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Rom, Anno Domini 1527

Um ihn herum wurde geplündert. Landsknechte drangen in die Kirchen, Paläste und Wohnhäuser ein und raubten, was sie an Edelsteinen, Gold und Silber fanden. Ascanio ließ seinen beiden Freunden freie Hand. Er verstand sie ja nur zu gut. Und eigentlich sollte er handeln wie sie. Schließlich müsste auch er für das Alter zusammenraffen, was sich ihm bot. Im Elend würde er verrecken, ohne dass sich jemand um ihn kümmern würde, wenn er zu alt war fürs Kämpfen oder in einem Gefecht zum Krüppel geschlagen wäre. Es sei denn, er hätte den Notgroschen zusammengeraubt.

Die Gelegenheit, die reichste Stadt der Welt auszurauben, würde sich ihm nie wieder bieten. Doch auf dem Petersplatz überfielen ihn sogleich Erinnerungen, die ihn lähmten. Vor fast zwanzig Jahren war er mit Bramante in die Krypta der Basilika gegangen und hatte das gefesselte Mädchen gesehen und sich mit verhaltenem Zorn den Forderungen des katalanischen Kardinals gebeugt. Der Anblick der gefesselten Unschuld hatte ihm fast das Herz zerrissen. Je mehr er von der Gewalt sah, umso stärker stieß sie ihn ab.

Bedächtig ging er die Stufen zur Kirche hinauf. Er stieg über geschändete Menschenleiber, die meisten Kleriker und Bedienstete, aber Frauen und Kinder. Manche offensichtlich vergewaltigt. Er kannte den Blutwahn nur zu gut, der sich einstellte, wenn man über Stunden gemordet, sein Leben verteidigt und dabei die Kameraden fallen gesehen hatte. Alle Reflexe des Menschen gehorchten nur einer einfachen Rechnung: töten oder getötet werden. Wer so weit war, konnte nicht mehr aufhören, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach. Er bekam nicht genug vom Blut, das er vergoss, nicht genug von den Schreien, die er hörte, weil er sie verursachte. Weil Ascanio diesen Rausch kannte, wusste er, wie er ihm entkommen konnte.

Nun trat er durch die Pforte in das Atrium. Die grüne Wiese war rot. Insekten hielten einen Festschmaus. Keinen der Toten sah er an, er wusste nur zu gut, dass er das Leid weit von sich halten musste. Wenn die Opfer Persönlichkeit bekamen, würde er wahnsinnig werden. Sie mussten unter allen Umständen abstrakt bleiben. Plötzlich fesselte ihn eine Beobachtung. Aus der Porta Ravenniana floh eine halb nackte Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Ein Landsknecht mit vor Gier aus den Höhlen quellenden, wässrigen Augen folgte ihr und rief: »Ich will nichts von dir, aber gib mir das Balg!«

Ascanio hatte sich in den vielen Jahren, in denen er schon das Geschäft des Krieges betrieb, angewöhnt, sich niemals einzumischen. Und das hatte sich als weise und klug erwiesen. Man musste nicht zum Vieh werden wie die Kameraden, aber man durfte ihnen im Augenblicke des Blutrausches auch nicht in den Arm fallen. Ihre sexuellen Triebe, die befriedigt sein wollten, waren nur eine andere Form des Blutrausches, des Mordtriebes.

»Ist doch ein Junge! Lass dich auch am Leben«, rief der Landsknecht. In den Augen der Frau sah Ascanio die Angst um ihr Kind. Und niemand war da, der ihr beistand, ihr Mann war wahrscheinlich schon in der ersten Kirche der Christenheit niedergemetzelt worden. Nicht bittend sah sie ihn an, sondern mit dem vernichtenden Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. In diesem Moment fröstelte er bis in die Eingeweide. Er zog sein Messer und stellte sich dem Söldner in den Weg. Der zuckte zurück.

»Was willst du? Was geht dich das Balg an?«

»Bist du an Bälgern interessiert?«, fragte ihn Ascanio kalt.

