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Als Mike am Donnerstagmorgen die Augen
aufschlug und Jennis nackten Rücken vor sich sah, wusste er nicht
so recht, ob es ihm gefallen würde, immer so aufzuwachen. Nach dem
Vorfall in dem Dunkelcafé hatten sie beschlossen, dass Jenni
solange bei ihm blieb, bis der Fall abgeschlossen war, da sich
keiner sicher sein konnte, dass dieser Typ sie nur zufällig
ausgesucht hatte. Noch eine weitere Katastrophe mit einer ihm nahe
stehenden Person würde Mike nicht wegstecken können. Das, was er
mit seiner richtigen Familie durchmachen musste, war schon mehr als
genug für ein einzelnes Leben.
Mit noch trübem Blick schielte Mike auf den Wecker und stellte
fest, dass er eine halbe Stunde zu früh aufgewacht war, was
vermutlich daran lag, dass er am Vorabend nichts getrunken hatte.
In der Hoffnung, dass sie nicht böse sein würde, strich er Jenni
sanft über den Rücken, was einen leisen Seufzer auslöste, den sie
noch im Schlaf von sich gab. Mike stütze sich auf seinen Ellbogen
und betrachtete erst ihr im Schlaf lächelndes Gesicht, dann ihren
halb aufgedeckten Busen. Wieder strich er ihr behutsam über den
Rücken, diesmal stoppte er allerdings nicht und ließ auch die
Rundungen ihres Hinterns nicht aus. Ohne wirklich wach zu sein,
schob sie ihr Becken etwas nach hinten, was ihn dazu ermutigte, das
Ganze zu wiederholen und sie dabei noch etwas mehr zu reizen. »Komm
her!« Es war weniger als ein Flüstern, doch Mike verstand es. Nun
fuhr er mit seiner Hand vorsichtig über ihren Beckenknochen nach
vorne und schob sich gleichzeitig dichter an sie heran. »Heute ohne
Handschellen?«, fragte er leise und nicht ernst gemeint, in
Erinnerung an seinen Geburtstag vor einigen Tagen. Jenni huschte
ein Lächeln über das Gesicht, und statt einer Antwort machte sie
eine kleine Bewegung, die ihn dahin brachte, wo sie ihn schon
erwartete.
Beide ließen es langsam angehen, und erst als der Wecker sie
erbarmungslos an die Zeit erinnerte, gaben sie sich völlig ihrer
Lust hin.
Schon während der anschließenden Dusche holten Mike die Gedanken an
seinen Fall wieder in die Realität zurück. Heute war der Tag, an
dem das Spiel beginnen sollte, und sie hatten immer noch keinen
Anhaltspunkt, wo dieser Wodan Döring die Frauen gefangen halten
könnte. Da der Entführer auch keine konkrete Zeitangabe gemacht
hatte, wussten sie noch nicht einmal, wie lange ihnen noch blieb,
um ihn zu finden.
Als Mike aus dem Badezimmer kam, war Jenni bereits fertig angezogen
und hatte nur noch auf ihn gewartet, um sich zu verabschieden. Mit
einem vielsagenden Lächeln fragte sie: »Wann kommst du denn heute
Abend heim?«
Mike lag einiges auf den Lippen, trotzdem antwortete er viel zu
ernst: »Kann ich noch nicht sagen. Du weißt doch, dieser Irre
beginnt heute mit seinem Spiel, und wir müssen alles daran setzen
ihn vorher zu fassen.«
»Ach ja, die Scheiße! Mein Chef ist schon ganz aufgeregt und redet
von nichts anderem als unseren tollen Besucherzahlen durch die
Werbung dieses gestörten Typen. Ich würde fast wetten, dass, selbst
wenn er die Wahrheit wüsste, die Quoten im Vordergrund ständen. War
die Welt eigentlich schon immer so?«
»Ich habe auch den Eindruck, dass er immer schlimmer wird! Und seit
die Leute kaum noch miteinander reden, sondern nur noch ein paar
Tasten gedrückt werden, häufen sich die Missverständnisse.« Mike
machte ein kurze Pause. »Aber es ist, wie es ist. Mach dir einen
schönen Tag, und pass bitte auf dich auf.«
»Du auch!«, antwortete Jenni, gab ihm einen Kuss und verließ die
Wohnung.
Mike wollte gerade zurück ins Schlafzimmer, als sein Handy mit
abwechselten Klingeln und Vibrieren auf sich aufmerksam
machte.
»Mike Köstner«, meldetet er sich förmlich, da ihm die Nummer auf
dem Display nichts sagte.
