KAPITEL 17
Auf dem Rückweg in ihr Büro summte das Mobiltelefon in ihrer Tasche als Zeichen für eine eingegangene Textnachricht. Sie kam von Tom Palmer und lautete: Kommen Sie zu mir ins Büro. Ich habe hier etwas, das Sie interessieren könnte.
Sie musste nach The Old Lodge fahren und Bridget noch einmal befragen, doch sie hatte Zeit genug, um vorher bei Tom im Büro vorbeizuschauen. Nur so konnte sie verhindern, dass er sie weiter mit Nachrichten bombardierte. Abgesehen davon war ihre Neugier geweckt. Sie hatte ursprünglich angenommen, dass er eine Verabredung für den Abend mit ihr treffen wollte, doch das war allem Anschein nach nicht der Fall. Sie rätselte über die wenigen Worte auf dem Display. Was hatte er jetzt schon wieder herausgefunden? Bestimmt hatte er keine zweite Obduktion durchgeführt. Es hatte keinen Auftrag dazu gegeben. Falls doch, und falls er etwas gefunden hatte, das er als »interessant« bezeichnete, dann schwamm es jetzt hoffentlich nicht in einem Einmachglas. Sie verspürte nicht die geringste Lust, irgendeinen blutigen Teil eines menschlichen Organs zu betrachten. Tom hatte die Fähigkeit, sich selbst als menschliches Wesen von den Überresten zu distanzieren, die er auseinanderschnitt. »Eine Lunge ist eine Lunge ...«, hatte er ihr einmal fröhlich verkündet. »Es spielt nicht die geringste Rolle, ob sie von einem Tier stammt oder von einem Menschen. Sie kochen doch, oder? Na ja, hin und wieder jedenfalls. Sie haben sicher schon mal Fleisch kleingeschnitten.«
Jess hatte genug Leichen gesehen, um im Allgemeinen nicht überempfindlich zu reagieren. Doch es war ihr nie gelungen, ihre eigene Sterblichkeit außen vor zu lassen, wenn sie die traurigen Überreste auf dem Untersuchungstisch liegen sah. »Was ich auseinanderschneide, ist abgehangen und sauber verpackt in einer Styroporschale!«, hatte sie ihm geantwortet. »Und es hat niemals ausgesehen wie Sie oder ich.«
Wenigstens war Palmer nicht im Leichenschauhaus, als sie dort ankam. Er war, genau wie er geschrieben hatte, in seinem Büro. Das verringerte die Wahrscheinlichkeit von Leichenteilen im Glas beträchtlich.
»Ah«, sagte Tom süffisant, als sie eintrat. »Jede Wette, Sie haben keine Ahnung, worum es geht. Ich habe eine geschlagene Dreiviertelstunde gebraucht, um es zu finden. Meine Zeit ist kostbar, wissen Sie? Ich sollte Ihnen eine Rechnung schreiben.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«, entgegnete Jess. »Ich habe lediglich eine rätselhafte SMS erhalten. Meine Zeit ist genauso kostbar, Tom. Ich hoffe sehr, Sie verschwenden sie nicht? Ich habe eine wichtige Vernehmung durchzuführen.«
Tom blickte verletzt drein angesichts der weniger als freundlichen Antwort. »Sie erwarten doch nicht allen Ernstes, dass ich die Überraschung verderbe, indem ich alles in einer SMS schreibe? Abgesehen davon wäre sie viel zu lang geworden.«
»Worum geht es?«, platzte es aus Jess hervor.
