KAPITEL 3

»Das ist wirklich eigenartig«, sagte Sergeant Phil Morton leise zu Jess Campbell. Sie waren in den Flur gegangen, und Monty konnte sie unmöglich hören, doch irgendetwas an dem leeren, hohen Flur veranlasste einen unwillkürlich zum Flüstern. »Ich habe die Taschen des Toten durchsucht, und ich kann nichts finden, was ihn identifizieren würde. Keine Geldbörse, keine Brieftasche, kein Führerschein, nichts. Nur ein wenig Wechselgeld. Ich würde sagen, jemand ist uns zuvorgekommen und hat alles entfernt.«

»Das gefällt mir nicht«, erwiderte Jess Campbell. »Ich wette meine Stiefel, dass wir es nicht mit einer natürlichen Todesursache zu tun haben. Warum sollte jemand versuchen, die Identität des Toten zu verbergen? Ich werde Mr. Bickerstaffe nach draußen bringen. Er kann in einem Einsatzfahrzeug warten, bis seine Nichte Mrs. Harwell da ist und ihn mitnimmt.«

»Keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung an der Leiche - zumindest keine offensichtlichen«, sagte Morton skeptisch. »Keine Anzeichen für einen Kampf. Andererseits ist das ganze Haus so eine Müllhalde, dass es schwerfällt festzustellen, ob etwas nicht an seinem Platz steht oder ob die Unordnung größer ist als gewöhnlich.«

»Also müssen wir uns draußen umsehen und nach Spuren oder Zeichen von Aktivitäten suchen. Vielleicht finden wir irgendwo eine Lache mit Erbrochenem. Ihm muss unwohl gewesen sein. Er ist gewiss nicht hier hereingeschneit wie Mary Poppins, Phil. Er ist mit einem Wagen hergekommen, aber wo ist der Wagen? Er ist mit Sicherheit nicht zu Fuß gegangen - nicht in diesen Schuhen. Und ein Landstreicher auf der Suche nach etwas Essbarem oder einem Almosen ist er auch nicht. Er ist ein gutgekleideter, wohlgenährter Mann Anfang vierzig, höchstens, was meinen Sie?«

Morton nickte. Dann sah er zu der geschlossenen Küchentür mit dem unsichtbaren Monty Bickerstaffe dahinter. »Vielleicht hat der alte Bursche die Taschen des Toten durchwühlt auf der Suche nach Geld, um seinen Whisky zu bezahlen?«

»Er würde nicht die Wagenschlüssel oder die ganze Brieftasche an sich nehmen, sondern nur das Bargeld. Aber ich denke nicht, dass er es war. Ich stimme Ihnen zu - jemand hat versucht, die Identifikation zu verzögern, und aus diesem Grund die Taschen des Toten geleert. Ich halte es für mehr als wahrscheinlich, dass diese Person - oder vielleicht waren es auch mehrere Personen - den Toten mit dem Wagen hierher gebracht und zurückgelassen haben.«

»Aber warum hierher?«, fragte Morton prompt. »Glauben Sie, wer auch immer es war, wusste von diesem Haus?« Er sah sich um. »Er hat jedenfalls die richtige Umgebung ausgewählt, so viel steht fest. Es ist eine einzige Müllkippe und so aufmunternd wie eine Leichenhalle.«

Jess Campbell rammte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. Morton hatte recht - es war ungemütlich wie in einem Mausoleum: kühl, feucht, staubig und nach Moder riechend. Das Haus stammte wahrscheinlich aus viktorianischer Zeit. Die Treppe in den ersten Stock hinauf war breit genug, um problemlos mit Reifröcken benutzt zu werden. Oben wurde das düstere Zwielicht überraschend durchbrochen von Licht, das durch ein Bleiglasfenster fiel. Flecken von Rot und Gelb fielen auf die Wandvertäfelungen und die dunkel angelaufenen Ölgemälde. Es verstärkte die Atmosphäre noch; Jess fühlte sich wie in einer Gedächtniskapelle. Lediglich der Geruch nach abgestandenem Blumenwasser und brennendem Kerzenwachs fehlte noch.

Sie riss sich zusammen und sagte forsch: »Ich bringe Mr. Bickerstaffe nach draußen. Anschließend sollten wir uns wohl besser im ersten Stock umsehen ...« Sie zeigte nach oben. »Um sicherzugehen, dass dort oben nicht noch mehr Leichen herumliegen.«

Als sie in die Küche zurückkam, fand sie einen in tiefe Depressionen versunkenen Monty Bickerstaffe vor. Sie wusste nicht recht, was sie mit ihm machen sollte. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht zu seiner Nichte Bridget wollte, auch wenn die Frau am Telefon sehr vernünftig geklungen hatte. Andererseits konnte er nicht im Haus bleiben, solange sie nicht mit Sicherheit wussten, dass es kein Tatort war, und er brauchte Gesellschaft. Ob es ihm bewusst war oder nicht: Er hatte einen schlimmen Schock erlitten.

»Kommen Sie, Sir«, sagte sie so aufmunternd, wie sie nur konnte. Er erhob sich gehorsam und folgte ihr nach draußen.

Jess atmete dankbar die frische Luft ein. Monty schob die Hände in die Taschen und ließ verdrießlich die Schultern hängen. Draußen vor dem Tor stand einer der beiden Constables, die zuerst gekommen waren, neben einem Streifenwagen und unterhielt sich mit einem Neuankömmling, einem jungen Mann in Jeans und einer abgewetzten Lederjacke.

»Hallo Monty!«, rief der junge Mann Monty Bickerstaffe zu. »Was ist denn los bei dir? Der Constable will nicht mit mir reden!«

Monty öffnete den Mund zu einer Antwort, doch Jess Campbell kam ihm zuvor. »Ich beantworte diese Fragen, Monty, haben Sie verstanden? Sie sagen kein Wort!« Sie schob ihn auf den Rücksitz des Wagens und schloss hinter ihm die Tür. Monty ließ sich in den Sitz sinken und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein aufsässiges Kleinkind.

