9.  Vorbereitende Schritte

Die Arbeit gegen Mobbing wird Sie mit positiven Erfahrungen bescheren. Sie wird aber auch einiges von Ihnen abverlangen. Man könnte die Arbeit gegen Mobbing, sei es als Mobbing-Prävention oder auch Intervention gegen Mobbing, mit einer besonderen Herausforderung, einer längeren Reise, einer Weiterbildung, der Wiederaufnahme einer bestimmten Tätigkeit etc. vergleichen. Es sind alles Unternehmungen, für die man sich entscheidet, die gleichzeitig Herausforderungen darstellen, und für welche man sich vorbereiten muss.

Anregungen zur Vorbereitung auf die Mobbingarbeit

  • Versuchen Sie, einen passenden persönlichen konkreten Vergleich zu einer gelungenen Herausforderung aus Ihrer Erfahrung zu finden.

  • Kommen Sie gelegentlich zu diesem Vergleich zurück und checken Sie, ob der Vergleich mit Ihren Erfahrungen im Umgang mit Mobbing stimmt. Es mag Ihnen helfen durchzuhalten, wenn Sie die Motivation verlieren sollten.

Die Prävention von Mobbing ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist; die Durchführung eines Präventionsprogramms ist keine definitive «Impfung» gegen Mobbing. Mobbing-Prävention kann nur nachhaltig sein, wenn sie zu einem Bestandteil der täglichen Arbeit wird. So erleben wir in Weiterbildungskursen häufig, dass Lehrpersonen nach den ersten deutlichen Erfolgen richtig enthusiastisch sind, dass sie jedoch in ihrer Wachsamkeit nachlassen, gerade weil alles besser läuft, und sehr enttäuscht sind, weil Probleme bald wieder auftreten. Die anfängliche Begeisterung verwandelt sich in eine gewisse Entmutigung. Wenn die Probleme erneut diskutiert und angepackt werden, verbessert sich die Situation in der Klasse wieder. Diese Erfahrung bringt den meisten Lehrpersonen eine neue Erkenntnis der eigenen Kompetenz gegenüber dem Mobbing. Es wird überdies klar, dass Mobbing-Prävention langfristiges und konsequentes Handeln erfordert (Alsaker, 2003).

Auch wenn es gelegentlich geschieht (wie es in einigen der vorgestellten Fallbeispielen der Fall war), dass eine Lehrperson nach einer einfachen Maßnahme eine schnelle Besserung des Mobbing-Problems erlebt, ist es meistens so, dass es eher viele kleine Schritte in Richtung von kleinen langfristigen Änderungen braucht, um Mobbing aus dem Alltag zu verbannen.

Be-Prox bietet kein schnelles und universelles Patentrezept gegen Mobbing an. Be-Prox fördert ein Umdenken und die Arbeit in kleinen Schritten, die den Alltag nachhaltig verändern können.

  • Mobbing-Prävention ist ein Prozess, der sich über lange Zeit erstreckt.

  • Nachhaltige Mobbingprävention ist von Arbeit in kleinen Schritten geprägt.

  • Nachhaltige Prävention erfordert einen konsequenten Umgang mit Mobbing.

9.1 Sensibilisierung

Um Mobbing vorbeugen zu können oder dagegen zu intervenieren, sind Kenntnisse über dieses spezielle Phänomen vonnöten. Dies allein reicht aber nicht aus. Die persönliche Auseinandersetzung mit den eigenen Einstellungen ist unbedingt notwendig. Deshalb verwende ich anstelle von Wissensgrundlage lieber den Begriff-Sensibilisierung.

Die Sensibilisierung ist immer der allererste Schritt in unseren Weiterbildungen. Sie als Leser haben diesen Schritt bereits zu einem großen Teil durch die Lektüre der ersten acht Kapitel vollzogen. In einem zweiten Schritt müssen Sie, um in der Arbeit gegen Mobbing etwas zu bewerkstelligen, zusätzlich die konkrete Entscheidung zur Umsetzung treffen. Das braucht allerdings oft Mut.