Palmer zog eine Schublade in seinem Schreibtisch auf und nahm eine abgegriffene Illustrierte hervor. »Ta-ra!«, rief er und deutete auf das unscheinbare Objekt. »Wie ich bereits sagte, es hat mich eine Dreiviertelstunde gekostet, bis ich es gefunden hatte. Sie haben Glück. Die Sprechstundenhilfe stand im Begriff, sämtliche Illustrierten wegzuwerfen.«
»Die Sprechstundenhilfe? Alle Illustrierten? Sie sprechen in Rätseln, Tom! Okay, ich bin überrascht, falls es das ist, was Sie wollten, ich bin ehrlich überrascht - ich hätte nicht gedacht, dass Sie diesen Mist lesen. Was genau ist jetzt an dieser da, dass ich noch mehr überrascht sein sollte?«
»Die Sprechstundenhilfe in der Zahnarztpraxis. Sie wollte alle Illustrierten wegwerfen. Also schön, Sie erinnern sich, dass ich Ihnen erzählt habe, der Tote käme mir irgendwie bekannt vor? Dass ich ihn schon einmal gesehen hätte, lebendig, meine ich, nicht auf dem Tisch?«
Jess' schlechte Laune verwandelte sich in Ungeduld. »Ja, ja, ich erinnere mich. Ist es Ihnen wieder eingefallen?«
»Jetzt hab ich Sie am Haken, wie?« Palmer grinste sie fröhlich an. »Es hat mich gewurmt, verstehen Sie, dass ich den Kerl nicht einsortieren konnte. Sie haben nach Zeitungen gefragt, und ich wusste, dass ich sein Bild nicht in irgendeiner Zeitung gesehen hatte. Dann fiel es mir wieder ein, gestern Abend. Vor zwei Wochen war ich beim Zahnarzt, wegen der jährlichen Vorsorgeuntersuchung. Ich musste eine Weile im Wartezimmer sitzen, und wie Sie wissen, gibt es dort immer Stapel von alten Zeitschriften. Ich fing also an, sie durchzublättern. Und dabei sah ich Taylor - in einer Illustrierten, einem von diesen Hochglanz-Klatschmagazinen, in denen wir gewöhnlichen Leute gezeigt bekommen, welch ein glamouröses Leben manche Menschen führen, abseits von unserem eintönigen Alltag. Also bin ich heute Morgen gleich als Erstes zur Zahnarztpraxis gefahren und direkt rein, als sie aufgemacht haben. Die Sprechstundenhilfe dachte, ich hätte Zahnschmerzen und es wäre ein Notfall. Ich erklärte ihr, dass ich die Illustrierten durchsehen und möglicherweise eine davon mitnehmen müsste. ›Nehmen Sie alle!‹, sagte sie zu mir. ›Diese Zeitschriften sind so alt, dass niemand mehr darin lesen will. Ich wollte sie heute ohnehin zum Altpapier geben.‹ Wie dem auch sei, ich setzte mich ins Wartezimmer und blätterte sämtliche Illustrierten durch. Es war grässlich und todlangweilig, das kann ich Ihnen sagen, aber ich fand den Artikel. Hier ist er.«
Palmer schlug die Zeitschrift auf und drehte sie auf dem Schreibtisch um, sodass Jess den fraglichen Artikel sehen konnte. »Dort. Das ist er. Das ist Taylor. Gesund und munter wie ein Fisch im Wasser, aber ich bin absolut sicher, Jess, das ist der Kerl, den ich für Sie obduziert habe.«
Er tippte auf die eselsohrige Seite mit dem Farbphoto. Jess beugte sich vor, um das Bild zu betrachten. Es war in einem bekannten Nachtclub aufgenommen worden und zeigte eine Gruppe von feiernden Menschen. Sie zelebrierten den Erfolg eines Rennpferds, das einem der Ihrigen gehörte, stand unter dem Bild zu lesen. Überall waren Champagnerflaschen zu sehen. Der Besitzer des Pferdes - und seine weibliche Begleiterin - war Lesern dieser Sorte von Klatschmagazinen bekannt genug, um von Interesse zu sein. Die Bildunterschrift verkündete weiterhin, dass das prominente Paar eine Nacht mit Freunden zusammen gefeiert hatte. Einer dieser Freunde war eindeutig und unverkennbar Jay Taylor gewesen.