Jess Campbell wandte sich zu dem Officer und dem jungen Neuankömmling um. Sie musterte den Burschen von Kopf bis Fuß und schätzte ihn auf ungefähr zwanzig. Seine sonnenverbrannte Haut ließ darauf schließen, dass er die meiste Zeit im Freien verbrachte. Seine Haare waren lang und lockig über dem fettigen Kragen der Lederjacke. Beides, Haare und Jacke, hatten dringend eine Wäsche nötig. In gewisser Hinsicht sah er recht gut aus, doch das würde nicht so bleiben. Er begegnete ihrem Blick herausfordernd. Ein echter Schaumschläger, dachte sie.

»Und Sie sind?«, fragte sie schroff.

»Gary Colley.« Trotz des Glitzerns in seinen dunklen Augen klang seine Stimme misstrauisch, und sein Verhalten verriet Vorsicht.

»Dieser Gentleman hier ...«, sagte der Constable mit einiger Ironie und einem Nicken in Richtung von Gary Colley, »... dieser Gentleman wohnt ein paar Hundert Meter weiter diese Straße hinunter. Es gibt dort wohl einen bäuerlichen Kleinbetrieb, der seinem Vater gehört. Der Gentleman wohnt dort zusammen mit seiner Familie.«

Gary funkelte den Constable böse an, doch dann wandte er sich an Jess, während er die Hand aus der Tasche nahm und auf den Constable deutete. »Er will mir nicht verraten, was hier vorgeht!«

»Das ist richtig«, antwortete Jess. »Und ich werde es ebenfalls nicht. Sie werden sich schon noch ein Weilchen gedulden müssen, Sir. Und bis es so weit ist, würde ich Ihnen gerne eine Reihe von Fragen stellen.«

Doch Gary war noch längst nicht fertig mit seinen eigenen Fragen. »Sie sind doch wohl nicht hergekommen, um den alten Monty zu verhaften?«, wollte er wissen.

»Nein, selbstverständlich nicht. Waren Sie heute schon einmal hier?«

»Nein«, erwiderte er prompt.

»Und wo waren Sie den ganzen Tag über?«

»Zu Hause. Ich habe mich um das Vieh gekümmert und verschiedene Arbeiten auf dem Hof erledigt. Es ist ein kleiner Hof, wie der Constable bereits sagte. Hauptsächlich Schweine.« Er grinste.

Offensichtlich gehörte er zu der Sorte, die Polizeibeamte normalerweise als »Schweine« bezeichnete, und offensichtlich hielt er sich für witzig. Jess fragte sich, ob er vielleicht aktenkundig war.

»Was hat Sie jetzt hergeführt?«, wollte sie von ihm wissen.

»Ich war auf dem Weg in die Stadt. Ich dachte, ich genehmige mir ein frühes Pint oder zwei.«

Jess sah auf ihre Armbanduhr. »Ein sehr frühes Pint«, bemerkte sie. »Es ist erst zehn vor fünf.«

»Ich brauche eine halbe Stunde bis zum Pub«, antwortete Gary einfach. Er starrte sie an. Sein Gesicht war ernst, doch seine dunklen Augen lachten belustigt.

»Wer wohnt noch auf dem Hof außer Ihnen und Ihrem Vater?«, fragte sie.

»Meine Mutter«, antwortete er. »Meine Schwester, ihr Kind und meine Großmutter.«

Vier Generationen Colleys unter einem Dach also. Jess kannte die Sorte. Eine Familie wie die Colleys war in der gesamten Umgebung bekannt und wurde von allen mit Misstrauen bedacht. Sie selbst kannten ihrerseits jeden und waren über alles informiert, was vorging. Keine Halsabschneider, aber auch nicht ganz ehrlich. Wilddiebe vielleicht, oder verwickelt in illegale Hundekämpfe, dergleichen Dinge. Vielleicht lagerten sie sogar Diebesgut in ihrer Scheune und besserten ihr Einkommen auf, indem sie größeren, professionelleren Halsabschneidern kleine Gefälligkeiten erwiesen. Gut möglich, dass ein Blick hinter die Kulissen angesagt war - wenn ihnen ein plausibler Grund einfiel für einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, hieß das.

»Wie alt ist das Kind Ihrer Schwester?«, wollte sie wissen. Der Verdacht der Verwahrlosung Minderjähriger bot vielleicht einen Ansatzpunkt, die Colleys genauer in Augenschein zu nehmen.

Gary dachte kurz nach, bevor er antwortete. »Fast vier.«

»Und der Vater?«

Gary grinste. »Sind Sie ein Detective?«

»In der Tat«, antwortete sie.

»Dann finden Sie doch heraus, wer Katies Vater ist. Von uns weiß es nämlich niemand.«

Jess atmete tief ein. »Haben Sie heute fremde Fahrzeuge auf dieser Straße gesehen?«

»Hier fahren nicht viele Fahrzeuge«, antwortete Gary. »Wenn mal eins kommt, dann ist es meistens auf dem Hin- oder Rückweg von Sneddon's Farm. Die liegt ungefähr einen Kilometer weiter.« Er zeigte die Straße hinunter. »Ich habe keine fremden Wagen gesehen, nein. Wenn je ein Fremder hier langfährt, dann hat er sich mit großer Wahrscheinlichkeit verfahren.«

»Sind Sie sicher?«

Er nickte selbstsicher. »Ich hätte es bemerkt. Normalerweise halten sie an und fragen nach dem Weg. Ich schicke sie zur Hauptstraße zurück. Man kommt über das Land, wenn man auf diesem Weg bleibt, aber es sind lauter schmale Straßen und Pisten. Keine Wegweiser, und die Fahrbahn ist übersät von Schlaglöchern. Zwei Fahrzeuge passen nicht aneinander vorbei - einer muss zurücksetzen bis zu einem Tor oder einem Gatter, um den anderen vorbeizulassen, und es gibt nicht viele davon. Ein Fremder würde hier sofort auffallen.«