»Hi Mike, hier ist Thomas, du erinnerst dich doch?«, begrüßte ihn
eine fröhliche Stimme, die Mike nicht sofort zuordnen konnte. Dann
fiel der Groschen und er antwortete: »Thomas, was verschafft mir
das Vergnügen? Wie geht es dir?«
»Mir geht es bestens! Keine Sorge, ich will nicht zurück in euer
Team.« Die Stimme am anderen Ende klang, als würde er ernst meinen,
was er sagte, daher ging Mike auf den Spaß seines früheren Kollegen
ein und sagte: »Könntest du auch nicht, wir nehmen schon lange
nicht mehr jeden! Rufst du privat an, oder brauchst du
Informationen, die ich dir nicht geben darf?« Mike wusste, dass
Thomas aus dem Polizeidienst ausgetreten war, um eine eigene
Detektei zu eröffnen. Allerdings wusste er auch, dass sein
Ex-Kollege niemals etwas Derartiges verlangen würde, und so war es
dann auch.
Thomas räusperte sich und klang nun deutlich ernster: »Wohl eher
umgekehrt. Ich hätte etwas für dich, aber nur, wenn du es nicht
offiziell verwendest!«
»Um was geht es?«, fragte Mike, der sich nicht vorstellen konnte,
was das sein könnte.
»Du kennst Richterin Magwart?«, stellte Thomas fest.
»Stimmt, aber wie kommst du darauf?«, antwortete Mike
verdutzt.
»Weil sie es gesagt hat und darüber hinaus erwähnte, dass sie eure
Vorgehensweise in dem aktuellen Fall ziemlich nachlässig findet!«
Thomas Worte waren schon lange verklungen, bis Mike das gerade
gehörte sortiert hatte und darauf eingehen konnte: »Moment!
Verstehe ich das richtig, dass die Richterin bei dir war und über
den Entführungsfall gesprochen hat?«
»Nicht nur das. Sie möchte, dass ich ebenfalls ermittle.«
Mike glaubte nicht richtig zu hören, daher fragte er: »Und was hast
du dazu gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass ich es für fahrlässig halten würde, und dass
eine nicht mit euch abgesprochene Aktion das Leben ihrer Tochter
und das der anderen beiden Frauen gefährden würde. Und
wahrscheinlich hätte ich dich deswegen auch gar nicht angerufen,
aber die Art, wie sie reagiert hat, fand ich ziemlich seltsam! Sie
sagte, dass ihr die anderen beiden Frauen völlig egal seien, und es
ihr absolut reichen würde, wenn ich ihre Tochter freibekäme. Ich
solle doch versuchen, mit dem Entführer in Kontakt zu treten und
über Kassandras Freilassung verhandeln.«
Mike ahnte schon eine ganze Weile, dass hinter allem mehr steckte,
aber langsam nahm es Dimensionen an, die gefährlich
wurden.
»Bist du noch da?«, fragte Thomas, da Mike keinen Ton von sich
gab.
»Ja«, sagte Mike. »Gut, dass du an mich gedacht hast, und dass du
dich da heraushältst. Glaubst du, sie wird es noch bei einer
anderen Detektei versuchen?«
»Schwer zu sagen«, meinte Thomas. »Ich habe versucht, ihr
eindringlich klar zu machen, dass sie die Sache euch überlassen
soll, aber so richtig überzeugt war sie, glaube ich,
nicht.«
Mike warf einen Blick auf die Uhr, und da er schon eine viertel
Stunde zu spät dran war, kürzte er das Gespräch mit dem
Versprechen, ein Bier auszugeben, ab.
Als er das Haus verließ, stellte er fest, dass nun der Winter
endgültig angekommen war. Eine dünne weiße Schneeschicht bedeckte
all das Grau der letzten Wochen und sorgte dafür, dass der
Weihnachtsschmuck in den Schaufenstern nicht mehr ganz so unpassend
aussah. Während er den Weg zum Hauptpräsidium einschlug, schweiften
seine Gedanken zu den drei Frauen, und er hoffte, dass es, wo immer
sie auch waren, nicht zu kalt war.
»Alles klar?«, fragte Peter, als sein Partner mit todernstem
Gesicht das Büro betrat.
»Nein, nicht alles klar! Aber bevor ich es zweimal erzähle, möchte
ich Karl dazu holen.« Die fragenden Gesichter von Peter und Natalie
ignorierend, griff er zum Telefonhörer und bat seinen Vorgesetzten
zu ihnen zu kommen.
Die Zeit, bis Karl ohne anzuklopfen ins Büro trat, reichte noch
nicht einmal um sich eine Tasse Kaffee zu machen, dennoch ließ Mike
erst die Tasse volllaufen und drehte sich erst danach um.