Armer Jay, dachte Jess betrübt. Es ist genauso, wie Tom sagte. Er ist voller Leben und umgeben von der Sorte von Leuten, über die er schreibt und zu denen er selbst so gerne gehören würde. Er war unübersehbar angeheitert und grinste direkt in die Kamera des Paparazzo, der dieses Bild geschossen hatte. Er hatte besitzergreifend den Arm um eine junge Frau gelegt, die sich an ihn schmiegte. Auch sie sah nicht mehr ganz nüchtern aus. Ihr Gesicht leuchtete, und ein Träger ihres Partykleids war über die Schulter gerutscht und hing über ihrem Oberarm.
»Und?«, fragte Palmer hoffnungsvoll. »Können Sie was damit anfangen? Wahrscheinlich verrät es Ihnen nichts, das Sie nicht schon längst wissen, aber ich dachte, Sie würden es gerne sehen.«
»Sie haben richtig gedacht, Tom, ich bin interessiert, sehr interessiert sogar«, antwortete Jess. »Ich danke Ihnen, Tom, ich danke Ihnen tausendmal. Ja, das ist Jay Taylor ... und dieses Mädchen hier in seinem Arm kenne ich ebenfalls.«
Jess tippte auf das Bild des Mädchens mit dem heruntergerutschten Träger. »Das ist Tansy Peterson. Wenn das kein Zufall ist ... ich war ohnehin auf dem Weg zu ihrer Mutter. Jetzt muss ich auch sie noch einmal vernehmen, und zwar ganz dringend.«
Doch weder Bridget Harwell noch Tansy Peterson waren zu Hause, als Jess schließlich The Old Lodge erreicht hatte. Monty wanderte durch den Garten, ein Whiskyglas in der Hand. Er sah einigermaßen glücklich und zufrieden aus.
»Beide ausgeflogen!«, verkündete er, als er Jess sah. »Einfach wunderbar! Sie haben mich ganz allein zurückgelassen, und Bridget hat vergessen, den Barschrank abzuschließen.«
»Haben sie gesagt, wohin sie wollten?«, fragte Jess.
»Nein, und ich habe sie auch nicht gefragt! Sie sind nicht zusammen weg, sondern nacheinander.«
Jess runzelte die Stirn. Das klang danach, als wären Mutter und Tochter in verschiedene Richtungen aufgebrochen.
Monty bemerkte ihr Stirnrunzeln und interpretierte es als Unglauben. »Ich weiß, es klingt ziemlich verrückt. Aber zuerst ist Tansy in ihrer alten rostigen Karre davongerast, und dann ist Bridget in diesem kleinen blauen Sportdingsbums hinterher.«
Also waren die beiden Frauen vielleicht doch in die gleiche Richtung gefahren. Irgendetwas war vorgefallen.
»Mr. Bickerstaffe«, begann Jess. »Bitte versuchen Sie sich zu erinnern. An alles, jede Einzelheit. Ich muss die beiden finden. Was war gestern Abend? Hat eine der beiden gestern Abend erwähnt, dass sie heute Morgen wegwill?«
»Oh, gestern Abend.« Monty schniefte missbilligend. »Gestern Abend hatten die beiden einen völlig verrückten Streit. Sie streiten eigentlich unablässig, deswegen bedeutet es wahrscheinlich nichts.«
»Worüber haben sie sich gestritten?«
»Keine Ahnung«, murmelte Monty. »Ich hab versucht wegzuhören. Ich war in meinem Zimmer. Ich konnte sie trotzdem hören, wenn sie nicht gerade versucht haben, leise zu sein.«
»Monty!«, drängte Jess. »Bitte versuchen Sie sich zu erinnern! Es ist wichtig. Wichtig für Tansy, glaube ich. Ich weiß, dass Bridget Ihnen egal ist, aber Tansy nicht, oder?« Jess wagte einen Schuss ins Blaue. »Sie ist Ihre Erbin, nicht wahr?«