»Was ist mit Fußgängern?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine. Hier kommen nie Spaziergänger vorbei, nicht auf dieser Straße.« Er drehte sich um und zeigte mit ausgestrecktem Arm am Haus vorbei auf die hügelige Landschaft dahinter. »Es gibt einen Weg über den Scooter's Hill. Dort oben sehen wir bei gutem Wetter häufig Wanderer. Aber ich kann nicht sagen, dass mir heute jemand dort oben aufgefallen wäre, und hier unten sowieso nicht.«

Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und relativierte seine Aussage sogleich wieder: »Andererseits war ich nicht den ganzen Tag draußen vor dem Haus. Die Schweine stehen meistens hinter dem Haus im Gehege. Sie sind zerstörerische Biester. Sie haben den Zaun eingerissen und sind auf das Feld von Pete Sneddon ausgebrochen, das an unser Gehege angrenzt. Pete hätte ziemlichen Ärger gemacht, wenn er es gesehen hätte. Mein Dad und ich haben sie zusammengetrieben, und anschließend musste ich den Zaun reparieren.«

»Danke sehr«, sagte Jess. »Einer unserer Beamten wird zu Ihnen nach Hause kommen und mit Ihrer Familie sprechen. Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, ob Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt haben - oder ob Sie jemanden gesehen haben, den Sie nicht kennen, entweder auf der Straße oder auf dem Feld.«

Gary sah an ihr vorbei auf das Haus von Monty. »Sie bleiben wohl länger hier, wie?«

»Gehen Sie jetzt!«, grollte der Constable.

Gary zuckte die Schultern und schlenderte lässig in Richtung Stadt davon.

Jess ließ sich nicht von ihm täuschen. Gary war clever genug, nicht sofort nach Hause zurückzurennen. Dennoch bezweifelte sie, dass er bis in die Stadt und in ein Pub gehen würde, wie er es gesagt hatte. Stattdessen würde er außer Sicht verschwinden und in weitem Bogen über die Felder nach Hause rennen, um seinen Clan zu warnen. Ein Durchsuchungsbefehl würde rein gar nichts mehr nützen - falls es Hehlerware auf dem Hof gab, würden die Colleys jetzt alles ganz schnell in Sicherheit bringen.

»Benachrichtigen Sie mich, sobald Mrs. Harwell eintrifft«, sagte Jess zu dem Constable. »Und hindern Sie sie daran, das Haus zu betreten.«

Jess drehte sich zum Haus um und sah Morton vor der Tür stehen und mit dem zweiten Constable reden. Beide spähten angestrengt auf den Boden. Als sie näher kam, nahm sie einen durchdringenden Geruch nach Stall wahr, der ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Vermutlich rührte er von der Schweinezucht auf dem benachbarten Hof her.

»Eigentlich sind Schweine saubere Tiere«, erwiderte der Constable auf ihre diesbezügliche Bemerkung. »Aber wenn man eine Menge von ihnen auf engem Raum zusammenpfercht, dann ...«

»Schon gut, Farmer Giles«, unterbrach ihn Morton.

»Sie sehen sich weiter hier unten um«, sagte Jess zu dem Constable. »Und für uns beide wird es Zeit, einen Blick auf die Räume im Obergeschoss zu werfen, Phil. Hoffen wir, dass uns nicht noch weitere unangenehme Überraschungen erwarten.«

Sie betraten das Haus und verharrten kurz in der gewaltigen Eingangshalle, wo Mortons gewohnheitsmäßig düsterer Gesichtsausdruck Staunen und Verwunderung wich, als er nach oben sah.

»Der Gedanke, dass dieser alte Kauz ganz alleine hier wohnt«, sagte er. »Man sollte meinen, dass er Alpträume davon kriegt.«

»Er hat sein ganzes Leben hier verbracht«, entgegnete Jess. »Wahrscheinlich bemerkt er gar nicht, in welchem Zustand alles ist.«

»Die Familie muss früher einmal wohlhabend gewesen sein«, fuhr Morton fort, während sie vorsichtig hintereinander die Treppe hochstiegen, immer dicht an der Wand entlang. »Ich frage mich, was aus ihrem Reichtum geworden ist. Hey, vielleicht ist der alte Knabe ja einer von diesen exzentrischen Millionären, was meinen Sie? Was werden wir dort oben finden? Vermodernde Banknoten unter Bodendielen versteckt?«

Sie hatten den Treppenabsatz erreicht, und über ihnen ragte das Bleiglasfenster bis unter die Decke. Es zeigte ein biblisches Thema mit gewandeten Gestalten. Jess Campbell und Phil Morton blieben stehen und betrachteten das Bild: Eine Menschenmenge lief vor einem Gebäude wütend durcheinander und sah nach oben. Über ihren Köpfen starrten hasserfüllte Gesichter aus einer Fensteröffnung, während eine Frauengestalt mit langen blonden Haaren dem Boden entgegenstürzte. Sie hatte die Arme weit ausgebreitet in einer Mischung aus Flehen, Verzweiflung und dem vergeblichen Bemühen, sich zu retten. Unten am Boden saßen zwei Hunde und blickten erwartungsvoll nach oben.

Gegenüber, auf der anderen Seite des Treppenabsatzes, gab es ein zweites Fenster. Es war früher einmal das passende Gegenstück zum ersten gewesen, mit einer weiteren Bildergeschichte aus der Bibel, doch es hatte anscheinend einen Unfall gegeben, und so war es teilweise mit derben, ungehobelten Brettern vernagelt. Lediglich ein paar wenige bunte Glasscheiben am oberen Ende waren noch zu sehen.

»Was soll das Ihrer Meinung nach darstellen?«, fragte Morton mit einem Kopfnicken in Richtung des intakten Fensters.

