4.   Mobbing in Zahlen

Mobbing in Zahlen umzuwandeln ist eine anspruchsvolle Aufgabe; dazu braucht es gute, verlässliche Instrumente. Das heißt erstens, dass die Messinstrumente nicht zu viel Freiraum für Interpretationen lassen und das gleiche Phänomen in verschiedenen Situationen oder zu verschiedenen Zeitpunkten messen sollten. Zweitens muss die Gültigkeit der Instrumente geprüft werden, um sagen zu können, ob diese Instrumente wirklich das messen, was man messen möchte; ein Instrument zu Mobbing ist nicht gleich einem Instrument zu Aggression im Allgemeinen. Drittens muss man Kriterien für die Häufigkeit der Vorfälle wählen, die der Definition von Mobbing entsprechen. Im Laufe der letzten 20 Jahre haben sich Fragebögen durchgesetzt, in welchen Schüler sich zu mindestens drei Formen von Mobbing äußern. Jüngere Kinder kann man nicht auf diese Art und Weise befragen. Man kann zwar mündlich Fragen stellen, aber ihre Selbstberichte haben sich als wenig zuverlässig erwiesen. Sehr viele von ihnen geben an, Opfer zu sein (bis zu 70 %), und eine geringe Anzahl berichtet über eigenes aggressives Verhalten (Alsaker, Valkanover, 2001). Kinder und Jugendliche werden gelegentlich außerdem zum Verhalten ihrer Peers befragt. Diese Methode kann man bereits im Kindergarten verwenden. Zudem ist auf dieser Altersstufe die Befragung der Lehrpersonen zentral. In diesem Kapitel stelle ich kurz die Instrumente und Kriterien vor, die in meinen Projekten verwendet werden, sodass die Leser besser verstehen, was die jeweiligen Prozentzahlen bedeuten. Ich weise darüber hinaus darauf hin, wie man diese Forschungsinstrumente in der Praxis (in der Schule, in der Beratung, für sich selber) einsetzen kann.

Aussagen zur Verbreitung von Mobbing sind zum Teil schwierig zu interpretieren, weil Opfer keine einheitliche Gruppe darstellen und leider nicht alle Studien Rücksicht darauf nehmen. Diese Unterscheidungen will ich bereits bei der Darstellung der Instrumente diskutieren. Allgemein darf man sagen, dass Mobbing «nicht nur wenige» Kinder betrifft. Die Kandersteg-Deklaration gegen Mobbing bei Kindern und Jugendlichen, die ich 2007 initiierte und zusammen mit 21 weiteren Kollegen aus der ganzen Welt verfasste (siehe Kap. 12), beginnt mit folgender Feststellung: «Jeden Tag werden auf der ganzen Welt schätzungsweise 200 Millionen Kinder und Jugendliche von ihren Gleichaltrigen gemobbt.» Diese Zahl wurde aufgrund durchschnittlicher Prozentzahlen in internationalen Studien hochgerechnet.

4.1  Wie können wir Mobbing erfassen?

Weil Mobbing teilweise mit Konflikten und anderen Typen von Verhalten in der Gruppe verwechselt wird, ist es wichtig, dass die Befragten, ob Kinder oder Erwachsene, wissen, wovon wir sprechen, wenn wir sie zu Mobbing-Vorfällen befragen. In der MOK-Studie luden wir alle Kindergärtnerinnen ein, die eingewilligt hatten, an der Studie teilzunehmen, und erklärten in einem zweistündigen Workshop, was wir unter Mobbing verstehen (entsprechend den ersten drei Kapiteln dieses Buchs). In der Arbeit mit Schülern pflegen einige Forschergruppen (z. B. Olweus, 1996) den Schülern eine schriftliche Einleitung zum Begriff Mobbing zu geben, um in der Folge danach zu fragen, wie oft sie in diesem Sinne schon «gemobbt» worden sind. Mit den Kindergartenkindern und den Erstklässlern haben wir die Zeichnungen benutzt, die in Kapitel 2 (Abb. 2-2) abgebildet sind, um den Kindern verschiedene Formen von Mobbing zu erklären. Dies bildete die Grundlage für ein Gespräch darüber, was wir mit Mobbing meinten. So konnten auch Streitigkeiten oder kleine «Unfälle» ausgeschlossen werden.

Eigenberichte der Schüler

Eigenberichte haben in der Mobbing-Forschung einen hohen Stellenwert. Sie gelten schlechthin als die beste Methode, um gültige Informationen über Mobbing zu gewinnen (z. B. Scheithauer, Hayer, Petermann, 2003). Das wichtigste Argument für die Verwendung von Eigenberichten ist, dass Mobbing sehr häufig verdeckt oder im Versteck vorkommt und nur Opfer und Mobber Zugang zur vollständigen Information über die betreffenden Vorfälle haben. Fragebögen sind zudem einfache, schnelle und kostengünstige Mittel, um an Information zu kommen und sie bieten Anonymität. In einem Bereich, in dem viel geschwiegen wird und Angst vor Petzen herrscht, ist es wichtig, dass Schüler auf einfache Art und für sich, ohne Namensgebung, von ihren Erfahrungen berichten können. Die Zusicherung von Vertraulichkeit und Anonymität ist entscheidend, um ehrliche Antworten zu erhalten.

