KAPITEL 9

Am nächsten Morgen versammelten sie sich in Carters Büro, um die Fortschritte zu besprechen - beziehungsweise den Mangel daran. Es war der dritte Tag ihrer Ermittlungen und ein kritischer Augenblick. Von jetzt an würde die Spur immer mehr erkalten.

Jess machte den Anfang. Sie berichtete von ihrem Besuch bei Bridget Harwell. Morton schloss sich an mit einer Schilderung seiner Aktivitäten des vorangegangenen Tages, seiner Unterhaltungen mit den Colleys, den Sneddons und Sebastian Pascal, der Entdeckung des ausgebrannten Autowracks im Steinbruch und seiner Einschätzung.

»Ich traue den Colleys nicht über den Weg«, sagte er. »Was nicht heißen muss, dass sie etwas mit dem Fall zu tun haben. Leute wie die Colleys rücken nie freiwillig irgendwelche Informationen heraus, und deswegen kann man sie bei einer Ermittlung nicht ohne weiteres aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen. Trotzdem verschwenden wir wahrscheinlich unsere Zeit mit ihnen.«

Er schnaubte. »Nehmen Sie den jungen Gary Colley. Er sagt, er wäre in die Stadt gegangen, nachdem wir ihn draußen vor Balaclava House getroffen haben. Er sagt weiter, er hätte seine Familie mit dem Mobiltelefon angerufen und erzählt, dass etwas passiert wäre in Balaclava House und dass er Monty Bickerstaffe in einem Streifenwagen sitzen sehen hätte.

Sein Vater Dave Colley sagt, dass seine alte Mutter - Daves Großmutter - am frühen Abend die Straße hinaufgegangen wäre, um nach dem Rechten zu sehen, und dass sie gesehen hätte, wie der Leichenwagen weggefahren wäre, und dass sie folglich wüssten, dass jemand gestorben wäre.

Sebastian Pascal hingegen, das ist der Tankstellenpächter, sagt, er hätte gesehen, wie Monty Bickerstaffe von seiner Nichte Bridget Harwell weggebracht worden wäre, und zwar lange vor diesem Zeitpunkt. Er hätte augenblicklich Gary Colley angerufen, der ihm von dem Toten in Balaclava House berichtet hätte. Das muss gewesen sein, bevor Mrs. Colley senior schnüffeln gegangen ist. Gary hätte normalerweise noch gar nichts von einem Toten in Balaclava House wissen dürfen. Er hatte lediglich gesehen, dass Monty in einen Streifenwagen verfrachtet worden war. Er blieb stehen und fragte einen der uniformierten Beamten, und als wir aus dem Haus kamen, wandte er sich an mich und an Inspector Campbell. Wir haben ihm nichts gesagt und ihn weitergeschickt.«

»Jede Wette, dass er nicht in die Stadt gegangen ist«, sagte Jess. »Er hat einen weiten Bogen geschlagen und ist über die Felder zurückgekommen, um zu beobachten, was in Balaclava House passiert. Er zog seine eigenen Schlussfolgerungen und brachte die Neuigkeiten nach Hause zu seiner Familie. Das würde die Diskrepanz erklären. Seine Großmutter hat jedenfalls nichts damit zu tun.«

»Also verbiegt dieser Gary Colley die Wahrheit, bis sie ihm in den Kram passt«, stellte Carter fest. Er rieb sich nachdenklich mit dem Finger über das Kinn. »Die Colleys insgesamt verbiegen die Wahrheit. Spielt es in unserem Fall eine Rolle? Oder folgen wir hier einer Spur, die im Nichts endet?«

»Wahrscheinlich«, lautete Mortons prompte Antwort. »Das habe ich von Anfang an gesagt in Bezug auf die Colleys. Sie können einfach nicht die Wahrheit sagen, und weil wir wissen, dass es so ist, sind wir gezwungen, unsere Zeit auf sie zu verschwenden. Ich werde noch einmal mit Gary Colley reden und versuchen, ihn ein wenig aufzurütteln. Wenn er uns zum Narren halten will, dann wird er herausfinden, dass er einen Fehler macht.«

»Haben wir irgendetwas gegen einen der Colleys in den Akten?«, wollte Carter wissen.

»Organisation illegaler Hasenjagden«, sagte Morton. »Sowohl Dave als auch Gary Colley wurden zur Rechenschaft gezogen und zu einer Geldstrafe verurteilt. Außerdem im Fall von Gary Fahren ohne gültige Steuerplakette. Jemand sollte überprüfen, ob einer von ihnen eine gültige Waffenlizenz besitzt. Falls ja, sollte man sie vielleicht entziehen. Die Tochter Tracy Colley hat vor ein paar Jahren raubkopierte DVDs in den Pubs verkauft. Sie half einem Freund. Der Freund wurde verurteilt, sie wurde ermahnt. Mrs. Maggie Colley war zwei Mal wegen Trunkenheit und öffentlicher Ruhestörung in einheimischen Pubs vor dem Friedensrichter. Selbst Großmutter Colley ist aktenkundig. Sie hat eine andere alte Frau in einer Warteschlange in einem Postamt geschlagen. Die Polizei wurde hinzugerufen. Großmutter Colley weigerte sich, das Postamt zu verlassen, benutzte Schimpfworte und legte sich mit einem der Constables an. Zwei kräftige Beamte waren nötig, um sie nach draußen zu befördern. Bemerkenswert für eine Frau in ihrem Alter, wenn Sie mich fragen. Die Colleys sind eine reizende Familie, alle zusammen, und gute Bekannte bei der örtlichen Polizei, aber sie sind keine Mafia.«

»Was ist mit den Sneddons?«, fragte Jess.