»Den Tod von Isebel«, antwortete Jess ohne zu überlegen. »Ich habe schon häufiger Bilder mit diesem Thema gesehen, und unser Religionslehrer damals in der Schule hatte ein Faible für die Geschichte. Isebel war die Frau von König Ahab, und unter ihrem schlechten Einfluss beging er alle möglichen Verbrechen, bis er schließlich in einer Schlacht von einem verirrten Pfeil getötet wurde.«

»Wie dieser andere König, dieser Harold, bei der Schlacht von Hastings«, sagte Morton, der sich nicht ausstechen lassen wollte, was Allgemeinbildung betraf.

»Ganz genau. Als die Menschen die Nachricht von seinem Tod erhielten, nahmen sie Rache an der verschlagenen Isebel und warfen sie aus dem Fenster des Palasts, wie man hier sehen kann.« Sie deutete auf das Fenster. »Die wilden Hunde unten am Boden haben anschließend ihren Leichnam aufgefressen.«

»Wie nett«, bemerkte Morton. »Genau die Art von Thema, die man in seinem Haus haben will. Wer bei gesundem Verstand möchte denn jeden Morgen aufstehen und auf dem Weg zum Frühstück an so einem Bild vorbeilaufen?«

»Die alten Viktorianer liebten Geschichten mit einem starken moralischen Aspekt«, erwiderte Jess. »Es hat die Menschen ermutigt, sich anständig zu verhalten. Das Richtige zu tun. Für sie waren derartige Bilder erbauend.«

Morton wollte ihrer Argumentation nicht ohne weiteres folgen. »Es ist ein Mord, der hier dargestellt wird, und daran kann ich überhaupt nichts Erbauendes finden. Nichts außer Blut und Eingeweiden, wie bei jedem anderen Mord auch. Und wenn ich mir diese blonde Frau so ansehe: gemischt mit einer ordentlichen Portion Sex. Diese Art von Geschichten hat Menschen schon immer fasziniert, und nicht, weil sie sich davon besser fühlen, oh nein. Sondern weil es ihnen einen Nervenkitzel verschafft.«

Der obere Treppenabsatz bildete den Querstrich eines großen H. Zu beiden Seiten verliefen Korridore vom vorderen Teil des Hauses bis nach hinten.

»Ich nehme diese Seite, Sie die andere«, schlug Jess vor.

Morton bedachte das Bild vom Todessturz der Isebel mit einem weiteren missmutigen Blick, bevor er sich umwandte und in den Korridor zur linken Seite trottete, um die Zimmer zu durchkämmen.

Jess tat es ihm auf der rechten Seite gleich. Die Türen öffneten sich zu einer deprimierenden Serie verlassener Zimmer mit Staubschutzlaken über dem nicht mehr benutzten Mobiliar und den Betten. Was nicht abgedeckt war, lag unter einer dicken Staubschicht. Feuchtigkeit war bis in die entferntesten Winkel vorgedrungen. Einstmals kostbare Vorhänge hingen in Fetzen an den Gardinenstangen vor den Fenstern. In den Feuerstellen der Kamine lagen die Überreste von Dohlennestern. In einem Badezimmer waren die Wasserhähne verrostet, und eine riesige viktorianische Eisenbadewanne auf großen Klauenfüßen enthielt einen Teil der herabgefallenen Decke.

Sie drehte um in der Absicht, die Zimmer im hinteren Bereich zu kontrollieren. Sie öffnete die erste Tür und fand einen Wäscheraum vor. Vergilbte Laken stapelten sich in einem großen Schrank. In diesem Moment hörte sie Morton laut rufen.

Er hatte auf seiner Seite ebenfalls mit der Untersuchung der hinteren Zimmer angefangen. Er stand am Ende des Gangs in einer offenen Tür und wartete. Jess eilte zu ihm.

»Was halten Sie davon?«, fragte er und deutete in das Zimmer.

Jess sog überrascht die Luft ein, dann betrat sie das Zimmer und sah sich um.

Der Raum war in krassem Gegensatz zum Rest des Hauses offensichtlich erst vor kurzer Zeit gesäubert worden. Nirgendwo war auch nur ein Staubkorn zu sehen. Sämtliche Holzflächen glänzten. Auf dem Bett gab es kein Staublaken; stattdessen war die Matratze mit einem synthetischen Material in grellem Pink abgedeckt, das schrill mit den antiken Möbeln und der restlichen Ausstattung kontrastierte.

Noch etwas war anders, etwas, das nicht sichtbar war, sondern mehr zu erahnen. Jess spürte es überdeutlich. Menschliche Präsenz. Sie schnüffelte. Die Luft roch frischer als irgendwo sonst im oberen Stockwerk.

»Dieses Zimmer wurde benutzt«, sagte Jess langsam. »Es wurde gelüftet. Diese Decke hat bestimmt kein Bickerstaffe auf die Matratze gezogen. Außerdem sagt Monty Bickerstaffe, dass er das Obergeschoss nicht mehr betritt, wegen seiner Knie. Also, wer war hier oben, und was hat er hier gemacht und wann?«

»Und weiß der alte Bickerstaffe davon?«, fügte Morton hinzu. Er wanderte durch den Raum und spähte in sämtliche Ecken.

»Ich würde sagen, er hat nicht die geringste Ahnung. Wir müssen vorsichtig sein, wie wir unsere Fragen an ihn formulieren. Überlegen Sie nur, Phil. Hier steht ein riesiges, leeres, heruntergekommenes Haus mit einem einzigen Bewohner, der niemals nach oben geht und gewohnheitsmäßig nicht abschließt. Einheimische Junkies, Landstreicher, Schulkinder, Wanderer - jeder, der sich auch nur halbwegs in der Gegend auskennt, könnte darüber Bescheid wissen. Das ideale Versteck für jemanden, der untertauchen will. Monty würde es nie herausfinden. Es erscheint mir mehr und mehr wahrscheinlich, dass jemand den Toten hier im Haus zurückgelassen hat. Wir brauchen die Spurensicherung. Wir müssen nach Fingerabdrücken suchen lassen.«