Im Rahmen eines Projekts in Norwegen und der Schweiz, habe ich ein kurzes, prägnantes Instrument entwickelt, das sich in beiden Ländern sehr bewährt hat (Alsaker, 2000a; Alsaker, 2003; Alsaker, Brunner, 1999). In diesem Fragebogen wird gezielt zwischen drei verschiedenen Mobbing-Formen unterschieden (verbal, körperlich und indirekt). Der Fragebogen kann bereits mit 10-Jährigen verwendet werden. Diese Art der Informationsgewinnung an Schulen wurde bereits vor langer Zeit von Olweus (1996) als Teil der Präventionsarbeit gegen Mobbing empfohlen, da es von Lehrpersonen und Schulleitungen einfach durchgeführt werden kann.

Es ist dabei sehr wichtig zu betonen, dass Lehrpersonen und Schulleitungen, die sich eine Übersicht über Mobbing in ihren Klassen oder Schulen verschaffen möchten und dazu Fragebögen verwenden, den Schülern die notwendige Vertraulichkeit und Anonymität gewährleisten müssen. Ansonsten läuft man Gefahr, verfälschte Angaben zu erhalten. Man kann das eben angesprochene Mobbing-Instrument verwenden (siehe Anhang A-1) und es gegebenenfalls mit zusätzlichen Fragen erweitern, wenn man bestimmte Informationen haben möchte. Ein empfehlenswertes Vorgehen wäre, solche zusätzlichen Fragen mit den Schülern zusammen zu formulieren. Auf diese Weise würde man bereits viel Information über die aktuelle Situation erhalten. In einer Schule, die eine Projektwoche zum Thema Mobbing organisiert, könnte eine Befragung im Anschluss an eine Diskussion über Mobbing durchgeführt werden. So wüssten die Kinder und Jugendlichen, was genau mit Mobbing gemeint ist. Möchte man einen Vergleich der Ergebnisse in der eigenen Schule mit Prozentzahlen verschiedener Studien veranlassen, sollte man die Kriterien sorgfältig wählen, die man bei den Berechnungen der Prozentzahlen verwendet. Die Verwendung der Kriterien, die ich hier angebe (Anhang A-1), ermöglicht einen Vergleich mit den Zahlen aus meinen und vielen anderen Studien.

Kurz zusammengefasst ist der genannte Fragebogen so konzipiert, dass die Schüler sich an die «letzten zwei Monaten» vor der Befragung erinnern sollten (man definiert diesen Zeitraum meist durch eine Festlegung wie «seit den Herbstferien») und sich zu den drei genannten Bereichen äußern: körperliches Mobbing, verbales Mobbing und indirektes Mobbing durch Ausschluss. Zu jeder der Fragen geben sie an, wie oft ihnen eine oder mehrere der Mobbing-Formen passiert ist (von nie bis mehrmals die Woche; Details in Anhang A-1). Die Fragen zu Mobbing-Handlungen gegenüber anderen sind ähnlich formuliert. Die Schüler werden gefragt, wie oft sie andere in der jeweiligen Form «in den letzten zwei Monaten» gemobbt haben.

Es gilt weiter Folgendes zu beachten: Kinder und Jugendliche werden nur dann als Opfer betrachtet, wenn sie in irgendeiner der drei Mobbing-Formen mindestens einmal pro Woche von anderen gemobbt werden und selber andere nie körperlich und selten oder nie verbal oder durch Ausgrenzen mobben (siehe Anhang A-1 für eine Definition aller Rollen). Es ist notwendig, diese strengen Kriterien zu beachten, damit Mobbing nicht mit anderen Auseinandersetzungen, wie z. B. Konflikten, verwechselt wird (Alsaker, 2003). Wenn man das Instrument erweitert, sollte man die anderen Fragen eher als komplementäre Information betrachten und sie nicht in die Berechnung von Prozentzahlen von Mobbern und Opfern mit einbeziehen. Bei den Mobbern gilt parallel zur Definition der Opfer, dass sie von anderen nicht gemobbt werden sollten, um als Mobber betrachtet zu werden.

Wie sollen wir jedoch Kinder einstufen, die von anderen gemobbt werden, sich gleichzeitig häufig aggressiv gegenüber Gleichaltrigen verhalten, und somit auch auf der Mobberseite Punkte bekommen? In der Mobbing-Forschung gelten diese Kinder und Jugendlichen seit den ersten Studien von Olweus (1978) als eine besondere Opfer-Untergruppe. Olweus nennt sie «provokative» Opfer, weil sie ihre Mitschüler oft stören und durch ihr Verhalten Reaktionen der anderen Schüler provozieren. Andere Forschergruppen und ich selber nenne sie Täter-Opfer (engl. Bully-victims) oder «aggressive Opfer». Wie in Kapitel 7 ausführlicher zu lesen ist, bin ich der Meinung, dass diese Kinder nicht zu Mobbing provozieren, sondern dass sie sehr leicht selbst provoziert werden. Wer mindestens einmal pro Woche sowohl andere angreift als auch selber gemobbt wird, gilt in diesem Sinne als aggressives Opfer. Die anderen Opfer werden zum Zwecke der Unterscheidung als «passive Opfer» bezeichnet. Dies vor allem, weil sie sich selten zur Wehr setzen.

Eigenberichte von Schülern, die in Form von kurzen Fragebögen eingeholt werden, können mit Vorteil zum Aufdecken von Mobbing-Situationen in einer Schule verwendet werden. Man muss den Kindern und Jugendlichen dabei unbedingt Vertraulichkeit versichern.

