim Reihumvorlesen bist du gleich zweimal drangekommen, das achte Schuljahr war jetzt schon die Hölle. Für Benno solltest du die Übungsblätter einstecken, doch nach Unterrichtsschluss bist du nicht ins Neubaugebiet zum Bungalow des Konrektors, sondern mit der Hausaufgabenmappe in der schwitzigen Hand vor das Pfarrhaus.

Kaum hattest du geklingelt, sprang schon die Tür auf. Frau Deichsen schien außer Atem, in der Diele stand ein Putzeimer auf dem Boden, das Wasser schwappte. Du hast den Mund aufgeklappt und dabei einen Schritt auf die Schwelle getan. Tanjas Mutter schob den Fuß vor und sagte: Vorsicht, nass! Der Hund sei noch immer nicht stubenrein, seufzte sie und packte den Welpen am Halsband, der über den frisch gefeudelten Boden schlitterte und an deinem Schuh schnuppern wollte. Ronja, aus!, rief Frau Deichsen, Ronja, komm her!, die Tochter aus irgendeinem Zimmer. Der Hund sprang an deinem Bein hoch und schnappte nach der Mappe. Pfui!, tadelte Frau Deichsen, und nach hinten ins Haus: Tanja, sie hat schon wieder hingemacht! Der Welpe bellte mit dünner Stimme. Da hast du dich aus dem Chaos der durch die Luft peitschenden Rufe weggeduckt und bist runter zum Hund, der am Heft zu knabbern begann. Hallo Honja, kam es dir kaum hörbar über die Lippen. Ronja, verbesserte Frau Deichsen, und Tanja rief und rief.

Du hast etwas von den Hausaufgaben gehaucht, zum Glück hatte der Satz ein H. Das ist nett von dir, Dion, sagte Tanjas Mutter, aber Danny habe bereits alles gebracht. Wenn sogar die Pfarrersfrau schon log! Daniela hatte sich nämlich kurz nach Schuljahresbeginn neben Yvonne gesetzt, die Tochter des Wirts, die nun auch kein Wort mehr mit Tanja sprach. Bestimmt, dachtest du, hockt in Wahrheit Hannes neben ihrem Bett und hält ihr die fieberheiße Hand. Der Welpe grätschte sich hin und pisste dir auf den Schuh. Frau Deichsen pflückte ihn vom Boden, schimpfte und lachte gleichzeitig: Das macht sie vor Freude! Da bist du rückwärts durch die Glückspfütze in das Beet mit den abgeblühten Dahlien, über den Kirchplatz und hinter die Mauer, wo dir endlich der Fluch über die Lippen platzte, weil du dort das Mofa stehen sahst, aufgebockt unter Tanjas Fenster. Dumm gelaufen, Dion, zur Räuberleiter taugt dein klappriges Fahrrad kaum.

Das alles vor drei Tagen, als Marga noch zu Hause und in deiner Welt das Lebensnotwendige an seinem Platz gewesen ist. Jetzt reiße ich mit der nächsten Bö die Plane vom Holzstoß. Sie fegt über den Hof, schlackert eine Weile am Zaun, dann ist sie weg. Bald wird das Holz so durchnässt sein, dass du den Kachelofen nicht mehr anheizen kannst. Nach dem Schnee schicke ich Regen, dann wieder ein Sturmtief, gefolgt von strengem Frost, so geht das bis Ende März. Du bist fertig, Dion, warst am Ende schon immer der Gearschte. Deine Mutter liegt auf der Intensivstation, kommt danach in die Psychiatrie zu den anderen gescheiterten Selbstmördern, an Weihnachten hat sie schon fünf Kilo mehr auf den Hüften. Weil die Pillen sie zwar fett, aber nicht fröhlicher machen, kabeln die Ärzte sie nach Neujahr an das Elektrokrampfgerät. Dein Onkel kriegt im Februar das Ja vom Ministerium und eine Fördersumme, von der sich Marianne erst einmal den langersehnten Kombi kauft. Daniela angelt sich beim Adventsbazar, wo sie mit Yvonne Glühwein ausschenkt, den volltrunkenen David Voss, der tags darauf in der Umkleidekabine den staunenden Kumpels erklärt, was ein Tittenfick ist. Selbst schuld, Dion, dass du dir Tanja am Badestrand nicht einfach geschnappt, sie einen Sommer lang nur mit Augen förmlich ausgezogen hast, und kein Wunder, dass sie dich deshalb auf Abstand hält; zwar genießen die Mädchen die scheuen Blicke der Jungs, doch auch das kleinste und kränkste unter ihnen will nicht nur begafft, sondern irgendwann auch mal geküsst werden.

Auf dem Heuboden und manchmal auch samstags in der Sakristei, weil dort für den Gottesdient schon vorgeheizt ist und sich im Schrank stets etwas Wein findet, drückt sie sich in Hannes’ ungeschickte Umarmung. Von wegen Mimose! Vor dir mimt sie das Glasknochenmädchen, bei ihm aber ist sie längst die junge Frau, die weiß, was sie will, nämlich bloß nicht mit Anfang zwanzig unberührt im Rollstuhl enden, oder warum sonst hat sie sich am Jummefeuer ausgerechnet an den herangeschmiegt, der nichts anbrennen lässt. Während der Küster auf der Kirchenempore die Lieder einstudiert, presst Hannes ihr die Hand auf den Mund, um die spitzen Töne zu dämpfen, die aus der Sakristei dringen; oder aus den schon lang nicht mehr gereinigten Pfeifen, denkt der Küster am Manual, der den Kopf reckt, die Ohren spitzt, dabei aus dem Takt gerät und das Kyrie eleison verorgelt, und das, Dion, nicht das bisschen Sturmgeheul aus dem Moor, ist die Symphonie deines Niedergangs.

Ich dresche auf die Westwand ein, hole dann ein paar Sekunden lang Luft, der letzte Paukenschlag ist dreifach punktiert. In der Pause knackt das alte Gebälk. Dir ist, als schwankte von den Erschütterungen der Wäscheberg auf dem Stuhl. Obenauf liegt das Nachthemd. Nach deiner Flucht aus dem Haus der Lamberts hast du dich den Rest der Nacht schlaflos gewälzt, doch wie du dich auch drehtest, selbst mit dem Kopf am Fußende ist dir der saure Geruch in die Nase gestiegen, war das erste Traumbild der Kollaps deiner Mutter. Irgendwann bist du rüber in ihr kaltes Bett mit dem schwachen Lavendelduft, der im Morgengrauen doch noch den Schlaf gebracht hat.

Du schnappst das Negligé vom Haufen und drückst dein Gesicht in die Seide. Pellst dich aus dem Schlafanzug und schlüpfst hinein, so dass Margas Geruch dich kühl umarmt. Das Ding sitzt perfekt, bis jetzt hast du dich stets viel kleiner als sie geglaubt. Du wiegst dich in der Taille, streckst das Bein aus, schreitest über den Bettvorleger, als wäre es ein Laufsteg. Auf der Haut spürst du den kalten Luftzug vom Fenster, so stark ist der nächste Windstoß, der am Efeugitter reißt, ich schmeiß mich weg vor Lachen.

Beleidigt drehst du dich weg und tänzelst ins Bad. Heilloses Durcheinander: Klamotten auf dem Boden, dazwischen die Papprollen vom Klopapier, die zu entsorgen Marga schon immer zu faul war, ein Chaos auf den Armaturen, das Waschbecken mit den ewigen Zahnpastaspuren – ewig, weil du keinen Sinn darin siehst, sie wegzuwischen, wenn du dir, wie Marga befiehlt, dreimal am Tag die Zähne putzen sollst. Da sie das nicht einsehen will, hast du neuerdings das Waschbecken in Territorien unterteilt: Du spuckst links, sie rechts, und beim Saubermachen spart sie deine Hälfte aus.

Du quetschst an einem Pickel zwischen den Brauen, lediglich ein wenig Gewebswasser quillt hervor. Warte noch einen Tag, hätte sie gesagt, und ihr Blick wäre dabei schon ganz gierig gewesen. Sie hat dir nicht nur ständig und überall den Kuss, auch jeden Pickel aufdrücken dürfen, du musst dafür, wann immer nötig, der Seelentröster sein, das ist der Deal.

Schnell etwas von ihrem Puder draufgetupft, ein Beigebraun wie von Sommerbräune, die Farbe wirkt zu gesund. Der Kajalstift schafft Abhilfe. Die Mine rutscht aus und malt einen schwarzen Strich auf die Wange. Mit der Fingerkuppe verrieben, wird er zum Augenschatten, der nach Schlaflosigkeit aussieht und nach Trauer um die abtransportierte Mutter. Mit ihrer Bürste kämmst du dir die Haare mal nach rechts, mal nach links, kriegst das Verwegene und Windgeblasene von Hannes’ Frisur dennoch nicht hin. Nimm die Spange!, rufe ich vom Fenster. Du steckst das Nackenhaar am Hinterkopf fest, in der Art, wie sie es am Teich immer getan hat. Ein paar Büschel stehen ab, nicht gerade sturmdurchweht, aber schon besser.

Im Spiegel siehst du deine mit Grind überzogenen Lippen. Es muss ein gemeinsames Gen sein, das euch bei Kummer den Mund verstümmeln lässt, eine Unsitte, hässlicher als Fingernägelkauen. Nur das Schlechte hast du von deiner Mutter geerbt. Wie gern hättest du ihr blondes, dickes Haar, Lamberthaar fast, wenn sie das Lockige daran nicht dauernd mit dem Brenneisen bekämpfen würde. Da aber bist du leer ausgegangen, obwohl doch tief in deinem Körper, denkst du, eine bäuerliche DNA zumindest schlummern muss.

