1. Was Mobbing ist – und was nicht

Mobbing hat sehr viele Gesichter – so viele, dass es verwirrend werden kann. Ist das wiederkehrende Kneifen eines Mitschülers oder einer Mitschülerin Mobbing, oder muss es Schläge gegeben haben? Sind Hänseleien und böse Blicke oder Gerüchte hinreichend, um von Mobbing sprechen zu können? Wie ist es, wenn ein Kind nicht mitspielen darf? All das könnte Mobbing sein. Es könnte aber auch Teil von Auseinandersetzungen sein, die nichts mit Mobbing zu tun haben. Mobbing-Handlungen können grob und offensichtlich, sie können aber auch subtil und versteckt sein. Mobbing kann nicht aufgrund einzelner Handlungen erkannt werden. Bei Mobbing handelt es sich um Macht und Schwäche, um Drohen und Schweigen, um Ausschluss und Einsamkeit, um Manipulation und Hilflosigkeit. Es braucht eine gewisse Vorkenntnis, einen wachsamen Blick und den Willen hinzuschauen, um es früh zu erkennen, so früh, dass es gar nicht erst Fuß fassen kann.

1.1 Was ist Mobbing überhaupt?

Eines ist sicher: Mobbing ist ein aggressives Verhalten und eindeutig als Gewaltform zu bezeichnen. Nur ist nicht jede aggressive, negative oder verletzende Handlung gleich Mobbing. Wenn ein Kind ein anderes Kind schlägt oder tritt, und dies vielleicht auch mehrfach, ist das eine aggressive Handlung, da es einen Angreifer und ein Opfer gibt. Es ist aber noch kein Mobbing. Wenn eine Jugendliche wiederholt beleidigend gegenüber Mitschülern auftritt, kann man auch sagen, dass es sich um aggressives und verletzendes Verhalten handelt. Die Jugendliche hat eindeutig ein soziales Problem, das für viele störend ist. Es ist aber kein Mobbing.

Wenn aber die negativen Handlungen – ob nun körperliche, verbale oder subtilere Angriffe – immer wieder dasselbe Kind treffen, und wenn gleichzeitig andere Kinder die Angreifer in ihren Handlungen unterstützen, dann können wir von Mobbing sprechen. Dazu folgendes Beispiel (Katia/Eva):

Eine sechste Klasse. Eva ist seit Anfang Schuljahr neu in der Klasse. Es ist jetzt bereits Oktober. Eva hat bis zu den Herbstferien nichts Negatives erlebt. Katia äußert sich sehr häufig negativ gegenüber ihren Mitschülerinnen. Sie ist deshalb auch nicht sehr beliebt und wird eher gefürchtet. Seit kurzem empfindet sie Eva als eine mögliche Konkurrentin, vielleicht weil Eva bereits eine Freundin gefunden hat, was Katia nicht wirklich gelungen ist. Sie sieht in ihr auch eine ungefährliche Zielscheibe für ihre Angriffe. Denn Eva hat, außer der einen ganz neuen Freundin, noch keine richtigen Verbündeten. Zudem sind Eva und ihre Freundin ruhige Mädchen. Katia spricht sich mit zwei Mädchen in der Klasse ab, und erzählt ihnen, Eva würde Gerüchte über sie verbreiten, und ohnehin nicht in die Klasse passen. Jetzt richtet Katia ihre verbalen Angriffe vor allem auf Eva. Die zwei anderen Mädchen stehen ihr bei, nicken und lachen und sind so vorübergehend auf der sicheren Seite. Sie werden nicht mehr von Katia angegriffen. Sie verbreiten selber Gerüchte über Eva, und jetzt werden andere auch unsicher: Wer ist diese Eva eigentlich? Was hat sie denn gegen die Klasse? Aus dieser vermeintlichen Unsicherheit entstehen eine negative Einstellung gegenüber Eva und gleichzeitig ein neues Gruppengefühl. Von nun an hat Eva keine Ruhe mehr. Sie wird ausgelacht, beschimpft, man rollt die Augen, wenn sie etwas sagt. Eine Mobbing-Situation ist entstanden.