In der unten stehenden Tabelle 4-1, finden Sie eine Übersicht zur Kategorisierung von Rollen und Verhalten bei Mobbing, die beim Anwenden des Fragebogens (Anhang A-1) benutzt werden kann.

Berichte von Lehrpersonen

Eine weitere Möglichkeit bietet die Befragung der Lehrpersonen. Lehrer können wertvolle Informationen liefern, da sie direkt mit den Kindern und Jugendlichen über längere Zeit zusammenarbeiten. Inwiefern sie Mobbing beobachten, hängt allerdings stark von ihrer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ab. Die meisten Lehrpersonen sind sich nicht darüber im Klaren, wo Mobbing überall stattfinden könnte (Whitney, Smith, 1993). Auf höheren Klassenstufen unterrichten in einer Klasse meist mehrere Lehrkräfte, sodass diese, auch wenn sie bemüht sind, Mobbing-Situationen früh zu erkennen, jeweils nur Fragmente zu Gesicht bekommen (Crescionini, 2008). Deshalb ist es allgemein fraglich, ob Lehrerberichte angebracht sind. Mehrere Autoren betonen jedoch, dass diese in Abhängigkeit vom Alter der Schüler sehr wohl wertvoll sein können (Werner, Bigbee, Crick, 1999); gerade bei jüngeren Kindern stimmen andere Forschergruppen mit uns überein, dass sie sehr wertvoll sind (Alsaker, Valkanover, 2001; Monks, Smith, Swettenham, 2003; Scheithauer et al., 2003). Im Kindergarten sind die Kinder immer in der Gruppe zusammen. Die Lehrperson hat entsprechend viel Gelegenheit, die Kinder genau zu beobachten. Eine Studie zur relationalen Aggression (Crick, Casas, Mosher, 1997) zeigte zudem, dass Lehrerberichte höhere Gültigkeit als Kinderberichte hatten, da die jüngeren Kinder noch Mühe mit der Wahrnehmung von subtilen und verdeckten Formen von Aggression hatten. Eine Studie aus England zeigte außerdem, dass Lehrpersonen häufiger indirekte Aggression in ihre Definition von Mobbing mit einbezogen als Schüler es taten. Letztere begrenzten sich häufig auf direkte Angriffe (Naylor et al., 2006).

Tabelle 4-1: Übersicht über die Kategorisierung von Mobbingrollen nach der Häufigkeit des Verhaltens (Françoise Alsaker, 2011)

Rollen und Verhalten

mobbt andere

wird gemobbt

Mobber

mindestens 1x pro Woche

nie oder selten

aggressive Opfer

mindestens 1x pro Woche

mindestens 1x pro Woche

passive Opfer

nie oder selten

mindestens 1x pro Woche

nicht beteiligt

nie oder selten

nie oder selten

Grenzgänger

entweder mobbt das Kind andere «manchmal», ...

... oder/und es wird «manchmal» gemobbt

Weitere Details sind in Anhang A-1 zu finden.

In meinen Studien zu Mobbing im Kindergarten und auf der Unterstufe habe ich unter anderem Lehrerberichte benutzt. Diese haben sich als die wichtigste Informationsquelle erwiesen (Alsaker, 2003). Das Vorgehen zur Anfertigung eines solchen Berichts gestaltet sich folgendermaßen: Die Lehrpersonen füllen für jedes Kind einen Fragebogen aus, in welchem sie unter anderem Fragen zum sozialen Verhalten der Kinder beantworten. Zum Thema Mobbing beantworten sie acht Fragen (s. Tab. 4-2). Durch das Ausfüllen des Fragebogens können sich Lehrpersonen im Kindergarten ein gutes Bild der Situation in ihrer Klasse verschaffen. In unserer Arbeit haben wir mehrfach von den Lehrpersonen gehört, dass die Auseinandersetzung mit den Fragen zu jedem Kind den Blick schärft, und dass es nicht selten zur Entdeckung verschiedener Sachverhalte in der Kindergruppe führt. Im Kindergartenfragebogen führen wir eine vierte Form des Mobbings auf, die dort häufiger vorkommt: Das Zerstören oder Verstecken von Gegenständen. Um Kinder als eventuelle Opfer oder Mobber zu bezeichnen, benutzen wir auch hier als Kriterium, dass gezielte aggressive Handlungen gegenüber einem Kind «mindestens einmal pro Woche» beobachtet werden sollten. Ähnlich wie der Fragebogen für die Schüler (Anhang A-1), kann der kurze Fragebogen von der Lehrperson um spezifische Fragen erweitert werden. Wenn Sie den Fragebogen selber verwenden wollen, um Ihren Blick zu schärfen, können Sie davon ausgehen, dass Kinder, bei welchen Sie mindestens einmal pro Woche in einer der genannten Formen beobachten, dass sie von anderen geplagt werden, Ihre weitere gezielte Aufmerksamkeit verdienen.

Tabelle 4-2: Fragebogen für Lehrpersonen: Mobbing im Kindergarten und auf der Unterstufe (Alsaker, 2003)

Erfahrungen der Kinder als Opfer

– das Kind wird körperlich gemobbt (geschlagen, getreten, gekniffen, gebissen...)

– das Kind wird verbal gemobbt (ausgelacht, beschimpft, gehänselt...)