Morton schüttelte den Kopf. »Fleißige, gesetzestreue einheimische Landwirte. Ich war außerdem noch bei Sebastian Pascal, dem Betreiber der Tankstelle in der Nähe der Einmündung von Toby's Gutter Lane. Gegen ihn liegt ebenfalls nichts vor. Er wirkte nervös, als ich seinen Laden betrat und meinen Ausweis vorzeigte, aber das ist nicht ungewöhnlich. Viele Leute werden nervös. Es bedeutet nicht, dass sie sich irgendetwas zu Schulden haben kommen lassen. Allerdings beschäftigt er einen jungen Burschen mit rasiertem Schädel, der bei ihm Autos wäscht. Mein Auftauchen ging ihm ganz offensichtlich gegen den Strich, doch ich bezweifle, dass er in irgendeine größere Sache verwickelt ist.«

»Also suchen wir nach einer Gruppe von jugendlichen Autodieben, die in der vorletzten Nacht ziemlich spät die Toby's Gutter Lane hinuntergefahren sind. Die Polizei hatte Balaclava House zu diesem Zeitpunkt bereits wieder verlassen, und die Sneddons lagen im Bett. Gut möglich, dass der Wagen nichts mit unserem unbekannten Toten zu tun hat. Andererseits erscheint mir der Zufall doch ein wenig zu groß. Wir müssen feststellen, wem der Wagen gehört hat. Die örtliche Polizei hilft uns, wo sie kann, bisher allerdings ohne jeden Erfolg. Niemand hat einen Wagen als gestohlen gemeldet, und das ist für sich genommen bereits seltsam. Tansy Peterson, die Tochter von Bridget Harwell, meinte, wer auch immer verantwortlich war, es müsse wohl jemand auf der Durchfahrt gewesen sein. Balaclava House liegt zwar ziemlich abseits an der schmalen Straße, aber es ist nicht von der Zivilisation abgeschnitten. Toby's Gutter Lane führt direkt zur Hauptstraße. Außerdem wissen wir immer noch nicht, wie der Tote nach Balaclava House gekommen ist.«

»Der ausgebrannte Wagen muss von außerhalb unseres Bezirks kommen«, pflichtete Morton ihr bei und nickte. »Das Autowrack wird zurzeit untersucht, und ich warte auf den Anruf der Spurensicherung. Wenn Sie mich für einen kleinen Moment entschuldigen würden, Sir, ich rufe die Jungs an und frage sie, wie weit sie sind?«

Carter nickte, und Morton ging nach draußen auf den Gang. Sie konnten hören, wie er in sein Mobiltelefon murmelte.

»Der Tote muss doch inzwischen irgendwo vermisst werden«, sagte Carter ärgerlich. »Was ist mit Verabredungen? Geschäftsterminen? Treffen? Hatte er denn keine Frau, keine Partnerin, keine Sekretärin, nichts dergleichen?«

Die Tür öffnete sich, und Morton streckte den Kopf herein. »Noch nichts Konkretes, Sir. Sie sind ziemlich sicher, dass es sich bei dem Wrack um einen Lexus handelt, das ist alles.«

»Ein Lexus!«, rief Carter so unvermittelt, dass die beiden ihn überrascht anstarrten.

»Es wäre möglich ...«, sagte er in ruhigerem Tonfall, »... es wäre möglich, dass wir am Ende doch eine heiße Spur haben.«

Manchmal brachte harte Arbeit eine Ermittlung ein klein wenig weiter voran. Endlose Befragungen, routinemäßiger Ausschluss von Möglichkeiten, minutiöse Rekonstruktion von Ereignissen. Und manchmal, ganz selten, hatte man einfach nur Glück.

Das sagte sich Ian Carter, als er einmal mehr im Wagen nach Weston St. Ambrose unterwegs war, diesmal mit Jessica Campbell als Begleitung. Keiner von beiden hatte an diesem Morgen damit gerechnet, doch so war das mit der Arbeit eines Ermittlers. Die Identifikation der Marke des ausgebrannten Autowracks war möglicherweise der Schlüssel, der die Tür zu diesem Fall weit öffnete. Wie dem auch sei - es gab nur einen Weg, das herauszufinden, und diesen Weg beschritten sie gegenwärtig.

»›Hoffen wir auf das Beste und wappnen wir uns gegen das Schlimmste‹«, sagte Carter zu Jess. »William of Orange soll das gesagt haben«, fügte er hinzu.

»Und?«, fragte Jess. »Hat er wirklich?«

»Man ist sich nicht sicher.«

»Oh.« Sie kamen nur langsam voran, aufgehalten von einem Traktor, der die schmale Straße vor ihnen ausfüllte und ein Überholen unmöglich machte.