In diesem einfachen Fallbeispiel sind bereits sehr viele Merkmale von Mobbing enthalten, auf die ich nach und nach eingehen werde. Die vier ersten grundlegenden Merkmale sind im folgenden Kasten zusammengefasst und werden im nachfolgenden Text vertieft:

  • Mobbing ist ein aggressives Verhalten.

  • Mobbing ist systematisch gegen eine Person gerichtet.

  • Mobbing ist ein Gruppengeschehen.

  • Mobbing kommt wiederholt und über längere Perioden vor – von Wochen bis hin zu Jahren.

Mobbing ist ein aggressives Verhalten

Das Wort Aggression wird in gewissen Zusammenhängen positiv gebraucht; dabei wird der Begriff oft mit Kampfgeist verwechselt. Im Sport ist eine kämpferische Einstellung positiv – aggressives Verhalten jedoch nicht. Doch kann aggressives Verhalten auch gut sein? Jedes Verhalten muss in seinem Kontext gesehen werden und deshalb ist eine Diskussion darüber, ob Aggression an sich gut oder schlecht ist, fruchtlos. Tremblay und Nagin (2005) sehen in Aggression ein Verhalten, das in einer frühen Phase in der Evolution des Menschen eine klare Funktion hatte: das Sichern von Ressourcen und des eigenen Überlebens. Allerdings haben Menschen im Laufe der Zeit auch andere Strategien entwickelt, die diesen Zweck erfüllen sollten: Zusammenarbeit und Konfliktlösungsstrategien, die nichts mit Aggression zu tun haben. Tremblay und Nagin vertreten weiter die Meinung, dass ein gewisses aggressives Potential in uns angelegt ist und dass Kinder dieses Verhalten gar nicht erst lernen müssen, sondern eher durch die Sozialisation «verlernen» sollten. Und dies unter anderem, um unserer eigenen Art nicht zu schaden. Das ist für die Prävention von aggressivem Verhalten und Mobbing äußerst wichtig. Es ist die Verantwortung aller Erziehenden, Kindern einen angemessen, nichtaggressiven Umgang miteinander beizubringen und ihre aggressiven Handlungen nicht zu verstärken.

Es gibt auch Diskussionen darüber, ob man eine Handlung erst dann als aggressiv bezeichnen darf, wenn die Absicht einer Schädigung vorliegt. Dies scheinen Kinder früh zu lernen – Sie selbst haben bestimmt schon oft von einem Kind, das ein anderes Kind gerade geschlagen hat, gehört: «Das war aber nicht meine Absicht». Natürlich ist die Absicht zu schädigen in der Praxis nicht immer so deutlich und präsent. Dazu ein Beispiel: Im Laufe eines Streits beleidigt eine Jugendliche ihre Freundin. Die Äußerung war nicht gut überlegt und es war nicht ihre volle Absicht, der Freundin dermaßen weh zu tun. Aber sie weiß, dass eine solche Handlung extrem verletzend ist. Und sie hätte sie auch unterlassen können. Wenn ich im Folgenden den Begriff Aggression verwende, meine ich damit Handlungen, die zur körperlichen oder psychischen Verletzung einer anderen Person führen und die mit dem Wissen um ihre schädigende Wirkung ausgeführt werden.

Sicher kann man fragen, ob es jüngeren Kindern immer bewusst ist, was sie anstellen. Oft handeln sie, bevor sie überlegt haben. Es ist jedoch klar, dass sie aus Erfahrung wissen, dass gewisse Handlungen sehr unangenehm sind und oft weh tun. Wir könnten diese Handlungen aus der Wahrnehmung eines Beobachters und der Betroffenen einfach «negativ und verletzend» nennen. Es ist in der Praxis wichtig, den Begriff-Aggression weder zu sehr einzuschränken noch auszudehnen und sich als Erziehende eine klare Meinung zu bilden, was man als aggressiv und unangemessen betrachtet. Die schafft eigene Sicherheit im Umgang mit schwierigen Situationen. Für die Mobbing-Prävention ist diese Sicherheit zentral, denn mobbende Kinder wissen jede Unsicherheit der Erwachsenen voll auszunutzen.

Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass aggressives Verhalten – Mobbing eingeschlossen – ein bewusstes Verhalten ist. In einer Studie, in der Schüler und Lehrpersonen sich zu Definitionen von Mobbing äußern sollten, gaben lediglich 4 % der Schüler und 25 % der Lehrpersonen an, dass Mobber ihre negativen Handlungen mit Absicht durchführten (Naylor, Cowie, Cossin, de Bettencourt, Lemme, 2006). Die Frage war offen gestellt – gut möglich, dass dies nicht der wichtigste Aspekt für die Befragten war. Trotzdem zeigt dieses Ergebnis, dass man diesen Aspekt in Gesprächen mit Schülern betonen muss (siehe Kap. 11).

Im Fallbeispiel Katia/Eva kam es nicht zu Handgreiflichkeiten. Jedoch ist es klar, dass das Verhalten von Katia und ihrer Verbündeten als aggressiv bezeichnet werden muss. Bei Katia liegt eine klare Absicht der Rufschädigung und der sozialen Ausgrenzung von Eva vor. Bei ihren Verbündeten ist das Wissen um die Verletzungen, die sie Eva zufügen, vorhanden. Dies zeigt, dass aggressives Verhalten sehr viele Formen annehmen kann. Auf die Erscheinungsformen von aggressivem Verhalten und von Mobbing kommen wir im nächsten Kapitel zurück.

Negative und verletzende Handlungen sollen als solche erkannt und angegangen werden. Sie sollen weder dramatisiert, entschuldigt, vertuscht oder bagatellisiert werden.

Mobbing ist systematisch gegen eine Person gerichtet

Systematik gehört zu den Kernmerkmalen von Mobbing. Es ist kein Zufall, wenn dieselbe Schülerin immer wieder Zielscheibe von aggressiven Handlungen ihrer Mitschüler ist. Sie war möglicherweise zufällig da, als ein anderes Kind sich ein Opfer suchte; aber danach lässt das mobbende Kind sie nicht mehr los und sucht auch nicht unmittelbar nach weiteren Opfern. Die Kinder spüren das. Niemand möchte in diese Rolle kommen, und solange ein bestimmtes Kind in der Rolle ist, gibt es den anderen einen Anschein von Sicherheit. Dies ist möglicherweise ein Grund, weshalb nur wenige Kinder sich für Mobbing-Opfer einsetzen (Kapitel 5).

Diese Systematik unterscheidet Mobbing von Situationen, in denen ein Kind ein klares Aggressionsproblem hat. Die beiden Situationen sind in Abbildung 1-1 illustriert.

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Abbildung 1-1: Zwei Klassen mit zwei unterschiedlichen Aggressionsproblemen (angepasst aus Alsaker, 2003)

In der einen Klasse gibt es ein klassisches Gewaltproblem: Rita hat wenig Selbstkontrolle und dazu ein hohes aggressives Potential. Ein Kind wie Rita behandelt mehr oder weniger alle aggressiv, die ihm im Weg stehen. Es braucht wenig, damit es ausrastet. Obwohl aggressives Verhalten an sich, verglichen mit positiven und neutralen Handlungen, relativ selten vorkommt, können einige Kinder und Jugendliche für ein hohes Ausmaß an aggressivem Verhalten in der Klasse sorgen. Eine amerikanische Forschergruppe um Cairns (1994) beobachtete hoch aggressive Jugendliche in ihren Klassen und berichtete, dass diese bis zu acht aggressive Episoden pro Stunde produzierten.

Solche Situationen sind für Lehrpersonen oft eine Herausforderung. Ständige Zwischenfälle unterbrechen die Arbeitsruhe und der Handlungsbedarf ist offensichtlich. In diesem Fall ist es angebracht, die Verhaltensprobleme einzelner Schüler anzugehen, um ihnen andere Verhaltensalternativen zu geben und Mitschüler zu schützen.