Monty blinzelte sie überrascht an. »Mensch«, sagte er. »Sie sind scharfsinnig, alles, was recht ist. Ja. Sie ist meine Erbin. Ich habe kein Geld, das weiß sie. Ich habe ihr in meinem Testament Balaclava House vermacht, und das ist wahrscheinlich mehr Bürde als Segen für sie.«
»Weiß sie das? Haben Sie ihr gesagt, dass Sie ihr Balaclava vermachen?«
Monty zuckte die Schultern. »Ich habe die ein oder andere Andeutung gemacht, glaube ich. Sie schien sich zu freuen, das arme Ding.« Er betrachtete Jess nachdenklich. »Ist Tansy in Schwierigkeiten?«
»Ich muss mit ihr reden, Monty. Dringend. Das ist alles.«
»Hm ...« Er starrte in sein leeres Whiskyglas. Vielleicht war es das Bedürfnis, es wieder aufzufüllen, bevor Bridget zurückkam, das ihn zu einer Entscheidung veranlasste. »Sie sind vielleicht nach Balaclava gefahren. Ich glaube, darum ging es auch bei ihrem Streit. Die Polizei weiß, wer dieses Zimmer im ersten Stock benutzt hat, ist das richtig? Nun ja, Tansy ist stinkwütend, dass die Polizei nichts deswegen unternimmt. Nein, erzählen Sie mir nichts. Es interessiert mich nicht.«
Billy Hemmings führte seine Geschäfte in einem kleinen Büro im ersten Stock eines Gebäudes in den Gloucester Docks. Ein unauffälliges Messingschild gab keinerlei Hinweis darauf, was für eine Art von Geschäften das sein mochte. Vermutlich wussten die Leute, mit denen Hemmings zu tun hatte, alles darüber. Eine Sekretärin, eine kleine dunkelhäutige Person, die vor Energie sprühte, herrschte über ein überquellendes Vorzimmer am oberen Ende einer steilen Treppe. Sie war, wie es schien, das einzige Personal.
»Superintendent Carter!«, begrüßte sie Ian lebhaft. »Mr. Hemmings erwartet Sie bereits. Gehen Sie gleich durch.«
Carter grinste süßsauer. Die Telefonverbindung zwischen Weston St. Ambrose und dem Büro von Hemmings war offensichtlich heißgelaufen. Unglücklicherweise - und leider unvermeidbar - hatte Terri Hemmings mehr als genügend Zeit gehabt, ihren Mann zu warnen, und Billy hatte mehr als genügend Zeit gehabt, sich auf Carters Besuch vorzubereiten. Andererseits hatte Billy vielleicht von Anfang an auf den Besuch der Polizei gewartet ... falls er tatsächlich ein Interesse an Balaclava House hatte, hieß das. Er war sicher schlau genug, um zu erkennen, dass die Polizei früher oder später eine Verbindung finden würde. Es würde interessant werden, seine Ausrede zu hören, warum er nicht offen über das Thema gesprochen hatte.
Die lebhafte Sekretärin zeigte immer noch auf die schmale Tür mit der Milchglasscheibe darin.
»Danke sehr«, sagte Carter und ging durch, wie von ihm verlangt.
Hinter der Tür wartete Hemmings mit einem erstarrten Lächeln auf den fleischigen Lippen. Es reichte nicht bis zu den Augen hinauf.
»Hallo!«, begrüßte er seinen Besucher mit falscher Jovialität. »So sieht man sich wieder!« Er erhob sich von seinem Platz, während er redete, und streckte Carter die Hand entgegen.
»Danke sehr, dass Sie sich so kurzfristig Zeit genommen haben für mich«, antwortete Carter, der sich nicht so leicht ausstechen lassen wollte, was Höflichkeiten anging. Er ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie so kurz, wie es nur ging.