– das Kind wird von den anderen Kindern ausgeschlossen

– dem Kind werden Dinge versteckt oder kaputtgemacht.

Verhalten der Kinder als Mobber

– das Kind mobbt andere Kinder körperlich (schlägt, tritt, kneift, beißt...)

– das Kind mobbt andere Kinder verbal (lacht aus, beschimpft, hänselt...)

– das Kind schließt andere Kinder aus

– das Kind versteckt Dinge von anderen Kindern oder macht ihnen Gegenstände kaputt.

 

Antwortkategorien: 1 = nie, 2 = selten (1 oder 2 Mal im Laufe von 3 Monaten), 3 = einmal pro Monat, 4 = ungefähr einmal die Woche, 5 = mehrmals die Woche

Die Beantwortung spezifischer Fragen zu jedem einzelnen Kind in der Klasse hilft, den Blick zu schärfen und häufig auch Kinder zu entdecken, die in Schwierigkeiten sein können.

Nennungen durch Gleichaltrige

Kinder sind die unmittelbarsten Zeugen von allfälligen aggressiven und rücksichtlosen Handlungen in der Gruppe. Wie bereits erwähnt, sind in 85 % von Mobbing-Vorfällen andere Kinder dabei (Hawkins, et al., 2001). Mitschüler zu Mobbing-Vorkommnissen zu befragen, ist deshalb sinnvoll und kommt auch häufig vor. Kinder und Jugendliche bekommen meistens eine Liste aller Mitschüler und äußern sich zu jeder und jedem. D. h. sie kreuzen an, wer andere mobbt und wer Opfer von Mobbing ist. Meistens äußern sie sich auch gleichzeitig zu verschiedenen Verhaltensweisen aller Mitschüler in ihrer Klasse. Die gewonnene Information erhält durch die größere Anzahl Personen, die sich zu jedem Kind äußern, eine gewisse Objektivität und Zuverlässigkeit (Salmivalli, 1998).

Die Methode scheint besonders geeignet zu sein, wenn ein Verhalten für Lehrpersonen schwer zu beobachten ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Kinder und Jugendliche ohne Weiteres Auskunft darüber geben können, was genau und wie oft passiert. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Schüler eher die gängige Meinung in der Gruppe wiedergeben, als ihre eigene Einschätzung. Dies hängt mit dem sozialen Druck zusammen, der in einer Gruppe bestehen kann. Kinder haben häufig einen Ruf in der Klasse, der trotz Verhaltensänderungen über lange Zeit besteht (Coie, Kupersmidt, 1983). Zudem beeinflusst die Meinung der Mobber viele Peers, da sie in der Gruppe recht viel Macht haben. Ab der mittleren Kindheit gelten die Kinder jedoch als zuverlässige Informanten.

Die Anonymität, die im Eigenbericht gegeben ist, kann bei den Peer-Nennungen nicht gewährleistet werden. Scheithauer et al. (2003) sehen auch die Gefahr, dass durch die Peer-Nennungen ungewollt Etiketten verteilt werden können. Das Problem ist mit einer Zusicherung der Vertraulichkeit auf Erwachsenenseite nicht gelöst.

Bei der Befragung von jüngeren Kindern muss man beachten, dass sie von Ereignissen, die noch nicht lange zurückliegen oder die ihre besten Freunde betreffen, oft so stark beeindruckt und betroffen sind, dass es ihnen so vorkommt, als würde dies immer so sein (Alsaker, 2003). Wir haben weiter die Erfahrung gemacht, dass Kinder problemlos Kinder benennen können, die sich aggressiv verhalten, dass ihnen jedoch das Denk-Schema fehlt, um zu verstehen, was ein Opfer ausmacht (Ladd, Kochenderfer-Ladd, 2002). Wenn man Kinder nach einem Gespräch über Mobbing (z. B. mit den Zeichnungen in Abb. 2-2) direkt fragt, ob es Kinder gibt, die in dieser Art und Weise von anderen behandelt werden, wissen sie meist nicht, wen sie nennen sollten. Wenn man aber fragt, ob es Kinder gibt, die aggressives Verhalten zeigen, können sie 1) Kinder nennen, die das tun und 2) problemlos sagen, gegen wen sich die Handlungen jeweils richten.

In unseren Kindergarten- und Unterstufenstudien haben wir neben den Lehrerfragebögen jeweils Interviews mit den Kindern durchgeführt und Peer-Nennungen darin eingebettet. Man muss allerdings bedenken, dass die Geduld und Konzentrationsfähigkeit der Kinder nicht überfordert werden dürfen. Besonders bei Kindern, die gerne Antwort geben und viel erzählen, kann es plötzlich zu viel werden.

Ich habe bereits angesprochen, dass es wichtig ist, zwischen Mobbing und Konflikten zu unterscheiden. Deshalb muss man unbedingt mit den Kindern über verschiedene Typen von negativen Handlungen und Streitigkeiten reden, bevor man sie zu Mobbing befragt. Wenn man Aussagen von vielen Kindern bekommt – wie es der Fall in Forschungsprojekten ist –kann man relativ sicher sein, dass kleine Konflikte in der Endbewertung keine große Bedeutung erhalten. Befragt man nur einzelne Kinder (Praxis), ist es wichtig, sich ein genaueres Bild der berichteten Episoden zu machen.