In der anderen Klasse ist die Situation, von einer Außenperspektive betrachtet, womöglich viel ruhiger. Die Situation entspricht in etwa dem Fallbeispiel Katia/Eva. Keiner meldet sich und beklagt sich über Angriffe von einem bestimmten Schüler. Die Angriffe richten sich nur noch gegen ein einzelnes Kind: Nur Eva wird immer wieder gehänselt, geschubst, ausgestoßen. In diesem Fall gibt es drei Verbündete, die bereits seit langer Zeit zusammenhalten. Sie gewinnen mit der Zeit andere Kinder, die gelegentlich mitmachen und Eva das Leben schwer machen. Ein Kind wird selber von Katia aggressiv behandelt, macht dann auch mit und schützt sich so selber eine kurze Zeit vor weiteren Angriffen. Andere Kinder sind nicht direkt beteiligt. Für Eva ist die Situation bereits nach kurzer Zeit unerträglich.

Wenn ein Schüler oder eine Schülerin vermehrt allein steht, sollte man das Geschehen um ihn/sie näher beobachten.

Mobbing ist ein Gruppengeschehen

Unser Fallbeispiel zeigt, wie das Handeln einer oder zweier Schülerinnen sich allmählich zu einem Gruppengeschehen entwickeln kann. Es gibt zwar immer noch eine Hauptperson – Katia. Aber rasch haben wir mit einer mobbenden Gruppe zu tun, die nicht immer aus den gleichen Mitgliedern besteht. Einmal machen zwei Schülerinnen mit und ein anderes Mal sind es drei Schüler. Ab und zu machen diese Mitläufer direkt mit, andere Male stehen sie nur Wache und sehen dabei sehr unschuldig aus. Dazu kommt, dass viele Gerüchte im Umlauf sind, und da wird es schwierig zu sagen, ob jemand mitgemacht hat oder nicht. Durch die Mitwirkung verschiedener Schüler ist es schwieriger geworden, in die Situation einzugreifen und sie zu verbessern. Diese Situation zu ändern, erfordert eindeutig andere Maßnahmen als im Fall von Rita.

Es hätte durchaus sein können, dass Katia keine Verbündeten gefunden hätte. Dies wäre eventuell der Fall, wenn die Mädchen in der Klasse sonst gut zusammenhalten würden, keine besondere Furcht vor Katia hätten und auch allgemein sozial positiv eingestellt wären. In diesem Fall hätte Katia Eva eine Weile mit ihren Beleidigungen verfolgt und auch sonst schlecht behandelt, aber Eva hätte es mithilfe der anderen Mädchen in der Klasse überstanden. Außerdem wäre es für Katia nicht lange interessant gewesen, weiterzumachen. Sie hätte ihre Stellung in der Klasse dadurch nicht gestärkt und bald die Hände von Eva gelassen. Es wäre nie zu einer Mobbing-Situation gekommen. Eine Weile wäre die Situation in etwa wie bei Rita gewesen. Anhand der beiden Beispiele wird deutlich, dass die Verbündeten für das Entstehen von Mobbing zentral sind; Mobbing ist eine Gewaltform, die in einer Gruppe entsteht, von der Gruppe aufrechterhalten und auch vertuscht wird. Dies macht es schwierig, Mobbing zu erkennen und zu handhaben.

Bei einem Verdacht auf Mobbing sollte man versuchen, sich ein Bild der verschiedenen Handlungen und Beziehungen zu schaffen – wie in Abbildung 1-1.

Mobbing kommt wiederholt und über längere Perioden vor – von Wochen bis hin zu Jahren

Hätten Katias Sprüche und andere negative Handlungen nur einige Tage gedauert, wäre die Situation für Eva in diesen Tagen zwar sehr unangenehm, jedoch erträglich gewesen. Es hätte zu den kurzfristigen schlechten Situationen gehört, die in jeder Gruppe vorkommen können, besonders wenn Menschen mit einem höheren aggressiven Potential dazugehören. Wenn diese Situation aber andauert, wird sie für die betroffene Person bald sehr schwierig. Die Wiederholung der negativen Handlungen über längere Zeitperioden ist eines der Hauptmerkmale von Mobbing.

Das ausgewählte Opfer wird sozusagen zur Geisel der Gruppe. Immer, wenn die Mobbergruppe sich dafür entscheidet, wird das Opfer negativen Handlungen ausgesetzt. Die gelegentlichen Mitläufer lassen auch ständig wieder Sprüche fallen, schubsen, wenn es passt. Die anderen werfen vielleicht mitleidige oder missbilligende Blicke auf das Opfer. Eines ist klar: Das Opfer steht unter Dauerbeschuss.

