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Der Dienstagmorgen begann für Mike
ausnahmsweise ohne Kopfschmerzen, dafür aber mit einem völlig
verspannten Nacken. Eine heiße Dusche linderte die Schmerzen, und
nach einigen Dehnübungen schaffte er es sogar, seinen
Pistolenhalfter über den Rücken zu ziehen. Zehn Minuten später
klingelte sein Partner und trat in die Wohnung.
»Einen wunderschönen guten Morgen!«, verkündete Peter, der genau
wusste, dass Mike so viel Euphorie um diese Uhrzeit nicht leiden
konnte. Dann trat er ein und warf einen Blick in das offen stehende
Schlafzimmer mit dem unberührten Bett. »Hast du bei Jenni
geschlafen?«, lautete die erste Frage, dann sah er die Decke und
das Whiskyglas neben dem Sessel und warf einen skeptischen Blick zu
Mike.
Dieses Mal dämpfte er seine Stimmlage etwas und fragte vorsichtig:
»Ist es immer noch so schlimm?«
Da Mike den Mund voll Kaffee hatte, schüttelte er nur seinen Kopf.
Dann schluckte er hinunter, drückte Peter eine zweite Tasse in die
Hand und antwortete: »Nein. Ich hatte gestern einen sehr schönen
Abend mit Jenni und bin dann hier vor dem Fernseher
eingeschlafen.«
»Gut!«, stellte Peter jetzt wieder etwas lockerer fest, nahm
ebenfalls einen Schluck und erkundigte sich nach dem weiteren
Vorgehen bezüglich des Toten.
»Ich würde sagen, wir gehen ins Präsidium und machen eine
Aufstellung von dem, was wir haben. Vielleicht hat ja auch Dr.
Gruber inzwischen etwas herausbekommen.«
Eine halbe Stunde später hatte Peter alle Fakten an der großen,
weißen Tafel ihres Büros zusammengetragen, und Mike hatte mit
Erlangen telefoniert.
»Und? Hat die Gerichtsmedizin etwas in Erfahrung bringen können?«,
fragte Peter, als Mike aufgelegt hatte. Mike stand auf, warf einen
Blick auf die Landkarte und schüttelte den Kopf: »Der Dreck unter
den Fingernägeln des Toten könnte von überall hier in der Gegend
stammen. Die Zusammensetzung deutet zwar eindeutig auf unseren
Landkreis, beziehungsweise auf das hier vorkommende Gestein hin,
aber es fand sich nichts darin, was die Suche danach eingrenzen
würde.«
»Scheiße!«, stieß Peter aus und fragte dann weiter: »Und die
Gesichtserkennung?«
»Auch kein Treffer!«, lautete die knappe Antwort. Mike wollte sich
gerade wieder an seinen Computer setzten, um erneut die
Vermisstenanzeigen durchzugehen, als die Tür aufgerissen wurde und
ihr Chef, Karl Steinbach, den Kopf ins Zimmer streckte. Statt zu
grüßen, sagte er in deutlich zu ernstem Befehlston: »Seid ihr auch
schon da! In zwei Minuten im Verhörzimmer!« Dann wurde die Tür
wieder zugezogen, und die beiden Kommissare sahen sich
achselzuckend an. Beide wussten, dass es eigentlich nicht Karls Art
war, so aufzutreten, doch offensichtlich brannte die
Luft!
»Dann eben kein Kaffee!«, sagte Peter, nahm seinen Notizblock und
folgte Mike eine Etage höher. Die Tür zu dem sterilen Raum stand
weit offen, und um den einzigen Tisch waren nun vier, statt der
sonst üblichen drei Stühle gestellt worden. Die einzige anwesende
Person war ein junger Typ, den Mike schon vom Aussehen her nicht
leiden konnte. Alles an ihm war zu glatt, zu gepflegt, und der
Gesichtsausdruck war dazu passend, zu arrogant. Jurastudent, schoss es Mike durch den Kopf. Es war
so eine Angewohnheit von ihm, schon vor dem ersten Wort, das ein
Mensch sprach, seinen Beruf zu erraten.