»Dieses Zimmer in Balaclava House«, bemerkte Jess. »Das so sauber und ordentlich war und erst vor Kurzem benutzt wurde. Das spielt auch irgendwie eine Rolle, das spüre ich. Ich meine, es wäre schön, wenn wir wüssten, wer der Besitzer des ausgebrannten Wagens ist. Aber wir müssen auch herausfinden, wer dieses Zimmer benutzt hat und wann genau.«

Endlich bog der Traktor in ein Feld. Carter beschleunigte den Wagen. »Wir müssen herausfinden, wer die mysteriösen Gäste sind, einverstanden. Aber bringen wir zuerst diese Geschichte mit dem Wagen hinter uns. Vielleicht ist die Fahrt ja vergeblich, doch die Arbeit muss gemacht werden, und wir müssen die Hemmings befragen. Was kommt schlimmstenfalls dabei herum? Sie wissen nichts von alledem, und ihr nicht erschienener Gast hat sich inzwischen bei ihnen gemeldet und sich entschuldigt, weil er kurzfristig nach New York fliegen musste oder was weiß ich, welchen Grund er hatte für sein Fehlen. Wenigstens können wir ihn dann von unserer Liste streichen, ebenso wie die Hemmings.«

»Schlimmstenfalls sind weder Mr. noch Mrs. Hemmings heute Morgen zu Hause«, bemerkte Jess. Ich klinge allmählich wie Phil Morton, dachte sie. Ich darf nicht alles so negativ sehen.

»Billy Hemmings vielleicht nicht, aber möglicherweise haben wir Glück mit seiner Frau Terri. Das ist der Grund, aus dem ich Sie mitgenommen habe«, fügte Carter hastig hinzu. »Es ist Ihr Fall, und wenn es uns auf diese Weise gelingt, den Toten zu identifizieren, dann sollten Sie zugegen sein.«

»Ich komme nicht mit, um Sie vor Terri Hemmings zu beschützen, Sir?«, fragte Jess mutig. Carter hatte ihr eine ebenso kurze wie lebhafte Beschreibung der Wasserstoffblondine geliefert.

»Nein!«, erwiderte er scharf, um sich sogleich wieder zu entspannen. »Obwohl es durchaus möglich wäre, dass sie auf falsche Gedanken kommt, wenn ich allein vor ihrer Tür erscheine.« Er gestattete sich ein Grinsen. »Oder schlimmer noch, ihr Mann Billy.«

»Ja, Sir.«

Carter räusperte sich. »Selbstverständlich ist mir bewusst, dass es reiner Zufall sein könnte. Es gibt Kollegen, die nicht an so viel Glück glauben. Meiner Erfahrung nach hingegen passiert es recht häufig, und üblicherweise steckt längst nicht so viel Zufall dahinter, wie es im ersten Moment scheint. Die Hemmings erwarteten einen Gast am Abend des Tages, als die Leiche entdeckt wurde. Der Gast fährt einen Lexus. Er tauchte nicht auf, und er hatte zum Zeitpunkt meiner Unterhaltung mit den Hemmings auch noch keine Nachricht geschickt. Natürlich wäre es möglich, dass er zwanzig Minuten nach meinem Verschwinden doch noch aufgetaucht ist, auch wenn mir unterwegs kein Lexus auf dem Weg nach Weston St. Ambrose begegnet ist. Oder er hat, wie ich bereits sagte, eine Nachricht geschickt oder angerufen, um sein Fernbleiben zu erklären. Wie dem auch sei, in beiden Fällen ist er nicht verschwunden, und wir können ihn von unserer Liste streichen. Trotzdem, ich wiederhole - wir müssen es überprüfen.«

Die Hunde waren Jack-Russell-Terrier. Sobald Jess und Carter vor dem alten Schulhaus aus dem Wagen stiegen, setzte ein wütendes Gebell ein, das Terri Hemmings in engen weißen Jeans und einem noch engeren T-Shirt an die Haustür lockte. Die Terrier rasten an ihr vorbei zum Tor und sprangen daran empor in dem Versuch, die Besucher zu erwischen. Terri spähte sie auf eine Weise an, die in Jess die Vermutung weckte, dass sie kurzsichtig war und zu eitel, eine Brille zu tragen.

»Oh«, sagte sie zu guter Letzt, als sie Ian Carter erkannte. »Sie sind es schon wieder.«

»Dürfen wir hereinkommen und uns kurz mit Ihnen unterhalten, Mrs. Hemmings?«, fragte er höflich.

»Wenn es sein muss«, lautete ihre wenig begeisterte Erwiderung. »Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was Sie von mir wollen. Warten Sie, ich sperre die Hunde weg. Sie beißen zwar nicht, aber sie springen Ihnen zwischen den Füßen herum.«

Sie rief die beiden Tiere und bugsierte sie unter einiger Mühe ins Haus. Dann verschwand sie selbst im Innern und kehrte einige Minuten später zurück.

»Sie können jetzt reinkommen«, rief sie. Hinter ihr verriet dumpfes, frustriertes Gebell, dass die Hunde in einem der hinteren Zimmer eingesperrt worden waren.

»Sie hat ihren Mann angerufen und ihn informiert, dass wir hier sind, meinen Sie nicht?«, flüsterte Jess an Carter gewandt.

»Ich denke, das hat sie«, pflichtete er ihr bei. »Ich frage mich nur, wie lange Zeit uns mit Terri bleibt, bevor Billy herbeigestürmt kommt?«

Terri winkte sie mit rotlackierten Fingernägeln ins Haus. Sie hatte offensichtlich beschlossen, sich vornehm zu geben - oder am Telefon entsprechende Instruktionen von ihrem Mann erhalten.