Du blickst wieder zum Fenster, wo der Schnee an der Scheibe klebt; unablässig dränge ich zu dir ins Haus. Willst du wirklich mehr über dein Erbgut wissen, die Eigenschaften deines Vaters? Besser, du glaubst den Geschichten aus dem Dorf, so hast du wenigstens noch die Wahl. Kannst die Schuld an seinem und deinem Schicksal selbst verteilen. Auch Mariannes Weste, in der du bisher nur Gutes stecken sahst, ist nicht ganz sauber. Gestern ermahnte sie dich noch, für deinen Vater zu beten, damals aber hat auch sie ihm, wie man sagt, die Hölle heißgemacht. Dabei sollte es der Himmel auf Erden werden, ein kleines Eden zwischen Schweinestall und Moor. Sie schrieb Liebesbriefe, schickte Geschenke, ergatterte beim Dorffest fast jeden Tanz. Hielt hartnäckig den Platz neben sich in der Kirchenbank frei, wo sich bald Karl Lambert hinsetzte. Während der Lieder, die er noch nie mitgesungen hatte, raunte er ihr sein Leid mit dem nichtsnutzigen Bruder ins Ohr. Wie der Haus und Grund verkommen ließ und für seine Torfgeschäfte alle paar Wochen nach Hamburg verschwand, wo er, so flüsterte er der Tochter des reichen Milchbauern, statt zu arbeiten, hurte und soff.

Marianne bewegte im Singsang die Lippen und quietschte ab und zu einen Ton, den Karl für einen Ausdruck von Mitgefühl hielt. Den Antrag schlug sie nicht aus, sollte eine Hochzeit sie doch in die Nähe des Schwagers bringen. Der jüngere der beiden Lamberts war ein verschlossener Typ, still, aber nicht ruhig, was im Dorf für Argwohn sorgte. Er schien etwas im Schilde zu führen, schmiedete seine Pläne an den anderen vorbei. Tatsächlich dachte dein Vater in größeren Dimensionen: Sein Ziel war es, auf lange Sicht das Moor trockenzulegen, aber nicht für den Ausbau der Schweinemast. Er schickte Angebote an Investoren, Fabrikanten, Energiekonzerne – würde er noch leben, du hättest am Horizont nicht mehr die Birkensilhouetten, sondern die Kühltürme eines Kraftwerks gesehen.

Mit dem Erlös für sein Land wollte er weg, mit dir und deiner Mutter in den Süden, da kam ihm der Hamburger Exporteur Rasmussen mit seinen Kontakten nach Spanien gerade recht. Spanien, das Wort klingelte ihm im Ohr; vielleicht, dachte er, könnte er einmal mitfahren, sein landwirtschaftliches Wissen an die Tomatenzüchter weitergeben, die dort mit der Wassernot kämpften; als Moorbauer hatte er von Dränagen und Kanalsystemen eine gewisse Ahnung. Er zeigte deiner Mutter in einem Prospekt ein weißes Haus am Meer, dort endlich weniger arbeiten, vielleicht ein zweites Kind und für dich eine sonnige Zukunft; dein Vater, Dion, war ein Träumer, das immerhin hast du von ihm. Er hätte die Großgrundbesitzerin aus dem Nachbardorf haben können und hat das Hamburger Straßenmädchen genommen.

Marianne verbiss sich ihre Eifersucht, besuchte weiterhin den Gottesdienst und hielt trotz allem an ihm fest. Jeden Abend sah sie das Licht in den Fenstern des Hauses, darin den Schattenriss einer sehr schlanken Frau. Wieder so ein Küken, dachte sie, und dass auch die bald fort sein würde wie alle anderen. Irgendwann hätte sich der Schwager die Hörner abgestoßen, würde endlich auch die Torfgeschäfte aufgeben, die nichts einbrachten, seinen Hof wieder mit dem ihres Mannes zusammenlegen und ganz auf die Schweinemast setzen. Das Haus am Heidedamm würde den neuen Ställen weichen und er selbst wieder in sein Elternhaus ziehen, auf ihren Hof, wo viel Platz war. Der Weg zwischen seinem und ihrem Wohntrakt wäre nicht weit, der Anbau war gerade fertig geworden; es hätte Gelegenheiten genug gegeben, Karl hatte beim Korn einen kräftigen Zug. Nur ein Unfall dürfte ihnen dabei nicht passieren. Das Schächtelchen mit dem Ehehygienemittel, das sie extra in einer Apotheke besorgt hatte, wo niemand sie kannte, versteckte sie im Schlafzimmer unter einer lockeren Diele. Im Laufe der Jahre zernagten Mäuse die kleinen rechteckigen Briefchen, mit den weichen Gummihäuten darin polsterten sie die Nester für ihre Brut.

So weit die Legende. Was daran stimmt, denk dir dazu oder find’s raus. Traust du mir etwa nicht? Ich will hier endlich reinen Tisch machen, Tabula rasa nicht nur in diesem chaotischen Bad, damit du endlich die nötigen Grenzen ziehst, die jedes Kind braucht, um erwachsen zu werden. Hör auf zu bocken, und lass mich herein! Okay, ich habe deinen Vater auf dem Gewissen, doch dafür bring ich von draußen das Leben.

Du aber drehst dich demonstrativ zum Spiegel, aus dem dir ein verschreckter Junge entgegenstarrt, auf den bleichen Zügen die Schminke der Mutter. Nimmst den Lippenstift und ziehst die Kontur deines Mundes nach, auch die ausgeprägte Oberlippe ein Erbe deines Vaters, der sogenannte Amorbogen, und du wirfst mir einen verächtlichen Blick zu und kräuselst die Lippen, ob der Amorbogen, denkst du, das eigentliche Übel ist, ein scharfes, pfeilspitzenförmiges V, das dir wie eine Klammer unter der Nase sitzt?

An der Scheibe kringelt sich der Schnee, wenn du ihn lachen hören könntest, es wäre ein Klirren. Die Grenze im Waschbecken ist verwischt wie alles, was zwischen dir und Marga klare Verhältnisse schaffen soll. Du malst mit dem Lippenstift eine Linie querdurch, auch die Konsole halbierst du mit einem Strich. Auf dem Rollwagen das gleiche Problem, ein Durcheinander und Ineinander eurer Habseligkeiten: Eine Haarspange klemmt am neuen Yps-Heft, auch der Libellenführer, deine Klolektüre, ist von ihrem Kram bedeckt. Am Boden ineinander verknäuelte Schlafanzughosen und Nachthemden, und dein Deodorant, das gleiche, das auch Hannes benutzt, hat sie schon ins Regalfach geräumt, zu den Parfums, die sie nicht mehr mag.

Wie weiter vorgehen? Schlangenlinien zögen sich durch das ganze Haus, wenn du dein Leben von ihrem trennen wolltest. Also pack den ganzen Plunder, und ab damit in die Tonne! Auch die Badewanne teilst du und ziehst sogar ein großes Viereck drum herum; von nun an gilt alles innerhalb dieser Linie als privat. Dann noch eine Sperrzone um das Klo, rot-weiß gestreift. Danach ist der Lippenstift platt, du wirfst ihn in den Mülleimer. Und atmest auf.

Doch für deine neuen Bollwerke habe ich nur ein müdes Pfeifen im Kamin übrig. Glaubst du wirklich, Dion, dass deine zarten Striche Marga in Zukunft aufhalten werden? Schon immer hat sie die schwersten Geschütze aufgefahren, wenn es darum ging, ihren Willen durchzusetzen, und das nicht nur bei ihrer Arbeit. Erinnere dich, wie sie damals ohne Vorwarnung ins Badezimmer gestolpert ist, mitten hinein in dein intimes Geschäft. Auch an jenem Septemberabend, als sie das letzte Mal von Hamburg zurückgekommen war, hatte sie sich gut bewaffnet. Sie türmte die Bände des Naturlexikons, das sie dir endlich doch noch besorgt hatte, einen nach dem anderen auf den Rollwagen, ausgerechnet in der Sekunde, als nichts mehr zu halten war. Das Plumpsgeräusch war wie eine Detonation, so sehr beschämte dich die Stille. Vor Wut hast du den Rollwagen weggetreten. Die Bücher polterten zu Boden, es waren, wie du mit stierem Blick zähltest, nur fünf. hUnd hder hRest?, hast du gemault und dich tiefer in die Schüssel gedrückt. Sie stapelte die Bände zurück auf den Wagen und schob dir den Packen hin. Je mehr du weißt, desto weniger wirst du einmal verstehen, sagte sie und setzte sich auf den Wannenrand. Ihr Gesicht schien dir seltsam verzerrt, fassungslos und voller Ekel, als hätte sie in den Minuten zuvor etwas gesehen, was sie zutiefst erschüttert hatte. Du wolltest sie anblaffen, ich scheiße, die zwei Zornworte drängten dir auf die Zunge und wären dir vielleicht sogar gelungen als der unmissverständliche, längst überfällige Befehl, dir endlich zu gewähren, was dir schon lange zusteht, Respekt und Achtung vor deinem Körper, seinen Bedürfnissen und Geheimnissen.

