ACHTZEHNTES KAPITEL
Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat; quae ferrum non sanat, ignis sanat.
Hippokrates
Victis?
Wieso victis? Wer nicht Krieg führt, kann nicht untergehen, nicht wahr, meine jungen Freunde?
Die barbarischen Zeiten der Kriege, der Opfer und gestohlenen Leben, der lügnerischen Fahnen, der unrentablen Ehre und des Blut-und-Bodens waren vorbei; auf den Müll mit ihnen!
Rom war bei seiner Gegenwart angekommen; es sah nicht vorwärts, es wußte von keinen Jahrhunderten mehr, es sah nur noch den Augenblick und fühlte nur noch den Herzschlag des Jetzt.
Rom durchlebte die Stunde der Wahrheit, die auf die Frage Auskunft gibt: Was ist der Mensch, der die Vergangenheit und die Zukunft verleugnet? Was ist der Mensch im luftleeren Raum? Wie bitter ist die Süße der Geschichtslosigkeit?
*
Wenn man, von der Peripherie Italiens kommend, sich über Land Rom näherte, so begann man seine Ausstrahlung schon mehrere hundert Kilometer vorher zu spüren. Die Bauernhäuser hielten die Tore geschlossen, die Güter waren bewehrt, die Pferde in bewachten, verborgenen Arealen. Kurz vor Rom verwandelte sich das Bild gegen früher dann ganz stark. Hier heraus kamen schon die jungen weinseligen Römer zu Wagen oder in Karriere zu Pferde, fröhlich und beschäftigungslos, immer zu lustigen Streichen aufgelegt, bald Pferde kaschend, bald ein Mädchen reihum erlegend, bald die Truhen und Kästen inspizierend oder ein Scheunchen anzündend, daß es nur so prasselte. Die Bauern der Umgebung bildeten Schutztruppen, die am Abend und in der Nacht wachten.
Mit jedem Schritt näher an die Mauern der Stadt wuchs die Unsicherheit. Einbrüche, Diebstähle, Raubüberfälle waren an der Tagesordnung und entzogen sich längst der Zählung. Man war in Rom diesen Zustand so gewohnt, daß niemand mehr davon sprach. Bei dem Jähzorn, der vor allem bei den Halbwüchsigen fast immer eine Folgeerscheinung ihrer Immunität ist und große Ähnlichkeit mit einem Mini-Gäsarenwahnsinn hat, genügte schon ein scharfes Wort, ein schiefer Blick, um eine wilde Reaktion hervorzurufen. Die Straßen und Plätze waren zu allen Stunden voll von müßigen, sich langweilenden Jugendlichen und von Pöbel. Das Elternhaus wurde zur Tankstelle und menschlichen Garage. Die Polizei trug ganz unnütz Tag um Tag Verbrecher jeden Alters zusammen; die Richter, von einem nicht mehr erklärbaren Wahn des Allesverstehens befallen, ließen die Verhafteten wieder frei, um die Menschenwürde nicht zu kränken. Sie hatten auch Angst, Angst vor der Rache an der Familie und Angst vor der »öffentlichen Meinung« des Rinnsteins. Ädile, die Angriffen, wurden mit Steinen beworfen. Nicht die Gesetze bestimmten das Leben, sondern die augenblicklichen Zustände bestimmten die Rechtsprechung. Die Entscheidungen der Richter waren ein Hohn auf die Gesetze. Gerade die Älteren wetteiferten, einen Meter vor der Entwicklung zu marschieren.
Der Staat war der Feind des ehrlichen Bürgers geworden. Er honorierte Ordnung nicht mehr, er ließ dem Krankhaften allen Schutz angedeihen und nannte das human. Der Anständige war ihm als lebender Vorwurf suspekt und wurde diffamiert, um nicht zum Ankläger werden zu können. Die Staatskasse verschwendete die Steuergelder in die Unterhaltung der Volksluxusbäder und ernährte die Masse der untätigen Proletarier von der Wiege bis zur Bahre. Die Inflation griff rapide um sich. Ein Denar, längst nicht mehr aus Silber, hatte zur Zeit des Commodus wenigstens noch den Wert von einigen Pfennigen. Hundert Jahre genügten, um ihn zu einem tausendstel Teil sinken zu lassen. Der Staat gab dieses Schundgeld an die Beamten und Angestellten desganzen Reiches aus und zwang sie, es zum Nennwert anzurrehmen, lehnte aber selbst, sobald es zu ihm zurücklief, die Annahme als Falschgeld ab. Er war zum Verbrecher geworden. Geldgeschäfte ruhten bald vollständig, der Handel mit fremden Ländern hörte auf. Rom fiel auf die Stufe der Naturalienzahlungen zurück. Wer gutes, altes Geld hatte, versteckte es. Alles flüchtete in Sachwerte, in leicht transportable, in Gold, Perlen und Edelsteine.