Die beiden Kommissare betraten den Raum, als Karl gerade sein
Telefon wegsteckte. Nachdem sich alle gegenseitig vorgestellt
hatten, nahmen auch die beiden Kommissare Platz, und Karl übernahm
das Wort: »Also gut, dann erzählen Sie bitte noch einmal, was Sie
dem Kollegen der Notrufzentrale erzählt haben.«
Die Körperhaltung des jungen Mannes, der tatsächlich Jurastudent
war, passte überhaupt nicht zu seinem restlichen Erscheinungsbild.
Lustlos und ohne jede Spannung hing er in seinem Stuhl: »Nun ja,
ich bin mir nicht sicher, ob er es ist, aber Folgendes …Wie ich
gerade sagte, studiere ich seit etwa zwei Jahren Jura in Erlangen.
Und seit dieser Zeit teile ich mir eine kleine Wohnung
mit
Leon.«
»Leon, was?«, fragte Karl, der für Mikes Geschmack immer noch zu
angespannt war.
»Leon Magwart«, antwortete der Student. Mike spürte, wie ihn sein
Chef prüfend ansah, kam aber nicht gleich darauf warum. Dann half
ihm Peter auf die Sprünge: »Magwart? Ist er der Sohn der Richterin
Juliane Magwart, die hier in Nürnberg arbeitet?«
Der Mann nickte: »Ihren Vornamen kenne ich nicht, aber ja, seine
Mutter ist hier Richterin.«
»Und weiter?«, drängte Karl.
Nun besann sich ihr Gegenüber offenbar auf seine Haltung, setzte
sich gerade hin und erzählte: »Leon ist Freitagnacht nicht
nachhause gekommen, was eigentlich nichts Ungewöhnliches ist, da er
immer mal wieder mit zu einer Frau ging, und ich dachte mir auch
nichts dabei. Auch dass er zwei Tage wegblieb, kam ab und zu mal
vor. Was allerdings nie vorkam, war, dass er nicht Bescheid sagte,
wenn er eine Verabredung nicht einhalten konnte. Wir hatten für
Sonntagnachmittag einen Platz in der Tennishalle gebucht, und als
Leon auch dort nicht auftauchte, versuchte ich ihn anzurufen.
Leider vergebens, denn sein Handy war entweder ausgeschaltet, oder
hatte keinen Empfang.«
»Hatten Sie ihn da schon als vermisst gemeldet?«, erkundigte sich
Peter, der schon einige Notizen auf seinem Block stehen
hatte.
Der Student schüttelte den Kopf: »Nein! Als Jurastudenten wissen
wir ja, dass Erwachsene erst nach frühestens 48 Stunden als
vermisst gelten, und ich wollte auch nicht gleich die Pferde scheu
machen. Ich nahm mir vor, noch bis Montagabend zu warten, und wenn
ich ihn dann immer noch nicht erreicht habe, bei seinen Eltern
anzurufen.«
»Aber das hätten Sie doch auch schon früher machen können! Die
Polizei und seine Eltern sind doch zwei paar Stiefel?«, hakte
diesmal Mike nach.
»Sicher …«, antwortete der Student, » … aber deren Verhältnis war
etwas angespannt, und Leon wäre es sicher nicht recht gewesen, dass
ich dort nach ihm fragte.«
»OK, weiter!«, drängte Karl, was Mike entgegen kam, da er sich
langsam fragte, was sie hier eigentlich sollten.
Endlich schien der Student auf den Punkt kommen zu wollen und
sprach etwas schneller: »Nun ja, was soll ich sagen …«, begann er.