»Nur! Probier es. Es gibt nichts Schöneres. Es ist alles noch so unschuldig und so frisch. Und das Beste ist, du holst dir nicht mal die Franzosenkrankheit!«

Ascanios Augen verengten sich. Seltsam ruhig wurde er, bevor seine Faust im Gesicht dieses Kinderschänders landete, der zu Boden ging. Mit schnellen Griffen hatte er ihm den Brustharnisch gelöst und zur Seite geworfen. Dann kniete er auf den Beinen des Kerls. Dieser kam wieder zu sich und versuchte sich zu wehren. Mit zwei kurzen Schnitten seines Dolches durchtrennte Ascanio ihm die Sehnen an den Oberarmen, sodass der Landsknecht seine Arme nicht mehr benutzen konnte. Sie baumelten an seinem Körper wie bei einer Marionette, bei der man die Drähte gekappt hatte. Er schrie vor Schmerzen wie ein Schwein, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Aber das erreichte Ascanio nicht mehr. Mit einem tiefen Schnitt hatte er die Bauchdecke geöffnet und zog die Därme heraus. Söldner, die aus der Kirche kamen, blieben verwirrt stehen. Er blickte kurz hoch, und als sie das Tier in seinen Augen erkannten, gingen sie rasch weiter, ohne sich einzumischen. Nachdem er den widerlichen Kerl ausgeweidet hatte, erhob er sich und merkte, dass Eugenio und Baccio neben ihm standen. Meine guten Freunde, dachte er wie benommen, gute Männer.

»Bringt diese Frau und ihr Kind in Sicherheit und gebt ihr Geld!«, bat er sie. Die Frau wollte etwas sagen, ihm danken, aber er hob nur abwehrend seine blutige Hand und setzte seinen Weg zum Petersdom fort. Dort schwelten Feuer, und überall lagen Leichen, geschändete Reliquien, geplünderte Heiligtümer. Der ganze Ort wirkte, als hätten ihn die Heerscharen des Satans verwüstet. Und dann fesselte ein Bild seine Aufmerksamkeit.

Vor ihm hing an einem großen Kreuz ein nackter Mann. Giacomo Kardinal Catalano. Unweit von ihm lagen Schwert und Kürass. Er hatte ihn gehasst, aber alles deutete darauf hin, dass er heldenhaft gekämpft hatte. Dann sah er die Verklärung in den toten Augen, das eingefrorene selige Kinderlächeln. Er nahm ihn vom Kreuz ab und bedeckte die Leiche des Erzpriesters mit seinem Mantel. Er kniete nieder und betete für den Mann, den er verabscheut hatte, doch die Umstände seines Todes flößten ihm Respekt ein. Nachdem er das Vaterunser gesprochen hatte, erhob er sich und wandte sich zum Ausgang. Vier Spanier kamen ihm mit blanken Schwertern entgegen.

Ascanio legte den Kopf auf die Seite und bedachte sie mit einem mitleidigen Lächeln. Wenn sie den Kampf wollten, sollten sie ihn haben. Die Männer traten zurück. Einer, der eine taubeneigroße Beule auf der Stirn trug, zischte ihn an. »Fühl dich nur nicht so sicher. Wir kriegen dich noch. Du hast meinen Bruder auf dem Gewissen.«

Ascanio schaute ihn gelassen an. »Such mich, wenn du deinen Tod finden willst.«

Dann verließ er die geplünderte, gebrandschatzte und verwüstete Peterskirche. Auf dem Vorplatz stieß er auf Klaus Seidensticker.

»Komm, wir sammeln uns, um Trastevere einzunehmen«, rief ihm der Hauptmann zu und winkte.

»Wer hat das Kommando?«

»Philibert de Chalon.«

»Der Prinz von Oranien? Das Kind?«

»Ja, ist kein anderer da. Der Connétable ist tot.«

»Schade um ihn wie um Frundsberg. Waren gute Männer.«

»Weißt doch, die Guten sterben.«

»Und die Schlechten muss man totmachen. Ja, ich weiß«, antwortete Ascanio müde. Dann erinnerte er sich an die Frau und dachte an Lucrezia. »Ich will in der ersten Reihe fechten!«, verlangte er.

»Gleich neben mir, du Hundsfott!«, lachte Seidensticker.