Wenn Sie selber mit Kindern über Mobbing sprechen wollen, können Sie unser Vorgehen im Interview als Grundlage benutzen. Wir beginnen das Gespräch mit dem Kind mit Fragen zu den Beziehungen zwischen den Kindern im Kindergarten (wer mit wem zusammen spielt, ob das Kind besondere Freunde hat etc.). Das Gespräch über Mobbing wird dann folgendermaßen eingeleitet:

«Es ist so, dass nicht alle Kinder immer lieb zueinander sind. Ab und zu sind Kinder auch ziemlich böse zu anderen Kindern.»

Dann wird anhand der vier Zeichnungen (s. Abb. 2-2) erklärt, wie Mobbing aussehen kann.

  • (Bild 1) Es gibt Kinder, die lachen andere aus oder sagen böse Dinge zu ihnen oder strecken ihnen die Zunge heraus.

  • (Bild 2) Dann gibt es Kinder, die nehmen anderen etwas weg, z. B. ihre Spielsachen, oder sie machen den anderen Kindern etwas kaputt oder verstecken es.

  • (Bild 3) Hier siehst du Kinder, die andere schlagen, beißen, treten oder sie an den Haaren ziehen.

  • (Bild 4) Und dann gibt es noch Kinder, die andere nicht mitspielen oder neben sich sitzen lassen.

Wenn Kinder immer wieder böse sind zu anderen Kindern, so wie auf den Bildern, nennt man es Plagen (Schweiz) oder Mobbing.

Diese Einleitung dient als Gesprächsgrundlage; Kinder und Interviewer sollten sich, soweit möglich, auf «ernsthaftere» Episoden einigen. Sie werden vielleicht staunen, dass im ersten Beispiel «Zunge herausstrecken» genannt wird. Wir haben es aufgenommen, weil wir in einer Studie herausfanden, dass viele Kinder es spontan als «beleidigend» empfinden. In der ersten Durchführung unseres Präventionsprogramms hatten Kinder in einer Gruppe sogar eine Regel gegen das «Zunge-Herausstrecken» formuliert (mit Zeichnungen). Dies zeigt wieder, wie wichtig es ist, den Kindern zuzuhören. Was für uns manchmal als wenig bedeutsam erscheint, kann für die Kinder einen ganz anderen Stellenwert haben. Das Gegenteil mag auch der Fall sein. Dies ist besonders bei Jugendlichen zu beachten. Gewisse Umgangsformen mögen uns etwas fremd und respektlos erscheinen und trotzdem keine besondere Bedeutung für die Jugendlichen haben.

In unseren Studien haben die Kinder eine Tafel vor sich mit Fotos aller Kinder, die am Projekt mitmachen dürfen. Jedes Kind (im Einzelinterview) wird nun aufgefordert, anhand der Fotos diejenigen Kinder zu nennen, die andere schlecht behandeln und diejenigen, die Opfer dieser Handlungen sind. Die Kinder werden zudem zu ihren eigenen Erfahrungen mit Mobbing in ihrer Gruppe oder außerhalb des Kindergartens oder der Schule befragt. Das gesamte Mobbing-Interview ist im Anhang B zu finden. Wenn Sie als Eltern, Lehrperson oder Fachperson dieses Interview benutzen, sind Sie nicht an die strengen Kriterien gebunden, die in der Forschung gelten. Auch wenn das Kind gewisse Kinder vergisst (weil es keine Fotos vor sich hat), ist das mitunter nicht bedeutsam. Wenn Sie ein einziges Kind befragen (Grundlage für ein Gespräch), darf die Information allerdings nicht als Widerspiegelung der Wirklichkeit interpretiert werden. Die Hauptsache ist, dass Sie ein Bild der Wahrnehmung des Kindes über seine Peer-Gruppe bekommen und darüber hinaus einen kleinen Überblick über die Umgangsformen verschiedener Kinder erhalten. Unsere Erfahrung ist, dass Kinder gut mit diesem System arbeiten können. Passen Sie allerdings auf die Anzahl Ihrer Fragen auf – wie oben erwähnt, wird es auf einmal doch zu viel. Außerdem könnte das Kind das Gefühl bekommen, dass Sie etwas Spezielles wissen wollen. In diesem Fall erzählen die Kinder nicht mehr spontan über die Gruppe, sondern suchen nach der «richtigen» Antwort auf Ihre Fragen.

Die beschriebene Interview-Methode hat den Vorteil, dass wir über Verhalten sprechen und keine Kinder als Mobber oder Opfer durch ihre Peers bezeichnen lassen. Zu jeder genannten Episode können Folgefragen gestellt werden; beispielsweise, wenn man gerne mehr über gewisse Episoden wissen möchte, weil man sich über die Ernsthaftigkeit eines Vorfalles nicht sicher ist.

Aufgrund des noch nicht voll entwickelten Zeitbegriffs von Kindergartenkindern und jungen Schulkindern können diese im Gegensatz zu älteren Schülern keine Angaben zu Häufigkeiten (z. B. «wie oft seit den Herbstferien») machen. Wir gehen aber davon aus, dass die Häufigkeit der Nennungen durch viele Kinder die Intensität und Häufigkeit des Auftretens von Mobbing in den Wochen vor dem Interview widerspiegelt (Alsaker, 2003).