»Nun ja, seit Terri hier anrief, um mich zu informieren, dass Sie auf dem Weg sind, habe ich auf Ihr Eintreffen gewartet. Warten Sie, ich bitte Amanda, uns Kaffee zu bringen!« Er beugte sich vor. »Kaffee, Amanda«, sagte er in die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch. Er lehnte sich wieder zurück. »Was kann ich diesmal für Sie tun, Superintendent? Haben Sie inzwischen herausgefunden, wer den armen Jay umgebracht hat?«
»Nein, noch nicht. Noch nicht ganz«, gestand Carter, während er sich in einen glänzenden neuen Lehnsessel in modernem Design setzte, ganz aus Stahlrohr und schwarzem Plastik. Er sah aus wie ein Schleudersitz und fühlte sich auch ungefähr so gemütlich an. Carter musste unwillkürlich an Szenen aus James-Bond-Filmen denken und fragte sich, ob Hemmings möglicherweise einen Knopf unter dem Schreibtisch hatte, mit dessen Hilfe er sich unerwünschter Besucher entledigte. Sie befanden sich schließlich in den ehemaligen Docks, und vielleicht öffnete sich eine Falltür unter ihm, und Carter stürzte direkt ins Wasser.
Sein unterdrücktes Grinsen war dem anderen Mann nicht entgangen, doch er interpretierte es falsch.
»Das ist ein Designerstück«, sagte Hemmings stolz, indem er auf den Stuhl deutete. »Ich habe einen Haufen gutes Geld dafür hingelegt. Allein der Sessel hat mich mehr gekostet, als der gesamte Rest des Büromobiliars zusammengenommen.«
Carter murmelte hastig eine Erwiderung, die andeuten sollte, dass er gebührend beeindruckt war. Dann kam er ohne weitere Umschweife zur Sache.
»Ich würde gerne mit Ihnen über Balaclava House reden«, sagte er.
In diesem Augenblick erschien Amanda mit dem Kaffee. Vom Standpunkt ihres Bosses aus betrachtet, hätte das Timing nicht besser sein können. Carter fragte sich, ob sie das Gespräch draußen in ihrem kleinen Büro über die Gegensprechanlage verfolgt hatte.
»Ah, der Kaffee!«, strahlte Hemmings, als hätte er nicht wenige Sekunden vorher danach gefragt. Er öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und nahm eine Brandyflasche hervor.
»Möchten Sie vielleicht auch einen Schuss, Superintendent?«, fragte er.
»Ich bin im Dienst«, antwortete Carter mit einem Lächeln.
»Ja, natürlich.« Hemmings stellte die Flasche zurück in die Schublade und setzte sich wieder zurück. »Balaclava House, sagen Sie? Wo Jay gefunden wurde? Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie mir das gesagt haben.«
»Das ist richtig - ich habe Ihnen das gesagt. Kannten Sie das Haus schon vorher?«
Für den Bruchteil einer Sekunde war Hemmings versucht zu lügen. Sein Gesicht verriet nichts, doch seine Körpersprache tat es. Er schien den Atem anzuhalten und sich zu versteifen. Dann entspannte er sich wieder.
»Ja. Ja, ich erinnerte mich - nach dem Gespräch mit Ihnen -, dass ich schon früher von diesem Haus gehört hatte. Nun ja, es steht bei uns in der Gegend, in Weston St. Ambrose, nicht wahr? Oder zumindest beinahe.«
Ihm war klar geworden, dass der Superintendent bereits etwas wusste oder sich denken konnte, wenn er hergekommen war, um über Balaclava House zu reden. Als Nächstes würde Hemmings versuchen herauszufinden, wie viel genau Carter wusste. Aber Carter war auch nicht schlecht in diesem Spiel.
»Es ist ein großes Haus, mit einem riesigen Grundstück dazu«, sagte Carter im Konversationston und griff nach seiner Kaffeetasse.
»In der Tat?«, entgegnete Hemmings misstrauisch.