Sie sackte in sich zusammen, stützte das Gesicht in die Hände und begann, tonlos zu schluchzen. Du hast dich weggedreht und nach dem Spülknopf gelangt; es schien dir der einzige Weg, aus dieser unerträglichen Situation zu entkommen. Das Wasser schoss herauf und zog dich in die Tiefe. Du hast den kalten Hauch von unten gespürt, für einen Moment leckte der Schwall an deinem Hintern. Du musstest an den Rochen denken, deine Kinderangst vor dem Rohr, die alte, unfertige Geschichte in deiner Kladde. War es nun so weit? Wollte sie jetzt endgültig weg von dir? Was zum Teufel hattest du nun wieder falsch gemacht, übersehen oder ihr verweigert, dass sie dich so quälte?

Unter dir schmatzte das Loch. Im Bad jetzt nur noch diese erstickende Schwere ihrer Verzweiflung. Für einen Moment hofftest du, sie hätte in ihrem Brass einfach übersehen, dass du beschäftigt bist, würde es schon in der nächsten Sekunde merken, sich kleinlaut entschuldigen, aus dem Bad schleichen und sich auf dem Bett ausheulen, hemmungslos jetzt und herzzerreißend, so dass du gar nicht anders könntest, als hinüberzugehen und dich neben sie zu legen.

Sie hob den Kopf, riss ein Stück Klopapier ab und reichte es dir. Zeig mir, dass du jetzt groß genug bist dafür, sagte sie, trotz der Tränenspuren auf ihren Wangen wirkte ihre Stimme feindselig und schneidend. Sie wollte keinen Trost, sondern den Angriff. In der anderen Hand hielt sie noch immer den Kleiderbügel von der Garderobenstange im Ankleidezimmer, der den zweiten angetippt hatte, dann der zweite den dritten und so weiter, bis ihr Kopf erfüllt gewesen war von dem alten, immerwährenden Alarm.

◆◆

Alles war gut vorbereitet gewesen. Wie schon damals im Mädchenheim schien ihr der Plan für die große Flucht perfekt, das Bild ihres Durchbruchs zum Greifen nah: Sie war ihre Galeristin los, hatte nun Daniel Röcker im Schlepptau, den Hauptgewinn. Sie schubste ihn über den Hinterhof des Modehauses und durch die Tür auf den Korridor, in ein kaltes Neonlicht, die große Leere, das schöne Weiß. Ab jetzt gab es nur noch diesen Tunnel ins Innere und Hintere ihres Lebens, ein schon tausendfach begangener und immer in sich selbst zurückführender Moment, die ewige Gegenwart. Es ist, denkt sie, während sie schon tief hineintaucht, der größte Fehler ihres Lebens gewesen, dass sie einmal geglaubt hatte, das Malen könnte ein Weg aus diesem Kreislauf heraus sein oder dieser Kreislauf das Tor hinein in die Kunst.

Warte, flüstert sie, schiebt ihn in eine Ecke und nickt ihm zu; die Rolle des Heimmädchens, das ihre Eroberung an der Wächterin vorbei ins Zimmer schleust, beginnt ihr zu gefallen. Sie drückt sich an der Wand entlang und in die Nische, die an eine Sperrholztür anschließt, dahinter der Spiegel der Umkleidekabine, der jetzt lautlos aufschwingt. Sie teilt mit der Hand den Vorhang und sieht eines der Mädchen gelangweilt hinterm Tresen lungern. Die Chefin scheint außer Haus. Vor wem sie ihn da verstecke?, flüstert Röcker in seiner Ecke. Kaum im Ankleidezimmer, legt er ihr die Hand auf den Arsch. Erst waschen, befiehlt sie und boxt ihn ins Bad. Er schnuppert an seiner Achsel, vor der Tür biegt er ab, streift mit der Hand über die Anzüge an der Stange. Schneiderin also?, nickt er zu ihr herüber. Sie grinst und spürt ihr Gesicht dabei schon alt und unbeweglich wie das Meisterwerk hinter Glas. Herrenausstatterin, erwidert sie, und er: Haha. Stiefelklacken auf den Fliesen, das Klirren des Gürtels, sie hört den Pinkelstrahl, die Spülung gurgeln, dann den Wasserhahn, sinkt aufs Bett, springt wieder auf, öffnet, wobei sie sich laut räuspert, die Kommodenschublade: Kondome, Gleitcremes, Spielzeug, das Briefchen mit Kokain gegen Aufpreis, alles da, auch die obligatorische Schachtel Lexotax für den Erholungsschlaf danach, und sie täuscht einen Hustenanfall vor, drückt zwei Tabletten heraus und schluckt ohne Spucke.

Alles in Ordnung?, ruft Röcker aus dem Bad. Sie horcht in ihr Inneres, wo nichts in Ordnung ist, kein Atem flattert, der Puls zäh und klein, sie schlägt sich auf die Brust, sagt: Glaub, ich krieg ne Erkältung. Wenn der Herzschlag in der Not nicht mehr beschleunigt, sondern absinkt, ist der Punkt, an dem die Angst vor dem noch Schlimmeren schützt, überschritten. Sie zieht das Kleid ein Stück über die Schulter, zerwühlt mit einem Blick in den Ankleidespiegel ihr nasses Haar, bleckt die Zähne, streckt die Zunge heraus, ein grüner Lappen, wie verschimmelt, ob sie sich tatsächlich was eingefangen hat? Den Kopf nach hinten gebeugt, starrt sie in die Deckenverspiegelung, wo sie normalerweise die Rückansicht ihres Freiers, nun aber ihren Scheitel sieht, die herausgewachsene Farbe am Haaransatz.

Es ist so weit, hat Wolfgang, ihr Friseur, bei der letzten Sitzung gesagt und ihr triumphierend eine graue Strähne ins Gesicht gezupft, woraufhin sie der einunddreißigjährigen Frau, die sie aus dem Spiegel heraus beäugte, mit einem grimmigen Nicken den Krieg erklärte. Ab jetzt werde ich teuer, grinste Wolfgang, wickelte das Greisenhaar um den Finger und riss es kurzerhand aus, so dass sie aufschrie und die Mütterchen unter ihren Trockenhauben hervortauchten.

Sie streckt die Hände zum Deckenspiegel hinauf, als wollte sie die Gefälschte, die man ihr frontal dank Wolfgang, der auch Visagist ist, noch nicht, von oben betrachtet aber schon in Ausschnitten ansieht, aus dem Glasgefängnis der Blicke heraus in ihre Arme ziehen, um doch mit ihr Frieden zu schließen und gemeinsam noch einmal oder das erste Mal überhaupt Mädchen zu sein, Liebesabenteuer zu spielen, Herzklopfen zu haben, doch als sie den kalten Körper an sich drückt, spürt sie nur die Leere in der Brust und auch weiter unten, im Bauch, kein Kribbeln, nur Übelkeit.

Sie stößt die Alte zurück in den Deckenspiegel, wieder hinauf in den blanken, unfälschbaren Himmel, wo alle Blicke im Auge des Mannes enden, der, so haben sie schon damals die Diakonissen bei ihren Samstagnacht-Camouflagen gewarnt, als Einziger alles sieht: wie sie jetzt den Scheitel unter einem hastig gezwirbelten Haarbusch kaschiert, den Lippenstift auffrischt, den Lidstrich nachzieht, einen Spritzer aus dem Parfumflakon erst unter die Achseln, dann in den Slip stäubt und einen letzten prüfenden Blick in den Wandspiegel wirft, wo sie nun wieder das Leben in seiner Mitte sieht, pur und endlich ohne die Blendwerke der Hoffnung, das große Bild.

Sie schleicht vors Bad. Durch den Türspalt beobachtet sie Röcker, wie er vorm Becken steht und sich erst die Hände seift, dann, nachdem er umständlich im Latz gewühlt hat, den Schwanz, langsam und gründlich, als wollte er Zeit gewinnen. Den Arsch auch, befiehlt sie, und er schaut fragend herüber, schnappt nach dem Handtuch und packt sich weg. Ich fand’s auch geil, sagt sie, und er: Geil was? Wie die Nutte im Film den Fettsack gefingert hat. Nutte, wiederholt er, kommt auf sie zu, formt mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole, setzt ihr den Lauf auf die Stirn, streicht mit der Fingerkuppe, die vom Wasser ganz kalt ist, über Wange, Hals, Brust, zielt schließlich direkt auf ihr Herz. Sie presst sich gegen den Kolben. Den Gefallen tu ich dir nicht, sagt er und dreht sich, wie es das Drehbuch nun verlangt, hin zum Bett, so dass sie die Arme ein wenig öffnet, bereit fürs Finale, endlich der Kuss, dann Aufatmen, Abspann.

Doch die Szene hängt, die Helden stehen herum, voneinander abgewandt, mit hochgezogenen Schultern und weggeknickten Blicken. Erst jetzt, glaubt sie zu sehen, fällt ihm der Deckenspiegel über dem Bett auf, in dem er gedrungen wirkt, ein Junge mit zu großem Jackett vor einem Mädchen im roten Sommerkleid mit zur Palme gebundenem Haar. Das Zimmer ist fensterlos, die Zeit darin aus dem Takt, tatsächlich könnte draußen Sommer sein oder ein anderer Frühling. In dem Film, der nun plötzlich doch weiterspult, fahren sie nach einem harten Schnitt mit dem Motorrad aufs Land, durch maigrüne Weizenfelder zu einem Haus im Moor, das am Ende der Straße auftaucht, ein Junge davor, der ihnen mit der Hand als Schirm über den Augen entgegenblickt, die Luft ist warm und erfüllt vom scharfen, ein wenig arzneihaften Duft des purpurn blühenden Gagels.