Wir verwenden die Antworten der Kinder in der Gruppe folgendermaßen: Da wir keine Zeitangaben haben, gehen wir von der Häufigkeit der Nennungen aus. Jedes Mal, wenn ein Kind von einem anderen Kind als «Aggressor» genannt wird, bekommt es einen Mobbing-Punkt. Wir gehen gleichermaßen mit den «Opfer»-Nennungen um. So erhält jedes Kind Mobbing-Punkte und Opfer-Punkte (oder natürlich keine Punkte). Danach werden diese Punkte im Verhältnis zu der Anzahl Kinder in der Klasse in Prozente umgerechnet. Schließlich wird eine Einteilung in Rollen vorgenommen, wie sie bei den anderen Methoden beschrieben wurde. Das heißt, dass man bereits im Kindergarten zwischen den zwei Opfertypen unterscheiden muss: den passiven und den aggressiven Opfern. Das System ist relativ komplex und eignet sich nur für Forschungszwecke. Sollte man sich in der Praxis die Zeit nehmen, eine ganze Gruppe auf diese Art und Weise zu befragen, würden Zählungen von Nennungen reichen, um sich ein Bild der Gruppe zu machen.

Nennungen von Gleichaltrigen kann man in der Praxis als Gesprächsgrundlage mit einzelnen Kindern benutzen.

Eltern als Informanten

Eltern bekommen von ihren Kindern gelegentlich Informationen über negative Erfahrungen, die diese in der Schule machen; sie können nur beurteilen, inwiefern sich die Berichte ihrer Kinder als verlässlich anhören oder nicht. In unseren Projekten versuchen wir, soweit es geht, Information von den Eltern einzuholen.

Im MOK-Projekt hatten wir die Gelegenheit, Antworten der Kindergartenlehrpersonen und der Eltern miteinander zu vergleichen. Eltern und Lehrpersonen füllten genau gleiche Fragebögen zu den Kindern aus. Der größte Unterschied bestand darin, dass Eltern im Vergleich zu den Lehrpersonen aggressives Verhalten ihrer Kinder in der Kindergruppe sehr selten angeben (Nägele, Alsaker, 2005). Von den 81 aus Sicht der Lehrpersonen mobbenden Kindern, wurden gerade nur 4 aufgrund der Elternangaben als Mobber klassifiziert. Die Prozentzahlen betreffend Kinder, die gelegentlich oder häufig Opfer der Aggression anderer Kinder waren, zeigten mehr Übereinstimmung. Allerdings trügt dieser Schein, denn Kinder, die von Eltern und Lehrpersonen als Opfer genannt wurden, waren nur selten dieselben. Aufgrund der Information der Lehrpersonen wurden 31 Kinder als Opfer klassifiziert. Aufgrund der Daten der Eltern waren es 54. Eine Übereinstimmung gab es nur bei 6 Kindern. Zusätzlich nahmen Eltern ihre Kinder eher als passive Opfer und sehr selten als aggressive Opfer wahr. Dies sollte uns nicht erstaunen, denn aggressive Opfer erleben auch die Aggression der anderen Kinder. Sie erleben sich selber als Opfer und berichten davon. Sie erzählen aber nicht, wie sie selber mit den anderen Kindern umgehen.

Diese Ergebnisse sind für die Praxis wichtig. Sie zeigen, was viele Eltern und Lehrpersonen in der Praxis oft erleben. Lehrpersonen beklagen sich bei den Eltern über ein Verhalten der Kinder, von dem die Eltern gar nichts gewusst haben. Andererseits fühlen sich Eltern häufig nicht ernst genommen, wenn sie mit Mobbing-Anliegen zur Lehrperson gehen. Dass die Wahrnehmung und Information von Eltern nur in geringem Ausmaß mit der Sicht der Lehrpersonen übereinstimmen, ist nachvollziehbar. Beide bekommen Fragmente der Klassenwirklichkeit zu sehen oder hören. Trotzdem bleiben Eltern sehr wichtige Informanten, besonders in der Praxis. Sie kennen das Kind am besten und erleben die Freuden und Qualen des Kindes hautnah. Sie können auch frühe Signale des Unwohlseins wahrnehmen. Wichtig ist, dass beide Parteien sich darüber im Klaren sind, dass sie nicht das Gleiche sehen können.

Die Informationen von Eltern und Lehrpersonen zum Verhalten der Kinder unterscheiden sich stark. Dies kann problematisch, aber auch nützlich sein, wenn beide Parteien bereit sind, die Wahrnehmung der anderen Person als zusätzliche Information zur eigenen Sicht zu betrachten.

4.2  Wie verbreitet ist Mobbing?

Die Ergebnisse der verschiedenen Forschergruppen bezüglich der Häufigkeit von Mobbing sind relativ schwierig zu vergleichen, weil viele andere Kriterien benutzen als diejenigen, die ich bereits besprochen habe und welche lange Zeit auch allgemein akzeptiert waren. Gelegentlich werden sehr hohe Prozentzahlen von den Medien aufgenommen. Es handelt sich meistens um Studien, in denen das Kriterium «manchmal» (statt das strengere «ein Mal pro Woche») reichte, um ein Kind als Opfer zu bezeichnen. Häufig sind es auch Studien, in denen der Zeitraum für die Angaben zu Mobbing-Vorfällen sehr vage gesetzt wurde (beispielsweise «im letzten Jahr» oder «in den letzten Monaten»). Solche Angaben können gelegentlich nützlich sein, sie sollten uns aber nicht das Gefühl geben, dass heute alles viel schlimmer geworden ist und uns somit beinahe in Panik versetzen.