Verheerend am Mobbing ist neben der Wiederholung, dass sich diese Handlungs- und Beziehungsmuster über Jahre hinziehen können, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Dazu ein Beispiel:

Jean-Jacques ist in der neunten Klasse eindeutig das Opfer einer größeren Gruppe von Mitschülern. Egal was er tut, er wird beleidigt, beschimpft, ausgelacht. In der Klasse wird ihm laut nachgerufen. Er wird soweit provoziert, dass es in der nächsten Pause gleich zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt. Die Situation ist in der neunten Klasse eskaliert, aber sie ist nicht neu. Eine Mitschülerin erklärt, so sei es bereits seit dem Kindergarten gewesen. Als Jean-Jacques einmal die Schule wechselte, hieß es in der neuen Klasse – bereits vor seinem Eintritt in die Klasse – bald käme so ein «Dummkopf» (schweizerdt. Dubbel) zu ihnen. Er hatte keine Chance. (Aus dem Videofilm: «Mobbing ist kein Kinderspiel»)

Um zu verhindern, dass ein Kind während der ganzen Schulkarriere unter Mobbing-Handlungen leidet, muss früh interveniert werden.

1.2 Mobbing – eine Machtdemonstration

Im Mobbing streiten die Beteiligten nicht um eine Sache, wie es in Konflikten der Fall ist: Mobbing ist eine reine Machtdemonstration. Mobber wollen dabei sicher nicht ertappt werden. Sie wollen Erfolg, aber keine Strafe. Der Erfolg ist bereits dadurch vorprogrammiert, dass die Mobber in der Zahl ihren Opfern überlegen sind. Ein weiterer Vorteil ihrer Überzahl liegt darin, dass die Mobber, werden sie ertappt, einander in ihren Aussagen immer unterstützen. Das Fallbeispiel Katia/ Eva zeigt auf, wie sich aus einer persönlichen feindlichen Einstellung von Katia gegenüber Eva eine Gruppeneinstellung entwickeln konnte. Eva hat nicht nur eine Angreiferin, sondern gleich mehrere. Es werden Gerüchte verbreitet und sie weiß nicht mehr, wie viele gegen sie agieren. Das Machtgefälle wächst mit jeder Schülerin und jedem Schüler, die dem Mobbing-Bündnis beitreten. Auch wenn nicht so viele der Mitschüler mitmachen würden, ist ein eindeutiges Ungleichgewicht zu beobachten. Katia demonstriert Macht und diese wächst kontinuierlich. Sollte Eva versuchen, sich zur Wehr zu setzen, halten die Angreifer noch mehr zusammen. Eva ist zunehmend macht- und wehrlos.

Mobbing und Konflikte

Das eindeutige Ungleichgewicht zwischen Mobber und Opfer ist ein zentrales Merkmal von Mobbing. Es gehört auch zu den Kriterien, die Mobbing von Konflikten unterscheiden. In Konflikten sind die Streitenden einigermaßen gleich stark und mindestens gleichberechtigt. Kinder hänseln einander, streiten miteinander – manchmal sehr viel –, und es mag auch körperliche Ausmaße annehmen. Sind die Kinder etwa gleich stark, reden wir von Konflikten. Konflikte gehören zum Alltag und zur sozialen und emotionalen Entwicklung. Kinder lernen mit Konflikten umzugehen, sie zu lösen, sich durchzusetzen oder auch nachzugeben. Sie erkennen außerdem, wie weit sie gehen können, und sie lernen, sich zur Wehr zu setzen. Mobbing bietet keine solche Möglichkeit. Das Opfer des Mobbing-Angriffs hat keine Chance gegenüber den anderen. Somit lernt es meistens nur, nachzugeben.