Als sie auf dem Weg vom Borgo nach Trastevere an Agostino Chigis villa suburbana vorbeikamen, bat Ascanio den Hauptmann, einen Augenblick zu warten. Er wollte kurz in den Palazzo schauen, denn ihm war zu Ohren gekommen, dass Imperia in der Villa gelebt hatte. Aber außer plündernden Landsknechten fand er niemanden in dem Anwesen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass ein Deutscher auf Peruzzis Fresko seine Krakel schrieb und hörte, wie er beim Schreiben sprach: »Was soll ich, der ich schreib, nit lachen, wir haben den Papst laufen machen.«

Ascanio verließ eilig das Haus und ging mit Seidensticker weiter. Er hatte kein Ohr für das Zwitschern der aufgeregten Vögel. In der Luft hing der betäubende Gestank des Todes. Und nun ging alles schnell. Trastevere ergab sich. Der Heerhaufen blieb jedoch noch zusammen, denn nun stürmten die Landsknechte über die Tiberbrücken in die eigentlichen Rioni der Stadt – Regola, Sant’Angelo, Sant’Eustachio, Parione, Pigna, Ponte und wie sie alle hießen. Der Senat von Rom ergab sich und bat um Schonung. Die Senatoren hätten sich diese Worte auch sparen können, sie waren wie nicht gesprochen. Landsknechte fielen in die Häuser ein, folterten die Bewohner, um ihnen ihren gesamten, auch den versteckten Besitz abzupressen. Es hieß, dass der Papst sich in der Engelsburg verschanzt habe.

Ascanio blutete das Herz, er erkannte die stolze Stadt nicht wieder, in der er einst gelebt hatte. Brände verdüsterten den Himmel. Doch er trieb sich und seine Freunde an, so schnell wie möglich Ponte zu erreichen. Dann standen sie vor Bramantes Palazzo, in dem er Lucrezia vermutete. Die Türflügel waren sperrangelweit geöffnet. Wie vergewaltigt, dachte Ascanio, dem die Panik das Denken abschnürte. Im Erdgeschoss, das er vollkommen verwüstet vorfand, entdeckte er niemanden. Aber es roch nach Schweiß, genauer nach Angstschweiß, der für alle Landsknechte wie eine Droge wirkte, die sie nur zu noch größerer Grausamkeit anstachelte. Wer Angst zeigte, hatte schon verloren. Als er das Atelier betrat, in dem Bramante gearbeitet hatte, überfiel ihn ein heftiger Schmerz angesichts der zerrissenen und teils im Kamin verbrannten Skizzen. Die Erinnerungen trafen ihn wie ein Beil, unerwartet, hart und kalt. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sich hier etwas verändert hatte. Er hatte das Atelier kleiner und mit geringerer Deckenhöhe in Erinnerung.

»Jemand hat den alten Kasten umgebaut«, raunte er Eugenio und Baccio zu, bevor er mit ihnen die Treppe hinauf ins piano nobile hastete.

»Nein!« Der schrille Angstschrei einer Frau zeriss die Stille. Nach all den Jahren, selbst in dieser grauenvollen Verfremdung, erkannte er diese Stimme wieder. Lucrezia. Ascanio zog das Schwert und trieb sich zu größerer Eile an. Die Veränderungen im ersten Obergeschoss nahm er gar nicht wahr, er stürmte in den Saal, aus dem der Schrei gekommen war.

Der Anblick, der sich ihm bot, versteinerte sein Herz. Vier Kinder zwischen drei und vierzehn Jahren saßen mit schreckgeweiteten Augen gefesselt auf dem Boden. Halb nackt kniete Antonio mit auf dem Rücken verbundenen Händen vor einem Söldner. Nur Lucrezia, die ein Kleinkind im Arm hielt, stand in der rechten Ecke des Raumes. Sie war nicht gefesselt. Es war auch nicht nötig, sie würde nicht fliehen und ihre Kinder und ihren Mann zurücklassen. Ein Familienbild, nur ganz und gar nicht idyllisch. Der Landsknecht mit der großen Beule auf der Stirn hielt seinen Dolch auf das rechte Auge Antonios gerichtet.

Er erkannte Ascanio sofort, und diesem war bewusst, dass er dem Bruder des Mannes gegenüberstand, den er in der Peterskirche ausgeweidet hatte. Der Spanier starrte ihn mit schmierigem Lächeln an. Rechts und links von ihm standen jeweils zwei seiner Spießgesellen. Da die spanischen Haufen über die Brücke unterhalb der Engelsburg vorgestoßen waren und nicht wie die deutschen Landsknechte über Trastevere, waren sie natürlich schneller hierher gelangt.