»Das Haus selbst ist leider in einem traurigen Zustand.«
Der Bauunternehmer nickte. »Das hat man mir gesagt.«
»Oh?«, fragte Carter, indem er seine Tasse abstellte. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Verdammt!«, sagte Hemmings. »Der Kaffee ist zu heiß!« Er stellte hastig seine eigene Tasse zurück.
Nicht schnell genug, alter Schlawiner! Carter grinste innerlich. Du bedauerst nicht, dass du dir die Zunge verbrannt hast, sondern dass du mir so leicht in die Falle gegangen bist.
»Ja, ich habe mich ein wenig umgehört, nachdem Sie uns erzählt hatten, dass Jay dort gefunden worden war ...« Hemmings' Ausrede klang dünn, und er wusste es. »Es ... es weckte meine Neugier.«
»Sie waren nicht in jüngster Zeit dort, nachdem Mr. Taylor dort gefunden wurde und Mr. Bickerstaffe, der Besitzer, vorübergehend zu seiner Nichte gezogen ist?«
Stille. Hemmings starrte ihn trübselig an. »Also schön, Superintendent«, sagte er schließlich. »Karten auf den Tisch.«
»Sehr gerne«, antwortete Carter.
»Sie sind ein Mann, der gerne auf den Punkt kommt, und das Gleiche gilt für mich.« Hemmings räusperte sich. »Jay hat mir von diesem Haus erzählt. Er kannte es von irgendwoher. Er dachte, das Land dort wäre reif für ein Bauprojekt. Ich bin Bauunternehmer, und er kam mit einem Vorschlag zu mir. Wir kannten uns von der Rennbahn. Viele Geschäfte nehmen in einem gesellschaftlichen Netz ihren Anfang. Man trifft jemanden und unterhält sich ... und so war es auch in diesem Fall. Jay schlug vor, dass er und ich das Land gemeinsam erschließen könnten. Eine Partnerschaft eingehen. Meine erste Frage war, wie wahrscheinlich es wäre, dass das Land und das Haus auf dem Markt erscheinen würden und wann? Man muss pragmatisch an diese Dinge herangehen. Ich habe schon alle möglichen wilden Ideen von Leuten gehört, wie man eine Wagenladung Geld machen könnte - wenn man nur eine Lösung fände für dieses oder jenes große Problem. ›Also schön, Jay, immer der Reihe nach‹, sagte ich zu ihm. ›Wem gehört das Land und das Haus? Beabsichtigt der Besitzer, es zu verkaufen? Wer weiß sonst noch davon?‹
Jay sagte, der gegenwärtige Besitzer hätte nicht vor zu verkaufen. Ganz im Gegenteil, er dächte überhaupt nicht daran. Doch er wäre schon älter und gebrechlich und ein ziemlicher Trinker obendrein, wie es scheint. Die Umstände könnten sich ganz schnell ändern. Die nächsten Besitzer würden vielleicht anders denken. Wenn wir jetzt aktiv würden, wären wir die Ersten. Noch war niemand außer uns auf die Idee gekommen. Ich sagte zu Jay, dass ich definitiv interessiert wäre.«
»Sie hatten keine Angst, dass Sie keine Baugenehmigung erhalten?«, fragte Carter.
Hemmings hatte bereits die Antwort darauf parat. »Das Haus ist alt, aber es steht nicht unter Denkmalschutz. Ich habe es selbst kontrolliert. Ein behutsamer Bebauungsplan würde im Stadtbauamt gut ankommen. Schließlich steht es leer, sobald der gegenwärtige Besitzer verstorben ist, und das hilft niemandem weiter. Es dauert nicht lange, bis es einsturzgefährdet ist, und wenn Sie mich fragen, dann sieht es schon jetzt nicht mehr besonders sicher aus. Ich ... ich habe mich bei der Verwaltung erkundigt, ganz allgemein.«
»Man könnte vielleicht ein Hotel daraus machen oder ein Pflegeheim ...«, schlug Carter vor.