Be-Prox in der Praxis (1/6)

1. Sensibilisierung – Stellungnahme gegen Mobbing

Olweus (1996) empfiehlt, Mobbing-Prävention mit der Durchführung einer Umfrage unter den Schülerinnen und Schülern zu beginnen. Die Idee dahinter ist, dass Lehrpersonen, Schüler und Eltern konkrete Zahlen über die Situation in der Schule bekommen. Bevor eine Schulleitung sich für einen solchen Schritt entscheidet, muss meiner Meinung nach eine gewisse Sensibilisierungsarbeit geleistet werden, sodass alle wissen, wovon die Rede ist und weshalb man sich für diese Problematik interessiert. Dies erhöht die Chance, dass die Befragung von allen Seiten ernst genommen wird (siehe auch Kap. 10).

Einige Personen, ob Lehrpersonen, Kinder oder Eltern, sind dadurch sensibilisiert worden, dass sie eigene Erfahrungen mit Mobbing gemacht haben, sei es als Betroffene oder Zuschauer. Es ist aber von großer Wichtigkeit, auch die nicht direkt betroffenen Lehrpersonen, Eltern und Schüler für das Phänomen Mobbing zu sensibilisieren. Dadurch sollen sie motiviert werden, etwas gegen Mobbing zu unternehmen.

Anregungen zum Nachdenken über eigene Erfahrungen mit Mobbing

  • Können Sie sich an Mobbing-Situationen im Laufe Ihrer Schulzeit erinnern?

  • Welche Rolle hatten Sie?

  • Wie haben Sie sich damals gefühlt?

  • Was hätten Sie sich damals von den Erwachsenen (Eltern oder Lehrpersonen) gewünscht?

9.2  Persönliche Einstellungen zu Mobbing

Wenn Sie Mobbing vorbeugen wollen oder eine Mobbing-Situation stoppen müssen, ist es extrem wichtig, dass Sie davon überzeugt sind, dass Sie Mobbing nicht tolerieren. Natürlich meinen die allermeisten Erwachsenen nicht, dass Mobbing etwas «Gutes» ist. Trotzdem sind wir uns nicht immer im Klaren darüber, wie wir im Detail über Mobbing denken und wie unsere Einstellungen unser Handeln beeinflussen können.

Versuchen Sie die folgenden Aussagen spontan zu ergänzen.

Ihre spontanen Gedanken und Bilder zu Kindern und Jugendlichen, die in Mobbing involviert sind:

  • Opfer von Mobbing sind/haben/sollten/können ...

  • Mobbende Schüler sind/haben/sollten/können ...

  • Peers, die den Mobbern helfen, sind/haben/sollten/können ...

  • Zuschauer von Mobbing-Vorfällen sind/haben/sollten/können ...

Um noch konkreter zu werden, können Sie im Folgenden die Fragen beantworten, die wir in Projekten und in Weiterbildungen verwenden, um an wichtige Meinungen und Einstellungen der Erwachsenen zu kommen, die im Umgang mit Mobbing von Bedeutung sind. Was meinen Sie persönlich zu den folgenden Aussagen? Versuchen Sie, Ihre Meinung so spontan wie möglich hervorzurufen.

Fragen zu Mobbing und den involvierten Kindern und Jugendlichen (Alsaker, 2003)

Inwiefern meinen Sie, dass die Aussagen tatsächlich zutreffen (gar nicht, eher nicht, teils-teils, eher ja, genau)? Wenn Sie z. B. der Meinung sind, dass eine Aussage teilweise zutrifft, versuchen Sie zu differenzieren: wann trifft sie zu und wann nicht?

  • Mobbing ist ein ernst zu nehmendes Problem.

  • Mobbing wird immer im Versteckten ausgeübt.

  • Es gibt Kinder, die von ihrem Verhalten und Charakter her zum Opfer bestimmt sind.

  • Opfer sind Kinder, die daheim schwierige Verhältnisse haben.

  • Das Opfer löst durch sein Verhalten das Mobbing aus.

  • Gemobbte Kinder sollen sich selber wehren.

  • Kinder müssen lernen, selber mit Mobbing-Situationen umzugehen.

  • Es ist nötig, so früh wie möglich einzugreifen, damit Mobbing nicht entstehen kann.

  • Man sollte nur ins Mobbing eingreifen, wenn man sieht, dass ein Kind leidet.

  • Kinder werden zu Mobbern, weil sie selber Probleme haben.

  • Mobber brauchen viel Aufmerksamkeit.

  • Das Verhalten der anderen Kinder hat keinen Einfluss auf das Mobbing eines Kindes.