Ascanio schoss ein Gedanke durch den Kopf. Er musste unter allen Umständen verhindern, dass Lucrezia oder Antonio verlauten ließen, dass sie ihn kannten. Die Spanier hätten sie schon getötet, bevor er noch sein Schwert bewegen konnte.

»Ich kenne diese Leute nicht«, rief er laut. »Aber ich möchte sie gern kennenlernen.«

Er spürte, wie ihn Lucrezia und Antonio erstaunt ansahen.

»Aber …«, begann Antonio vollkommen verunsichert, wurde aber sofort barsch von seiner Frau unterbrochen, die Ascanio offensichtlich verstanden hatte. »Du wirst dich doch nicht diesem Unbekannten andienen! Meinst du, er ist besser als die hier?«

»Was soll das Geschwätz! Hier plündere ich. Sieh zu, dass du Fersengeld gibst!«, brüllte der Spanier. Während Eugenio und Baccio einen Schritt nach rechts machten, ging Ascanio auf den Söldner zu.

»Meinst du, dass hier nicht genug für uns alle zu holen ist?«, fragte er leutselig und lächelte den Spanier, der den Dolch auf Antonio gerichtet hielt, an, als wären sie die besten Freunde. Doch dann schlug er ihm, kaum dass er ausgesprochen hatte, mit seinem Schwert den Kopf ab, der dumpf auf dem Boden aufschlug, jedoch infolge des giebelartig spitz nach oben zulaufenden Helms im Kreise drehte und nicht wegrollte. Gleichzeitig hatten sich Eugenio und Baccio schützend vor Lucrezia und die Kinder gestellt, die jetzt zu wimmern begannen. Wütend spuckte einer der Spanier aus.

»Was soll das jetzt wieder? Meinst du, wir lassen dir das auch noch durchgehen?« Er hob sein Schwert, während ein anderer wegrannte, um Verstärkung zu holen. Noch stand es drei gegen drei. Ascanio wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Bald würde es hier nur so von ihren Landsknechten wimmeln. Kurz entschlossen warf er sich auf den Spanier, der ihm am nächsten stand, packte ihn und warf ihn durch das geschlossene Fenster. Es knirschte und ächzte, dann gaben Rahmen und Scheiben nach und stürzten unter dem Druck des Körpers samt diesem auf das Pflaster vor dem Haus. Wie betäubt lag der Landsknecht da, bevor er erwachte und das Weite suchte. Nachdem sich die Situation so vollständig geändert hatte, suchten auch die beiden Plünderer, die noch im Saal standen, rasch das Weite.

Ascanio löste Antonios Fesseln und Baccio die der Kinder. Den Dreijährigen nahm er auf den Arm. Antonio hob seine jüngste Tochter hoch, die Lucrezia wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Kommt, wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Ascanio und versuchte, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Antonio und er übernahmen die Führung. Es folgten Lucrezia, die Kinder, Eugenio und Baccio. Schnell hatten sie die Treppen passiert und entkamen in letzter Minute durch den Hintereingang, bevor die Verstärkung der Söldner ins Haus drang. Sie durchquerten den Garten, um schließlich durch ein kleines Tor hinten rechts in der Mauer die Gasse zu erreichen.

Um sie herum gab es nur Tod, Folter, Brandschatzung und Plünderung, aber niemanden, der dem Einhalt gebot. Vor einem Handwerkerhaus rief ein Spanier Ascanio zu, er solle ihm die Gefangenen überlassen. Aber Ascanio knurrte nur zurück, er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie vermieden große Straßen und Plätze und kämpften sich durch kleine Gassen bis in den Norden der Stadt durch. Wo sie auch vorbeikamen, überall bot sich ihnen das gleiche Bild; fünfzigtausend Römer waren der Brutalität einer führerlosen Soldateska schutzlos ausgeliefert.