»Wir gehen in den Wintergarten«, schlug sie vor. »Es ist angenehmer dort an Morgen wie diesem, wenn es draußen kühl, aber sonnig ist. Mein Mann Billy und ich verbringen eine Menge Zeit dort. Wir mögen die Sonne. Wir haben eine kleine Wohnung in Marbella, und wir fahren bald für ein paar Wochen dorthin, jetzt, wo die Abende so kühl werden in England. Eines Tages wollen wir uns dort zur Ruhe setzen. Ich kann es kaum abwarten.«

Sie stöckelte auf Stilettos vor ihnen her, die so gar nicht zum Leben auf dem Land passen wollten, und Carter und Jess folgten ihr, wobei sie sich aufmerksam umsahen.

Jess fand das Haus faszinierend. Wie zahlreiche alte Häuser, die vor ihrem Umbau zum Wohngebäude einem anderen Zweck gedient hatten, war auch die ehemalige Schule voller Eigentümlichkeiten. Die Türen waren breiter als gewöhnlich, um einen wilden Mob kleiner Kinder passieren zu lassen. Die Fenstersimse waren zu hoch und die Fenster selbst reichten bis fast zur Decke. Die inneren Wände waren massiver als alles, was in modernen Häusern zu finden war. Sie waren mehr oder weniger schalldicht. Es fiel nicht schwer, sich den Geruch von Kreide und Gummiturnschuhen in der Luft vorzustellen. Was Farbschemata anging, so erstreckte sich Terris Vorliebe für Weiß und Pastelltöne auf Decken, Wände, Türen und Mobiliar im Allgemeinen. Weiße Ledersofas auf hellbeigefarbenen Teppichen und vor den Fenstern bodenlange Vorhänge aus elfenbeinfarbenem Damast.

Der Wintergarten stellte sich als riesiger Anbau heraus, der sich fast über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Der geflieste Boden war ein Schachbrettmuster aus marmoriertem Grau und Weiß. Die Bambusmöbel trugen dicke cremefarbene Polsterkissen mit kaum wahrnehmbaren Mustern in Rose und Türkis. Es gab eine weiß lackierte Chaiselongue aus Bambusrohr. Ringsherum standen vereinzelt Kübelpflanzen, doch sie vermochten nicht den insgesamt merkwürdig sterilen Eindruck des gesamten Raums abzuschwächen.

»Kaffee?«, erkundigte sich Terri freundlich, um sogleich hinzuzufügen, noch bevor sie ablehnen konnten: »Machen Sie es sich bequem, bitte. Es dauert nur einen kleinen Moment.«

Sie machte kehrt und verschwand ein weiteres Mal auf klappernden Stilettos.

Carter und Jess nahmen auf den fett gepolsterten Bambussesseln Platz und sahen sich an. »Sie versucht Zeit zu schinden!«, flüsterte Jess.

»Was mich zu der Vermutung führt, dass Bill Hemmings nicht weit sein kann«, erwiderte Carter. »Um was wetten wir, dass er in spätestens ...«, er warf einen Blick auf seine Uhr, »... in spätestens einer Viertelstunde hereingepoltert kommt?«

Die Terrier veranstalteten immer noch ein lautstark protestierendes Bellkonzert aus Empörung darüber, dass man sie eingesperrt hatte. »Schon gut, Jungs, ganz ruhig!«, hörten sie Terri von irgendwo rufen. »Es dauert nicht lang, okay?«

Fünf Minuten später, während derer Carter, wie Jess bemerkte, zunehmend unruhig wurde, kam Terri mit einem Tablett voller Kaffee zurückgestöckelt. Sie stellte das Tablett auf einen Glastisch.

»Da wären wir«, verkündete sie.

Während sie redete, war draußen das Geräusch eines vorfahrenden Wagens zu hören. Sie würden keine fünfzehn Minuten mit Terri Carter bekommen, nicht einmal fünf. Carter war seine Frustration anzusehen.

»Ist das nicht wunderbar?«, fragte Terri, ohne sich die Mühe zu machen und nachzusehen, wer der Neuankömmling sein mochte. »Da kommt Billy, gerade rechtzeitig zum Kaffee! Wir sind hier draußen, Darling, im Wintergarten!«

Die letzten Worte rief sie ohne Vorankündigung aus voller Kehle. Beide Besucher zuckten erschrocken zusammen, und die weggesperrten Terrier fingen erneut an zu bellen. Terri schenkte Kaffee aus und reichte Jess und Carter lächelnd je eine Tasse, sodass beide mit einer vollen Tasse balancierten, als Billy Hemmings auftauchte.

Jess erblickte einen großen, rotgesichtigen Mann, der eine gute Reihe von Jahren älter war als seine Frau, wie an seinem kahl werdenden Schädel und dem struppigen grauen Haarkranz um die braungebrannte Stelle zu erkennen war. Seine Kieferpartie hatte ihre jugendliche Straffheit verloren, und Hängebacken waren entstanden. Sein Bauch ragte deutlich über dem engen Hosenbund der Jeans hervor. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und gaben den Blick frei auf haarige, muskulöse Unterarme und eine äußerst kostspielig aussehende goldene Armbanduhr. Doch seine Handrücken waren runzlig und voller Altersflecken.

Er war aufgebracht.