Gehen Sie jeweils zu den früheren Kapiteln zurück, um Ihre spontane Meinung mit den Forschungsergebnissen zu vergleichen. Wo waren Sie einig und wo nicht? Wenn Sie nicht einig waren: Aus welchem Grund sind Sie mit den Ergebnissen aus der Forschung uneinig? Worauf basieren Ihre Ansichten?

Dass sich die Meinung einer Lehrperson ändern kann, wenn sie lernt, konkret mit Mobbing umzugehen, haben wir in unserer Evaluation zeigen können (Alsaker, 2003). Während die Lehrpersonen vor der Weiterbildung größtenteils die Meinung vertraten, dass Mobbing immer im Versteckten ausgeübt wird (durchschnittlich sagten sie, dass es «teils» bis «eher» zutraf), meinten sie nach einem halben Jahr Beobachtung und konkreter Auseinandersetzung mit Mobbing, dass es «eher nicht» zutraf. Ich nenne dieses Ergebnis, weil es zeigt, dass wir häufig nur das sehen, was wir sehen wollen. Solange man das Gefühl hat, man könne gegen Mobbing wenig tun, sieht man es lieber nicht, und stellt sich vor, es käme fast nur im Versteckten vor. In Wirklichkeit ist es so, dass Mobbing häufig versteckt vorkommt, aber wenn man lernt genauer hinzuschauen, sieht man einiges, das man ohne Übung nicht gesehen hätte. Man geht auch an Orte, wo Mobber sich «sicher» fühlen, die man früher nicht speziell unter Aufsicht gehabt hat.

  • Um Mobbing stoppen zu können, muss man es wirklich stoppen wollen.

  • Klare Meinungen sind eine notwendige Grundlage für klare Botschaften.

9.3  Mobbing-Prävention – eine Wertfrage

Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob und weshalb man sich überhaupt gegen Mobbing engagieren will, und was man als grundsätzlich schlecht respektive gut für das Zusammenleben mit anderen Menschen und die Entwicklung von Kindern erachtet, ist hier grundlegend. Ist man unsicher, ob es wirklich wichtig ist, dass Menschen einander rücksichtsvoll behandeln, kann man kaum überzeugend wirken, wenn man rücksichtvolles Verhalten von den eigenen Kindern oder Schülern verlangt. Ich empfehle Ihnen deshalb, sich etwas Zeit zu nehmen und zu überlegen, was Sie dazu motiviert, gegen Mobbing zu handeln: Welches sind die zwischenmenschlichen Werte, die Ihnen wichtig sind und durch die Ausübung von Gewalt gefährdet werden?

Die grundlegenden Werte, die ich im Folgenden diskutiere, bilden die implizite ethische Grundlage der allermeisten Präventions-Programme, die sich gegen Mobbing richten.

Respekt

Praxisrelevantes Wissen

  • Mobbing ist das genaue Gegenteil von Respekt.

  • Mobbing ist ein Trampeln auf dem Selbstwertgefühl der anderen.

  • Mobbing ist eine Überschreitung aller individuellen Grenzen.

  • Mobbing ist eine Verweigerung der Wahrnehmung des Opfers.

Man könnte lange Zeit darüber diskutieren, was Respekt überhaupt ist und wie er sich äußert. Respekt hat meiner Meinung nach mit Achtung und Anerkennung von anderen Menschen zu tun. Der Gebrauch des Wortes «Respekt» vermittelt zudem eine gewisse Distanz, im Sinne von «Grenzen anerkennen». Respekt im alltäglichen zwischenmenschlichen Gebrauch kann verstanden werden als die Anerkennung anderer Menschen als Individuen, die als solche denselben Wert haben wie man selbst (Alsaker, 2003).

Das soziale Umfeld, der Kontakt mit anderen Menschen, ist für die Entwicklung des Selbstwerts grundlegend. Es beginnt bereits bei dem Gefühl, von anderen aktiv wahrgenommen zu werden. Mit einer Begrüßung zeige ich meinen Mitmenschen, dass ich sie als Menschen – und als solche auch als wertvoll – wahrnehme. Gehen wir zurück zum Fallbeispiel von Herrn F., dem Schulleiter aus Kapitel 6:

... Herr F. entscheidet sich an diesem Montagmorgen dafür, selber Respekt und Anstand zu zeigen, indem er auf Simon zugeht, ihn anschaut und freundlich begrüßt ...