In der Abenddämmerung erreichten sie schließlich vollkommen erschöpft die Porta Flaminia, die auf die Straße nach Florenz führte. Unweit des Tores lagerten sie in der Ruine eines Handwerkerhauses. Ascanio riet allen, ein wenig auszuruhen und zu schlafen. Antonio wollte ihm danken, aber er wehrte ab. »Gönn dir auch etwas Ruhe, Antonio, wir müssen schon sehr bald weiter.«

Dann besprach er sich mit Eugenio und Baccio. Sie beschlossen, dass Eugenio versuchen sollte, ein Pferd und ein Fuhrwerk aufzutreiben. Falls er aber bis Mitternacht nicht zurückkehrte, würden sie ohne ihn und zu Fuß aufbrechen. Baccio sollte in der Zeit ein wenig Reiseproviant besorgen.

Ascanio warf einen verstohlenen Blick auf Lucrezia, die sich an Antonios Schulter lehnte und ihren jüngsten Sohn stillte, umgeben von ihren Kindern, die bis auf den Vierzehnjährigen erschöpft eingeschlafen waren. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Wie sehr beneidete er Antonio darum, eine Familie zu haben, eine Heimat, Menschen, die ihn liebten. Wie viel hätte er darum geben, dass ihm ein solches Glück vergönnt gewesen wäre. Zum ersten Mal schmeckte er die bittere Erkenntnis, sein Leben falsch gelebt, vergeudet zu haben. Er spürte, wie ihm die Augen feucht wurden. Damit es niemand merkte, räusperte er sich und brummte, er wolle kurz die Gegend erkunden.

Als er aus der Ruine trat, wölbte sich über ihm der römische Abendhimmel, der in allen Rottönen leuchtete. Jetzt war er allein, jetzt durfte er seinen Tränen über sein verpfuschtes Leben freien Lauf geben. Er setzte sich auf einen Feldstein und weinte. Es tat ihm wider Erwarten gut. Und plötzlich konnte er es kaum erwarten, im Himmel zu sein, um seine guten Eltern wiederzusehen. Wie schön wäre es, wieder Kind zu sein, sich wieder in ihrer Obhut zu befinden! Er bemühte sich, bei diesem frühen Glück zu verharren und nicht an jenen Tag zu denken, an dem das Glück zerschlagen wurde.

Das Wiehern von Pferden riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf. Eugenio, diesem Teufelsbraten, war es gelungen, eine Kutsche mit vier Pferden aufzutreiben. Fast gleichzeitig erschien Baccio, der einen gut gefüllten Sack über der Schulter trug. Ascanio weckte Antonio, Lucrezia und den ältesten Knaben. »Es ist so weit.« Behutsam trugen sie die anderen Kinder in die Kutsche und verließen Rom schließlich eine Stunde vor Mitternacht, erleichtert, der Hölle entronnen zu sein.

Fünf Tage später trafen sie in Florenz ein und kamen bei Verwandten in der Nähe der Porta San Gallo unter, nach der sich die Familie Sangallo benannt hatte.

Am Ende hatte der unglückliche Clemens VII. doch noch ein Lösegeld gezahlt, und am 17. Februar 1528 verließen die demoralisierten Truppen, die über ein halbes Jahr lang die Römer terrorisiert hatten, die Ewige Stadt. Im April kehrte Antonio in Begleitung von Eugenio zurück. Zuerst inspizierte er den verwüsteten Palazzo und dachte dankbar, dass seine Familie und er dem Tod entronnen waren. Und was den Palazzo betraf: Nichts war zerstört worden, was sich nicht wieder reparieren oder erneuern ließ. Dann begab sich Antonio zur Peterskirche.

Der Neubau und die alte Basilika ähnelten sich auf furchtbare Weise: Die Landsknechte hatten Fenster zerschlagen, Altäre zerstört, Reliquien aus ihren Behältnissen gestohlen oder aus den Reliquiaren Edelsteine herausgebrochen. Am schlimmsten sah es im Tegurium aus. Der Altar über der Memoria des Apostelfürsten Petrus war vollkommen zerstört, das Ziborium ein skurriles Gerippe, aus dem man alles Wertvolle herausgeschlagen oder herausgesägt hatte. Der Architekt wagte nicht, in die Gruft hinunterzusteigen, weil er nicht sehen wollte, was sie mit dem Grab des Apostels angestellt hatten. Er entzündete über der Memoria eine Kerze, die er mitgebracht hatte, und dankte Gott in einem langen Gebet, dass er ihn errettet hatte. Eines erkannte er sofort: Bevor sie mit dem Bauen fortfahren konnten, war eine Menge Aufräum- und Reparaturarbeit zu leisten.