Dann sieht er die Kulisse, die Inszenierung darin, falsch, sie sieht, dass er den Luftbefeuchter an der Heizung entdeckt, das Schälchen mit ätherischem Duftöl darauf, das Gewollte und Gemachte ihrer Frische. Sie unterdrückt einen Laut, der ihr als Lachen ebenso wie als Schrei hätte herausplatzen können, beißt sich auf die Lippen und schluckt beides hinunter. Röcker schnellt vor, packt sie am Arm und biegt sie über das Bett; es ist die gleiche Bewegung, mit der sie damals Miklos, der Boss, in Arbeitsbereitschaft gebracht hat.

Wer bist du wirklich?, keucht er auf sie herab, hör auf, mich zu verarschen! Ihr Kiefer knackt, dann das Bettgestell, irgendwo im Inneren des Bildes, in einer tieferen Schicht. Es ist der Augenblick, auf den sie lange gewartet hat.

Sie reißt sich los, wehrt Röckers Hände ab, die letzte Chance auf eine Liebesumarmung. Von ihrem Stoß kracht Röcker gegen das Bettgestell und das Bettgestell gegen die Wand, wo an der Garderobenstange der erste Kleiderbügel zu schwanken beginnt und den zweiten antippt und der zweite den dritten, den sie packt, zu spät, sie hört schon das Klappern.

Die Tür springt auf, Bühne frei für Siana, die Puffmutter. Was machst du hier?, ruft sie mit ihrem harten Akzent. Ich arbeite, erwidert Marga sehr ruhig und spürt ihr Herz endlich höherschlagen. Sie zerrt ihren verblüfften Freier aus seiner Ecke und stößt ihn gegen die Chefin, die ihn abfängt und zurückstößt. Kurz schließt Marga schützend die Arme um ihn, schubst ihn dann wieder zu Siana, die zur Abwehr die Fäuste hebt; für einen Moment tanzen die Körper ihr absurdes Ballett. Raus hier, raspelt die Russin und deutet zur Tür, streckt noch im selben Moment die Hand aus, um die Gewalt abzuwehren, mit der Mira, ihr einst bestes Mädchen, auf sie losgeht. Der Kleiderbügel erwischt sie mit voller Wucht. Siana taumelt zur Seite, in Röckers Arme, der plötzlich neben Marga steht, sie anstarrt und den nächsten Hieb mit seinen Knopfaugen abzufedern versucht, den kindlichen, tief enttäuschten und, denkt sie in diesem Moment voll Bedauern, tatsächlich ehrlichen Augen, in denen sie vielleicht hätte ausschwingen und zur Ruhe kommen können.

Doch da krümmt sich Siana schon am Boden, unter dem Kleiderbügel, der erst auf die schlaffe Brust, dann, als die Alte ihr im Reflex den Rücken zukehrt, zwischen die Schulterblätter zielt, mehrmals kurz hintereinander und jetzt nicht mehr mit der Kante, sondern dem Haken immer hinein in den verhurten, verholzten Körper, der in der Mitte auseinanderbirst oder zu bersten scheint, als Kopf und Rumpf wegknicken, die Beine aber wie bei einem niedergerissenen Gaul nach hinten austreten, gegen das Bettgestell, im Takt der Alarm schlagenden Hölzer.

◆◆

Feucht klebt die Dämmerung zwischen den Mauern, weißen Betonwänden, die ihr fremd und viel zu hoch erscheinen. Statt des Schaufensters mit den blicklosen Puppen darin sieht sie dort, wo einst der Eingang zum Modehaus war, nur ein gähnendes Loch mit einer Schranke davor. Ein Auto rollt aus dem Parkhaus, der Fahrer glotzt. Sie wendet ihm den Rücken zu, warum schämt sie sich plötzlich?

Mehr als zwanzig Jahre hat sie die Kleine Marienstraße nicht mehr betreten und sogar Umwege in Kauf genommen, in der halb unbewussten, halb trotzigen Art, wie man die Orte meidet, an denen man an irgendeinem Punkt seines Lebens zu viel von sich selbst gelassen hat. Sie blickt auf und sieht hoch über dem Dach des Betonklotzes den Mond am dunstigen Himmel stehen, eine dünne Sichel, bügelförmig, von der herab die Nacht wie ein nasser Lappen hängt, vollgesogen mit dem Schmutz des Tages. Sie streckt den Arm aus, als wollte sie das große, gute Gestirn, von dem es heißt, es beschütze die Träumer, endlich herabzerren, das veruntreute Nachtwunder nach so vielen Jahren doch noch empfangen, findet aber in ihrer Hand nur wieder dein Buch.

Irgendwann war sie raus aus ihrer Wohnung, wollte an einem ruhigen Ort weiterlesen, ohne das aufreibende Geplärr aus Frau Schäfers Fernseher, unbehelligt vom Partylärm der Wohngemeinschaft, weg von den Kampfrufen ihres schlechten Gewissens, dem Frontalangriff der Erinnerung. Sie sehnte sich danach, ganz nah bei dir zu sein, zu spüren, was du ihr wirklich sagen willst, am Ende deiner tosenden und tobenden Sätze, in der Stille nach der verlorenen Schlacht.

Sie duschte lange, seifte sich wieder und wieder ein, bis die Tube mit dem Duschgel fast leer war. Das Gefühl, schmutzig oder beschmutzt zu sein, der Geruch der alten, weggeworfenen Frau klebte noch immer an ihr. Sie stand lange vorm Kleiderschrank, entschied sich schließlich für ein kurzes Sommerkleid, viel zu dünn für die regnerische Julinacht. Schminkte sich, föhnte das Haar, wusste selbst nicht, wozu, niemand erwartete sie.

Draußen trieb sie durch ein mittwochsträges Altona, unter einem Himmel, der sich schwefelgelb färbte, je näher sie dem Kiez kam. Sie hielt sich abseits der Königstraße, irrte durch Seitengassen, in denen sie viele Jahre nicht mehr war. Hexenberg, Hutmacherhof, das Gewirr der Hinterhöfe und Passagen führte sie schließlich zurück auf die Holstenstraße, wo auf der anderen Seite die körpersüchtigen Lichter der Reeperbahn blinkten.

Sie querte bei Rot, mied den Hauptstrom und tauchte in die trübe Helle der Nebengassen. Auf der Paul-Roosen-Straße drängte sich eine kleine Menschenmenge vor einem Szene-Lokal, aus dem die Bässe wummerten. In der Glasscheibe erhaschte sie ihr Spiegelbild, bereute es jetzt, das kurze Rote gewählt zu haben, eine Farbe, die an einer Frau ab einem gewissen Alter nicht mehr aufreizend wirkt, sondern vulgär. Im Zentrum ihres leeren Schattens sah sie Julius sitzen. Auch wenn sie der Tabletten längst schon überdrüssig war – dafür, dass es mit Lexotax keine Angst mehr gab, hätte sie dem Erfinder des Wirkstoffs, der sie einst fast umgebracht hatte, für alle Zeit Blumen aufs Grab gelegt. Sie schlug den Ärmel ihrer Jacke um, so war der Altersfleck auf der Hand gut sichtbar. Dann ging sie hinein.

Er war mit einem Mädchen da, einer Kommilitonin vielleicht? Oder doch die Geliebte? Die beiden hielten Händchen, er trug das übliche knappe T-Shirt, sie Jeans und Trägerhemdchen über den straffen Brüsten. Sie standen spitz von ihrem schmalen Rumpf ab wie zwei Zuckerhüte, zuckten hinüber zu ihm, über dem Glas Caipirinha, diesem Modegesöff, das auch nur aus Zucker besteht, Zucker, das Wort bohrte sich in ihre Gedanken, sie wusste nicht, warum sie es zwanghaft wiederholte, als hämmerte es ihr jemand ins Hirn. Zuckersüß, sagte sie zu dem Mädchen, das höchstens zwanzig war und als Erste hochblickte. Marga löste die Spange aus dem Haar und schüttelte die Mähne. Ich bin siebenundfünfzig, sagte sie, mein Schamhaar ist noch nicht grau, aber seit zwei Jahren hat mich trotzdem niemand mehr gefickt. Und du? Die Freundin glotzte entgeistert. Julius zog genervt die Augenbrauen zusammen, dann glättete sich sein Gesicht wieder, erstarrte zum gewohnten Ausdruck des Götzen. Wer das sei, zischte seine Begleiterin. Warum trägst du deine Strickjacke nicht?, konterte Marga. Die junge Frau hatte ihre Hand aus Julius’ Faust zurückgezogen. Sie schien etwas sagen zu wollen, bewegte aber nur stumm den Mund, der auch ohne Lippenstift hübsch war. Marga beugte sich über ihren Hals, roch zartes Parfum, Weichspüler. So kriegt er doch keinen hoch, Mädchen, seufzte sie. Zum ersten Mal fiel ihr Julius’ Augenfarbe auf, ein kaltes, gläsernes Grün. Du bist erbärmlich, sagte er und mied ihren Blick. Aber einen Ständer, entgegnete sie, hattest du trotzdem nicht. Was will die von dir?, rief die Freundin mit schriller Stimme und klammerte sich an der Tischkante fest. Marga lächelte mitleidig auf sie herab und sagte: Komm in fünfzig Jahren wieder.