Hemmings schüttelte nur den Kopf. »Nein, nicht geeignet und bereits zu stark verfallen. Glauben Sie mir, Balaclava House ist nicht mehr zu retten. Man muss es abreißen.«
»Sie haben es also selbst gesehen. Haben Sie das Grundstück besichtigt?«
Hemmings war in seinem Element, und er hatte alle Scheu abgelegt. »Selbstverständlich. Es war das Erste, was ich getan habe, nachdem Jay mit seinem Vorschlag zu mir gekommen war. Ich bin rübergefahren und habe es mir selbst angesehen. Anschließend habe ich mich mit dem Planungsamt in Verbindung gesetzt, wie ich bereits sagte. Balaclava House ist ein sehr vielversprechendes Projekt, glauben Sie mir.« Er nickte zuversichtlich. »Reif für die Erschließung.«
»Waren Sie in jüngster Zeit noch mal dort?«, fragte Carter erneut. »Ich glaube, Sie haben die Frage noch nicht ganz beantwortet.«
Hemmings verzog das Gesicht, dann zuckte er resignierend die Schultern.
»Wenn Sie es genau wissen müssen - ja. Vor zwei Tagen. Ich wollte sehen, ob es irgendwelche Aktivitäten gab. Alles war ruhig. Ich war zufrieden. Die einheimische Presse hat ziemlich viel berichtet über Balaclava House, seit ... seit Jays Leiche dort gefunden wurde. Der ein oder andere Konkurrent könnte auf Ideen kommen. Ich muss auf der Hut sein.«
Er sah Carter aus kleinen dunklen Augen an. »Ich wurde gesehen, oder? Sie scheinen alles zu wissen.«
»Etwas in der Art«, murmelte Carter. »So, Sie und Taylor standen also im Begriff, eine geschäftliche Partnerschaft einzugehen, um das Land zu bebauen. Irgendwann in der Zukunft - und Sie waren darauf vorbereitet zu warten, bis Mr. Bickerstaffe gestorben wäre, um in seinen Besitz zu gelangen? Das könnte noch Jahre dauern. Bickerstaffe ist erst sechsundsiebzig und alles andere als gebrechlich, wie Taylor Ihnen vermutlich weiszumachen vorhatte. Meiner Einschätzung nach ist er im Gegenteil bemerkenswert robust.«
»Ja, das ist richtig. Aber manche Dinge können sich schnell ändern, nicht wahr? Es ist nicht so, als hätte der alte Bickerstaffe einen Wagen und könnte allein durch die Gegend fahren. Er lebt völlig isoliert da draußen in seinem Haus, wie auf einer einsamen Insel. Viel länger kann er nicht mehr dort bleiben, ganz gleich, für wie robust Sie ihn halten«, sagte Hemmings zuversichtlich. »Er muss verkaufen, und zwar relativ bald - oder der nächste Besitzer wird es tun.«
Er zögerte kurz. »Jay meinte, wir müssten nicht warten, bis der alte Mann gestorben ist. Er war überzeugt, dass Bickerstaffe das Anwesen an ein Familienmitglied weitergeben wird, sobald er merkt, dass es nicht mehr geht. Balaclava House ist seit mehr als hundertfünfzig Jahren in Familienbesitz, und er wird wollen, dass es so bleibt. Jay schien seiner Sache absolut sicher.«
»Ein Familienmitglied? Eine Frau vielleicht?« Carter wartete.