Wenn Kinder einen Konflikt haben, streiten sie «um etwas». Entweder möchten zwei Kinder das Gleiche und streiten darüber, wer den begehrten Gegenstand haben soll, oder sie streiten, weil sie sich nicht einig sind, was sie spielen sollen, wohin sie gehen wollen, wie Spielregeln sein sollen etc. Konflikte haben meistens einen konkreten Inhalt. Das Gleiche gilt bei Erwachsenen. Im Fall von Mobbing gibt es keinen Konfliktstoff. Im Mobbing demonstrieren Mobber ihre Machtbedürfnisse, indem sie jemanden angreifen und verletzen.

In Konflikten tragen beide Parteien zum Konflikt bei, auch wenn die eine Seite angefangen hat. Konflikte sind selten mit Aggression verbunden (Shantz, 1987). Konfliktsituationen können allerdings auch ausarten, beispielsweise wenn keine der beiden Parteien kompromisswillig ist, wenn die persönlichen Grenzen nicht respektiert werden, wenn Missverständnisse entstehen. Dazu kann es vor allem dann kommen, wenn die Konfliktparteien die Situation verzerrt wahrnehmen. Zu häufige Konflikte, Konflikte, die zu oft ausarten, Konflikte, die von Ungleichgewicht geprägt werden, weil immer dieselbe Partei nachgibt, sind nicht mehr entwicklungsfördernd. Und solche Konflikte können auch die Grundlage für eine Mobbing-Situation bilden, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind.

Es gibt Kinder und Erwachsene, die leicht in Konfliktsituationen geraten, und es gibt solche, die Konflikte vermeiden. Beide Verhaltensweisen können in einer Mobbing-Situation zu Ungunsten des Opfers missbraucht werden. Die einen lassen sich womöglich leicht provozieren, und jede Provokation kann eine schwere Konfliktsituation auslösen. Für Außenstehende ist die Situation schwer durchschaubar, wenn Mobber ihr Opfer zuerst provozieren und danach ihre Angriffe als «normale Abwehr» vertuschen. Die extreme Vermeidung von Konflikten wiederum führt dazu, dass Kinder sich schnell zurückziehen. Dadurch werden sie von Mobbern als leichte Zielscheiben wahrgenommen, die lieber schnell nachgeben als sich zur Wehr zu setzten.

Es ist sehr wichtig, dass man Mobbing nicht als Konflikt bezeichnet. In einem Konflikt sollten beide Parteien zur Lösung des Konflikts beitragen, um daraus etwas Konstruktives zu lernen. In Mobbing-Situationen muss man dafür sorgen, dass Mobber und ihre Assistenten ihr Verhalten ändern. Mobbing wird von den Mobbern nicht selten als Konflikt vertuscht. Man täte aber dem Opfer sehr unrecht, wenn man es für die Mobbing-Situation zur Verantwortung ziehen oder sogar Kompromisswillen und Nachgiebigkeit verlangen würde.

  • Mobbing ist kein Konflikt.

  • Mobbing ist eine Machtdemonstration und von Ungleichgewicht geprägt.

  • Konflikte haben konkrete Inhalte – Mobbing hat die Verletzung des Opfers zum Ziel.

  • Konflikte sind Teil der Entwicklung – Mobbing hindert die Entwicklung.

Mobbing und Dominanz

Wenn Mobbing eine Machtdemonstration ist, liegt die Frage nahe, ob Mobbing nicht Teil von Dominanzritualen sein könnte, durch die eine Gruppe eine klare Rangordnung erhält. Solche Rangordnungen dienen meist dazu, aggressive Auseinandersetzungen in einer Gruppe zu verringern (Roseth, Pellegrini, Bohn, van Ryzin, Vance, 2007). Im Rahmen der sozialen Dominanztheorie kann man erwarten, dass aggressive Handlungen gebraucht werden, um die Hierarchie in einer Gruppe zu bilden. Wenn diese erstellt ist, können die Kinder besser einschätzen, wann sie in welchen Konfliktsituationen mit ihren Peers eher gewinnen oder eher verlieren. Dies führt dazu, dass die aggressiven Auseinandersetzungen abnehmen.