Antonios nächster Weg führte ihn nach Regola ins Haus seines Freundes Maffeo Maffei. Unterwegs zeigte sich ihm eine geschundene Stadt. Die Palazzi der Reichen hatten die Landsknechte genauso geplündert und verwüstet wie die Hütten der Armen. Sie hatten mitgenommen, was sie zu fassen bekamen, ob viel oder wenig. Holzleisten und Gestelle, die früher einmal Möbel waren, Scherben von Geschirr und Krügen, Fensterkreuze, Türflügel und Schlösser, Kleidung, immer wieder zerfetzte Tücher und Papier, Rechnungen, Zeichnungen, Briefe und Bücher bedeckten die Straßen. Wind pfiff durch die Gemäuer, die oft tür- und fensterlos der Witterung schutzlos ausgeliefert waren. In die Augen der Menschen hatte sich Misstrauen geschlichen. Wo waren nur das Selbstbewusstsein und die Frechheit des Popolo geblieben?, fragte er sich. Dann stand er vor dem dreistöckigen Haus von Maffeo. Nachdem damals die Umbauarbeiten an seinem Palazzo beendet worden waren, hatten sie sich sogleich an die Vergrößerung von Maffeos Anwesen gemacht. Selbstverständlich auf Kosten der Baustelle am Petersdom und mit den Baumaterialien von dort. Seit Antonio aus der Engelsburg entlassen worden war und er den Preis für seine Rettung kannte, hatte er jede Hemmung verloren. Er begann, die größte Baustelle der Christenheit zu hassen.

Antonio schaute durch die Tür und entdeckte Arnoldo, Maffeos ältesten Sohn. Er musste inzwischen etwa zwanzig Jahre alt sein, ein großer und schöner junger Mann. Er war gerade dabei, neue Fenster einzusetzen, wobei ihm zwei seiner jüngeren Brüder zur Hand gingen. Antonio fiel ein Stein vom Herzen, dass die Familie des Bauunternehmers die schreckliche Zeit offenbar gut überstanden hatte.

»Arnoldo, wo ist dein Vater?«, rief er beim Eintreten.

Arnoldo schaute ihn erst an, dann begrüßte er ihn ernst. »Die Landsknechte haben ihn gefoltert, um an unser Geld zu kommen. Wir hatten es nämlich vergraben. Er hat geschwiegen, bis in den Tod. Der Sturkopf!« In den Augen stritten Liebe, Trauer und Missbilligung.

Antonio senkte den Kopf. Den Freund und Gefährten tot zu wissen stimmte ihn unsagbar traurig.

»Sie haben Mutter gedroht, dass sie den Leichnam meines Vaters in kleine Streifen schneiden und an die Bluthunde verfüttern würden, da hat sie ihnen das Geld gegeben.«

»Wo ist deine Mutter?«

»Vor Gram gestorben.«

»Und deine Geschwister?«

»Fressen mir die Haare vom Kopf. Nein, Gott sei Dank, sie leben. Aber ich weiß nicht, wie ich sie durchbringen soll.«

»Mit dem Geschäft deines Vaters natürlich!«

Arnoldo sah den Architekten lange an. »Wollt ihr Euch über mich lustig machen? Vater hat mich auf die Lateinschule geschickt. Anschließend hat er mich zwar ins Maurerhandwerk eingewiesen, aber ich bin kein Meister.«

Antonio legte seinen Arm um die Schulter des jungen Mannes. »Ach, weißt du, mein Sohn – denn das sollst du von jetzt ab sein –, ich will versuchen, so gut ich kann, dir deinen Vater zu ersetzen. Als ich deinen Vater kennenlernte, hat er zwar behauptet, dass er ein Meister wäre, aber er war keiner. Ein Unternehmer war er, ein kluger, ein ausgefuchster, mit Mut, mit sehr viel Mut.« Arnoldo stöhnte leise. »Und ich denke doch, dass sein Blut in deinen Adern fließt.«

Der Architekt half dem jungen Mann, der in der Tat die Begabung seines Vaters für das Baugewerbe geerbt hatte, das Familienunternehmen wieder aufzubauen. Während Arnoldo und seine Maurer die Zerstörungen an Antonios Palazzo beseitigten, konnte dieser den jungen Mann bei der Führung seiner Männer beobachten und ihm Ratschläge erteilen. Nur das Atelier wollte Antonio allein renovieren.