»Keine Drogenutensilien«, bemerkte Morton, als er seine Tour beendet hatte. »Keine leeren Bierdosen, keine Essensverpackungen, keine anderen Abfälle, nichts von dem, was man erwarten würde.«

»Jemand hat aufgeräumt. Nehmen wir einmal für einen Moment an, dass, wer auch immer den Toten unten auf dem Sofa zurückgelassen hat, Bescheid wusste über dieses Zimmer«, mutmaßte Jess. »Er ist nach oben gekommen und hat saubergemacht. Aber wer auch immer es war, er hatte nicht viel Zeit. Rufen Sie im Hauptquartier an und lassen Sie ein forensisches Team herkommen. Ich will, dass sie alles untersuchen, noch bevor der Tote fortgeschafft wird.«

Morton scharrte unglücklich mit den Füßen. »Sind Sie sicher?«

»Es ist meine Entscheidung!«, sagte Jess scharf. »Ich werde sie zu gegebener Zeit rechtfertigen.«

Morton errötete und blickte störrisch drein, doch er sah ein, dass Widerspruch sinnlos war. »Nun denn«, sagte er. »Mit ein wenig Glück findet die Spurensicherung hier oben den ein oder anderen Fingerabdruck. Und wenn wir richtiges Glück haben, vielleicht sogar eine DNS-Spur auf der Decke. Ganz sicher sogar, wenn sie für das benutzt wurde, was ich denke.«

Sie gingen nach unten und zur Haustür hinaus. Einer der beiden jungen Constables eilte herbei.

»Inspector Campbell, das hier sollten Sie sich vielleicht ansehen, Ma'am!« Seine Stimme klang ganz aufgeregt. Sie folgte ihm zu einem verwilderten Busch.

Auf dem Weg davor war eine lange Furche im Kies zu erkennen.

»Die ist frisch«, bemerkte Morton.

Ein kleines Stück weiter endete eine zweite Furche direkt vor dem Busch.

Der Constable deutete mit ausgestreckter Hand auf die wuchernde Wildnis. »Hier sind abgebrochene Zweige und niedergetrampeltes Gras, Ma'am. Es ist ein richtiger Pfad. Ich wollte nicht darauf herumtrampeln, aber er scheint zu einer Lücke in der Umfassungsmauer zu führen, an der Straßenseite.«

»Gute Arbeit!«, rief Jess. »Wir brauchen die Spurensicherung auch hier.«

»Keine Kosten und Mühen zu hoch ...«, murmelte Morton verdrießlich.

»Ich kenne mich selbst sehr gut mit Budgets aus, danke sehr, Phil. Sie sind wie Fesseln für jeden richtigen Ermittler. Trotzdem denke ich nicht, dass Superintendent Carter sich querstellen wird. Abgesehen von einer nicht identifizierten Leiche, wo keine sein dürfte, wimmelt es auf dem gesamten Grundstück nur so vor den unerklärlichsten Merkwürdigkeiten.«

Morton nickte zögernd. »Sie haben recht.«

Sie kehrten zum Haupttor zurück. »Was denken Sie?«, fragte Morton. »Halten Sie es für möglich, dass jemand unseren Kameraden auf diesem Weg hereingebracht hat? Nicht durch das Tor, sondern durch die Mauerlücke? Er könnte ihn durch das Gestrüpp geschleift haben, über den Kiesweg und zur Vordertür. Die Spuren stammen von den Hacken unseres Toten.«

»Nun ja, meiner Meinung nach war es so gut wie unmöglich, ihn durch das da zu tragen.« Jess deutete auf das Gittertor. »Es wurde seit Jahren nicht mehr bewegt und ist wahrscheinlich in dieser Position festgerostet. Ein oder zwei Personen, behindert durch eine Leiche oder einen sterbenden Mann, hätten das nicht fertiggebracht. Es muss also einen anderen Weg ins Haus geben. Sie sind so gut wie sicher durch das Gestrüpp gekommen. Und ich bezweifle, dass einer allein den Toten so weit hätte tragen können. Ich vermute, wir haben hier den eigentlichen Tatort und wir suchen entweder nach zwei Mördern oder einem Mörder und seinem Komplizen.«

Morton öffnete den Mund zu einer Antwort, doch bevor er dazu kam, näherte sich ein kleiner blauer zweisitziger Roadster holpernd über die unebene Fahrbahn von Toby's Gutter Lane. Der Constable am Tor trat vor und winkte den Wagen an den Fahrbahnrand. Die Fahrerin war bereits von sich aus langsamer geworden. Nun hielt sie endgültig an. »Wer hat hier das Kommando? Ich bin Mrs. Harwell.«

Jess hatte nicht erwartet, dass Mrs. Harwell in einem Sportwagen auftauchen würde. Es wirkte in ihren Augen zu unbekümmert für den Anlass. Der Constable beugte sich über den Wagen, um der Fahrerin zu erklären (jedenfalls nahm Jess dies an), dass sie nicht auf dem Grundstück parken durfte, weil weitere Reifenspuren den Tatort noch mehr kontaminieren würden. Abgesehen davon ließ sich das Tor ohnehin nicht öffnen. Die Fahrerin stieg aus und näherte sich energischen Schrittes.

»Sie dürfen da nicht rein, auch nicht zu Fuß!«, rief der Constable ihr hinterher. »Sie dürfen das Grundstück nicht betreten, haben Sie das verstanden?«

»Schon gut, schon gut! Sie haben sich klar und deutlich ausgedrückt, und ich habe Sie verstanden«, erwiderte Bridget Harwell und winkte ab.

Jess blickte zu Monty im Fond des Streifenwagens und sah ihn wild gestikulieren. Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er wütend war. Seine Nichte hatte ihn noch nicht bemerkt. Jess eilte zum Tor und schlüpfte durch den schmalen Spalt, um Bridget Harwell zu begrüßen. Sie war gegen ihren Willen neugierig auf Montys »Nichte«.

