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Trotz der sich leise öffnenden Tür, riss es
alle drei Frauen sofort aus ihrem Halbschlaf. Dieses Mal
verzichtete ihr Entführer auf die starken Scheinwerfer, und nur der
einfallende Lichtschein beleuchtete das Verlies ein wenig. Soweit
Kassandra erkennen konnte, war der Mann ganz in Schwarz gekleidet
und hatte eine fast schon albern wirkende Kapuze mit Sehschlitzen
über den Kopf gezogen. In der einen Hand hielt er einen kleinen
viereckigen Gegenstand, den sie nicht identifizieren konnte und in
der anderen eine Art Essensbox.
Anders als die zurückhaltende Kassandra, war Sabrina sofort bis an
das Gitter gestürmt und begann ihn schwer zu beschimpfen, doch er
ignorierte dies, stellte sich einfach in die Mitte des Raumes und
schwieg. Nachdem Sabrina offenbar all ihre verfügbaren
Schimpfwörter und Beleidigungen von sich gegeben hatte, beruhigte
sie sich ein wenig, und eine seltsame Stille beherrschte das
Gewölbe. Wodan sah eine nach der anderen einige Sekunden lang an,
ging dann vor bis zu Kassandras Zelle, öffnete die Box und legte
ein Sandwich vor das Gitter.
»Hey, du Schwuchtel, ich will auch etwas zu essen!«, protestierte
Sabrina sofort.
»Und etwas zu trinken!«, forderte Nina, die sich durch das freche
Verhalten ihrer Freundin etwas sicherer fühlte.
Wodan ignorierte Sabrina, drehte sich nach links, legte auch Nina
etwas vor die Zelle und stellte die kleine Box in der Mitte des
Raumes ab. Anschließend ging er zu Sabrinas Zelle, blieb zwei Meter
davor stehen und schien einfach abzuwarten. Zum ersten Mal zeigte
die junge Frau so etwas wie Unsicherheit.
»Was ist?«, spie sie ihm nach einigen Sekunden entgegen, doch er
rührte sich nicht. Er stand einfach da und sah sie mit seinen
stechend blauen Augen an. Sabrina versuchte, den Blick zu halten.
Sie wusste von der Straße, dass man schon halb gewonnen hatte, wenn
das Gegenüber dem nicht standhielt, doch im Augenblick war sie
diejenige, die einzuknicken drohte. Nicht nur, dass sie Hunger
hatte, es konnte auch nicht angehen, dass dieser Typ sie unter
Kontrolle hatte.
Nachdem sie alle Möglichkeiten kurz im Kopf durchgespielt hatte,
löste sie den Blick, sah scheinbar geläutert auf den Boden und
sagte versöhnlich: »Kann ich bitte auch eins haben?«
Wodan deutete ein Nicken an, holte das letzte Sandwich und legte es
gerade soweit entfernt vom Gitter ab, dass sie es gerade noch
erreichen konnte. Auf diesen Augenblick hatte Sabrina nur gewartet.
Mit einer schnellen Bewegung griff sie durch das Gitter und
versuchte Wodans Arm zu erreichen, was ihr tatsächlich auch gelang.
Scheinbar unbeeindruckt ließ er sich ein Stück weit bis zu den
kalten Gitterstäben ziehen, dann kam seine andere Hand zum Einsatz.
Die Berührung dauerte nicht sehr lange, sorgte aber dafür, dass
sich jeder von Sabrinas Muskeln zusammenzog und ihr den Dienst
versagten. Nach einem kurzen Schrei sackte sie kraftlos zusammen
und fiel auf den staubigen Boden. Die Wirkung des
Elektroschockgerätes hielt nicht lange an, fast schon panisch
robbte sie erst vom Gitter weg und sah ihn dann hasserfüllt
an.
Gelassen schob Wodan ihr das Essen bis knapp vor die Zelle und
sagte dann: »Netter Versuch, aber du unterschätzt mich!«
Anschließend verließ er den Raum, und die drei Frauen sahen ihm
unsicher hinterher. Erst nach einer Weile löste sich Nina aus ihrer
Schockstarre und fragte leise: »Glaubt ihr, da ist Gift
drin?«
Kassandra wusste nicht, ob ihr vor Hunger und Durst schlecht war,
oder weil ihr der Vorfall wieder einmal gezeigt hatte, dass das
hier tödlicher Ernst war. Komischerweise hatte sie, als einige Zeit
nichts passierte war, das Ganze hier schon nicht mehr ganz so ernst
genommen. Doch jetzt war die Angst wieder da, und immer neue
Schreckensbilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
»Kassandra, ich rede mit dir!«, motzte Nina, als sie einige
Sekunden keine Antwort bekommen hatte und holte sie damit aus ihren
Gedanken. Verwirrt stotterte sie: »Was hast du gesagt?«
Genervt wiederholte Nina: »Glaubst du, dass er die Sandwiches
vergiftet hat?«
Kassandra dachte kurz darüber nach und meinte dann: »Nein, das
würde keinen Sinn machen. Er entführt uns doch nicht erst und
bringt uns dann so unspektakulär um.« Selbst erschrocken über diese
Erkenntnis, spürte sie, wie sich eine Träne ihren Weg bahnte;
wischte sich diese aber schnell von ihrer Wange, da sie vor den
beiden anderen nicht wie ein Weichei dastehen wollte.