»Also, was gibt es so Wichtiges?« Karls Stimme klang wie immer
ungeduldig. Mike setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches,
nahm einen Schluck des heißen Getränkes und suchte nach einem
Anfang für seine Geschichte. Anschließend stellte er die Tasse weg
und begann: »Wir haben ein Problem!« Nun sah er Karl an, dass seine
beiden Kollegen zumindest den Anfang schon kannten: »Du weißt doch,
dass wir das Motiv für diese Entführung irgendwo in der
Vergangenheit des Entführers vermuten.«
»Ja, wisst ihr inzwischen mehr darüber?«, warf Karl ein, worauf
Mike bitter lächelte: »Wissen wir, und das ist das Problem. Denn
offenbar liegt das Motiv nicht nur in der Vergangenheit des Täters,
sondern hat unmittelbar etwas mit der Richterin zu tun.«
»Das haben wir doch auch schon vermutet!«, stellte Karl wenig
überrascht fest. Mike nahm noch einen Schluck, dann ließ er die
Bombe platzen: »Stimmt, aber jetzt haben wir allerlei Anhaltspunkte
dafür, dass Richterin Magwart ganz genau weiß, was damals passiert
ist. Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass irgendetwas
an ihrer Vergangenheit nicht so sauber ist, wie es bei einem
Richter sein sollte!«
Bevor Mike weiter reden konnte, hob sein Vorgesetzter und Freund
die Hand und sagte: »Ich bin mir zwar sicher, dass du weißt, wie
dünn das Eis ist, auf dem du dich gerade bewegst, aber denk lieber
noch einmal nach, bevor du weiter redest.«
»Nicht nötig!«, antwortete Mike selbstbewusst. »Mir ist klar, dass
es den Fall nicht einfacher macht, aber wir werden nicht drum herum
kommen die Richterin zu verhören.«
Karl gab sich geschlagen: »Also gut, was hast du für
Informationen?«
»Angefangen hat es mit dem seltsam passiven Verhalten von Frau
Magwart. Ihr Sohn wurde ermordet und ihre Tochter entführt. Ich an
ihrer Stelle würde in so einer Situation ausrasten, nicht mehr klar
denken können und Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um dem
Täter auf die Spur zu kommen. Doch inzwischen sind drei Tage
vergangen, und wir haben keinerlei Information von der Richterin
bekommen. Sie macht keinerlei Anstalten in ihren alten Fällen zu
wühlen, um einen Hinweis auf den Täter zu bekommen. Klar war sie
betroffen, als sie die Filme sah, aber reicht das?«
Karl verstand zwar, auf was Mike hinaus wollte, aber das reichte
ihm noch nicht, daher fragte er: »Hast du auch Fakten?«
Mike nickte: »Habe ich! Natalie … ich meine Kollegin Köbler. Sie
war gestern fleißig und hat etwas recherchiert. Es gab tatsächlich
eine von Richterin Magwart geführte Verhandlung, in der die beiden
anderen Frauen Opfer und Zeugin waren. Allerdings fehlen wichtige
Unterlagen in der Gerichtsakte. Um genau zu sein fehlen
Gesprächsprotokolle.«, Mike machte ein kurze Pause, um seine Worte
wirken zu lassen. »Aber das ist noch nicht alles. Heute Morgen hat
mich Thomas Reking angerufen … du erinnerst dich an ihn?« Mike sah
Karl fragend an, und als dieser nickte, redete er weiter: »Thomas
hatte gestern Abend Besuch von unserer Richterin, die ihn
beauftragen wollte, ihre Tochter zu finden. Er nahm den Fall nicht
an und wies sie darauf hin, dass sie damit das Leben der drei
Frauen in Gefahr bringen würde.« Mike sah in die ungläubigen
Gesichter seiner Kollegen. »Ist nicht wahr!«, stieß Peter aus, doch
Mike war noch immer nicht fertig: »Es ist wahr und immer noch nicht
alles! Frau Magwart sagte wortwörtlich zu ihm, dass es ihr nur um
ihre Tochter ginge. Er sollte versuchen mit dem Entführer in
Kontakt zu treten und ihre Tochter frei zu handeln.«
Karl dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er entschlossen:
»Ich werde die Richterin sofort hierher bestellen!« Doch diesmal
war es Mike, der eine beruhigende Geste machte und anschließend
erklärte: »Sicher werden wir mit ihr reden müssen, aber wir dürfen
Thomas da nicht mit rein ziehen! Wenn herauskommt, dass er über
seine Mandanten redet, kann er seinen Laden gleich wieder
dichtmachen. Ich habe ihm hoch und heilig versprochen, dass wir
diese Information nicht offiziell verwenden, daher würde ich
vorschlagen, wir konfrontieren Frau Magwart zunächst nur mit der
lückenhaften Akte.« Bei jedem anderen Chef, hätte Mike erst gar
nicht über seine Informationen geredet, aber bei Karl war er sich
sicher, dass er die Bedingungen akzeptieren würde. Tatsächlich
verzog Karl zwar das Gesicht, stimmte aber zu. Dann griff er zum
nächsten Telefon und ließ sich von seiner Sekretärin mit dem
Anschluss der Familie Magwart verbinden.
