WHITEHALL, 1553
1
Wie alles Wichtige im Leben begann es mit einer Reise – auf der Straße nach London, um es genau zu sagen, und es war mein erster Ausflug in diese so erregende wie elende Stadt.
Wir brachen noch vor Sonnenaufgang auf, zwei Männer zu Pferde. Noch nie im Leben war ich über Worcestershire hinausgekommen, sodass mich Master Sheltons Ankunft mit dem Befehl, ihm zu folgen, umso unerwarteter traf. Ich hatte kaum Zeit, meine wenigen Habseligkeiten zu packen und mich von den anderen Bediensteten zu verabschieden (unter ihnen auch die süße Annabel, die zum Steinerweichen weinte), dann ritt ich auch schon von Dudley Castle los. Mein ganzes bisheriges Leben hatte ich dort verbracht, und jetzt war auf einmal völlig unklar, wann oder ob ich überhaupt zurückkehren würde.
Eigentlich hätten mich allein schon meine Aufregung und Bangigkeit wach halten müssen, doch eingelullt von der Einförmigkeit der an mir vorbeiziehenden Landschaft und dem gemütlichen Trott meines Rotschimmels Cinnabar, schlief ich bald ein.
Master Shelton rüttelte mich wach. »Brendan, Junge, wach auf! Wir sind fast schon da.«
Ich richtete mich in meinem Sattel auf. Noch schlaftrunken blinzelnd, griff ich mir an den Kopf, um die Kappe zurechtzurücken, spürte aber nur mein widerspenstiges hellbraunes Haar zwischen den Fingern. Bei seiner Ankunft hatte Master Shelton die Nase über seine Länge gerümpft und gegrummelt, dass kein Engländer so ungepflegt wie die Franzosen herumlaufen sollte. Er würde über den Verlust meiner Kappe nicht gerade erbaut sein.
»O nein!« Ängstlich sah ich zu ihm auf.
Er musterte mich mit regungsloser Miene. Über seine gesamte linke Wange verlief eine hervortretende Narbe, die sein zerklüftetes Gesicht verunstaltete. Nicht, dass sie ihn störte! Ein schöner Mann war Archie Shelton noch nie gewesen, gleichwohl eine beeindruckende Gestalt, die Achtung gebietend auf dem Ross thronte. Sein bestickter Umhang und sein Stab wiesen ihn als Haushofmeister derer von Dudley aus. Jeden anderen Menschen hätte sein granitharter Blick in Angst und Schrecken versetzt, doch ich hatte mich an seine schweigsame Art gewöhnt, seit er vor acht Jahren auf dem Gut der Dudleys eingetroffen war und von da an meine Entwicklung überwacht hatte.
»Sie ist vor einer Wegstunde heruntergefallen.« Mit diesen Worten streckte er mir meine Kappe entgegen. »Seit meinen Tagen in den schottischen Kriegen habe ich nie wieder jemanden so fest zu Pferd schlafen sehen. Man könnte fast meinen, du wärst schon Hunderte von Malen in London gewesen.«
Ich hörte herben Humor aus seinem Tadel heraus. Das bestätigte mich in meiner Vermutung, dass er sich insgeheim über die jähe Wendung meines Schicksals freute, obwohl es wirklich nicht in seiner Natur lag, über seine persönlichen Gefühle zu sprechen, die ein Befehl des Herzogs oder von Lady Dudley in ihm auslösen mochte.