Hemmings dachte über die Frage nach. »Kann ich nicht sagen«, antwortete er schließlich. »Weil ich es nicht weiß. Das ist die Wahrheit. Aber es ist ein guter Gedanke, das räume ich ein. Ich hatte den Eindruck, dass Jay ein Ass im Ärmel hatte. Keine Ahnung, was es gewesen sein könnte - und ich kann mich auch täuschen. Ob er einen Grund hatte, so sicher zu sein, ist eine andere Frage, bei der ich Ihnen auch nicht weiterhelfen kann. Ich weiß lediglich - aus meiner eigenen Beobachtung -, dass der alte Mann nicht mehr viel länger dort wohnen kann. Dieses Haus, lassen Sie sich das von mir gesagt sein, kommt auf den Markt, und zwar bald. Alle Anzeichen deuten darauf hin, und ich weiß, wovon ich rede.«
Carter legte die Fingerspitzen zusammen, eine Geste, die geeignet schien, Hemmings' Zuversicht zu dämpfen. »Schön, lassen Sie mich sehen, ob ich das richtig verstanden habe. Sie und Taylor wollten eine Partnerschaft eingehen. Sie wollten die Bebauung von Ihrer Seite aus übernehmen. Aber was wäre Taylors Einsatz gewesen? Außer, dass er Ihnen von dem Haus erzählt hatte? Er verfügte nicht über Zugriff auf große Geldbeträge. Was hätte ihn qualifiziert, ihr Partner zu werden?«
Hemmings atmete tief durch, während er unverwandt auf Carters Hände starrte. »Das ist der Grund, sehen Sie, aus dem ich überzeugt bin, dass Jay noch ein Ass im Ärmel hatte.« Er blickte auf, blinzelte, sah Carter in die Augen. »Jay hatte etwas herausgefunden. Etwas, das geeignet war, ihm dieses Land in die Hände zu spielen. Er ließ immer wieder Andeutungen fallen, dass wir nicht einen Penny würden zahlen müssen, wenn alles nach Plan lief. Ich meinte zu ihm, er würde wohl Witze machen, doch er grinste nur und sagte, ich solle ihm vertrauen. Fragen Sie mich nicht weiter, Superintendent. Mehr weiß ich nicht. Jay hat die Karten bis zum Schluss verdeckt gespielt. Er wollte sicher sein, dass ich ihn nicht übervorteile. Ich kann es ihm nicht verdenken - ich an seiner Stelle hätte es genauso gemacht. Man gibt Informationen nicht preis, bevor man nicht muss, oder?«
Carter vermutete, dass dies auch als Bitte an ihn gemeint war, Hemmings nachzusehen, dass er den ermittelnden Beamten diese Informationen bis jetzt vorenthalten hatte. Falls dem so war, fiel sie auf steinigen Boden.
»Informationen zurückzuhalten ist nicht immer eine gute Idee«, sagte er. »Hätte Jay offener über das gesprochen, was er herausgefunden hatte, wäre er möglicherweise noch unter uns, um darüber zu reden.«
Hemmings blickte nervös drein. »Vielleicht hätte ich ihn fragen sollen. Ihn dazu bringen, mir alles zu erzählen. Das hatte ich im Grunde genommen auch vor, in nächster Zeit. Wir waren an dem Punkt angelangt, wo ich bereit war zu unterschreiben, aber dazu hätte ich darauf bestanden, vorher zu erfahren, wie das Ass in seinem Ärmel aussah. Ob es eine Frau war, wie Sie anzudeuten scheinen, oder was auch immer. Ich konnte ja nicht wissen, dass er umgebracht werden würde, oder? Als Sie mir sagten, dass er tot in diesem verdammten Haus gefunden wurde, war das ein höllischer Schock für mich, das können Sie mir glauben!«
Hemmings fuhr sich nervös mit den Fingern über den Mund. »Was auch immer er herausgefunden haben mag - Sie gehen davon aus, dass es ihn umgebracht hat, ist das richtig?«
»Ich glaube jedenfalls nicht, dass der Mord ohne Motiv geschah«, erwiderte Carter. »Abgesehen davon halte ich es unter den gegebenen Umständen bis auf weiteres für keine gute Idee, Mr. Hemmings, in Balaclava House oder auf dem Grundstück herumzuwandern. Wer immer Jay Taylor umgebracht hat, könnte auch Sie als eine Bedrohung sehen.«
Billy Hemmings hatte bis zu diesem Moment unbehaglich dreingesehen. Jetzt gesellte sich zum Unbehagen Angst.