»Am Montagabend habe ich Leon dann ein wenig vergessen. Ich lernte
eine ziemlich aufgeschlossene Medizinstudentin kennen, die mich
sozusagen auf andere Gedanken brachte.« Der junge Mann konnte sich
ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Als er jedoch in die schon
etwas genervten Gesichter der Kommissare blickte, redete er schnell
weiter: »Auf jeden Fall war ich bis heute Morgen bei ihr, und kurz
bevor wir uns trennten, wollte sie mir noch unbedingt einen
ziemlich üblen Trailer zu einem neuen Reality-Game zeigen, das in
Kürze beginnen soll. Der Film zeigt einen Mann, der erst in einem
Verhör gequält wird, anschließend freikommt und am Ende stirbt.« Es
folgte eine kurze Pause, in der die Gesichtszüge des Studenten
deutlich ernster wurden, dann sagte er gedämpft: »Und ich glaube,
diesen Mann hat Leon gespielt!«
Mike lehnte sich zurück und dachte nach. Er war sich fast sicher,
dass es sich um den gleichen Film handelte, von dem auch Jenni
gesprochen hatte. Noch bevor etwas sagen konnte, ergriff Peter das
Wort: »Ja, aber was ist so schlimm daran, dass sich ihr Freund ein
paar Euro als Schauspieler verdient?« Mike machte eine Armbewegung,
die Peter zum Schweigen brachte. Dann zog er ein Foto aus seiner
Mappe, legte es auf den Tisch und sah den Studenten dabei an.
Dieser beugte sich etwas vor und erstarrte: »Scheiße, das ist
Leon!« Und als wollte er es nicht begreifen, fragte er mit
stockender Stimme: »Ist er …?«
Mike kniff den Mund zusammen, nickte, und jetzt erst begriff er,
warum sein Chef so aufgelöst gewesen ist. Wenn das tatsächlich der
Sohn der Richterin war, wäre Erfolgsdruck ein zu banales Wort! Eine
weitere Erinnerung schoss ihm durch den Kopf, und diesmal erstarrte
er selbst. Er wendete den Blick zu Karl und sagte ausdruckslos:
»Die Tochter der Richterin ist ebenfalls als vermisst gemeldet! Ich
habe ihren Namen gestern bei den Vermisstenanzeigen
gelesen.«
Karl nahm seine Hände vor das Gesicht und stieß ein leises
»Scheiße!« aus. Dann fing er sich wieder, tat so, als wäre alles
ganz normal und sagte zu dem Studenten: »Vielen Dank für Ihre
Hilfe! Wenn Sie noch einen Augenblick Zeit haben, würde ich Ihnen
einen Beamten hereinschicken, der alles noch einmal genau zu Papier
bringt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stand der Leiter der
Mordkommission auf, drehte sich zu seinen Kommissaren und wies sie
an, in einer Viertelstunde in seinem Büro zu sein. Mike und Peter
nickten, verabschiedeten sich von dem Studenten und Peter
begleitete Mike zu dem Raucherplatz, auf dem Innenhof des
Präsidiums.
»Nehmt bitte Platz.«, Karls Stimme war nun etwas freundlicher, aber
seine Anspannung war deutlich zu spüren. Schon während sich Mike
und Peter setzten, begann er zu reden: »Du hattest Recht, Mike. Die
Tochter von Richterin Magwart ist tatsächlich als vermisst
gemeldet. Die Kollegen haben dies bisher nur nicht allzu ernst
genommen, da die junge Frau bereits achtzehn ist, und man in dem
Alter schon mal eigene Wege geht.« Karl stockte und sah seine
Kommissare fragend an: »Was für eine Scheiße läuft da?«
»Bei Richtern liegt ein Racheakt nahe …«, wagte Peter eine erste
Prognose, erzählte damit aber nichts Neues.