»Am Hof kannst du deine Kappe nicht ständig verlieren«, hielt er mir vor, als ich mir die rote Mütze auf den Kopf setzte und zu einem Hügel spähte, über den sich die im Sonnenlicht gesprenkelte Straße wand. »Ein Junker muss zu allen Zeiten auf seine Erscheinung achten.« Er unterzog mich einem prüfenden Blick. »Mylord und Mylady erwarten viel von ihren Dienern. Ich muss davon ausgehen können, dass du dich im Beisein höhergestellter Herrschaften zu benehmen weißt.«
»Selbstverständlich.« Ich straffte die Schultern und rezitierte in meinem unterwürfigsten Ton: »Es ist das Beste, wann immer möglich Stille zu wahren und stets den Blick zu senken, wenn man angesprochen wird. Ist man bezüglich der Anrede einer Person im Zweifel, genügt ein einfaches ›Mylord‹ oder ›Mylady‹.« Ich machte eine Kunstpause. »Ihr seht, ich habe es nicht vergessen.«
Master Shelton schnaubte. »Sieh zu, dass es so bleibt. Du wirst Lord Robert, dem Sohn Seiner Lordschaft, als Junker dienen, und ich werde nicht dulden, dass du diese Möglichkeit vergeudest. Wenn du dich bewährst, wer weiß, was dann auf dich wartet? Aus dir könnte ein Kammerherr oder sogar Haushofmeister werden. Die Dudleys sind dafür bekannt, dass sie diejenigen, die ihnen gute Dienste leisten, reich belohnen.«
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, hielt ich mir vor, dass ich mir das hätte denken können.
Als Lady Dudley ihrer Familie an den Königshof gefolgt war, hatte sie Master Shelton zweimal jährlich zur Burg der Familie geschickt, wo ich und eine kleine Schar von Dienern zurückgeblieben waren, damit er nach dem Rechten sah. Vordergründig lautete sein Auftrag zu überprüfen, ob ich meinen Unterhalt auch wirklich verdiente, doch während ich zuvor ausschließlich als Stallknecht gearbeitet hatte, übertrug er mir auf einmal andere Pflichten und zahlte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen bescheidenen Lohn. Er ging mit mir sogar zu einem in der Gegend lebenden Mönch und ließ mich von ihm unterrichten. Dieser war einer von Tausenden, die sich nach der Auflösung der Klöster durch den alten König Henry mit Betteln und Gelegenheitsdiensten durchschlugen. Beim übrigen Personal von Dudley Castle hatte der Haushofmeister Ihrer Ladyschaft als widernatürlich gegolten, als kalter, einsamer Mann, der unverheiratet und kinderlos geblieben war – doch mir hatte er eine völlig unerwartete Gunst erwiesen.
Und jetzt wusste ich, warum.
Er wollte, dass ich seine Nachfolge antrat, wenn Alter und Siechtum ihn zwangen, sich zur Ruhe zu setzen. Das war freilich nicht gerade die Rolle, die ich anstrebte, bestand sie doch aus all jenen langweiligen Aufgaben, für die Lady Dudley weder Zeit noch Interesse hatte. Andererseits war das immer noch viel besser, als jemand in meiner Lage es für sich erwarten konnte oder sollte. Nur wäre ich eben lieber in den Stallungen geblieben, als ein privilegierter Lakai zu werden, der von den Launen der Dudleys abhängig war. Pferde verstand ich wenigstens, wohingegen der Herzog und seine Frau Fremde für mich waren, und zwar in jeder Hinsicht.
Dennoch durfte ich nicht undankbar wirken. So neigte ich den Kopf und murmelte: »Es wäre eine Ehre für mich, wenn man mich einer solchen Stellung für würdig erachtete.«
Ein schiefes Lächeln, das umso verblüffender war, da es Seltenheitswert hatte, hellte Master Sheltons Züge auf. »Wäre es das? Das habe ich mir schon gedacht. Na gut, dann werden wir eben sehen müssen, nicht wahr?«
Ich erwiderte sein Lächeln. Lord Robert als Junker zu dienen würde mich vor genügend Herausforderungen stellen, ohne dass ich mir den Kopf über eine zukünftige Anstellung als Haushofmeister zu zerbrechen brauchte. Der drittälteste Sohn des Herzogs und ich waren ungefähr gleich alt und hatten unsere Kindheit auf der Burg seiner Eltern verbracht. Allerdings hatte ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.