»Mein Name ist Harwell, Bridget Harwell«, stellte sie sich auch prompt noch einmal vor. Ihre Wortwahl war höflich, doch ihre Augen musterten Jess abschätzend, während Jess sie gleichfalls musterte. »Wo ist mein Onkel?«, verlangte sie barsch zu erfahren. »Ist er wohlauf?«

Sie hatte eine nervöse, spröde Art zu sprechen, und Jess konnte nicht sagen, ob es an den außergewöhnlichen Umständen lag oder lediglich eine schlechte Angewohnheit war. Bridget Harwell war schätzungsweise Mitte vierzig, von schlanker Statur mit dichtem, aschblondem, kurz geschnittenem Haar. Im Vergleich zu ihr fühlte sich Jess linkisch und unweiblich. Sie riss sich zusammen und sagte sich, dass sie in ihrer Eigenschaft als Polizeibeamtin hier war und dass dies nicht der geeignete Moment war darüber zu sinnieren, dass sie sich weder die Designerjeans noch den kirschroten Pullover leisten konnte, der nicht nur nach Kaschmir aussah, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach genau daraus bestand.

»Mein Name ist Inspector Campbell!« Die Worte erinnerten sowohl Jess selbst als auch die Nichte von Monty daran, dass Jess hier das Kommando hatte. »Ihr Onkel ist dort drüben im Streifenwagen.« Sie ging zum betreffenden Fahrzeug und öffnete die hintere Tür. »Kommen Sie, Monty, Sie können jetzt aussteigen. Ihre Nichte ist hier, um Sie abzuholen.«

»Danke sehr, aber ich fühle mich pudelwohl hier in diesem Wagen«, erwiderte Monty mit vor der Brust verschränkten Armen.

Bridget Harwell trat vor den Streifenwagen und übernahm mühelos die Kontrolle. »Hör sofort auf, Onkel Monty! Sei zur Abwechslung mal vernünftig, hörst du? Wie fühlst du dich?«

»Wie ich mich fühle?« Monty starrte sie für einen Moment sprachlos an. »Ich fühle mich verdammt wütend, wenn du es wirklich wissen willst! Irgendein Mistkerl hat eine Leiche in meinem Haus abgeladen. Es wimmelt überall vor Polizei! Und dann tauchst du noch auf, um mich zu kidnappen, und fragst mich, wie es mir geht?«

Bridget Harwell drehte sich zu Jess um. »Er scheint es gut verdaut zu haben«, stellte sie erleichtert fest. »Jedenfalls ist er wie immer.«

Jess konnte die Verärgerung spüren, die sich unter Bridget Harwells nüchterner Art verbarg. Sie hatte sich gut unter Kontrolle.

Rasch fuhr Bridget fort: »Er ist ein übellauniger alter Kauz, wissen Sie? Trotzdem, die Jahre gehen nicht spurlos an ihm vorbei, und ich denke nicht, dass er unter den gegebenen Umständen hierbleiben sollte. Ich nehme ihn mit zu mir, wenn Sie keine Einwände haben?« Sie sah Jess fragend an.

Jess für ihren Teil ärgerte sich im Stillen über die Tatsache, dass Bridget Harwell sich entweder vor dem Herkommen ein paar Minuten Zeit genommen hatte, ihr Make-up zu richten, oder ständig makellos zurechtgemacht herumlief. Warum verläuft die Wimperntusche bei mir immer nur? Liegt es daran, dass ich das billige Zeug kaufe?

»Ich will aber nicht mit zu dir nach Hause!«, rief Monty seiner Nichte aufgebracht aus dem Innern des Polizeifahrzeugs zu. »Ich will zurück in mein eigenes Haus, und sonst gar nichts!«

»Das haben wir doch längst alles durchgesprochen, Mr. Bickerstaffe«, mischte sich Jess geduldig ein. »Kommen Sie, Sir - Sie wissen, dass Sie nicht zurück ins Haus können.«

»Was ist mit seinen Sachen?«, fragte Bridget Harwell. »Er braucht zumindest Wäsche zum Wechseln und seinen Toilettenbeutel.«

Jess verzog das Gesicht. »Tut mir leid, aber unsere Spurensicherung ist auf dem Weg hierher. Wir dürfen nichts verrücken oder anrühren, bevor sie nicht fertig sind mit ihrer Arbeit.«

Mrs. Harwell fügte sich seufzend in das Unabänderliche und strich sich abwesend durch die kurzen Haare. »Ich werde wohl mit ihm nach Cheltenham fahren müssen und dort das Notwendigste kaufen.«

»Wieso denn das? Meine Sachen sind völlig in Ordnung!«, schimpfte Monty, doch seine Stimme hatte bereits einen resignierten Unterton angenommen.

»Du kannst nicht in diesen Sachen schlafen, Onkel Monty. Außerdem brauchst du Seife und einen Rasierer und eine Zahnbürste. Keine Sorge, überlass nur alles mir.« An Jess gewandt fügte sie in vertraulichem Tonfall hinzu: »Er macht uns schon seit ein paar Jahren immer wieder Sorgen. Es ist gut, dass das nicht gestern passiert ist - ich war nämlich den ganzen Tag in London und hätte nicht so schnell herkommen können, um ihn zu holen.«

Montys Gesichtszüge hatten einen gehetzten Ausdruck angenommen bei der Erwähnung von Seife und Rasierer. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann ergab er sich in sein Schicksal und kletterte leise vor sich hin murmelnd aus dem Streifenwagen.

»Ich habe Ihnen meine Anschrift, meine Festnetz- und meine Handynummer aufgeschrieben«, fuhr Bridget an Jess gewandt fort und zückte ein Blatt Papier, das sie ihr reichte. »Falls Sie nichts dagegen haben, setze ich meinen Onkel einfach in meinen Wagen und komme dann rasch noch einmal auf ein paar Worte zurück?«

Jess begann allmählich zu verstehen, wie sich Monty fühlen musste. Sie verfolgte wortlos, wie er von seiner Nichte abgeführt und in den schicken kleinen Sportwagen verfrachtet wurde, wo er eingeklemmt und mit hängenden Schultern auf dem Beifahrersitz saß. Sie schnallte ihn an wie ein Kleinkind in einem Buggy, bevor sie im gleichen geschäftsmäßigen Schritt zu Jess zurückkehrte.