Der Weg zum Ausgang war verstellt von jungen Körpern mit makelloser Haut, ein Gebirge aus Marmorbrüsten, Muskelgraten, Schlüsselbeinjochen. Sie fixierte die ferne Tür, hoffte, bis dahin nicht abzustürzen. Die enthemmende Wirkung der Tabletten war von einer Sekunde auf die andere in Taubheit und Schwindel gekippt. Niemand beachtete sie, kaum jemand machte Platz, sie quetschte sich durch feuchtwarme, von Bieratem erfüllte Spalten und an den Spitzen der Ellenbogen vorbei, die ihr im Takt der Technomusik in die Seite stießen. Plötzlich hörte sie jemanden von hinten Alte Kuh! rufen. Julius? Oder war es der Typ, den sie gerade angerempelt und dem sie dabei das Getränk über die Brust geschüttet hatte? Waren nur wieder ihre Gedanken laut geworden, hinter dem Lärm des Lokals, der ihr wie Pfropfen in den Ohren steckte? Sie fuhr herum, suchte im Gewirr der Leiber den grünen, vergletscherten Blick, zog ihr Kleid hoch und zeigte ihm, was er verpasst hatte.

Erst draußen erlaubte sie sich die Schwäche. Auf der Stufe knickte sie um, taumelte über das Pflaster, an Türlöchern vorbei, die schwül die Nacht ausdünsteten, Körperhitze, wabernde Beats, Gelächter. Drüben wälzte sich träge der Strom auf der Reeperbahn. Sie stieß sich voran, zurück auf die Holstenstraße und bei Rot in die Sackgasse vor das Parkhaus, am Ende einer lebenslangen Bewegung, die ganz zu Anfang, schreibst du, das Zittern eines Kleiderbügels an seiner Stange gewesen war.

Sie schlägt das Buch auf, an der Stelle mit einem Zickzack im Druckbild, wo sie den Lärm nicht mehr ausgehalten hatte und fliehen musste. Dort liest sie, wie in ihrer Hand noch immer der Bügel zuckt, mit dem sie Siana niedergeschlagen hatte, er zuckt und zerrt sie voran, heißt es, mühsam bringt sie die Worte in einen Zusammenhang, entlang schlingernder Zeilen, durch die sie sich vorantastet wie beim Malen, und die Worte mehr malend als lesend, kämpft sie sich durch deine Sätze und folgt dem hastenden Strich der Erinnerungen, stolpert mit flimmernden Augen und bebendem Körper weiter und liest, wie ihr Körper, bebend, schreibst du, durch die Straßen, die flimmernden, stolpert, vorangeschleppt von dem Kleiderbügel, der noch immer in ihrer Hand schwingt und sie nun über den Kiez treibt, an Kerlen vorbei, die ihr Angebote zuzischen, und sie stürzt in den nächsten Absatz, wo der Kleiderbügel sie über die Stadthausbrücke und den Mönkedamm lenkt, an der Galerie vorüber, vor der das Ding in ihrer Hand wie eine Wünschelrute ausschlägt, doch sie hält dagegen und eilt weiter, an den Nobelboutiquen und Hotels vorbei auf die Mönkebergstraße und in das Gedränge der Menschen, die mit prallen Tüten und Taschen aus den Geschäften strömen, als wäre es bereits kurz vor Weihnachten, und sie denkt, falsch, sie liest in deinem Buch: Weihnachten, und dass sie ihrem Jungen dieses Jahr etwas Besonderes schenken müsse, denn zum Geburtstag seien ihre Gaben recht knickerig ausgefallen, und der Kleiderbügel nickt und führt sie direkt hinein in die Buchhandlung und zielsicher vor das Regal mit den gebundenen Lexika, und eine Verkäuferin heftet sich ihr an die Fersen und sieht, wie die Kundin mit dem Kleiderbügel ein Naturlexikon aus dem Regal reißt, und die Buchhändlerin fängt den Band auf, auch den nächsten und übernächsten, alle sechs Exemplare stürzen auf sie herab, bis die Kundin sie mit dem Kleiderbügel zur Kasse dirigiert, wohin die Angestellte den Stapel jetzt balanciert, zwischen den Tischen hindurch, wobei sie einmal, als sie glaubt, unter dem Gewicht einzuknicken, den Metallhaken zwischen den Schulterblättern spürt, und ein anderer Kunde winkt sie herbei und ruft ihr: Krimi!, zu, und ein weiterer: Liebesroman!, und der nächste: Wanderführer!, doch da hat sie endlich die Theke erreicht und lässt die Bücher in eine Papiertüte rutschen, schwitzend und im Augenwinkel stets den Kleiderbügel in der Hand der wahnsinnigen Frau, die ihre Waffe nur einmal kurz loslässt, um aus ihrer Handtasche das Geld zu wühlen, zerknitterte Scheine, die sie mit der Holzspitze über das Klassenpult schiebt, in die Finger von Frau Mayrisch, wie das Ansteckschildchen sagt, eine mit Brille und Rollkragenpullover, die sie, Marga, für eine Betrügerin hält, denn im Buch verzieht Frau Mayrisch an dieser Stelle säuerlich den Mund und schiebt das Geld wieder zurück, es sei nämlich, sagt sie, leider zu wenig, absichtlich zu wenig, denkt die Buchhändlerin und fühlt sich wie beim Banküberfall, als die Kundin den Kleiderbügel gegen sie richtet und: Wie viel?, nicht ruft, sondern bellt, liest Marga, und dass sie die Verkäuferin, an die sie sich in Wahrheit kaum mehr erinnert, zu erpressen versuchte, um doch noch in Besitz des letzten Bands zu gelangen, den Frau Mayrisch wegen der fehlenden zwanzig Mark schließlich zurücklegte, nach einem Wortgefecht, bei dem sie, Marga, die Mayrisch, heißt es im Buch, angeknurrt haben soll, dabei hat sie, erinnert sie sich jetzt doch wieder aufs Genaueste, nur höflich gefragt, ob sie das Geld nicht später vorbeibringen könnte, ausgerechnet dieser zurückgelegte, von der böswilligen Buchhändlerin zurückgehaltene Band mit dem Buchstaben L und den mehr als fünfzig Seiten über die Libellen sei ihr, falsch, sei ihrem Sohn, bettelte sie, dem sie diese große, kostspielige Ausgabe zu Weihnachten schenken wolle, besonders wichtig, doch in seinem Roman steht an dieser Stelle nichts von Höflichkeit und Anstand und der Demut, die eine solche Situation erfordert, nichts liest sie von ihrem Bitten und Flehen und den Tränen, die ihr vor Scham und Wut in die Augen geschossen waren, stattdessen hört sie sich zischen und zetern und kollern und noch andere Tier- und Naturlaute ausstoßen, als sie sich mit dem Bücherpacken in der einen und dem Kleiderbügel in der anderen Hand ihren Weg zum Ausgang nicht bahnte, nein, mit Gewalt erkämpft haben soll, also, wie es weiter im nächsten Absatz heißt, die herumstehenden Kunden mit dem Kleiderbügel weggestochert habe, und selbst noch den Platz im Bus soll sie sich so erzwungen und eine alte Frau, die den einzigen noch freien Sitz ansteuerte, erst mit dem Bügel angestochen, dann mit dem Lexikon beziehungsweise der Lexikontüte abgewatscht haben, auch alle anderen Mütterchen, die während der Fahrt um einen Platz buhlten, habe sie mit Flüchen weggebissen, ihr alten Weiber hockt doch den ganzen Tag auf eurem fetten Arsch, bellt sie im Buch und blockiert den Sitz neben ihr mit den Lexika, und selbst noch in Zeeve, wo sie umsteigen musste, habe sie erst den Busfahrer, dann, als der sie tatsächlich aus Angst oder Mitleid gegen das halbe Fahrgeld einsteigen ließ, die Lehne des Vordersitzes mit dem Kleiderbügel traktiert, der in ihrer Hand erst ausschwang, nachdem er sie die Dorfstraße hinunter und über den Heidedamm ins Haus gezerrt hatte, wo es dunkel war, auch ist die Haustür, erinnert sie sich, abgeschlossen gewesen, das Bett ihres Jungen leer, so dass sie einen Moment fürchtete, er könnte ausgerissen sein, endgültig weg vor Ärger über den abermals vergessenen Anruf, den sie am späten Nachmittag hätte tätigen müssen, zu einer Zeit, als sie an nichts anderes mehr habe denken können als an ihren Fick mit Daniel Röcker, schreibst du, aber nicht den Maler, nein, ihn, den eigenen Sohn, habe sie stattdessen zwischen den Fingern gehabt, nachdem sie ins Bad geplatzt war und sich neben ihrem scheißenden Kind auf den Wannenrand gesetzt hatte, mit einem Stück Klopapier in der Hand, um die Sache sauber und fleckenfrei hinter sich zu bringen, wie sie es gewohnt war, wenn sie einen ihrer Freier abwichste.

Sie machte es beiläufig, fast ein wenig genervt, in der Art, wie sie in der Küche immer das Essen hinhudelte, während sie rauchte und an ihre Bilder dachte, oder an nichts. Sie schaute dich dabei nicht einmal an. Du hast die Kälte aus der Kloschüssel gespürt, das schwarze Gefühl im Unterbauch, der sich zusammenkrampfte, während dein Inneres gleichzeitig nach außen zu drängen schien, ins Rohrloch, wo der weiße Rochen lauerte, ausgehungert von all den Jahren, in denen du ihn in die abseitigsten Tiefen deines Bewusstseins verbannt und so gut wie vergessen hattest. Nun war er zurückgekommen, um sich zu holen, was ihm zusteht.