Um die Wahrheit zu sagen, Robert Dudley war mein Fluch gewesen. Schon als Knabe war er der ansehnlichste und begabteste der Dudley-Sippe und hatte sich in allem, was er unternahm, ausgezeichnet, gleichgültig, ob Bogenschießen, Musik oder Tanz. Außerdem hegte er einen übertriebenen Stolz auf seine Überlegenheit – er war ein Tyrann, dem es königlichen Spaß bereitete, seine Brüder in dem stets aufs Neue lustigen Spiel »Prügelt das Findelkind« herumzukommandieren.
Wie geschickt ich mich auch versteckte, wie heftig ich mich auch wehrte, am Ende gelang es Robert immer, mich zur Strecke zu bringen. Und dann wiegelte er seine Brüder, diese Schlägerbande, dazu auf, mich in den mit Fäkalien verschmutzten Burggraben zu tauchen oder mich über den Brunnen im Innenhof zu hängen, bis meine Schreie in Schluchzen übergingen und meine geliebte Mistress Alice herbeistürzte, um mich zu retten. Den größten Teil meiner Zeit verbrachte ich damit, auf Bäume zu klettern oder mich verängstigt auf Dachböden zu verbergen. Schließlich wurde Robert an den königlichen Hof geschickt, um dem jungen Prinzen Edward als Edelknabe zu dienen. Und als seine Brüder mit ähnlichen Stellen versorgt waren, entdeckte ich eine nie erlebte und hochwillkommene Freiheit von ihrer Grausamkeit.
So schwer es mir fiel, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, jetzt war ich auf dem Weg zu Robert, um ihm zu dienen. Keine Geringere als seine Mutter hatte es befohlen. Aber natürlich zogen Adelsfamilien unglückliche Findelkinder wie mich nicht aus reiner Nächstenliebe auf. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem sie meine Schuld bei ihnen einfordern würden.
Meine Gedanken waren mir wohl am Gesicht abzulesen, denn Master Shelton räusperte sich und murmelte verlegen: »Du brauchst dich nicht zu grämen. Du und Lord Robert, ihr seid jetzt erwachsene Männer. Achte einfach auf deine Manieren, und tu, was er dir aufträgt, dann geht alles gut für dich aus. Du wirst schon sehen.« Und in einem neuerlichen Anflug von Empfindsamkeit tätschelte er mir die Schulter. »Mistress Alice wäre stolz auf dich. Sie hat immer daran geglaubt, dass aus dir etwas wird.«
Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu. Wieder sah ich sie vor meinem inneren Auge, wie sie mahnend den Finger hob, während auf dem Herd der Topf mit den Kräutern blubberte und ich mit den von der frisch gekochten Marmelade verklebten Lippen und Fingern wie verzaubert dasaß. »Du musst immer zu Großem bereit sein, Brendan Prescott«, pflegte sie mir vorzuhalten. »Wir können nicht wissen, wann wir dazu aufgerufen werden, uns über unser Schicksal zu erheben.«
Ich wandte die Augen ab und gab vor, die Zügel anzuziehen. Das nun eintretende Schweigen wurde nur vom steten Klipp-klapp der Hufe auf den mit getrocknetem Lehm bedeckten Pflastersteinen durchbrochen.
Schließlich brummte Master Shelton: »Hoffentlich passt deine Livree. Du könntest ein bisschen Fleisch auf deinen Knochen durchaus vertragen, aber deine Haltung ist gut. Hast du regelmäßig mit dem Kampfstab geübt, wie ich es dich gelehrt habe?«
»Jeden Tag«, antwortete ich und zwang mich, zu ihm aufzusehen. Master Shelton hatte keine Ahnung davon, was ich in den letzten Jahren noch alles geübt hatte.