Mit dieser sehr kleinen, anständigen und respektvollen Geste zeigte Herr F., dass er Simon als einen ganz normalen Menschen wahrnahm. Es hatte zur Folge, dass Simon sich anständig und freundlich benahm. Herr F. fühlte sich dementsprechend selber positiv wahrgenommen und gestärkt. Beide Parteien zogen einen großen Profit aus dieser sehr kurzen Interaktion.

Respekt zu zeigen heißt unter anderem, die Grenzen der anderen zu anerkennen. Fragen nach Nähe und Distanz sind in jeder Beziehung und jeder Interaktion ein Thema. Mit nahen Personen weiß man, «wie weit man gehen darf», bevor diese sich unwohl fühlen oder Stopp sagen. Pflegt man einen respektvollen Umgang miteinander, geht man nicht über diese Grenzen hinaus. Unter Kindern und Jugendlichen werden Grenzen immer wieder ausgetestet. Das gehört zur Entwicklung. Was im Umgang mit einem Mitschüler bereits eine Grenzüberschreitung ist, kann im Umgang mit einem anderen absolut in Ordnung und vielleicht sogar erwünscht sein. Kinder üben dies beispielsweise in Neckereien und spielerischem Kämpfen. Wichtig ist, dass sie lernen, die Grenzen der Peers zu erkennen und diese zu respektieren und gleichzeitig ihre eigenen Grenzen klar zu definieren (siehe dazu Kap. 12 und 14).

  • Erwachsene sollten ein gutes Vorbild für einen respektvollen Umgang mit anderen Menschen sein.

  • Kinder und Jugendliche sollten in Erfahrung bringen, was es bedeutet, Respekt füreinander zu haben (positive Erfahrungen machen).

  • Kinder und Jugendliche sollten lernen, die Grenzen ihrer Peers zu respektieren und ihre eigenen Grenzen klar zu kommunizieren.

Der respektvolle Umgang miteinander und die Definition von Grenzen kann in den verschiedensten Zusammenhängen eingeübt oder diskutiert werden.

Umsetzungsüberlegungen

  • In welchen alltäglichen Schul- oder Familiensituationen könnte ich den respektvollen Umgang mit meinen Kindern/meinen Schülern üben?

  • Gibt es Spiele oder Aufgaben, die sich dafür eignen würden einzuüben, wie man Nähe, Distanz und Grenzen setzt und respektiert?

  • Gibt es TV-Serien und anderes Material, die Kindern und Jugendlichen bekannt sind, die sich für Gespräche zum Thema eignen würden?

Praxisbeispiele

  • In einer Schule in der Ostschweiz wurde ein Begrüßungsritual eingeführt. Alle Schüler sollten einander am Anfang des Schultages begrüßen.

  • Gemeinsame Recherche: Wie begrüßen sich Leute in verschiedenen Kulturen?

  • Einführung von Signalen für das eigene Bedürfnis nach Ruhe. Ruhe-Ecke, Ruhezeichen, Stoppzeichen.

Akzeptanz für individuelle Unterschiede – Bereicherung durch Vielfalt

Praxisrelevantes Wissen

  • Passive Opfer haben Schwierigkeiten, sich durchzusetzen.

  • Kinder und Jugendliche mit einem Migrationshintergrund haben ein höheres Risiko als ihre «einheimischen» Peers, Opfer von Mobbing zu werden.

  • Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die äußere Erscheinung Mobbing verursacht.

  • Kinder, die Verhaltensprobleme, Aufmerksamkeitsprobleme oder ADHS haben, tragen ein höheres Risiko, gemobbt zu werden.

In Kapitel 7 wurden individuelle Verletzbarkeiten aufgegriffen. Im Kasten «Praxisrelevantes Wissen» sind nur einige der Ergebnisse zusammengetragen. Diskutiert wurden Faktoren, die für ein Kind das Risiko erhöhen, zum Opfer oder zum Täter von Mobbing zu werden. Dieses Wissen ist für die Prävention von Mobbing wichtig, weil es helfen kann, die Aufmerksamkeit auf gefährdete Kinder zu richten und somit anfängliche Mobbing-Situationen schneller zu erkennen.