»Ich nehme an, Sie können mir nicht verraten, was genau das alles zu bedeuten hat«, sagte sie zu ihr, »und ich verstehe das auch recht gut. Aber wer ist der Tote in Onkel Montys Haus?«

»Das wissen wir nicht, Mrs. Harwell. Ihr Onkel sagt, er kennt ihn nicht. Ich will ehrlich sein - es ist schwierig sich vorzustellen, dass der Tote eine völlig fremde Person sein soll, die scheinbar vom Himmel gefallen ist. Warum ausgerechnet im Haus Ihres Onkels? Es muss eine Verbindung geben - jedenfalls liegt die Vermutung nahe.« Sie zögerte. »Ich nehme an, Sie haben keine Lust, uns einen Gefallen zu tun und einen Blick auf den Toten zu werfen?«

»Ich denke nicht, dass ich ihn kenne!«, protestierte Bridget Harwell denn auch sogleich.

Wahrscheinlich würde der gesamte Clan der Bickerstaffes das Gleiche behaupten. Jess spürte, wie sie allmählich ärgerlich wurde und der letzte Rest von Mitgefühl Mrs. Harwell gegenüber mehr und mehr zu schwinden begann.

»Irgendjemand muss wissen, wer er ist. Vielleicht war er ein flüchtiger Bekannter, und Mr. Bickerstaffe hat ihn längst wieder vergessen. Es könnte jemand sein, den er schon lange nicht mehr gesehen hat. Das, zusammen mit dem Schock ...« Jess hoffte, dass ihre Worte überzeugend klangen.

»Onkel Monty ist nicht vergesslich. Er ist eigenwillig und trotzig. Vielleicht hat er beschlossen, sich störrisch zu geben.« Bridget seufzte. »Sie stecken in einer Zwickmühle. Sie müssen den Toten identifizieren, das verstehe ich. Ich gebe zu, ich selbst würde gerne wissen, wer er ist und warum er im Haus meines Onkels war. Also nur zu, führen Sie mich hin, ich sehe ihn mir an - aber nur ganz kurz, verstehen Sie mich nicht falsch! Ich habe nicht vor, Wurzeln zu schlagen.«

Auf dem Weg ins Haus entschuldigte Jess sich für ihr Ansinnen. »Ich weiß, dass es keine angenehme Sache ist, um die ich Sie gebeten habe.«

Bridget winkte ab. Im Wohnzimmer angekommen beugte sie sich über den Toten, warf einen Blick auf ihn und murmelte leise zu sich selbst: »Du meine Güte!« Sie studierte ihn noch einen Augenblick länger, bevor sie sich wieder aufrichtete und den Kopf schüttelte.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir leid. Ich habe ihn noch nie gesehen. Wie ist er hierhergekommen?« Sie rümpfte ostentativ die Nase. »Er stinkt. Können wir vielleicht wieder nach draußen gehen, bevor mir schlecht wird?«

»Selbstverständlich. Danke, dass Sie versucht haben, uns zu helfen. Wir wissen das zu schätzen.«

»Kein Problem.« Bridget Harwell war bereits auf dem Weg zur Tür.

Draußen atmete sie tief durch. »Ich hoffe sehr, dass ich so was nicht noch einmal tun muss. Ich nehme an, Sie melden sich bei mir?«

Jess blickte dem kleinen blauen Sportwagen hinterher, als sie davonfuhren.

»Der arme alte Kerl«, sagte der junge Constable mitfühlend.

Jess pflichtete ihm insgeheim bei, doch das durfte sie nicht laut sagen. Außerdem gab es in diesem Moment eine Ablenkung.

»Da kommt ein Wagen«, beobachtete der Constable.

Und tatsächlich, ein roter Wagen näherte sich in langsamem Tempo und hielt draußen vor dem Tor von Balaclava House. Jess kannte den Wagen.

»Das ist der Pathologe«, informierte sie den Constable und ging, den Neuankömmling zu begrüßen.

Tom Palmer war ein stämmiger junger Mann mit einem wilden Schopf schwarzer Haare. Er stieg aus und ging zum Kofferraum, wo er sich vorbeugte und unter dem offenen Deckel kramte.

»Hallo Tom!«, rief Jess ihm zu. »Sie waren ausgesprochen schnell heute.«

Tom Palmer richtete sich auf, einen Einwegschutzanzug in der Hand. »Rein zufällig bekam ich einen Anruf von Ihrem Boss, der mir verriet, dass Sie einen mysteriösen Todesfall hätten. Ich hatte mich gerade zu einer wohlverdienten Tasse Tee hingesetzt. Er meinte, Sie wären hierher gefahren und hätten sowohl die Spurensicherung als auch einen Pathologen angefordert.« Sein Tonfall verriet Eile. »Nun, hier bin ich - von der Spurensicherung noch nichts zu sehen ...« Er blickte sich suchend um.