»Wie geht es dir?«, fragte Nina Sabrina, während sie sich dem
Sandwich näherte, als wäre es eine Bombe, die jeden Moment
explodieren könnte.
»Geht schon wieder«, antwortete ihre Freundin immer noch etwas
geschockt und rappelte sich langsam auf. Inzwischen hatte Nina das
Essen erreicht und sah es sich misstrauisch an. Dann hob sie den
Deckel und roch daran: »Sardellen!«, stellte sie schließlich
angewidert fest.
Nun ging auch Kassandra bis ans Gitter und bestätigte Ninas
Worte.
»Bei mir auch!«, stellte Sabrina als letzte fest und fügte dann
etwas geläutert hinzu: »Aber ich fürchte, wir haben keine Wahl.
Vielleicht hilft ja das Salatblatt ein wenig gegen den Geschmack.«
Dann wandte sie sich an Kassandra und forderte: »Los, du fängst an.
Wir müssen uns ja nicht alle gleichzeitig vergiften!«
Für Kassandra bestätigte sich das, was sie schon als ersten
Eindruck von den beiden gehabt hatte; und inzwischen war sie ganz
froh, dass sie nicht alle zusammen in einem offenen Raum
eingesperrt waren. Zum Feind sollte man diese Frauen ganz sicher
nicht haben, daher ging sie nicht auf die Provokation ein und biss
ein kleines Stück des Weißbrotes ab. Nina und Sabrina sahen ihr
offen dabei zu, und fast schien es, als würden sie erwarten, dass
sie jeden Moment umfallen würde. Doch Kassandra befand das Sandwich
für gar nicht mal so schlecht, und da sie schon mehr als Hunger
hatte, nahm sie einen weiteren Bissen zu sich.
Als sie alles aufgegessen hatte, sagte sie zu den immer noch
glotzenden beiden: »Alles gut! Es hat geschmeckt, und mir geht es
gut!« Nun traute sich auch Nina und biss in ihr Brot, wenige
Sekunden später tat es ihr Sabrina gleich, und bald darauf hatten
sie alles aufgegessen.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann erkannte Kassandra als
Erste die Falle. Ihr zuvor brennender Durst, war nun durch die
Sardellen zu einem unbarmherzigen Durst angeschwollen. Offenbar
hatte ihr Peiniger genau das geplant, denn was sie zuerst
verwundert beobachtet hatten, stellte sich jetzt als Foltermethode
heraus.
Nachdem sie gegessen hatten, war er noch einmal zurückgekommen und
hatte genau in die Mitte des Raumes drei mit Wasser gefüllte Gläser
gestellt und war dann wortlos wieder verschwunden.
Kassandra leckte sich über die schon spröden Lippen, doch ihre
Zunge vermochte es nicht, diesen Feuchtigkeit zu spenden. Mit rauer
Stimme stellte sie fest: »Wir hätten das nicht essen sollen, er
wollte, dass wir Durst bekommen.«
»Der Gedanke kam mir auch schon. Kommen wir irgendwie an die
Gläser?«, meldete sich Nina zu Wort, deren Stimme fast genau so
kratzig klang.
Als wäre das sein Kommando gewesen, trat Wodan durch die Tür und
verkündete mit gebieterischer Stimme: »Das habt ihr selbst in der
Hand! Folgt ihr meinen Anweisungen, bekommt jeder von euch ein
Glas. Widersetzt sich eine von euch, bekommt keiner
etwas!«
»Und was müssen wir dafür tun?«, wagte sich Kassandra aus der
Deckung.
»Schweig!« Sein Schrei ließ sie zusammenzucken und bis an die
Rückwand ihrer Zelle zurückweichen. Dann fuhr er mit ruhiger, aber
fester Stimme fort: »Jede von euch bekommt jetzt einen Zettel auf
dem steht, was ihr zu sagen habt. Lernt es auswendig! Anschließend
werde ich jede von euch filmen. Ihr werdet euch auf die Pritsche
setzen und das vortragen, was auf dem Zettel stand. Sagt ihr etwas
anderes, wird es euch nichts nutzen und das Wasser hier …«, er
deutete auf die Gläser in der Mitte, » … wird im Boden
versickern!«