Die Suche nach individuellen Merkmalen kann aber auch gefährlich sein, weil sie den Fokus zu sehr auf Defizite von Kindern leitet. So sind Einstellungen gegenüber den Opfern nicht immer frei von Defizit- und sogar Schuldzuweisung (siehe Kap. 9.2). Schuldzuweisungen geschehen besonders leicht gegenüber den aggressiven Opfern, die häufig eine geringe Selbstkontrolle aufweisen. Es wurde in vorherigen Kapiteln diskutiert, wie ihr Verhalten von Peers und Erwachsenen als störend empfunden werden kann. Dieses Verhalten gibt keinerlei Legitimation zu Mobbing.

Den nicht aggressiven Opfern wird oft vorgeworfen, dass sie sich nicht wehren. Viele von ihnen versuchen es, haben aber keine Chance. Hier gilt es wieder zu unterstreichen, dass auch Defizite in Selbstbehauptung und Abwehr niemandem erlauben, diese Kinder oder Jugendlichen zu mobben.

Wir alle haben schon einmal erlebt, wie es ist, von anderen Menschen rücksichtslos oder aggressiv behandelt zu werden. Nicht selten fehlt auch uns Erwachsenen in solchen Fällen die nötige Schlagfertigkeit. Wir reagieren etwas unbeholfen und ärgern uns danach stundenlang und überlegen, was wir hätten sagen sollen. Einige Menschen sind schlicht viel rascher und treffender in ihren Antworten als andere. So ist es auch bei Kindern.

Anregungen zum Nachdenken

  • Wann wurde ich das letzte Mal rücksichtslos oder aggressiv behandelt?

  • Habe ich mich wehren können?

  • Was genau habe ich getan?

  • Was hat die Situation in mir ausgelöst?

  • Wie könnte ich mich in Zukunft in einer ähnlichen Situation verhalten?

In Kapitel 7 wurde das Aussehen thematisiert und es wurde klar, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass die äußere Erscheinung Mobbing durch andere Kinder provoziert. Es wurde aber anhand eines Fallbeispiels (Celia aus dem Film «Mobbing ist kein Kinderspiel») gezeigt, dass die Mobber die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf das Körpergewicht des Mädchens lenken, und dass niemand dabei sieht, dass der Haupt-Mobber selber etwas mehr Gewicht hat als seine Peers. Auffälligkeiten sind nie die «Ursache» des Mobbings, aber Mobber machen aus individuellen Unterschieden Auffälligkeiten, die sie als Ursachen für ihre Handlungen definieren.

Es ist allerdings so, dass das Aussehen in westlichen Kulturen und inzwischen auch in anderen industrialisierten Ländern einen sehr hohen Stellenwert hat. Es wird in vielen Zusammenhängen vermittelt, dass Schönheit ein Erfolgskriterium ist (Calogero, Thompsom, 2010; Sheldon, 2010). Die Toleranz für kleinere oder größere äußerliche Abweichungen ist laut Aussagen von Kindern und Lehrpersonen nicht sehr groß (Alsaker, 2003). Dazu kommt, dass sich der Mode- und Markendruck heute bei immer jüngeren Kindern bemerkbar macht und dass dies bereits von Mobbern ausgenutzt wird.

Nebst allen äußeren Merkmalen sind Menschen in ihren Persönlichkeitszügen und ihren Kompetenzen sehr unterschiedlich. Nicht alle sind gleich sensibel, aufmerksam, offen, selbstsicher, praktisch, sportlich, schlagfertig etc. Diese Unterschiede werden nicht selten von weniger einfühlsamen Personen benutzt, um sich selber ins Licht zu rücken. Wie oft werden Leute in ganz gewöhnlichen sozialen Situationen «überfahren», nur weil sie leiser reden, sich selber weniger behaupten können oder wollen?

Es ist daher sehr wichtig, sich selber und den Kindern immer wieder bewusst zu machen, wie unterschiedlich Menschen sein können. Durch die wertfreie Thematisierung von individuellen Kompetenzen, Bedürfnissen, Hobbys oder Interessen können Kinder und Jugendliche sich ihrer Einzigartigkeit bewusst werden. Gleichzeitig können Verständnis, Respekt und Freude für Vielfalt gefördert werden. Rücksicht auf individuelle Unterschiede zu nehmen sowie Akzeptanz für Peers, die sich weniger gut behaupten können, sind wesentliche Bausteine für eine nachhaltige Prävention von Mobbing.