Den ganzen Tag über hatte er die Wände verspachtelt, die Spuren von Hellebarden- und Schwerthieben aufwiesen. Sicher hatten die Söldner ihre Wut am Mobiliar und den Wänden ausgelassen, nachdem der flüchtige Spanier Hilfe geholt und den Palazzo leer vorgefunden hatte. An einer Stelle entdeckte er ein kleines Loch in der Wand. Er fasste mit dem Zeigefinger hinein und erfühlte, dass dahinter ein Hohlraum lag. Mit einem Stemmeisen und einem Hammer schlug er den Putz ab, der die Vertiefung verschloss. Vor ihm öffnete sich eine Nische, etwa zwei Handbreit tief und etwas über zwei Fuß hoch, in der zwei Bücher lagen. Antonio nahm sie heraus und ging mit ihnen zum Fenster, um zu sehen, worum es sich handelte. Enttäuscht stellte er fest, dass es sich bei dem einen Buch um ein Exemplar von Dantes »Göttlicher Komödie« handelte.

Weshalb hatte Donato es versteckt? Das Werk genoss doch den besten Ruf. Antonio begann, darin zu blättern. Schließlich stieß er auf den zweiten Teil, auf ein Buch, das in einer Sprache verfasst war, die er nicht kannte. Rasch wurde ihm klar, dass der zweite, nur halb so dicke Band die Übersetzung des ersten enthielt. Ihm stockte der Atem. Vor ihm lag das »Buch der Baumeister«, das Bundesbuch der Fedeli d’Amore. Die Liste der Priore des Bundes am Ende des Originals beeindruckte ihn. Dann versenkte er sich in die Lektüre der Übersetzung. Als die Dunkelheit ins Zimmer floss, holte er sich einen Krug mit Wein und ein paar Kerzen. Niemand trieb ihn, er studierte das Buch. War er nicht der letzte Prior der Gefährten der Liebe? Hatte ihn nicht Donato kurz vor seinem Tod eingesetzt? Nur war er nicht mehr dazu gekommen, ihm zu verraten, wo er das Buch versteckt hatte.

Für einen kurzen Moment erwog Antonio den Gedanken, den Bund wiederzubeleben. Doch wozu? Es gab nur noch zwei Fedeli – ihn selbst und Baldassare Peruzzi. Beide hatten sie kein Interesse an Politik. Und auch nicht an philosophischen und theologischen Spekulationen. Das verdarb das Geschäft und brachte einen nur in Schwierigkeiten. Zudem hatte der Sacco di Roma alle hochgespannten Vorstellungen von der Göttlichkeit und Ewigkeit der Kunst der grausamen Lächerlichkeit preisgegeben. Selbst wenn er daran zweifeln wollte, musste er nur durch Rom gehen und sich die geschändeten Kirchen, die zerstörten Kunstwerke anschauen, um zu erkennen, dass sich die Fedeli gründlich geirrt hatten. Liebe war nur Trug und die Kunst so verletzlich wie der Mensch. Nicht die Philosophen, nicht die Künstler und Dichter beherrschen die Welt, nicht ihre Ideen und Kunstwerke, sondern schlicht und einfach die Gewalt und der Zufall.

Antonio da Sangallo hatte seine Lektion gelernt. Es ging nur darum, dass man sich in der Welt behauptete, um sich und den Seinen ein gutes Auskommen zu sichern. Es war an der Zeit, dass die Familie Sangallo das Baugeschehen in Rom beherrschte. Aufträge und Arbeit gab es nach dem Sacco zur Genüge. Dennoch las er mit der größten Neugier im »Buch der Baumeister«, denn er wusste, dass Bramante ihm noch immer weit überlegen war. Bis zu diesem Tag verstand er nicht alle Ideen seines Meisters. Aber wenn er das geheime Wissen studiert hatte, würde er vielleicht endlich auf einer Stufe mit ihm stehen.