Sie schloss dich noch fester in ihre Handhöhle – oder war es schon das Maul des Fisches? Der Gedanke, dass du nun mit ihm gehen müsstest an den dunklen und kalten Ort ihrer Herkunft, legte sich lähmend und endgültig auf dich, und wenn da in dir noch eine Sprache gewesen wäre für das, was gerade passierte, ganz bestimmt hättest du in deinem Schrei nicht mehr gestottert. Damals aber war das Gefühl stumm, auch seine Farbe noch unbestimmt, kaum eine Empfindung, eher etwas Rohes und Unbegreifliches, das dich überflutete und mit sich riss wie eine große, vernichtende Welle.

Du hast die Schenkel noch weiter geöffnet, im Bauch schon das Rieseln gespürt, Wasser, das in dich drang oder aus dir heraus, als wäre deine Haut nur noch ein Sieb. Sie beugte sich vor. Du sahst die Schweißflecken unter ihren Achseln, den Grind auf den Lippen, die verwischte Schminke, ihre Verzweiflung. So nah, wie sie jetzt war, so grob und gierig, fandest du sie abstoßend und fremd. Das, fragst du an dieser Stelle in deinem Buch, sollte deine Mutter sein?

Da verformte sich auch schon ihr Gesicht, wurde weiß und flach. Sie spürte dich kommen und drosselte das Tempo. Ihr Blick war jetzt starr und glasig, er ruhte auf dir und ging doch durch dich hindurch, seelenlos, schreibst du, wie von einem Tier, den Kühen oder Pferden auf der Weide, die dich angestarrt hatten, wenn du als Kind am Gatter vorübergelaufen warst, eher geschlichen, mit diesem Gefühl von Ertapptsein, als müsstest du etwas vor dem Vieh verbergen, und noch hinter dem Drän, der die Magerwiese mit den hochaufschießenden violetten Dolden des Knabenkrauts am Rand der Blänke gegen das Moor abschloss, spürtest du die schwarzen, die Leere und Weite der Ebene widerspiegelnden Augen auf dir ruhen, die dir gleichgültig folgten und sahen, wer du in Wirklichkeit bist, ohne dich dabei zu erkennen.

Mein armer Junge, sagte der Rochen, riss sein Maul auf und stülpte die kalten Lippen über dich.

Sie klappt das Buch zu und hebt den Kopf aus dem Morast deiner Erinnerungen in die neblige Luft über dem Altonaer Balkon, wo sie auf einer Parkbank endlich die ersehnte Ruhe gefunden hat, in dem offenen, von keinem Menschengesicht und Menschengeschlecht mehr bedrängten Blick auf den Köhlbrand, der Süder- und Norderelbe zu dem großen Wasser vereint, das an dieser Stelle schon kein Fluss mehr ist, aber noch nicht das Meer. Sie sieht die hoch in die fahle Dunkelheit gehängten Lichter des Hafens, links die Innenstadt mit ihren in den Himmel strahlenden, den Himmel über Hamburg wegstrahlenden Häusern und im Westen, wo die Elbe sich herauswälzt aus ihrem steinernen Pferch der Kaimauern und Molen, einen schwarzen Horizont ohne Linie, Schichten aus glitzerndem Wasser, glitzerndem Land und beider Glanz verschluckendem Dunst, die Nacht über der fernen Küste wie einen riesenhaften Schwamm, der die Welt aufsaugt.

Ausgerechnet dort, Dion, willst du sie wiedersehen? Sie hat ja das Meer immer gemieden, wie ihr auch die leere Ebene hinter ihrem Fenndorfer Haus verhasst war, überhaupt alle Landschaften, die sie für unmalbar hält, bildlos in ihrem tiefsten Wesen, weil sie den Blick nicht mehr hergeben, ihn hineinlocken in ihre Ungestalt, herausreißen aus seiner Verankerung im Körper und ihn so, ziellos und von allem Wissen und Wollen entleibt, verschlingen, und zurückgeschlagen von dem trostlosen Bild des nächtlichen Horizonts, blättert sie nun doch wieder das Buch auf, denn noch quälender als das Getöse deiner Beschimpfungen empfindet sie das drückende Schweigen, das sie bei dem Gedanken beschleicht, dir in knapp vier Wochen unter die Augen zu treten, an einem Dünenübergang, wo ihr euch zum Spaziergang verabreden würdet, bloß nicht am Strand, denkt sie und hätte ein Café bevorzugt, vielleicht die abgedunkelte Hotelbar, eine Nische dort, wo man sich ruhig gegenübersitzen und dem Blick des anderen standhalten kann.

Am Meer aber, stellt sie sich nun vor, würden ihre Augen doch nur immer von ihm weg hinaus aufs Wasser fliehen, und die Wellen würden alles, was sie ihrem Jungen sagen, auf sein Buch erwidern und darin widerlegen möchte, als dieses stumme Rauschen zurückwerfen, dem sie nichts mehr entgegenzusetzen hätte als abermals ihren schutzlosen, viel zu luftig gekleideten Leib, der sich trotzig gegen den Wind stemmt, sich vorankämpft durch den Sturm deiner Vorhaltungen und Verleumdungen, der sie nun auf die nächste Seite treibt, wo sie das Geschriebene kaum liest, nur mit Augen überfliegt, im schmerzlichen Wunsch, endlich den Abschnitt zu finden, in dem ihr Junge, ein Schriftsteller, denkt sie, der die sogenannte Wahrheit, Dinge, wie sie waren und sind, ja austricksen darf und muss, ihr, seiner Mutter, doch noch einen einzigen Satz schenkt, der es ihr erlaubt, das Unwiderrufliche rückgängig zu machen und ihre gemeinsame Vergangenheit, wenn schon nicht als seine echte, zumindest doch als diese Romanmutter anders und besser zu leben, was hieße, dass ich die ganze Geschichte entweder an dieser Stelle wegschmeißen oder den schon fortgeschrittenen Winter zurückspulen müsste, neu aufrollen nicht nur den vorangegangenen, bereits abgeschlossenen Herbst, sondern alle noch weiter zurückliegenden Jahreszeiten: das Moor erst plan und weiß, dann im Rostrot und Steppenbraun zaudernder Verwesung, später durchfleckt von den violetten und blassrosa Flämmchen der blühenden Glocken- und Rosmarinheide, bis der Frühling das Purpurfeuer der Gagelblüte vor dem Lichtgrün der soeben ausgetriebenen Birken entfacht, zwischen den Resten letzter Eiskrusten; und selbst der Schnee fällt hinauf in die schwerbäuchigen Wolken, die sich entballen, zusammenschrumpfen und schließlich, nachdem das Wasser der wochenlangen Herbstregenfälle aus den überfluteten Gräben wieder gen Himmel geströmt ist, zurück über die fruchtschweren Ebereschen in den Horizont kriechen, wo das ferne, weltabgewandte Septemberblau sich langsam mit dem Hitzedunst des Hochsommers füllt, und immer so weiter, zurückdrehen das ganze mühsame, millimeterweise Wachsen und Werden gegen die Zeit, die deine Heimat zu dem gemacht hat, was sie heute ist, eine kultivierte Sekundärlandschaft mit künstlich geschützten Biotopen, in denen das Alte und Ursprüngliche, das man schon immer für besser gehalten hat, vor dem Angriff der Gegenwart bewahrt wird, den Folgen deines Erinnerns, meines Erzählens, wie viele Jahre zurück? Bis zu welchem Punkt deines Lebens? Was genau muss passieren, damit in dem entscheidenden Sommer, auf den hier alles hinausläuft, das Wiedersehen mit deiner Mutter, wie sie es sich ausmalt, das friedvollste und versöhnlichste werden kann? Und tatsächlich, sie findet die Stelle im Buch, den Satz, der all ihre Hoffnungen trägt: Es klopft an der Tür.

◆◆

Mama!, schießt es dir durch den Kopf, und dass du gestern in der Aufregung vergessen hast, ihr den Haustürschlüssel unter die Wolldecke zu schieben, in die leblose Hand. Auf dem Rollwagen zittert ein Tiegel, im Rahmen das Fensterkreuz. Wieder das Klopfen, jetzt schon ein Poltern; Dion, nun mach ihr endlich auf, oder soll sie draußen auf der Veranda erfrieren, in ihrer Bluse und der dünnen Haushose, die Marianne noch schnell in eine Tüte gepackt und dem Rettungsfahrer in die Hände gedrückt hatte. Herrje, mag deine Tante gedacht haben, die Arme hat doch gar nichts an!

Gleich wird sie zur Tür hereinkommen, bleich und geschwächt von den Strapazen, mein armer Junge, die Stimme noch verkrächzt, ihr Hals schmerzt vom Schlauch, mit dem man ihr den Magen ausgepumpt hat. Alles egal, Hauptsache, sie ist wieder zu Hause! Am Nachmittag wird sie lang und tief schlafen, dann auf dem Klo die Kohle loswerden, die ihr das Gift aus dem Körper gesaugt hat, einen Allestopf kochen, mit üppiger Einlage. Sie kriegt noch kaum etwas runter, doch für dich gibt’s zusätzlich ein Nackensteak. Zimtpudding zum Nachtisch, dann erste zaghafte, noch ein wenig zerknirschte Worte, die dir versprechen, dass von nun an alles anders und besser wird. Also lauf!