Es war Mistress Alice, die mich mit dem Gebrauch der Buchstaben vertraut gemacht hatte. Sie selbst war eine Seltenheit gewesen: Als gebildete Kaufmannstochter war sie in Not geraten, und nachdem sie in den Dienst der Dudleys getreten war, um »Leib und Seele zusammenzuhalten«, wie sie gerne sagte, hatte sie mir immer gepredigt, dass unser Geist nur eine einzige Grenze hatte – diejenige, die wir uns selbst setzten. Nach ihrem Tod hatte ich mir geschworen, meine Studien zu ihrem Gedenken fortzusetzen. Von da an beeindruckte ich den Mönch mit dem fauligen Atem, den Master Shelton gedungen hatte, mit derart glühendem Eifer, dass er mich bald durch die Feinheiten von Plutarchs Stil lotste. Oft blieb ich ganze Nächte lang wach und las Bücher, die ich aus der Bibliothek der Dudleys entwendet hatte. Die Familie hatte Regale voller schwerer Bände erworben, hauptsächlich, um mit ihrem Wohlstand zu prahlen, denn ihre Söhne hielten sich mehr auf ihr Geschick bei der Jagd zugute als auf irgendeine Begabung für die Feder. In meinem Fall dagegen wurde das Lernen zur Leidenschaft. In diesen muffigen Schwarten entdeckte ich eine Welt ohne Beschränkungen, in der ich sein konnte, wer immer ich sein wollte.
Ich unterdrückte ein Lächeln. Auch Master Shelton war des Lesens und Schreibens kundig. Das musste er auch sein, um die Geschäftsbücher des Hauses Dudley zu führen. Gleichwohl legte er Wert darauf zu betonen, dass er nie mehr anstrebte, als ihm aufgrund seines Geburtsrechts zustand, und dass er solche Anmaßung bei anderen ebenfalls nicht dulden würde. Seiner Auffassung nach sollte kein Diener, so fleißig er auch sein mochte, danach streben, Gespräche über die humanistische Philosophie eines Erasmus oder die Traktate von Thomas Morus zu führen, und schon gar nicht in fließendem Französisch oder Latein. Und ich bezweifle stark, dass er begeistert gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, wie viel von seinen Zahlungen an den Lehrer gerade dafür verwendet worden war.
Schweigend ritten wir weiter und erreichten die Kuppe des Hügels. Da sich die Straße unter uns von hier an durch eine baumlose Ebene zog, stach mir die Leere des Landes ins Auge. Von den Midlands her war ich einen weiten Blick gewohnt, und wir waren auch noch gar nicht weit von ihnen entfernt – dennoch fühlte ich mich, als beträte ich fremdes Hoheitsgebiet.
Rauch zog sich über den Himmel wie ein schmieriger Fingerabdruck. Ich bemerkte Zwillingstürme, dann massive Mauern, die sich in einem weiten Bogen um eine ausgedehnte Siedlung mit Wohngebäuden, Kirchtürmen, am Flussufer gelegenen Herrenhäusern und einem schier endlosen Gitterwerk von Straßen auftürmten – und all das wurde von der Themse geteilt.
»Das ist sie«, erklärte Master Shelton. »Die große Stadt. London. Du wirst den Frieden des Landlebens früh genug vermissen – wenn dich nicht schon vorher Halsabschneider oder die Pest erwischen.«
Ich konnte nur noch starren. London wirkte genauso riesig und unheilvoll, wie ich es mir vorgestellt hatte, und am Himmel segelten Rotmilane, als gäbe es in der Stadt Aas zuhauf. Doch als wir uns den gewundenen Mauern näherten, erspähte ich in ihrem Umkreis mit Nutztieren gesprenkelte Weiden, Kräuter- und Obstgärten und reiche Weiler. Allem Anschein nach konnte sich London auch großer ländlicher Gebiete rühmen.