Internationale Studien in Schulen

Ergebnisse einer internationalen Studie (im Rahmen der Weltorganisation für Gesundheit) mit mehr als 200 000 Schülern aus 40 Ländern im Schuljahr 2005/06 zeigten, dass die Prozentanteile in den verschiedenen Ländern zwar große Variationen aufwiesen, jedoch keine spezifischen Muster bildeten (Currie, 2008). In dieser Studie wurden die Zeitangaben und Kriterien leider etwas vage definiert. Trotzdem steigen die Prozentanteile involvierter Schüler insgesamt (in allen Ländern) nicht unverhältnismäßig in die Höhe. Ungefähr 11 % der befragten 11- bis 15-Jährigen sagten, sie hätten andere «mindestens zwei Mal im Laufe der letzten Monate» gemobbt, knapp 13 % der Befragten berichteten davon, «mindestens zwei Mal im Laufe der letzten Monate» gemobbt worden zu sein und schließlich gaben knapp 4 % der Jugendlichen an, sie hätten gemobbt und seien selber auch gemobbt worden.

Die Forschung zu Mobbing ist in den letzten Jahren sehr stark gewachsen und es werden – wie bereits erwähnt – vermehrt unterschiedliche Methoden und Kriterien verwendet um Mobbing zu messen. Cook und Kollegen (2010) haben in einer Meta-Analyse dokumentieren können, wie stark diese methodischen Faktoren die Ergebnisse beeinflussen. Es ist allerdings nicht das Ziel dieses Buchs, eine vertiefte Darstellung aller Prozentanteile und Einflussfaktoren zu bieten. Ich beziehe mich im Folgenden auf zwei Übersichten (Alsaker, 2003; Stassen Berger, 2007), um eine zuverlässige Größenordnung anzugeben. Ich berufe mich nur auf Studien, die das strengere Kriterium «mindestens einmal pro Woche» benutzt haben, weil es meines Erachtens der allgemein gültigen Definition von Mobbing als systematisch wiederholte aggressive Handlungen, besser entspricht (siehe auch Scheithauer, Hayer, Petermann, Jugert, 2006). Ergebnisse aus einer Auswahl von 14 Studien aus diesen zwei Übersichten zu Eigenberichten von Schülern zwischen 9 und 16 Jahren liefern Häufigkeiten von 4 % bis 9 % für Mobber und 2 % bis 11 % für Opfer. Es wurde leider nicht immer zwischen Opfergruppen unterschieden. Die 2 % beziehen sich nur auf passive Opfer, während andere Studien aggressive und passive Opfer zusammenzählten.

In den allermeisten Studien werden höhere Prozentanteile von mobbenden Jungen als Mädchen berichtet. Prozentanteile von Opfern sind meistens in etwa gleich bei Jungen und Mädchen.

Prozentanteile von aggressiven Opfern

Da aggressive und passive Opfer nicht immer voneinander unterschieden werden, ist es schwierig verlässliche Zahlen zu den aggressiven Opfern zu nennen. Dies bestätigt auch eine breite Literaturrecherche von Solberg, Olweus, Endresen (2007). Je nach Alter der Kinder und verwendeten Kriterien, variierten die Zahlen zwischen 0.4 % und 29 %. In ihren großen norwegischen Stichproben (3. bis 9. Klasse) und unter Verwendung des Häufigkeitskriterium «mindestens einmal pro Woche» konnten die Autoren gerade 1.9 % der Schüler als aggressive Opfer kategorisieren (gegenüber 9.5 % passiver Opfer und knapp 5 % Mobber). In der Studie, in welcher ich Mobbing unter Schulkindern (4. bis 9. Klasse) in Norwegen und der Schweiz untersuchte, waren 7 % der Schüler passive Opfer, 3 % waren aggressive Opfer und 5 % waren Mobber (Alsaker, Nägele, 2008). Auch Scheithauer und Kollegen (2006) berichten von nur 2.3 % aggressiven Opfern. Das heißt, wenn die gleichen strengeren Kriterien und gleichen Methoden verwendet werden, kommt man zu einer Zahl von 2 bis 3 % aggressiven Opfern im Schulalter.

Es muss hinzugefügt werden, dass aggressive Opfer viel häufiger unter den Jungen als unter den Mädchen zu finden sind. Schwartz, Proctor und Chien (2001) hatten bereits darauf hingewiesen und die oben zitierten Studien konnten dies alle bestätigen.

Mobbing und Alter

Aus frühen Studien zu Mobbing ist bekannt, dass Kinder häufig von älteren Mitschülern gemobbt werden. Mehrere Studien haben deutlich zeigen können, dass die Mobbing-Opferanteile unter Schülern mit steigendem Alter abnehmen. Auf der anderen Seite scheinen die Prozentzahlen von Mobbern nicht abzunehmen (z. B. Whitney, Smith, 1993). Wang und Kollegen (2009) fanden keinen Unterschied zwischen den 6.-, 7.- und 8.-Klässlern, was das Mobben von anderen betrifft (alle Formen wurden berücksichtigt), jedoch mehr Opfer unter den 6.-Klässlern. Ab der 9. Klasse gab es insgesamt weniger Mobbing-Vorfälle. Rigby (1996) betont aber, dass das Mobbing-Verhalten gerade im Übergang zu weiterführenden Schulen eher zunimmt – um danach stetig abzunehmen. Diese Befunde entsprechen den Kernelementen von Mobbing als eine Machtdemonstration bei welcher die Mobber sich eher «einfache» Opfer suchen. Es muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass es sich bei diesen Ergebnissen um allgemeine Aussagen über Tendenzen handelt, die über einzelne Schultypen nichts Spezifisches aussagen.