So verging eine gute Woche. Am Ende war Antonio ermüdet von den vielen theoretischen Spekulationen und dankbar für ein paar neue Berechnungsarten, in die ihn das Buch einführte. Nie würde er, der ein versierter Architekt war, erfahren im Umgang mit den Bauunternehmern, von denen ihm keiner etwas vormachen konnte, was die Lösung praktischer Probleme betraf, Donato Bramante verstehen können. Zwischen Fleiß und Inspiration hat Gott eine Grenze gesetzt, und Antonio war zwar sehr fleißig und auch begabt, aber nicht inspiriert. So stellte er beide Bücher nach der Lektüre auf das kleine Bücherregal in seinem Atelier. Nein, wären sie nicht gestorben, dann hätte der Sacco di Roma den Gefährten der Liebe den Garaus gemacht.

Im frühen Herbst, noch bevor die Blätter fielen und es kühl wurde, brachte Ascanio Lucrezia und die Kinder zurück nach Rom. Nur Eugenio, der in Florenz eine Witwe gefunden und sie geheiratet hatte, blieb in der Arnostadt zurück. Die beiden Söldner hatten so tief bewegt voneinander Abschied genommen, als seien sie sicher, sich nicht mehr wiederzusehen.

Antonio hatte inzwischen den Palazzo vollkommen instand gesetzt und seine Arbeit am Petersdom wiederaufgenommen. Der Tod des Kardinals Catalano hatte eine Last von seinen Schultern genommen. Er war von dem Versprechen, das ihm die Lust am Bauen genommen hatte, erlöst. Nun endlich wollte er wieder dort anschließen, wo Donato geendet hatte. Zurück zum Zentralbau!

Doch der Geldmangel behinderte die Wiederaufnahme der Bauarbeiten im großen Stil, und der gedemütigte und ruinierte Papst Clemens VII. vermochte sich zu keinen großen Entscheidungen mehr aufzuraffen. Antonio war es recht, er verdiente viel Geld mit anderen Projekten – hier ein Palazzo, da eine Kirche – und konnte in Ruhe am Konzept für den Petersdom arbeiten. Eines schwor er sich: Niemals würde er so leichtsinnig vorgehen wie Bramante. Er wollte detaillierte Pläne und ein exaktes Holzmodell erarbeiten, damit der Fortgang der Bauarbeiten eindeutig festgelegt wurde. Und während er daran arbeitete, wuchsen in seinem Herzen die Vorwürfe, die er seinem einstigen Lehrmeister machte, in dem er immer mehr den Schuldigen für die Misere ausmachte. Mit einer ordentlichen Planung stünde Neu Sankt Peter bereits, dachte er. Auch als endlich wieder Geld floss, baute Antonio nicht weiter. Die üblichen Verlegenheitsarbeiten – dort ein Fundament ausbessern, da eine Wand hochziehen – verschleierten die Wahrheit. Es ging nicht voran, und das hatte einen Grund.

Antonio wagte sich nicht an die Kuppel. Er mochte sich noch so sehr schinden, die Berechnung gelang ihm einfach nicht. Und das alte Konzept, an dem er sogar mitgearbeitet hatte, zweifelte er inzwischen an. Seine tiefe Skepsis entsprang nur einem einzigen Grund, den er sich aber nicht einzugestehen wagte – es mangelte ihm an Mut. Wenn er die Kuppel setzen würde und sie zerbräche oder die Pfeiler hielten ihrem Gewicht nicht stand, würde sie ihn und seine Familie unter sich begraben. Davor hatte er Angst. Und darüber musste er sich hinwegtäuschen.

Der Tod von Baldassare Peruzzi ließ ihn als Architekt vollends vereinsamen. Hatte sich Baldassare auch vorher nicht viel um den Bau gekümmert, so fehlte er ihm dennoch. Der Papst sah keinerlei Notwendigkeit, einen zweiten Architekten zu beauftragen. Und Antonio selbst konnte ja schlecht darum bitten. Es hätte wie ein Eingeständnis ausgesehen, dass er überfordert sei. Von Jahr zu Jahr mehr empfand er das Projekt als ein abgrundtiefes schwarzes Loch, das ihn zu verschlingen drohte oder als eine große Eisenkugel am Bein, die ihn langsam und unerbittlich auf den Grund des Tibers zog, während er nach Luft schnappend und mit den Händen rudernd versuchte, sich an der Wasseroberfläche zu halten.