Wir erreichten eines der sieben Tore der Stadt. Verzaubert nahm ich alles in mich auf, was sich meinen Augen darbot: eine Gruppe übertrieben vornehm gekleideter Kaufleute, die auf einem Ochsenkarren hockte, einen Kesselflicker, der auf den Schultern ein mit klirrenden Messern und Kupfer behängtes Joch trug und dabei lauthals sang, eine Horde von Bettlern, Lehrjungen, geschäftigen Handwerksgesellen, Metzgern, Kürschnern und Pilgern. Mit einem Mal brach ein Streit mit den Torwächtern aus, die der Menge abrupt Stillstand befohlen hatten. Als Master Shelton und ich uns ebenfalls in die Schlange einreihten, blickte ich zu dem über mir aufragenden Tor hoch, umrahmt von zwei wuchtigen Gefechtstürmen, mit ihren von Ruß geschwärzten Schießscharten.
Jäh erstarrte ich. Aufgespießt auf Pfählen, starrte aus blinden Augen eine Sammlung von blutbesudelten Köpfen auf mich herab – ein gespenstisches Festmahl für die Raben, die gierig an dem faulenden Fleisch zerrten.
»Papisten«, knurrte Master Shelton neben mir. »Seine Lordschaft hat befohlen, dass ihre Schädel als Warnung zur Schau gestellt werden sollen.«
Papisten waren Katholiken. Nach ihrem Glauben war nicht unser Monarch das Oberhaupt der Kirche, sondern der Papst in Rom. Mistress Alice war Katholikin gewesen. Obwohl sie mich dem Gesetz gemäß nach den Grundsätzen des reformierten Glaubens erzogen hatte, hatte ich sie nachts oft den Rosenkranz beten sehen.
In diesem Moment fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie weit ich hier von dem Ort entfernt war, den ich als mein Zuhause gekannt hatte, das einzige, das ich je gehabt hatte. Dort ließ man die Leute einfach so gewähren, wie sie wollten. Niemand machte sich die Mühe, die örtlichen Behörden zu holen und irgendjemandem Ärger zu bescheren. Hier dagegen konnte derlei einen Menschen anscheinend den Kopf kosten.
Ein struppiger Wächter schlurfte auf uns zu und wischte sich im Gehen die fettverschmierten Hände an seinem Rock ab. »Keiner darf rein!«, bellte er. »Die Tore sind auf Geheiß Seiner Lordschaft geschlossen!« Er stockte abrupt, als er das Abzeichen an Master Sheltons Umhang bemerkte. »Bist du einer von Northumberlands Männern?«
»Der Haushofmeister seiner Gemahlin.« Master Shelton zog eine Rolle mit Dokumenten aus seiner Satteltasche. »Hier habe ich Pässe, die mir und dem Jungen freies Geleit sichern. Wir werden am Hof erwartet.«
»Ach, wirklich?« Der Wächter grinste ihn hämisch an. »Jeder erbärmliche Wicht behauptet, er würde irgendwo erwartet. Der Pöbel redet viel. Erst gehen diese Gerüchte von der tödlichen Krankheit Seiner Majestät um, und jetzt verbreiten sie diesen Unsinn, dass Prinzessin Elizabeth mitten unter uns sein soll.« Er zog Schleim hoch und spuckte ihn aus. »Idioten, sag ich! Die würden sogar glauben, dass der Mond aus Seide ist, wenn genug Leute das beschwören.« Er gab sich gar nicht erst damit ab, unsere Papiere zu überprüfen. »An eurer Stelle würde ich mich von Menschenmengen fernhalten«, riet er uns und winkte uns durch.
Ungestört ritten wir weiter und am Torhaus vorbei. In unserem Rücken hörte ich die wütenden Schreie der anderen, die nicht durchgelassen wurden. Master Shelton verstaute die Dokumente wieder in seiner Satteltasche. Als er seinen Umhang auseinanderschlug, kam ein an seinen Rücken geschnalltes Breitschwert zum Vorschein. Einen Moment lang bannte mich der Anblick der Waffe. Verstohlen griff ich nach meinem Dolch – ein Geschenk von Master Shelton zu meinem vierzehnten Geburtstag –, der mitsamt Scheide in meinem Gürtel steckte.