  • Mobbing liegt in der Verantwortung der Mobber, nicht der Opfer.

  • Vielfalt ist eine Bereicherung.

  • Individuelle Unterschiede sollen akzeptiert werden.

Umsetzungsüberlegungen

  • Wie könnte ich das Positive an (menschlicher) Vielfalt mit Kindern und Jugendlichen thematisieren?

  • Gibt es Schulfächer, die sich besonders eignen?

  • Gibt es TV-Serien und -Sendungen, Bücher etc., in denen Vielfalt und individuelle Unterschiede positiv vorgelebt werden?

Praxisbeispiele

  • Die Schüler sitzen in einem Kreis. Sie stellen sich einander vor: in der ersten Runde mit Namen, in der zweiten Runde mimisch, dann stimmlich, dann mit einer Bewegung.

  • Die Schülerinnen teilen sich in Gruppen auf : zuerst nach Augenfarbe, dann nach Kleiderfarben, Haarfarben etc.

Menschen- und Kinderrechte

Defizite und Schwächen machen Kinder verletzbar für Mobbing. Diese Kinder haben die gleichen Rechte wie andere, von ihren Peers und Erwachsenen anständig behandelt zu werden.

Es handelt sich dabei um grundsätzliche Menschen- und Kinderrechte. Ich habe in einem früher erschienen Buch (Alsaker, 2003) bereits auf die UNO-Charta zu den Kinderrechten hingewiesen. Ich will mich im Folgenden kurz wiederholen, der vollständige Text ist zum Beispiel auf der Webseite von UNICEF zu finden (www.unicef.ch). Ich greife hier nur die Punkte heraus, die bei Mobbing eindeutig verletzt werden.

Kinderrechte, die bei Mobbing verletzt werden:

  • das Recht auf eine gesunde Entwicklung

  • das Recht auf Schutz gegen alle Formen von physischer und psychischer Gewalt oder Vernachlässigung

  • das Recht auf Ausbildung, Spiel und Freizeit

  • das Recht auf eine Erziehung/Ausbildung, welche die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes fördert, den Respekt für Menschenrechte in den Vordergrund setzt, das Kind auf ein verantwortliches Leben in einer freien Gesellschaft, in einem Klima von Toleranz, Frieden und Geschwisterlichkeit vorbereitet.

Aufgrund unseres Wissens über die Folgen von Mobbing für die Opfer wird klar, dass Mobbing die Opfer ihres Rechts auf eine gesunde Entwicklung beraubt. Aber auch die fehlende Hilfe gegenüber den aggressiven Kindern kann als Verstoß gegen die Kinderrechte betrachtet werden, da diese Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit eine problematische Laufbahn vor sich haben.

Das Zulassen von Mobbing nimmt den Opfern ihr Recht auf Schutz gegen alle Formen von Gewalt. Auch das Recht auf freie Ausbildung ist bei Mobbing gefährdet, da wir inzwischen wissen, dass Opfer häufig Angst vor der Schule haben und sich oft wünschen, die Schule verlassen zu können und eventuell auf den Besuch einer weiterführenden Schule verzichten. Wir wissen außerdem, dass Lehrlinge nicht selten ihre Ausbildung aufgrund von Mobbing abbrechen.

In den meisten Fällen verlieren Opfer zudem ihr Recht auf Spiel, da die Pausen in der Schule von Mobbing-Vorfällen oder von der Angst davor verdorben werden. Kinder und Jugendliche, welche vermehrt Opfer von Mobbing sind und dadurch nur selten positive soziale Interaktionen mit Peers erleben, verlieren einen sehr wichtigen Kontext für eine gesunde Entwicklung (Alsaker, 2003). Das Zulassen von Mobbing verstößt darüber hinaus gegen das Recht aller Kinder, in einem Klima von «Toleranz, Frieden und Geschwisterlichkeit» aufzuwachsen.

Umsetzungsüberlegungen

  • Wie könnte ich die UNO-Charta zu den Kinderrechten in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verwenden?

  • Könnte ich sie auch in anderen Zusammenhängen benutzen?

9.4  Kontakt zwischen Schule und Eltern

Praxisrelevantes Wissen

  • Eltern und Lehrpersonen haben sehr unterschiedliche Informationen zum Verhalten der Kinder in der Peer-Gruppe.