Besonders am Anfang des Schuljahres kann es wichtig sein, ein Auge auf die jeweils jüngeren Schüler zu werfen. Dies gilt nicht nur für die Primar- oder Elementarschule sondern auch für weiterführende Schulen.

Verbreitung von Mobbing im Kindergarten

Ergebnisse zur ersten großangelegten Studie zu Mobbing im Kindergarten habe ich bereits ausführlich in einem früheren Buch beschrieben (Alsaker, 2003). In Abbildung 4-1 sind die Zahlen der zweiten schweizerischen Studie (MOK-Studie; 1056 Kinder) im Vergleich zu den Ergebnissen der ersten Studie von 1997 (319 Kinder) und der Schulstudie in Norwegen und der Schweiz (2600 10- bis 16-Jährige) im Jahre 1994 (Alsaker, Brunner, 1999) präsentiert.

Im Jahr 1997 wurden die Aussagen der Kindergartenlehrpersonen mit den Nennungen der Kinder kombiniert. Im Jahr 2003 wurden nur die Aussagen der Lehrpersonen benutzt. Trotzdem waren die Prozentanteile sehr ähnlich. Beide Male stellte man fest, dass 6 % der Kinder als passive Opfer zu bezeichnen waren. Die Prozentanteile der aggressiven Opfer gingen im Zeitraum zwischen der Studie von 1997 und jener von 2003 etwas zurück. Dies kann eventuell darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrpersonen in 2003 besser auf die Unterschiede zwischen Mobbing und anderen aggressiven Handlungen vorbereitet wurden.

Die Anteile an Mobbenden und aggressiven Opfern waren im Kindergarten höher als in unserer Schulstudie. Dieser Unterschied ist wahrscheinlich auf den Rückgang an aggressiven Handlungen mit der Entwicklung zurückzuführen (Kap. 1; Tremblay, Nagin, 2005). Körperlich aggressive Handlungen kommen im Kindergarten häufiger vor als in der Schule. Trotzdem sind solche Aggressionen bei den meisten Kindern nicht willkommen und werden als sehr störend empfunden. Dies könnte mit ein Grund sein, weshalb einzelne impulsiv-aggressive Kinder an den Rand gedrängt und von Mobbern als «interessante» Opfer ausgewählt werden (dieser Aspekt wird im Kap. 6 näher diskutiert). Eine weitere Ursache für den Unterschied zwischen Kindergarten- und Schulstudie kann mit der Verwendung unterschiedlicher Methoden zusammenhängen, da Schulstudien (wie die unsere) auf Eigenberichten beruhen und die Bereitschaft, sich selber als aggressiv zu bezeichnen, bekanntlich beschränkt ist.

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Abbildung 4-1: Prozentanteile von Kindern und Jugendlichen, die mindestens einmal in der Woche «gemobbt» wurden (passive Opfer), «mobbten» (Mobber) und sowohl «gemobbt wurden als auch mobbten» (aggressive Opfer). (Alsaker, Nägele, 2008)

Wir fanden in den Kindergartenstudien den üblichen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen betreffend der Kategorisierung als aggressive Opfer (3 % der Mädchen und 12 % der Jungen). Ansonsten waren keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen zu bezeichnen.

Ergebnisse aus Kindergartenstudien, die ähnliche Kriterien wie Schulstudien anwenden, zeigen ein sehr klares Bild: Alle Mobbingrollen sind bereits in Gruppen von 5- und 6-Jährigen vorhanden. Für die Praxis heißt das: genauer hinschauen und früh handeln.

Wichtiges in Kürze

Es ist anspruchsvoll, jedoch sehr gut möglich, Mobbing-Vorkommnisse verlässlich zu messen. Instrumente, die für die Forschung entwickelt wurden, bilden eine sehr gute Basis für die Erfassung von Mobbing in der Praxis. Es ist dabei sehr wichtig, den Kindern Anonymität und/oder Vertraulichkeit zu sichern, solange man nichts Konsequentes gegen Mobbing unternimmt und nichts anderes mit ihnen vereinbart hat. Es ist außerdem wichtig, sich bewusst zu sein, dass ein einzelnes Kind nur über die eigene Wahrnehmung berichten kann.

Studien, die gleiche Kriterien für die Erfassung von Mobbing benutzen, zeigen, dass Mobbing ca. 25 % der Kinder ab Kindergarten direkt betrifft (als Mobber oder Opfer von Mobbing).

Anregungen zum Nachdenken

  • Inwiefern ist die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Opfertypen für Ihr Denken über und Ihren Umgang mit Mobbing nützlich?

  • Gibt es in der Verteilung zwischen Opfern, Mobbern, Nicht-Involvierten etc. Information, die Sie als relevant für die Praxis ansehen?

  • Was haben Sie in der Diskussion der Instrumente erfahren, was Ihre Sicht über Mobbing beeinflussen kann?

  • Wie könnten Sie die dargestellten Instrumente anwenden?