»Was hat das zu bedeuten?«, verlangte er zu wissen, indem er sich vor seinen Besuchern aufbaute. »Ich dulde nicht, dass die Polizei alle fünf Minuten vor dem Haus parkt! Was sollen meine Nachbarn denken?«

Carter hatte Jess bereits erzählt, was Monica Farrell von den Hemmings dachte. Jess unterdrückte ein Grinsen.

»Mögen Sie etwas Gebäck?«, meldete sich Terri zu Wort und hielt ihnen einen Teller hin.

»Das hier ist Inspector Campbell«, stellte Carter seine Begleiterin vor. »Mein Name ist Ian Carter. Superintendent Ian Carter vom CID. Sie kennen mich noch von vor zwei Tagen. Wir werden Sie nicht lange aufhalten. Mrs. Hemmings war sehr gastfreundlich ...«

Terri strahlte ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an.

»Es dauert wirklich nicht lange. Vorgestern Abend, als ich draußen für einen Augenblick anhielt, um Ihr Haus zu bewundern ...«

»Es ist wirklich hübsch, nicht wahr?«, fragte Terri.

Ihr Ehemann funkelte sie an.

»Sie schienen einen Gast zu erwarten, der mit einem Lexus unterwegs war. Ist das richtig?«

Terri öffnete den Mund zu einer Antwort, bemerkte einen weiteren wütenden Blick von ihrem Mann und schloss ihn wortlos wieder. Sie nahm sich einen Keks und biss hinein. Anscheinend war ihr Anteil an der Unterhaltung vorüber.

»Na und? Was geht Sie das an?«, fragte Billy Hemmings ungehalten.

»Wir fragen uns, ob Ihr Besuch wohlbehalten eingetroffen ist.«

»Und das ist eine Polizeiangelegenheit?«, schnarrte Hemmings sarkastisch. »Sie machen sich Gedanken wegen einem Gast, der nicht auf unserer Party aufgetaucht ist?«

»Nein. Offen gestanden, es geht um einen verschwundenen Lexus. Ist Ihr Gast denn noch erschienen?«

Hemmings musterte Carter, bedachte Jess mit einem kurzen Seitenblick und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf den Superintendent. »Rein zufällig nein. Nein, er ist nicht mehr aufgetaucht. Aber ich verlange zu erfahren, warum Sie sich so dafür interessieren! Ich werde keine weiteren Fragen mehr beantworten, bevor Sie mir nicht erklärt haben, worum es eigentlich geht! Genauso wenig wie meine Frau ...«, fügte er abschließend hinzu.

Terri hatte den Mund voll mit Schokoladengebäck und konnte deswegen nur zustimmend nicken.

»Also schön«, gab Carter nach. »Wie Sie meinen. Man hat in einem ehemaligen Steinbruch ungefähr acht Kilometer von hier ein ausgebranntes Wrack von einem Lexus gefunden, auf der anderen Seite eines kleinen Hügels namens Shooter's Hill. Uns liegt eine Zeugenaussage vor, nach welcher der Wagen in der Nacht Ihrer Dinnerparty in den Steinbruch gefahren und dort angesteckt wurde, gegen Mitternacht. Wir suchen nach dem Eigentümer.«

»Jay's Wagen!«, quiekte Terri erschrocken. »Sagen Sie nicht, der arme Jay hatte einen Unfall! Ist das der Grund, aus dem er nicht auf unserer Party aufgetaucht ist? Oh, Billy - ist das nicht furchtbar?«

Hemmings drehte sich zu ihr. »Warum nimmst du nicht die Hunde und gehst mit ihnen Gassi, Schatz? Eine Runde die Straße hinunter und über den Kirchhof?«, schlug er vor. »Es lenkt furchtbar ab, wenn sie die ganze Zeit so bellen.«

»Oh. Ja, gut«, antwortete sie missmutig.

Sie stand auf und ging, und kurze Zeit später konnten sie hören, wie die Terrier lärmend aus ihrem Gefängnis stürmten. Sekunden danach fiel die Haustür geräuschvoll ins Schloss.

»Also schön«, sagte Hemmings und ließ sich schwer in den Sessel sinken, den seine Frau geräumt hatte. »Was hat das alles zu bedeuten? Handelt es sich nun bei dem Wrack um den Wagen von Jay Taylor oder nicht?«

»Das wissen wir nicht, Sir. Es erscheint uns als eine merkwürdige Koinzidenz. Sie sagen, Mr. Taylor wäre an jenem Abend nicht mehr gekommen. Hat er vielleicht angerufen? Oder eine SMS oder E-Mail geschickt? Irgendetwas, das sein Fernbleiben erklärt?«

Hemmings schüttelte den Kopf. »Nein, und ich räume ein, es ist merkwürdig. Ich habe seither versucht, ihn zu erreichen, leider vergeblich. Er geht weder an sein Festnetztelefon noch an sein Handy.« Er zupfte sich am Ohrläppchen und sah Carter und Jess aus zusammengekniffenen Augen abschätzend an. »Möglicherweise ist er nach London gefahren, aus geschäftlichen Gründen, oder er hat beschlossen, ein paar Tage freizumachen. So was kommt gelegentlich vor.«

Jess zückte ihr Notizbuch. »Der Name des Gentlemans ist also Jay Taylor, sagen Sie?«

»Ja, richtig ...« Hemmings runzelte die Stirn. »Eigentlich heißt er mit Vornamen Gerald, aber alle nennen ihn Jay.«

»Haben Sie vielleicht seine Adresse? Sie sagen, Sie hätten seine Telefonnummern?«

»Ich habe irgendwo eine Visitenkarte von ihm ...« Er stemmte sich hoch, trampelte zur Tür und verschwand. Einige Augenblicke später war er zurück und hielt ihnen eine kleine weiße Karte hin. »Hier, nehmen Sie. Steht alles drauf.«

Jess nahm die Visitenkarte und steckte sie sorgfältig ein. Hemmings setzte sich wieder und beugte sich vor, sodass seine muskulösen Unterarme auf den Oberschenkeln ruhten.