»Seine Majestät, König Edward … liegt er tatsächlich im Sterben?«, wagte ich zu fragen.
»Natürlich nicht!«, schnaubte Master Shelton. »Der König ist ein bisschen krank, das ist alles. Und daran geben die Leute dem Herzog die Schuld, wie sie ihn für praktisch alles verantwortlich machen, was in England nicht stimmt. Absolute Macht, mein Junge, hat eben ihren Preis.« Er schob den Unterkiefer vor. »Doch jetzt halt die Augen offen. Du kannst nie wissen, wann du an einen Halunken gerätst, der dir im Handumdrehen die Kehle aufschlitzt, nur weil er auf deine Kleider aus ist.«
Das glaubte ich ihm sofort. London war ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Statt den friedlichen, auf beiden Seiten von Geschäften gesäumten Prachtalleen aus meinen Fantasievorstellungen durchquerten wir ein Gewirr von krummen Gassen, wo sich gewaltige Abfallberge auftürmten und Durchgänge in finstere, Unheil verkündende Hinterhöfe führten. Über uns lehnten sich ganze Reihen von verfallenen Häusern aneinander, sodass sich ihre morschen Giebel geradezu ineinander verkeilten. Sonnenlicht drang kaum noch nach unten. Hier herrschte gespenstische Stille, als wären alle Bewohner verschwunden, eine Ruhe, die umso beängstigender wirkte, nachdem am Tor gerade noch ein solches Getöse geherrscht hatte.
Unvermittelt brachte Master Shelton sein Pferd zum Stehen. »Hör nur.«
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ein gedämpfter Laut drang an meine Ohren, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. »Rühr dich besser nicht«, warnte mich Master Shelton. Ich gehorchte und straffte Cinnabars Zügel, womit ich ihn an die Seite lenkte. Im nächsten Augenblick drängte sich eine gewaltige Menschenmenge durch die Straße. Das geschah so unerwartet, dass Cinnabar trotz meines festen Griffs scheute. Aus Sorge, er könnte jemanden zertrampeln, ließ ich mich aus dem Sattel gleiten und packte ihn am Zaumzeug.
Die Menge teilte sich um uns und eilte weiter. So ohrenbetäubend laut, wie dieser bunt zusammengewürfelte, nach Schweiß und Kloake stinkende Haufen war, befiel mich die Angst, jemand könnte mir nach dem Leben trachten. Unwillkürlich tastete ich nach dem Dolch an meinem Gürtel, nur um zu bemerken, dass überhaupt niemand auf mich achtete. Ich spähte zu Master Shelton hinüber, der immer noch auf seinem mächtigen Fuchs saß. Er bellte einen unverständlichen Befehl. Ich reckte den Kopf und versuchte, die Anweisung zu verstehen.
»Steig wieder auf!«, brüllte er. Doch während ich das versuchte, wurde ich von der weiterdrängenden Menge fast umgerissen. Mit Mühe und Not schaffte ich es, auf Cinnabars Rücken zu klettern, dann wurden wir auch schon von den Menschen fortgeschwemmt. Hilflos schlingerten wir durch einen engen Durchgang und wurden unversehens an ein Flussufer gespült.
Mit einem Ruck am Zügel brachte ich Cinnabar zum Stehen. Vor mir wälzte sich die von grünen Algen bedeckte Themse vorbei. Stromabwärts verstellte in der Ferne ein in Dunst gehüllter Steinhaufen die Landschaft.
Der Tower.