Auf der Treppe rutschst du im Überschwang fast aus, siehst im Butzenglasfenster tatsächlich den schlanken Schatten. Ein Hund beginnt zu bellen, du hörst die Stimme erst draußen, dann ihren Schall vervielfältigt aus den unteren Zimmern, als wäre eine Meute Schneehunde ins Haus gedrungen, Bestien mit gefrorenen Lefzen und Eiszapfen am Maul. Hat sie dir etwa einen Köter mitgebracht, ein Versöhnungsgeschenk aus dem Tierheim in Zeeve? Dein Blick fällt in den Garderobenspiegel, wo dich ein geschminkter Junge im Seidenkleid anstarrt, mit Tussenmund und toupierter Mähne. Schirmstock und ein Bart aus Wollgrasblüten wären der bessere Aufzug für ihren Empfang gewesen, so hättest du dir gleich den Kuss verdient. Doch ab heute gelten neue Kostüme, andere Regeln, du die Mutter, sie das hilfsbedürftige Kind, längst überfällig der Rollentausch, und damit sie nun hilflos stottert und du nur müde dazu lächelst, soll sie dir einfach etwas aus dem Kirchenboten vorlesen, den Leitspruch für die Woche: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Himmelreich, Markus Kapitel zehn, Vers vierzehn.

Ihr Wort in meinen Ohren; kaum schleudert eine Bö die Tür gegen die Wand, stoße ich dir Tanja in die Arme. Der Welpe klemmt dazwischen und bellt. Du klappst schon den Mund auf, Achtung, Falle!, rufe ich, da gefriert dir der Gruß auf den Lippen – oder ist es doch ein Laut der Enttäuschung, dass es nicht Marga ist, die du umarmst? Der Entschluss, von nun an zu schweigen, den du gestern gefasst hast, ist die Voraussetzung für alles, was jetzt kommt, das Siegel, mit dem wir unseren Bund geschlossen haben: Du gibst mir deine Sehnsucht nach einer vollkommenen Sprache, ich erfülle dir dafür die Träume, für die du die Worte nicht schaffst. Hier hast du Tanja, aber halt bloß dein Maul!

Das ist ja lebensgefährlich, sagt sie und deutet hinaus in das Wogen und Walzen des Schnees. Ronja zappelt und schnüffelt an deinem Hals, die rosa Zunge mit schwarzen Flecken an der Spitze, die dir übers Kinn fährt, kein Sturmmonster mit Eiszapfenzähnen, ein Babyhund, Deutsch Kurzhaar, Dion, wovor hast du Angst?

Tanja mustert dich und denkt dasselbe: Wenn er doch nur ein, zwei Jahre älter wäre und nicht so verklemmt. Und dieses Stottern! Das arme Mädchen, das ihn trotzdem einmal will, wird vorm Traualtar das Ja-Wort buchstäblich aus ihm herausschütteln müssen. Sicher ist er, was die Liebe angeht, noch völlig unschuldig. Sammelt statt Erfahrungen lieber Libellen im Moor. Doch sie mag deine Augen, den tiefen, traurigen Glanz. Ganz anders als der Aufschneiderblick von Hannes, der sie frieren macht. Frieren und Schwitzen zugleich. Ob er weiß, denkt sie, dass Hannes und ich …?

Klar weißt du das! Und wie dich das fuchst! Deinen Kopf mit flackernden Bildern erfüllt, die nächtelang nicht verlöschen. Die Eifersucht taucht deine Phantasien in ein gedämpftes gelbes Licht, eine Farbe wie das Gefühl: Wie sie dicht an dicht im Heuboden kauern und sich kaum bewegen, nur manchmal streckt einer ein Bein aus, wechselt den Arm, der den Kopf stützt. Das Stroh knistert, die Bohle knarrt, als sie das Gewicht verlagert, auf die andere Hinterbacke, unter die er noch immer nicht seine Hand geschoben hat, obwohl sie da liegt, die offene Hand, bereit, sie aufzunehmen, denn Hannes hat eine große, feste, einladende Hand, und sie presst die Luft in den Unterbauch, als könnte sie so rund und handlicher werden, schmiegsam wie Daniela, doch er rührt sich nicht. Unten im Stall das schläfrige Grunzen der Schweine, Laute aus einem warmen, rotglühenden Innern, draußen knackt der Frost.

Ob sie nicht besser in die Sakristei gehen sollen? So spät am Abend, mag sie denken, wird der Vater nicht mehr hineinmüssen, sie wären ungestört. In dem kleinen Raum riecht es nach Mottenpulver und erloschenen Kerzen, zur Adventszeit auch schwach nach Tannennadeln, wenn die Zweige für den großen, schweren Kranz sich schon in der Ecke türmen. Der Abendmahlwein verbirgt sich im Schrank, wo auch der Talar und die Beffchen hängen, gebügelt und gestärkt von der Mutter. Die Vorstellung, wie sie in Hannes’ Armen auf dem Läufer vor dem Schrank liegt, mit der lauschenden Stille der Gebetsbänke nebenan, hat Stacheln und Dornen, das Bild fährt dir als bohrender Schmerz in die Brust.

Lass sie besser im Heuboden bleiben, dort trauen sie sich nicht, zur Sache zu kommen. Der Knecht könnte hereinkommen. Hannes wickelt einen Strohhalm um den Zeigefinger, spannt ihn zur anderen Hand, wo die Zigarette klemmt. Die Asche schnippt er ungeduldig auf den Boden. Er hat zu viel Kraft in den Händen, selbst im letzten Fingerglied, das auf die Kippe mehr schlägt, als tippt. Die Glut leuchtet auf, sein Gesicht wirkt im Halblicht gerötet, doch an Scham oder Schüchternheit glaubst du hier nicht.

Auch Tanja mag rätseln, warum er so glüht. Ob das nicht gefährlich sei, hier zu rauchen?, fragt sie. Er zuckt die Schultern, brennt den Strohhalm an und sagt: Doch. Sie atmet aus, spürt die Wärme aus ihrem Mund über die Finger streichen, der Rest des Körpers kalt, in tauber Erwartung. Durch die Ritzen zieht es, auch das Stroh dünstet klamm. Zur Mutter hat sie gesagt, sie würde mit Daniela für das Konzert üben, das die Konfirmanden beim Adventsbazar aufführen sollen, sie, Tanja, Flöte, die Bloch-Tochter am Klavier.

Irgendwas sagen, denkt sie, jetzt bloß nicht ihre Beklommenheit zeigen. Ob er auch ein Instrument spiele? Hannes zuckt wieder die Schultern, sagt: Wenn, dann Schlagzeug. Er drückt die Zigarette auf dem Holz aus, es riecht verbrannt. Fädelt zwischen seinen Fingern den Strohhalm auf. Und der Katthusen aus deiner Klasse, sagt er, was spielt der? Sie starrt ins Dunkle, hinüber zur Lattenwand, wo der Laternenschein vom Hof durch die Ritzen dringt, Lichtpunkte wie tausend winzige Augen. Plötzlich hat sie das Gefühl, als schautest du herüber, nein, vielmehr wünschst du dir, dass sie in diesem Moment an dich denkt, deine Augen auf sich ruhen glaubt.

Der glotzt dich immer so an, sagt Hannes, den Halm jetzt zum Zerreißen gespannt, der ist nicht ganz koscher. Ihr Kopf sinkt auf seine Schulter, nur so weit, dass sie an ihrer Schläfe ganz leicht den kalten Parka spürt. Ach, Dion ist doch süß, winkt sie ab und hofft, das würde ihn provozieren. Er fasst sie am Ellenbogen und zieht sie herüber. Hat er was über mich gesagt? Sie riecht den Zigarettenatem aus seinem Mund, das Deo, das er ein wenig zu großzügig versprüht hat. Die Lichtpunkte haben sich alle um seinen Kopf versammelt. Der Schmerz im Kreuz ist jetzt klar und scharf. Trotz des Strohs spürt sie die Härte der Bretter, tief unten, wie einen noch weit entfernten Aufprall in einem dieser Träume, in denen man stürzt und doch nie zerschellt. Der Kuss jetzt schon so nah, dass sie die Risse auf seiner Unterlippe sieht. Hannes verharrt, weicht aus, sein Ziel scheint ein anderes. Der weiß über uns Bescheid, flüstert sie, um den Raum zwischen den Mündern, der ihr plötzlich unüberbrückbar erscheint, doch noch mit einem Geheimnis zu füllen.

Unten quietscht die Tür, Licht flammt auf. Die Bäuerin ruft nach ihrem Sohn. Sie hält die Luft an, seine Hand im Stroh ballt sich zur Faust. Ein zweites Mal Mariannes Stimme, dann fällt die Tür wieder ins Schloss, und die Dunkelheit sinkt zurück in ihre trübe Stille. Nur ein paar Schweine scharren jetzt lauter als zuvor, und die Augen in den Ritzen sind hell und kalt. Sie hat das Gefühl, einen Verrat begangen zu haben, doch weiß sie nicht, an was oder wem.