Keiner der Anwesenden wusste, mit wem Karl die wenigen Worte
wechselte, da jedoch sein Gesicht immer düsterer wurde, ahnten sie,
dass etwas nicht in Ordnung war. Nach einem gepressten »Ja, danke!«
knallte der Chef der Mordkommission dann auch den Hörer auf das
Telefon und stieß einen Fluch aus.
»Was ist?«, traute sich Peter zu fragen.
Es war mehr ein Knurren, trotzdem verstanden es die Drei: »Die
Richterin hatte gestern am späten Abend einen Schwächeanfall, liegt
jetzt im Krankenhaus und ist bis auf Weiteres nicht
ansprechbar!«
»Können wir da nichts machen?«, erkundigte sich Natalie mutig,
erntete allerdings einen Blick, der sie sofort verstummen ließ.
Doch Karl besann sich und sagte: »Nein, können wir nicht! Wenn ein
Arzt sagt, sie ist nicht ansprechbar, dann ist sie nicht
ansprechbar!« Nun sah er die junge Kollegin wieder etwas
freundlicher an: »Aber ich möchte, dass Sie in das städtische
Krankenhaus fahren und dem Arzt klarmachen, dass wir dringendst
eine Aussage von seiner Patientin benötigen … und lassen Sie sich
nicht von denen hinhalten. Diese Weißkittel machen sich in aller
Regel wichtiger, als sie sind!«
»Verstanden!«, antwortet Natalie, nahm ihre Jacke und wollte gerade
das Büro verlassen, wandte sich aber noch kurz Mike zu und sagte:
»Meine Suche im Gerichtsarchiv gestern Abend blieb übrigens
erfolglos, die Unterlagen sind weg!«
»Danke!«, antwortete Mike und sah ihr hinterher, wie sie das Büro
verließ.
Für einige Sekunden herrschte Stille in dem Raum, dann fragte Mike:
»Hat dieses Spiel eigentlich schon begonnen?«
»Nein, laut dem Countdown auf der Website, fängt er heute Mittag um
12 Uhr an!«, antwortete Peter, worauf Mike beim Stichwort Webseite,
gleich die nächste Frage stellte: »Und was ist mit diesem
Firmengelände, von wo die Seite eingespeist wird?«
Diesmal konnte Karl, der mit allen Abteilungen in engem Kontakt
stand, die Frage beantworten: »Auch nichts! Sie haben die Bude auf
den Kopf gestellt, aber nichts gefunden. Unsere Fachleute sind
allerdings der Meinung, dass, wenn dieser Typ ein gutes
Verschleierungsprogramm benutzt, uns nur vorgemacht wird, der
Server wäre dort. Die einzige Möglichkeit dies sicher
festzustellen, wäre den Strom abzuschalten, aber das könnte zur
Folge haben, dass dieser Döring durchdreht und die Frauen
umbringt.«
»Na toll!«, stellte Mike frustriert fest. »Also haben wir so gut
wie nichts, und wenn Döring sich nicht zeigt, werden wir ihn nicht
kriegen.«
»Und was wollt ihr jetzt machen?« Karl sah seine Leute selbst etwas
ratlos an.
»Wir werden uns mit der Familie von Nummer Eins, dieser Sabrina
Cricic, unterhalten. Die müssten ja eigentlich wissen, was damals
in der Behörde vorgefallen ist.« Mike blickte in die reaktionslosen
Gesichter von Karl und Peter und sagte dann fast schon
entschuldigend: »Ich weiß, dass uns das vermutlich auch nicht näher
an den Tatort bringt, aber diese Ungereimtheiten bezüglich der
Richterin bringen uns vielleicht näher an das Motiv des Täters.
Sollte es zu einer Verhandlung kommen, haben wir wenigstens genug
Hintergrundwissen!«
Karl dachte über das gerade Gehörte nach und stimmte dann zu.
Anschließen ging er zurück in sein Büro, und seine beiden
Kommissare machten sich auf den Weg zu Familie Cricic.