Ich erstarrte, unfähig, den Blick von der berüchtigten königlichen Festung abzuwenden. Hinter mir kam Master Shelton herangeritten. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Augen offen halten sollst? Los, weiter. Jetzt ist nicht die Zeit, um Bauwerke zu bewundern. Die Meute in London kann so grausam werden wie ein Bär im Burggraben.«
Ich riss mich von dem Anblick los und kümmerte mich zunächst um mein Pferd. Cinnabars zitternde Flanken waren von einer feinen Schweißschicht bedeckt, und seine Nüstern blähten sich, doch er wirkte unversehrt. Die Menge stürmte unterdessen weiter zu einer breiten Straße mit Wohnhäusern auf beiden Seiten und mehreren Gasthöfen, deren Schilder im Wind schwangen. Viel zu spät fasste ich mir im Weiterreiten an den Kopf. Wie durch ein Wunder saß die Kappe immer noch darauf.
Dann blieben die Leute stehen, ärmliche, einfache Menschen. Ich schaute zu, wie Gassenjungen auf Zehenspitzen herumschlichen und Hunde hinter ihnen hertrotteten. Diebe – und dem Aussehen nach zu schließen, nicht einer davon älter als neun Jahre. Bei ihrem Anblick fiel mir die Vorstellung nicht schwer, was für ein Halunke aus mir hätte werden können, wenn mich die Dudleys nicht bei sich aufgenommen hätten.
Master Shelton zog eine verdrießliche Miene. »Sie versperren uns den Weg. Laufe los und sieh zu, dass du herausfindest, was die Leute da so anglotzen. Ich möchte uns nicht mit Gewalt einen Weg dort hindurch verschaffen, wenn es sich vermeiden lässt.«
Ich reichte ihm meine Zügel, stieg erneut ab und zwängte mich durch die Menge. Dieses eine Mal wenigstens war ich dankbar für meine schmächtige Gestalt. Ich wurde beschimpft, mit Ellbogen gestoßen, geschubst, schaffte es aber, mich bis ganz nach vorn zu drängeln. Auf Zehenspitzen stehend, spähte ich vorbei an den gereckten Köpfen zu einer festgetretenen Lehmstraße, auf der sich ein unscheinbarer Reiterzug näherte. Schon wollte ich mich enttäuscht abwenden, als sich eine rundliche Frau neben mich schob und einen welken Blumenstrauß schwingend schrie: »Gott segne Euch, süße Bess! Gott segne Eure Hoheit!«
Mit einem kräftigen Schwung schleuderte sie die Blumen in die Luft. Auf einen Schlag herrschte Stille. Einer der Männer im Reiterzug ritt näher zur Mitte, als wollte er etwas – oder jemanden – verdecken.
Erst in diesem Moment bemerkte ich, halb hinter den größeren Pferden verborgen, ein scheckiges Streitross. Ich hatte ein gutes Auge für Pferde, und in diesem Tier mit dem gewölbten Rücken, der geschmeidigen Muskulatur und den tänzelnden Hufen erkannte ich auf Anhieb eine in England selten gesehene spanische Rasse, von der ein Exemplar mehr kostete als der gesamte Reitstall des Herzogs.
Und dann wurde mein Blick von der darauf sitzenden Person angezogen.
Obwohl ein Kapuzenumhang das Gesicht verdeckte und die Hände in Lederhandschuhen steckten, erkannte ich auf Anhieb, dass es eine Frau war. Gegen alle Gepflogenheiten war sie rittlings wie ein Mann aufgestiegen und trug kniehohe Reitstiefel, die sich vor den mit Mustern verzierten Seiten des Sattels abzeichneten – eindeutig Frauenstiefel. Nichts an ihr wies auf eine hohe Persönlichkeit hin, nur das Pferd. Zielstrebig ritt sie weiter, als wollte sie möglichst bald ihr Ziel erreichen.
Und doch wusste sie, dass wir sie beobachteten, und hörte den Ruf der Frau, denn sie wandte ihr den Kopf zu. Zu meiner Überraschung schob sie sogar die Kapuze zurück, womit sie ein längliches, zart geschnittenes Gesicht offenbarte, das von einer Korona aus kupferfarbenem Haar umrahmt wurde.
Und sie lächelte.