»Da steckt doch mehr dahinter als nur ein ausgebrannter Wagen«, sagte er sodann. »Zwei ranghohe Beamte wie Sie würden sich doch nicht mit einem so unbedeutenden Fall abgeben. Dafür ist die örtliche Polizei zuständig. Vielleicht waren es Jugendliche. Wenn Sie glauben, dass es Jays Wagen ist - und offensichtlich sind Sie davon überzeugt -, dann würden Sie ihn suchen und nicht uns belästigen. Es steckt also noch mehr dahinter. Was also? Können Sie ihn ebenfalls nicht finden? Warum suchen Sie nach ihm?«

Jess sah Carter an, der das Wort ergriff. »Sie haben recht, Mr. Hemmings. Es steckt mehr dahinter. Es gibt einen unidentifizierten Toten. Das ist der Grund, aus dem wir wissen möchten, ob Mr. Taylor bei Ihrer Party war oder nicht oder ob Sie zwischenzeitlich etwas von ihm gehört haben, irgendwas. Aber Sie sagen, Sie hätten ihn nicht erreichen können, und das, wie Sie sich denken können, schürt unser Interesse.«

Hemmings stieß einen leisen, langgezogenen Pfiff aus. Er lehnte sich zurück, und der Bambussessel knarrte protestierend unter seinem Gewicht. »Das steckt also dahinter.«

»Wie lange kennen Sie Mr. Taylor schon, Sir?«, fragte Jess.

»Ein paar Jahre«, beantwortete Hemmings die Frage, doch er starrte weiter Carter an.

Carter hatte unterdessen die Visitenkarte in Augenschein genommen. »Hier steht nicht, welcher Beschäftigung Mr. Taylor nachgeht«, bemerkte er.

Hemmings grinste. »Na ja, Jay schreibt diese Bücher, wissen Sie? Für die Fußballstars und andere Leute, die man im Fernsehen sieht.«

Verwirrtes Schweigen. Dann hatte Jess eine Eingebung.

»Sie meinen, Mr. Taylor ist - oder war - Ghostwriter?«

»Das ist es, richtig!« Hemmings nickte zustimmend. »All diese bekannten Persönlichkeiten, die Bücher über sich selbst und ihr Leben schreiben - na ja, in Wirklichkeit schreiben sie sie meistens gar nicht selbst. Die Arbeit macht jemand anders. Ich verstehe das gut. Manchmal denke ich, dass ich selbst eine Reihe von guten Ideen für das ein oder andere Buch habe, aber ich weiß, dass ich es niemals schreiben könnte. Das ist der Punkt, an dem Jay ins Spiel kommt. Sie sagen ihm, was Sie wollen, er stellt seine Nachforschungen an und schreibt das Buch. Er hat mir mal erzählt, dass er als Journalist angefangen hat. Bis er feststellte, dass es mehr als genug Arbeit gab für Ghostwriter.«

»Mr. Hemmings, ich frage mich, ob wir Sie um Ihre Hilfe bitten dürften. Unsere Ermittlungen leiden beträchtlich unter der Tatsache, dass wir die Identität des Toten nicht kennen ...«

Hemmings unterbrach ihn. »Ich habe ein Photo von Jay, wenn Sie solange warten möchten. Ich habe es sicher schnell gefunden. Terri hat ein großes Album, in das sie ständig neue Schnappschüsse klebt. Ich habe keine Ahnung, warum sie sich die Mühe macht, aber bitte. Ich gehe es holen.«

»Er ist plötzlich ziemlich hilfsbereit ...«, murmelte Jess zu Carter, als Hemmings ein weiteres Mal aus dem Wintergarten verschwunden war.

»Er will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Er hat nicht gefragt, wo der unbekannte Tote gefunden wurde. Ich habe nicht gesagt, dass der Leichnam im Wagen war, und er hat bisher nicht danach gefragt. Meinen Sie nicht, dass die Frage naheliegend wäre? Wenn Sie mich fragen, irgendetwas stimmt da nicht ...«

Hemmings kehrte mit einem großen, in weißes Leder eingeschlagenen Photoalbum zurück. Er schlug es auf und hielt es Jess und Carter hin. »Hier ist es. Cheltenham Races, vergangenes Jahr. Das ist Jay zusammen mit Terri. Er sieht zufrieden mit sich selbst aus, weil er kurz vorher eine hübsche Summe gewonnen hat. So viel, dass er uns an jenem Abend alle zusammen zum Essen einlud.«

Dann hatte Monty also recht, dachte Jess, mit seiner Einschätzung, dass der Tote aussah, als würde er zu Pferderennen gehen.

»Jess?«, fragte Carter, indem er ihr das Album zudrehte. Terri trug auf dem Photo einen großen und ohne Zweifel kostspieligen Hut. Sie lachte vergnügt und toastete mit einer Champagnerflöte in die Kamera.