  • Eltern wissen wenig über das aggressive Verhalten ihrer Kinder in der Peer-Gruppe.

  • Eltern und Lehrpersonen haben kaum überlappende Wahrnehmungen, was Opfer von Mobbing betrifft.

Mobbing-Prävention, Früherkennung von Mobbing und auch Interventionen gegen Mobbing gelingen am besten, wenn alle am gleichen Seil ziehen. Das heißt, dass es sehr wichtig ist, dass Eltern und Verantwortliche in der Schule miteinander kommunizieren. Allzu oft wird erst miteinander über Mobbing gesprochen, wenn die Situation eskaliert. Entweder haben die Eltern entdeckt, dass ihr Kind gemobbt wird, oder sie vermuten es und nehmen mit der zuständigen Lehrperson oder direkt mit der Schulleitung Kontakt auf. Das große Problem ist, dass die Lehrperson häufig nicht auf das Problem aufmerksam geworden ist. Nicht selten fühlt sich die angesprochene Lehrperson angeschuldigt und wehrt sich. Vielleicht wird sie tatsächlich von den Eltern beschuldigt, nichts sehen zu wollen. Ob so oder so, dies ist für die weitere Lösung des Problems sehr kontraproduktiv. Ich komme im Kapitel 11 auf diese Situation zurück.

In anderen Fällen nimmt die Lehrperson Kontakt mit einer Familie auf, weil sich das Kind gegenüber den Peers aggressiv verhält. In diesem Fall ist es häufig so, dass die Eltern mit Staunen reagieren und sich dagegen wehren, dass ihr Kind ein Mobber sein könnte.

Dass Eltern und Lehrpersonen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen über die Kinder in der Peer-Gruppe haben, liegt auf der Hand. Die Lehrpersonen sehen die Kinder täglich in der Peer-Gruppe; die Eltern wissen nur das, was ihre Kinder ihnen erzählen. Trotzdem kann die Wahrnehmung der Lehrperson in Sachen Mobbing mangelhaft sein. Die Eltern dagegen sind oft motiviert, die Ressourcen ihrer Kinder ans Licht zu bringen, da sie häufig zu hören bekommen, dass sie «verantwortlich» für das Verhalten ihrer Kinder sind. Diese problematische Situation könnte aber auch als Chance genutzt werden, wenn Schule und Eltern willig sind, die Unterschiedlichkeit der beiden Ausgangslagen anzuerkennen und zu sehen, dass sie einander mit komplementärer Information helfen können.

Wichtig wäre deshalb, dass Schule und Eltern Kommunikationsmöglichkeiten hätten, die unabhängig von Problemen der Kinder funktionieren. Wie dies zu gestalten ist, bleibt jeder Schule überlassen. Der Kontakt zwischen Elternvereinigungen und der Schule kann in diesem Zusammenhang nützlich sein.

  • Schule und Elternhaus sollten in der Mobbing-Prävention oder bei Interventionen am gleichen Seil ziehen.

  • Niederschwellige Kommunikationsmöglichkeiten sollten gegeben und gepflegt werden, sodass sich Eltern und Lehrpersonen untereinander, unabhängig vom Auftreten von Problemen, über die Entwicklung und das Befinden der Kinder austauschen können.

Ein weiteres wichtiges Thema ist der Kontakt zwischen den Eltern. Es kommt hier allzu oft zu gleichen unproduktiven Situationen, wie ich oben beschrieben habe.

Umsetzungsüberlegungen

  • Welche Möglichkeiten haben Eltern, Kontakt mit den zuständigen Lehrpersonen zu haben, wenn sie nur über das Befinden ihres Kindes in der Schule reden möchten?

  • Welche Möglichkeiten zu informellem Austausch könnte man schaffen?

  • Wie steht es mit dem Kontakt zwischen Eltern?

Praxisbeispiele

  • Schüler laden die Eltern zu einem «Tee» oder «Kaffee» mit Kuchen (Schweiz: Zvieri) nach der Schule ein. Arbeiten und Themen, die aktuell sind, werden an den Wänden präsentiert.

  • Sprechstunde für Eltern. Lehrpersonen geben Zeiten an, zu welchen Eltern vorbeikommen können – mit oder ohne Voranmeldung.