»Ist mir schon klar!«, erwiderte Karl dann auch und spann den Faden
weiter: »Aber was macht das für einen Sinn, erst den Sohn
umzubringen, das Ganze dann offenbar im Internet zu zeigen und
anschließend die Tochter zu entführen?«
Noch vor einem Jahr hätte sich Mike auch keinen Reim darauf machen
können, aber durch Jennis Arbeit bei einem Onlinemagazin hatte er
mittlerweile gelernt, dass es haufenweise Psychopathen gab, die
entweder Computerspiele entwickelten, oder die solche zum Teil
wirklich kranken Spiele spielten. »Ich glaube … «, begann er, » …
dass der Täter nicht nur Rache nehmen möchte, sondern auch auf
öffentliche Demütigung aus sein könnte!«
»Weiß die Richterin schon Bescheid?«, fragte Peter dazwischen. Karl
schüttelte den Kopf und wollte gerade antworten, als sein Telefon
läutete. Er hob ab, sagte ein paar Worte und legte dann wieder auf.
Anschließend drehte er seinen Monitor so hin, dass ihn auch Mike
und Peter sehen konnten, und klickte auf eine noch ungelesene
E-Mail. Nach einem weiteren Klick öffnete sich ein Medienprogramm,
das zunächst ein völlig schwarzes Bild zeigte. Wenige Sekunden
passierte nichts, dann wurde das Bild endlos langsam heller und die
Silhouette eines großen Holzstuhles, der sehr an einen elektrischen
Stuhl erinnerte, zeichnete sich ab. Im gleichen Tempo, wie der
Lichtkegel heller wurde, fuhr die Kamera, beginnend von der
Rückseite des Stuhles langsam drum herum. Doch auch als die Kamera
vorne angekommen war, reichte das Licht noch immer nicht aus, um
Details zu erkennen. Egal wie angestrengt man darauf starrte, es
blieb eine vage Vermutung. Wieder vergingen Sekunden, und es wurde
schon fast langweilig, als der Lichtkegel plötzlich derart hell
aufleuchtete, dass es fast schon in den Augen wehtat. Mit einem
Schlag saß er vor ihnen, und es gab keinen Zweifel: Es war der Tote
aus dem Wald! Schwere Eisenbänder fixierten ihn an den übergroßen
Holzstuhl, und dunkle Flecken auf seiner Kleidung zeugten davon,
dass er bereits misshandelt wurde. Was einem nicht sofort auffiel,
war die Tatsache, dass der Mann scheinbar völlig unbeeindruckt von
der Helligkeit des Scheinwerfers blieb, was der ganzen Szenerie
einen noch unheimlicheren Ausdruck verlieh. Erst störte sich Mike
daran, dann stellte er leise fest: »Da muss er schon fast blind
gewesen sein!«
Alle Drei schauten weiter gebannt auf das, was sich da am Monitor
abspielte. So widerwärtig der Anblick auch war, man musste einfach
zusehen!
Genau so plötzlich, wie es hell geworden war, erlosch das Licht
auch wieder, und erneut wurde der Bildschirm komplett schwarz. Dann
folgte eine Einstellung, die offensichtlich aus der Egoperspektive
gefilmt wurde. Im dämmrigen Licht eines Herbstabends bahnte sich
der Träger der Kamera seinen Weg durch einen nebligen Wald. Immer
wieder stürzte er über herumliegende Äste, rutschte kleine Abhänge
hinab, rappelte sich wieder auf und torkelte weiter. Ab und zu
kamen die geschundenen Hände oder die blutdurchtränkte Hose ins
Bild, dann ertönte das einzige Geräusch des ganzen Filmes. Der
Schrei hallte erschreckend realistisch durch Karls Büro, und allen
drei Beamten zog sich der Magen zusammen. Als letzte Sequenz wurde
das Bild wieder dunkel, und wie zum Hohn erschienen langsam die
Worte: »LASST UNS SPIELEN«, gefolgt von dem viel kleiner
geschriebenen Satz: »Wir sehen uns am 1. Dezember, hier auf
YouTube!« Der Film endete, und das Logo des Medienprogrammes
erschien. Alle Drei ließen sich in ihre Stühle fallen und
versuchten zu begreifen, was sie gerade gesehen hatten.