Der Mann neben ihr war so unübersehbar voller Leben, dass es schwerfiel, ihn mit dem steif werdenden Toten auf dem Sofa von Monty Bickerstaffe in Verbindung zu bringen. Der Tod lässt jede Persönlichkeit verschwinden. Gesichter verlieren ihre Ausdruckskraft und werden zu einer Nase, einem Mund, leeren Augen. Die Person in diesem Körper hat die Hülle verlassen und ist zu einem anderen Ort gegangen. Und doch konnte es durchaus der gleiche Mann sein auf dem Bild. Das Gesicht strahlte, das Haar war ein wenig wirr, er hatte offensichtlich den ein oder anderen Drink genommen. Der Ausdruck »berauscht vom Erfolg« fiel Jess ein. Darüber hinaus war er ein attraktiver Bursche, auch wenn das jungenhafte gute Aussehen einer erwachsenen Gediegenheit gewichen war.

»Er könnte es sein«, sagte sie zögernd. »Beschwören würde ich es allerdings nicht. Dürfte ich das Photo für eine Weile behalten? Sie bekommen es zurück.«

»Nur zu«, sagte Hemmings. Er lehnte sich auf dem knarrenden Sessel zurück und verschränkte die Hände über dem üppigen Bauch. »Jay Taylor, wie? Wer hätte das gedacht?«

»Wir sind nicht sicher, Sir«, warnte Jess. »Das Photo allein reicht nicht aus für eine zweifelsfreie Identifikation.«

»Wie sieht denn der Leichnam aus?«, fragte Hemmings unvermittelt. Er sah Carter aus zusammengekniffenen Augen an. »Verbrannt etwa? Hat er im Wagen gesessen?«

»Nein, nicht im Wagen. Er ist nicht verbrannt, und der Zustand ist gut.«

Hemmings seufzte. »Dann komme ich mit und werfe einen Blick auf den armen Kerl.«

Carter verbarg seine Überraschung. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Hemmings.«

Carter hat recht, es kommt überraschend, dachte Jess. Nur wenige Menschen waren freiwillig bereit, eine Leiche zu identifizieren. Hemmings ist aus irgendeinem Grund nervös, und nicht allein aufgrund der Tatsache, dass einer seiner Kumpane von der Rennbahn gestorben sein könnte. Er will ganz sicher sein - er will den Leichnam mit eigenen Augen sehen.

»Wenn Sie Zeit hätten, könnten wir sofort fahren?«, schlug sie vor.

Hemmings nickte. »Ich mache das freiwillig, ja? Es ist also überflüssig, dass Sie mich ermahnen und so weiter.«

»Was unter den gegebenen Umständen sowieso nicht infrage käme«, versicherte ihm Carter.

»Ich tue lediglich meine Pflicht, als guter Staatsbürger«, sagte Hemmings selbstgerecht.

Jess, die unterdessen das Photo aus dem Album gelöst hatte, vermied es, Carter anzusehen.

Später standen alle drei vor der Leichenhalle in der willkommenen frischen Luft, den chemischen Gerüchen entkommen, die den Geruch des Todes niemals völlig zu überdecken imstande sind. Hemmings hatte sich eine Zigarette angesteckt und sog nachdenklich daran. Er war blass geworden unter seiner gebräunten Haut. Er sah älter aus.

Die Fahrt nach Weston St. Ambrose war also letztendlich keine Zeitverschwendung gewesen. Der Lexus war der Schlüssel, auf den Carter gehofft hatte. Dank Billy Hemmings hatten sie den Toten als Gerald Taylor identifiziert, genannt Jay, von Beruf Ghostwriter und einer makabren Fügung des Schicksal folgend ins Jenseits übergetreten, wo er von nun an bis in alle Ewigkeit als Geist spuken würde.

Hemmings hatte den Toten augenblicklich und zweifelsfrei identifiziert. Dann war seine Selbstsicherheit verflogen, und er hatte sich abgewandt und »verdammte Scheiße!« gemurmelt, bevor er nach draußen gerannt war.

»Muss eine schlimme Geschichte für Sie sein«, sagte Jess. »Wir sind Ihnen sehr verbunden. Danke für Ihre Hilfe.«

Hemmings stieß Rauch in ihre Richtung aus und musterte sie von oben bis unten, als würde er sie zum ersten Mal sehen. »Allerdings«, sagte er.

»Könnten Sie uns vielleicht ein wenig mehr über Mr. Taylor erzählen? Wissen Sie, ob er eine Freundin hatte? Es muss jemanden geben, den wir kontaktieren können.«

Hemmings sammelte sich. Das war eine Frage, die er gerne beantwortete. »Eine Freundin? Jay hatte Dutzende von ihnen! Fragen Sie mich nicht nach Namen! Sie kamen und gingen. Er war jemand, der keine feste Bindung einging. Er hatte immer irgendein schickes Weib am Arm.« Hemmings beschrieb einen weiten Bogen mit der Zigarette. »Keine Nutten, nicht dass Sie denken! Keine ›Models‹, ›Schauspielerinnen‹ oder wie auch immer sie sich für gewöhnlich nennen. Er ging zu Pferderennen, und dort traf er alle möglichen Frauen, hochgestellte und einfache.« Er stieß mit der Zigarette in Carters Richtung. »›Ich achte auf Rasse bei meinen Frauen, genau wie bei den Pferden, auf die ich setze‹, pflegte er zu sagen.«

Was für ein charmanter Bursche ..., dachte Jess sarkastisch.