Warum aber sollten Kinder, die um Dominanz und Status ringen, Aggression gegen schwächere Mitschüler ausüben? Die Opfer sind in diesem Fall ja nicht diejenigen Kinder, die ihren dominanten Status in der Gruppe gefährden. Denn wie Smith und Boulton (1990) es formuliert haben, wird Dominanz nur erreicht, indem Peers von ungefähr gleicher Stärke herausgefordert werden, nicht indem Schwächere angegriffen werden. Des Weiteren würde man erwarten, dass die Aggressionen zurückgehen, wenn die Mobber ihren Status erreicht haben. Mobbing ist aber anhaltend, die Aggressionen gehen weiter, auch wenn das Opfer längst aufgegeben hat (Pepler, Craig, O’Connell, 1999). Deshalb darf Mobbing in keinem Fall einem Dominanzritual gleichgestellt oder mit der Sozialdominanztheorie erklärt werden.

Dominanzkämpfe sind normal. Mobbing ist kein Dominanzkampf.

Mobbing und Feindschaften

Nur wenige Forscher haben sich mit Feindschaften unter Kindern beschäftigt. Für uns sind solche Feindschaften interessant, weil sie durch Abneigung und Antipathie gekennzeichnet sind und eventuell als ein Element von Mobbing erscheinen könnten. Während starke gegenseitige Abneigungen im Kindergartenalter bis jetzt nicht erforscht wurden, fanden Abecassis und ihre Kollegen (2002) heraus, dass ungefähr 9 % bis 14 % der Mädchen und 20 % bis 25 % der Jungen in einem Alter zwischen 10 und 14 Jahren solche gleichgeschlechtliche Antipathien angaben. Gegengeschlechtliche Antipathien wurden von ungefähr 15 % der Mädchen und Jungen berichtet. Feindschaften sind von starken negativen Einstellungen geprägt; Feinde sehen einander als eine Bedrohung. Gründe, die Kinder angeben, weshalb sie Peers nicht mögen, sind häufig mit aggressivem Verhalten verbunden. Plötzlich entstehende Antipathien können – wie im Katia/ Eva- Fallbeispiel – der Beginn einer Mobbing-Spirale werden. Es hängt wiederum vom Charakter und Verhalten des Kindes ab, das eine starke Antipathie gegenüber einem anderen Kind entwickelt. Dass das Opfer mit der Zeit starke negative Gefühle gegenüber den Aggressoren empfindet, ist allerdings zu erwarten.

In diesem Zusammenhang muss auf die Rolle von verfeindeten Familien im Mobbing-Geschehen in der Schule verwiesen werden. Im Laufe der zahlreichen Veranstaltungen, die ich durchgeführt habe, bin ich sehr häufig mit der Information von Lehrpersonen konfrontiert worden, dass die Eltern der Mobber und diejenigen der Opfer verfeindet sind und die Mobber diese Feindseligkeiten in der Schule austragen. Was am Mittagstisch gesagt wird, ist für die Kinder eine wichtige Information, und sie halten diese Information unter Umständen für die Wahrheit.

Antipathien gehören zur Schattenseite der Beziehungen zwischen Menschen. Starke Antipathien können zerstörerisch werden. Kinder sollten nicht die Antipathien der Erwachsenen austragen müssen.

Wichtiges in Kürze

Mobbing ist ein aggressives Verhalten, das in der Gruppe entsteht und von der Gruppe getragen wird.

Bei Mobbing geht es um Macht.

Soziale Handlungen sind miteinander verkettet. Eine Handlung beeinflusst die andere; sowohl positive als auch negative Zirkel entstehen schnell. Es gilt, die negativen Zirkel früh zu erkennen und zu unterbrechen.

Im Schulalltag oder auch in der Freizeitgruppe geschieht vieles und es ist nicht immer einfach, die Übersicht über die einzelnen Beziehungen im Auge zu behalten. Denken Sie daran, dass ein Kind, das oft allein steht oder gelegentlich aggressiv behandelt wird, Opfer von Mobbing sein könnte.

Anregungen zum Nachdenken

  • Was haben Sie in diesem Kapitel gelesen, das Sie

    • für das Erkennen von Mobbing

    • für das Vorbeugen von Mobbing

    • für ein eventuelles Vorgehen gegen Mobbing als relevant für die Praxis erachten?

  • Versuchen Sie am Beispiel der Abbildung 1-1 gewisse Ihnen bekannte Gruppensituationen zu rekonstruieren.