Dann dauerte es eine geschlagene Minute, bis jeder seine Gedanken
sortiert hatte und Karl das Wort ergriff: »Natürlich lasse ich das
Video gerade von unseren Spezialisten untersuchen, aber ich habe so
eine Ahnung, dass es uns der Täter sicher nicht so leicht machen
wird!«
Ohne darauf einzugehen stellte Peter fast schon bewundernd fest:
»Das Ding ist wirklich gekonnt gemacht. Wüsste ich nicht, dass es
so schrecklich real ist, der Typ hätte mein Interesse
geweckt!«
»Und das ist das Problem!«, stellte Mike nachdenklich fest.
»Offensichtlich will er seine Rache, oder was immer er auch will,
in die Öffentlichkeit tragen. Und wenn es wirklich soweit kommt,
dass er in zwei Tagen damit online geht, können wir unsere
Ermittlungen nur noch in Begleitung sämtlicher Nachrichtensender
durchführen.«
»Nur, wenn er preisgibt, dass die Show bittere Realität ist«, gab
Karl zu bedenken. Mike fiel das Gespräch mit Jenni wieder ein und
nickte: »Stimmt, jetzt wo du es sagst. Meine Freundin arbeitet doch
für dieses Spielemagazin. Auch sie hat mir gestern von diesem Film
erzählt. Da ich mich aber normalerweise nicht für so etwas
interessiere, gingen wir nicht weiter darauf ein. Aber eine Sache
hat sie dann doch erwähnt. Und zwar, dass es sich um eine neue Art
von Reality-Spiel mit Schauspielern handeln soll.«
Karl machte eine Geste, die Mike zum Schweigen brachte, und sagte
dann: »Aber das würde ja bedeuten, dass er sogar schon Kontakt mit
der Presse aufgenommen hat. Denn laut meinen Informationen gibt es
bisher nur diesen Film und sonst keinerlei Informationen im
Internet. Folglich muss er es irgendjemand anderem erzählt haben.«
Karl wollte schon zum Hörer greifen, ließ die Hand aber wieder
sinken. Dann sah er Mike an und sagte fast schon beschwörend: »Du
versuchst jetzt, deine Freundin zu erreichen. Vielleicht weiß sie
mehr darüber.«, dann wechselte der Blick zu Peter: »Du nimmst dir
noch einmal die Vermisstenanzeige vor. Der Titel lautet ‘Die Drei’,
also müssen wir davon ausgehen, dass er nicht nur die Tochter der
Richterin hat.« Karl ließ sich etwas zurücksinken: »Und ich werde
wohl oder übel mit Richterin Magwart reden müssen.«
Die beiden Kommissare verließen Karls Büro und eilten schweigend
durch die Gänge des Präsidiums. Als Mike wieder an seinem
Schreibtisch saß, warf er einen Blick auf die Uhr. Da Jenni um die
Mittagszeit meistens nicht in ihrem Büro war, wählte er gleich die
Nummer ihres Diensthandys, gab aber nach dem zehnten Freizeichen
auf und versuchte es doch an ihrem Arbeitsplatz. Die Anzeige seines
Telefons zeigte schon nach dem zweiten Ton eine Weiterleitung an,
und kurz darauf hatte er Claudia, eine von Jennis Kolleginnen, am
Apparat. Da sein Tonfall offenbar ziemlich dienstlich klang,
wunderte sich Claudia: »Hi, Mike, was ist denn mit dir los?« Jetzt
erst kam Mike in den Sinn, dass Claudia keine Fremde war. Er und
Jenni waren schon öfter mit ihr und ihrem Freund ausgegangen, daher
sagte er entschuldigend: »Tut mir leid, wir haben gerade einen
ziemlich üblen Fall, und ich war wohl noch in Gedanken. Ist denn
Jenni bei dir?«
»Kein Problem!«, erwiderte Claudia lachend, ging dann aber auf
seine Frage ein: »Leider nein! Sie hat ein Interview außerhalb.«
Mike stockte eine Sekunde und fragte dann: »Weißt du, wann sie das