»Sie wird auf dem Weg sein«, antwortete Jess. »Um ehrlich zu sein, Tom ... ich weiß nicht, ob es dringend ist. Ich weiß nur, dass die ganze Sache sehr verdächtig aussieht. Wir haben einen Toten im Haus ...«, sie nickte in Richtung des Eingangs, »... und niemand weiß, wer er ist. Der betagte Bewohner fand ihn nach seiner Rückkehr aus der Stadt. Er sagt, er hätte den Toten noch nie im Leben gesehen.«

»Wo ist er jetzt?«, erkundigte sich Palmer, während er sich in den Anzug mühte. »Der betagte Bewohner, meine ich.«

»Er wurde von einer Verwandten abgeholt, wo er für ein paar Nächte bleibt.« Sie zögerte. »Die beiden waren in dem blauen Mazda MX5, dem Sie wahrscheinlich eben auf dem Weg hierher begegnet sind.«

Palmer grunzte. »Die Frau am Steuer hat mich angesehen, als hätte ich versucht, sie in den Straßengraben abzudrängen.«

»Es entspricht nicht ganz den Gepflogenheiten, ich weiß«, fuhr Jess nach kurzem Zögern verlegen fort. »Aber ich habe Mrs. Harwell, so heißt die Dame, gefragt, ob sie nicht vielleicht einen Blick auf den Toten werfen würde.«

Palmer hob eine Augenbraue. »Wie viele Personen sind in der Zwischenzeit durch das Haus getrampelt?«

Jess schnitt eine ironische Grimasse. »Viel zu viele, Tom. Trotzdem, ich wollte sicher sein, dass der Tote dem Hausbewohner tatsächlich unbekannt war, selbst wenn Mr. Bickerstaffe - so heißt der alte Mann - behauptet, dass er ihn nicht kennt.«

»Vielleicht ist Mr. Bickerstaffe verwirrt? Ältere Leute sind häufiger nicht mehr ganz zurechnungsfähig.«

»Oh, das denke ich nicht, Tom«, versicherte ihm Jess. »Mrs. Harwell meint, er hätte vielleicht beschlossen, sich störrisch zu geben. Sie kennt den Toten übrigens auch nicht.«

»Also gut«, sagte Palmer resigniert. »Zeigen Sie mir diesen geheimnisvollen Toten.«

Noch während er sprach, kam ein ziviler Lieferwagen rumpelnd über die schmale Straße und parkte am Ende der inzwischen beträchtlichen Reihe von Fahrzeugen vor dem Tor.

»Unsere Jungs von der Forensik«, stellte Palmer fest. Sie beobachteten, wie die Insassen ausstiegen und ihre Ausrüstung abluden. »Ich gehe besser und sage erst mal Hallo.«

Für den Augenblick waren die Dinge mehr oder weniger nicht in ihrer Hand. Jess ging zu ihrem Wagen und stieg ein. Sie beobachtete das Treiben draußen, bis sämtliche Techniker im Haus verschwunden waren, um anschließend zögernd ihren Chef anzurufen, Superintendent Ian Carter.

»Wie geht es voran?«, hörte sie Carters Stimme an ihrem Ohr.

»Alle sind eingetroffen, Sir.« Sie stockte. Morton war zusammen mit einem der Constables aus dem Gestrüpp aufgetaucht. Sie kamen in ihre Richtung. »Einschließlich Tom Palmer. Er kann vielleicht bestätigen, ob der Todesfall tatsächlich so verdächtig ist, wie er aussieht. Es gibt mehrere eigenartige Fakten. Erstens existiert nicht der kleinste Hinweis, wie der Tote hierhergekommen ist. Dann trägt er keinerlei Dokumente bei sich, die Auskunft über seine Identität geben könnten. Mr. Bickerstaffe sagt, dass er ihn nicht kennt und noch nie gesehen hat, und seine Nichte, Mrs. Harwell - wobei mir nicht ganz klar ist, ob sie tatsächlich seine Nichte ist -, kennt den Toten ebenfalls nicht. Abgesehen davon gibt es noch eine Reihe weiterer Rätsel.«

»Wer ist Bickerstaffe?«, wollte Carter wissen. »Wie zuverlässig schätzen Sie ihn als Zeugen ein?«

»Er ist ein älterer Mann, lebt sehr zurückgezogen, Sir. Definitiv exzentrisch. Soweit es ihn betrifft, ist er sich durchaus im Klaren über das, was in seinem Haus geschehen ist. Sein Vorname lautet Monty - ich nehme an, eine Abkürzung für Montague. Er hat sein ganzes Leben in diesem Haus gelebt. Früher einmal muss die Familie wohlhabend gewesen sein, doch davon ist nichts mehr zu sehen. Balaclava House ist außen wie innen völlig heruntergekommen und in einem schrecklichen Zustand.«

»Das klingt definitiv verdächtig. Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Ian Carter und legte auf.

Morton hatte vor dem Wagen gewartet. Jetzt beugte er sich zu ihr herab, und Jess kurbelte die Scheibe herunter. »War das der Boss?«

»Er war es, Phil, und er hat kein Problem damit, wenn wir von einem unnatürlichen Todesfall ausgehen.«

Morton blickte erleichtert drein.

Knirschende Schritte auf dem Kies kündeten von der Rückkehr Tom Palmers.

»Nun?«, fragten Morton und Jess unisono.

Palmer kratzte sich am Kopf. »Ich kann nichts Genaues sagen, bevor ich ihn nicht auf meinem Tisch hatte. Er ist noch nicht lange tot, ein paar Stunden höchstens. Fragen Sie mich nicht nach einem genaueren Zeitpunkt. Und fragen Sie mich auch nicht, woran er gestorben ist. Die äußeren Anzeichen deuten auf eine Vergiftung hin.«

»Eine Vergiftung?«, rief Morton aus.

»Ich kann Ihnen später mehr verraten.« Palmer blickte unsicher drein. »Da ist noch etwas, das mir merkwürdig vorkam bei diesem Toten ...«

Sie warteten gespannt darauf, dass er weiterredete, doch Palmer hatte seine Meinung offensichtlich geändert.

»Ich will ihn erst genau in Augenschein nehmen. Ich will mich nicht in vorschnellen Schlüssen ergehen, nur weil meine Phantasie mit mir durchgeht.«

Sie sahen ihm hinterher, als er zu seinem Wagen ging und sich aus der Schutzkleidung schälte.

»Und was war das jetzt?«, fragte Morton an Jess gewandt.

Doch Jess konnte auch nur den Kopf schütteln. »Keine Ahnung, Phil, wirklich keine Ahnung. Ich nehme an, Tom ist nur vorsichtig, weiter nichts.« Aber vorsichtig warum genau? Ziemlich missmutig fügte sie hinzu: »Was hat er bloß bemerkt, das ich übersehen habe?«