Aber du bist ja nicht blöd! Hast deine Augen tatsächlich überall und siehst, wie sie mit dir spielt, deine Eifersucht genießt und mit ihrem großen Fang kokettiert. Warum sonst sollte sie dich jetzt so spöttisch mustern, während du in deinen Armen ihren Hund zu beruhigen versuchst? Ronja aus!, ruft sie, als die raue Zunge abermals über dein Kinn schleckt. Ihre Mutter sei ja eigentlich gegen den Hund gewesen, weil der, wenn er groß ist – und sie bemisst mit der Hand etwa Hüfthöhe –, sie umwerfen und ihr die Knochen brechen könnte. Spitze Geräusche schneiden dir ins Fleisch, das Welpengewinsel, Tanjas Sitz!- und Platz!-Befehle, und die Tür kracht an die Wand; danke, Dion, ich bin drin. Seid ihr bereit für den großen Spaß?

Endlich nimmt sie dir den Köter ab. Der springt zu Boden, hockt sich hin und pinkelt vor Freude auf die Schwelle. Tanja klopft sich den Schnee von der Jacke, solche Mengen, dass die Pfütze am Boden kaum auffällt. Dann ist ihr Gesicht plötzlich in dem langen Schal verschwunden, den sie sich vom Hals wickelt. Ronja fasst den Zipfel und schleppt ihn als Beute davon, dreht Tanja wie eine Spindel aus der Wolle. Du willst ihr helfen, zu gefährlich scheint dir das Spiel, das sie niederwerfen und verletzen könnte, doch ich zische Finger weg! und schleudere sie aus der Schlinge gegen die Kommode. Hausaufgaben, sagt sie atemlos und reicht dir die Plastiktüte. Der Schulbus sei im Schnee stecken geblieben, die Hälfte der Klasse gar nicht gekommen, nur Gorbach, seufzt sie, will schon wieder einen Erlebnisaufsatz, und sie blinzelt dir zu, als wüsste sie längst um das lustige Stück, das ich hier mit euch einstudieren will.

Ob er was ahnt?, denkt sie, er schaut so komisch. Vielleicht war es falsch, herüberzukommen. Aber wo sonst hätte sie nach dem Zoff mit der Mutter hinsollen? Zu Daniela geht sie ja nicht mehr. Wäre nur noch ihre Cousine in Kleenze geblieben, die sicher dichtgehalten hätte, aber bei dem Wetter fährt kein Bus.

Was das werden soll?, grinst sie und deutet auf deine Maskerade. Hat er geweint? Seine Augen scheinen ihr gerötet, die Ringe darunter auch ohne Schminke dunkel, der Rest des Gesichts ist leichenblass. Er sieht bekümmert aus, bestimmt wegen der Sache mit seiner Mutter.

In dem dünnen, halb durchsichtigen Nachthemd fühlst du dich plötzlich nackt, verstohlen schielst du an dir herab, wünschst dich raus aus dem Fummel. Wenigstens die Jacke überwerfen? Doch zwischen Garderobe und dir stehe ich, die Wand aus Kälte und hereinwirbelndem Schnee, wehe dem Spielverderber!, stößt dich das Sturmpfeifen zurück. Schau, wie gut Ronja schon ihre Rolle beherrscht! Auf der Treppe windet sich der Schal die Stufen hinauf, ein gelber Python mit roten Rauten und braunen Kringeln, wenn ihre Mutter das Ding selbst gestrickt hat, war es ein Lebenswerk. Ganz oben am Absatz kämpft der Welpe mit dem aufgerichteten Kopf der Bestie.

Mit dem Kajal musst du aber noch üben, sagt Tanja, beugt sich vor und zeigt den hauchdünnen Strich unter ihrem Augenlid. Auf ihren Wangen schimmert Puder, und der Sturm hat in ihrem Haar genau das richtige Chaos angerichtet.

Noch vor wenigen Minuten war sie das hässliche kranke Entlein, das man besser hätschelt und lieb hat, damit es einem am Ende nicht lästig fällt. Für den Schulgang wollte ihr die Mutter eine Gehhilfe aufzwingen, obwohl der Schienbeinbruch so gut wie verheilt und der Knochen jetzt zusätzlich mit einem Implantat verstärkt ist, was ihr immer noch Schmerzen bereitet. Trotzdem macht sie beim Sportunterricht schon wieder die leichten Übungen mit, zum Ärger der Pfarrersfrau, die sie am liebsten in den Rollstuhl packen würde, seit der Operation steht der schon aufgeklappt in der Ecke. Auch den Sessel im Wohnzimmer dürfte sie, wenn es nach der Mutter ginge, nicht mehr verlassen, ihr Grab zwischen dem Kissengebirge, das sich vor dem Fernseher türmt.

Beim Mittagessen ist das Fass dann endgültig übergelaufen. Frau Deichsen wimmelte Hannes am Telefon ab. Tanja warf den Löffel hin, aus dem Teller schwappte die Suppe. Ich weiß selbst, was gut für mich ist!, rief sie mit einer Stimme, die alle zusammenzucken ließ. Nach der Schule hatte sie eine Schmerztablette genommen, wollte um jeden Preis mit Hannes und seiner Clique ins Hallenbad fahren. Wie aufgeregt sie war, als der sie auf dem Schulkorridor abfing und fragte! Damit hätte sie nicht gerechnet. Viele ihrer Schulfreundinnen warten darauf, am Beckenrand des Zeever Sportbads von Hannes gepackt und ins Wasser geschleudert zu werden.

Sie müsse sich noch schonen, sagte die Mutter und schöpfte Suppe nach. Dich soll ich schonen!, rief Tanja und trat den Stuhl gegen den Tisch; die Schwester glotzte. Dann krachte die Tür, gefolgt vom Blumentopf, den ich von der Veranda wehte; im sonst stillen Hause Deichsen habe ich zum Auftakt der Nachmittagsspiele schon für ein paar lustige Szenen gesorgt.

Sie schloss sich im Zimmer ein, heulte ein bisschen, saß dann schmollend herum und suchte schließlich ein paar Aufgabenblätter zusammen. Als sie die Mutter im Keller an der Wäscheschleuder hörte, schlüpfte sie in ihre Jacke und stahl sich aus dem Haus. Ich habe sie sofort an mich gerissen und die Dorfstraße hinunter auf den Heidedamm geschleift, wo ich sie zur Lockerung schon mal flachlegte. Auf dem freien Feld bin ich mit Windstärke 10 in sie hinein, so dass sie gestürzt, im Schnee aber weich gefallen ist. Gesplittert ist nur die Birke hinter ihr; erst die Motorsäge von Bauer Lambert wird ein paar Tage später die Zufahrt wieder freiräumen. Doch dann kommt jede Hilfe zu spät. Hier ist deine neue Freundin, Dion, schau, wie schön ich sie dir zurechtgemacht habe!

Doch du stehst da wie draußen die Bäume, schwankend, zerzaust, nackt und frierend unter dem weißen Gewand. Ronja hoppelt die Treppe herunter, den Kopf der toten Schlange im Maul. Das sei jetzt langweilig, bellt der Welpe, lass uns was anderes spielen! Bäumchen, wechsel dich, knurre ich zurück und fege den Saum deines Nachthemds hoch, der Schnee schäumt bis zur Kommode. Du schnellst vor und schlägst mir die Tür vors Maul. Verdammter Mistkerl! Das war nicht abgemacht! Ich will mitspielen, schaut her, was ich euch gebracht habe: blitzende Eissplitter, lustige Böen, Geknack und Geknirsch für den schaurigen Spaß!

Mit vier Händen und zwei plötzlich sehr kräftigen Körpern stemmt ihr euch gegen die Tür und schiebt mich zurück. Ich halte heulend dagegen, die Scharniere ächzen, Tanja kichert, auch du verbeißt dir jetzt das Lachen, dann klickt das Schloss.

Glück gehabt!, schnauft Tanja und lehnt sich erschöpft gegen dich. So nah hast du sie noch nie gespürt. Ihre Augäpfel sind nicht nur bis unter die Lidränder blau, auch wölben sie sich hervor, als trüge sie Linsen. Über die zwei Schulbänke hinweg, die euch trennen, hat sie auf dich stets größer gewirkt, zwar zierlich, doch irgendwie hochaufgeschossen durch die Spindelform ihres Körpers. Jetzt reicht sie dir nur knapp über die Schulter und sackt sogar ein wenig zusammen, während sie sich aus der Jacke pellt und dabei die Knie durchdrückt, was gefährlich aussieht, wie ein bis zum Bersten gespannter Bogen.

Sie ist zerbrechlicher, doch auch beweglicher als die anderen und trotz all der genagelten Knochen recht flink. Unter der Birke hat sie sich mir geschickt aus den Händen gewunden, und wenn Hannes sie heute noch zur Frau macht, biegt er sie einfach in Form: Beine zum Spagat, Arme über den Rücken, Kopf ins Genick, und jetzt, sagt er, versuche, mir mit dem Becken entgegenzukommen, und sie schiebt sich Stück für Stück über Hannes, der ihr das Bein höher drückt, bis sie aufgefächert zu einem Rad, mit den Knien an den Ohren, den heiklen Punkt überdehnt und er vor Erregung zu stöhnen beginnt, das Geräusch aus ihrem Leibesinneren wegstöhnt, das ihn endlich von seinen drückenden Phantasien erlöst.

Dafür kommt man in die Hölle, reißt sie dich aus deinen Gedanken. Du blickst sie erschrocken an. Weiß sie etwa, was du dir da gerade vorgestellt hast? Sie hat recht, Dion, trommele ich ans Fenster, solche Bilder, wie du sie dir ausmalst, sind ganz sicher des Teufels, ich meine, fällt sie mir ins Wort, es ist eine Sünde, wenn man sich das Leben zu nehmen versucht. Sagt Frau Deichsen, die Pfarrersfrau.