Interview hat? Ans Handy geht sie nämlich auch nicht!«
»Einen Augenblick, ich schaue in ihren Kalender«, antwortete
Claudia, und Mike hörte, wie einige Tasten gedrückt wurden. Dann
war sie wieder am Apparat: »Hörst du?« Mike bejahte, und sie redete
weiter: »Also hier steht: Interview - Die Drei
- zwölf Uhr – Dunkelcafé Nürnberg.«
Mike zuckte zusammen, und sein erster Gedanke war: nicht schon wieder. Dann brüllte er fast ins
Telefon: »Hast du eben ‘Die Drei’ gesagt?« Claudia bestätigte, und
Mike zwang sich zur Ruhe: »Dieses Dunkelcafé ist doch das, was zum
‘Erlebnisfeld der Sinne’ gehört, oder?« Durch Mikes Stimme fast
schon eingeschüchtert, antwortete Claudia nun als würde man sie
verhören: »Ja, dort drinnen herrscht absolute Dunkelheit. Man soll
dort erfahren, wie man sich ohne Augenlicht fühlen würde.« Mike
hatte keine Zeit mehr für eine weitere Unterhaltung. Ein kurzes
»Danke« musste reichen, dann knallte er den Hörer auf das Telefon -
doch nur, um ihn gleich wieder abzunehmen. Peter, der ihn
erschrocken ansah, wollte etwas sagen, aber Mike brachte ihn mit
einer deutlichen Geste zur Ruhe. Nun drückte er auf eine der
Schnellwahltasten und stand mit dem Hörer in der Hand auf. Sich
unruhig hin und her drehend, wartete er darauf, dass endlich jemand
sein Gespräch entgegen nahm. Nach drei unbarmherzig langen
Freizeichen meldete sich eine Beamtin der Notrufzentrale, und noch
bevor sich die Frau vorstellen konnte, begann Mike unfreundlich:
»Ja, ja, ich weiß, wer Sie sind! Hier ist Hauptkommissar Köstner!
Schicken Sie sofort alle verfügbaren Wagen zum Dunkelcafé in
Nürnberg. Wir suchen …« Mike stockte, da ihm erst jetzt einfiel,
dass er keine Ahnung hatte, wen sie überhaupt suchten. Nach fünf
Sekunden sprach er etwas ruhiger und sachlicher weiter: »In dem
Café befindet sich eine Frau, ca. 1,65 cm groß, langes rotes Haar,
sportliche Figur. Ihr Name ist Jenni Flick, neunundzwanzig Jahre
alt. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Frau in ernster Gefahr
ist. Sollte sich jemand in ihrer Begleitung befinden, muss der
Zugriff sofort erfolgen! Kein Besucher des Cafés darf das Haus
verlassen, bevor wir nicht mit ihm gesprochen haben. Das Gleiche
gilt natürlich auch für die Mitarbeiter. Haben Sie das verstanden?«
Die Beamtin der Notrufzentrale wollte gerade alle Daten
wiederholen, doch Mike fiel ihr ins Wort: »Jetzt geben Sie erst den
Einsatzbefehl raus, danach können wir immer noch alles durchgehen!«
Mike hörte im Hintergrund, wie die Frau den Funkspruch durchgab,
und da sie alles Nötige sagte, verzichtete er auf eine Wiederholung
der Angaben und verabschiedete sich. Ohne ein Wort zu sagen, griff
er nach seiner Jacke und verließ mit Peter, der alles mitgehört
hatte, das Büro. Wortlos eilten sie durch die Gänge des Präsidiums,
verzichteten darauf den langsamen Fahrstuhl zu nehmen und stiegen
kurz darauf in den Dienstwagen. Erst als sie den Innenhof verlassen
hatten, fragte Peter, der wie immer am Steuer saß: »Glaubst du,
Jenni trifft sich mit unserem Täter?« Dann stockte er und drehte
den Satz um: »Besser gesagt: Glaubst du wirklich, der Täter ist so
dreist und trifft sich mit der Presse?«
»Wenn es nicht noch ein weiteres Spiel mit dem Namen ‘Die Drei’
gibt, dann ja!«, antwortete Mike angespannt.