»Hatte Taylor an dem Tag, an dem das Photo auf der Rennstrecke aufgenommen wurde, eine Begleiterin bei sich?«, fragte sie.

»Nein, er war allein unterwegs. Ich glaube, Terri hat ihn wegen seiner Freundinnen gefragt, und er hat einen Witz darüber gemacht, dass er sich von seiner letzten soeben getrennt hätte und endlich wieder ein freier Mann wäre. Aber so war Jay nun mal.«

Hemmings stockte kurz, als ihn Trauer überkam. »Der arme Kerl, da liegt er nun, kalt wie ein Fisch auf Eis. Es macht einen nachdenklich.«

Es macht dich nachdenklich, dachte Jess. Und du denkst gerade fieberhaft über irgendetwas nach, das sehe ich dir an. »Die Freundinnen?«, fragte sie unerwartet schroff. Carter bedachte sie mit einem warnenden Blick.

»Was? Ach ja. Nun, wir haben ihn alle deswegen auf den Arm genommen, wissen Sie? ›Eines Tages kommt eine, die dich so richtig erwischt‹, habe ich ihn immer gewarnt. Fragen Sie Terri, sie wird sich daran erinnern. ›Und dann schleppt sie dich vor den Altar, und Bilder von deinem Glückstag erscheinen in einem dieser Prominentenmagazine.‹«

Hemmings schüttelte traurig den Kopf. »›Nicht mich, Billy-Boy. Mich erwischt keine.‹ Jetzt hat es ihn erwischt, aber anders, als wir uns das ausgemalt haben. Der arme Teufel. Jetzt kann er nicht mehr zusehen, wie seine Sieger die Ziellinie passieren.«

»Hat er viel riskiert bei Pferdewetten?«, wollte Carter wissen.

Hemmings zuckte die Schultern. »Er mochte die Aufregung, wie jeder andere auch. Nun, ich denke, jetzt, wo er tot ist, kann ich es auch sagen. Er hat regelmäßig hohe Summen auf Pferde gesetzt, die ihm gefielen. Und wie das so ist, manchmal hat er gewonnen, manchmal verloren. Aber sehen Sie, sein Vorteil war, dass er keine Frau und keine Kinder hatte. Er konnte sein Geld ausgeben, wofür auch immer er wollte.« Ein Unterton von Bitterkeit kam in seine Stimme. »Niemand verlangte von ihm, ein dämliches altes Schulgebäude zu einem Wohnhaus umzubauen und ähnlichen Schwachsinn.«

Sie murmelten verständnisvoll, und Hemmings rückte mit den Fragen heraus, die er bis zu diesem Moment sorgfältig vermieden hatte.

»Wie ist er überhaupt gestorben? War es ein Autounfall? Wo haben Sie ihn gefunden? Etwa in der Nähe von Weston St. Ambrose? War der arme alte Jay auf dem Weg zu unserer Party?«

»Die Ergebnisse der Obduktion liegen uns noch nicht vor«, antwortete Jess. »Wir wissen auch nicht, wie er den Tag verbracht hat bis zu seinem Tod. Doch seine Leiche wurde ein ganzes Stück weit vom Wagen entfernt gefunden, an einem Ort namens Balaclava House.«

Sie und Carter warteten.

Hemmings schwieg. Er ließ seinen Zigarettenstummel fallen und trat die Glut aus. »Nie gehört«, sagte er schließlich.

»Er lügt!«, beharrte Jess entschieden, als Hemmings gefahren war. »Er hat nicht gefragt, wo Balaclava House liegt oder was für ein Haus das ist. Er hat den Namen schon einmal gehört, vielleicht kennt er das Haus sogar.«

»Er ist eine harte Nuss, unser Billy-Boy«, sinnierte Carter. »Doch der Tod von Taylor hat ihn erschüttert. Er könnte uns mit Sicherheit noch mehr erzählen, aber er will nicht.«

»Ich könnte versuchen, die Frau alleine abzufangen und auszufragen«, erbot sich Jess.

»Sie wird nichts sagen, es sei denn, er gibt ihr die Erlaubnis dazu - und ich gehe jede Wette ein, dass er ihr verbietet, auch nur ein Wort zu sagen, sobald er wieder zu Hause ist. Ich bezweifle außerdem, dass sie Bescheid weiß über seine Geschäfte. Ich frage mich, wo er und Taylor sich kennengelernt haben. Wahrscheinlich beim Pferderennen. Nun ja, wir haben die Visitenkarte des Toten und kennen jetzt seine Adresse. Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen hinfahren und uns die Wohnung ansehen.«

Hinter ihnen war eine Bewegung, und sie drehten sich um. Tom Palmer war aus dem Gebäude gekommen und gesellte sich zu ihnen.

»Ich wollte warten, bis der Zeuge weg ist«, sagte er. »Ein ziemlicher Gangster, meinen Sie nicht? Ich habe die Ergebnisse aus dem Labor. Es ist, wie ich vermutet hatte. Das Opfer starb an einer massiven Überdosis Alkohol in Verbindung mit Schmerzmitteln. Es war genug, um ein Pferd umzuwerfen. Und das Herz war ebenfalls nicht mehr das beste.« Tom schnitt eine Grimasse. »Wenn Sie mich fragen, dann hat jemand seine letzte Mahlzeit manipuliert.«