Carpe diem. Tagtäglich strömten die Massen in die Circusse, Arenen und Theater. Schon Titus hatte das von seinem Vater gestiftete Colosseum mit hunderttägigen Spielen eingeweiht, bei denen fünftausend exotische Tiere ihr Leben lassen mußten. Jetzt, zur Spätzeit, herrschte dort fast pausenlos Betrieb. Es faßte über fünfzigtausend Zuschauer. Aber die anderen Arenen kamen hinzu. Der Circus Maximus faßte nach dem letzten Umbau hundertfünfundachtzigtausend Menschen. Sicher waren ständig dreihundert- bis vierhunderttausend unterwegs auf der Jagd nach dem »bißchen, was unsereins hat«, dem Vergnügen. Zehntausende von Gladiatoren ließen ihr Leben, Hunderttausende von Tieren wurden abgeschlachtet. Im Colosseum fanden riesige Jagden zwischen aufgebauten Felskulissen statt. Den Circus setzte man unter Wasser und trug Seeschlachten aus, bei denen sich die Gegner zu Hunderten echt töteten. Das Wasser war rot von Blut. Die Menge tobte und schrie, fraß und stank. Der Blutgeruch zog in Schwaden durch die Straßen.
Eine neue Note kam in »das bißchen, was unsereins hat«, als die Christen- und Judenverfolgungen begannen. Die meisten der Opfer wurden im Circus Maximus den wilden Tieren vorgeworfen. Die Christensekte galt als geheimnisumwittert; man dichtete ihr Zauberei und sexuelle Orgien an und erwartete immer aufs neue zitternd vor Spannung die knallharten Volksfeste. An solchen Tagen — und es waren zeitweilig hundert im Jahr — brachen fast die Tribünen vor Menschenmassen, Männern und Frauen.
An solchen Tagen war auch Hochbetrieb bei den Freudenmädchen und Mietkerlen, die sich in Scharen bei den Arenen zusammenzogen, denn es galt als einer der delikatesten Genüsse, noch mit dem Blutdunst in der Luft und dem Schreien der Opfer im Ohr einen Akt zu vollziehen.
Rom war voller Dirnen. Ihr Strich waren die Tuskische Gasse und das Subura-Viertel. Die besseren, teureren sah man auf dem Forum, in den Säulenhallen der Tempel und Bibliotheken und in den Separees der Circusse. Es wimmelte von Bordellen, die, mit obszönen Hausschildern gekennzeichnet, Kammern (von luxuriösen mit erotischen Positionen geschmückten Zimmerchen bis zu Zwei-Quadratmeter-Löchern) für jedermann zur Verfügung stellten oder Bestellungen außer Haus annahmen. Auch die riesigen Thermen, Eintritt frei, waren voll von Spezialisten und Spezialistinnen, Dienern des Marquis de Sade und des Herrn von Sacher-Masoch. Die Kinäden trugen die Gewänder der Mädchen, manche waren operiert und wimmerten, wie Petronius beschreibt, bei jeder Berührung. Schwarze Semiten wechselten mit zierlichen, mandeläugigen ägyptischen Knaben und blonden Kelten ab.
Blond war sehr begehrt. Auch Frauen setzten sich Ger-manenhaar-Perücken auf und banden sich blonde Dreiecke vor.
Die Aufstachelung und Befriedigung begann bereits bei den Kindern, stürmisch begrüßt als Befreiung von Frustration.
Unerwünschte Neugeborene wurden von den Müttern erstickt oder irgendwo weggeworfen. Man fand sie vor den Toren auf Schritt und Tritt. Mehrere kaiserliche Erlasse drohten schwere Strafen an, aber die Entwicklung war längst darüber hinweggegangen. Eine Ehe, die in Ordnung war, galt als sicheres Zeichen dafür, daß der Mann ein Tölpel und die Frau ein Blaustrumpf war. Es existierten zwar Ehegesetze, irgendwo lagen sie, aber es ist unwahrscheinlich, daß ein Richter sie noch kannte. Die neue Zeit hatte sich ein neues Gewohnheitsrecht geschaffen: die »Konsens-Ehe«, die den Personenstand der Frau nicht veränderte und nicht mehr berührte. Man pflegte die Ehefrau eines anderen »abzuklopfen« wie eine Partnerin beim Tanz. Niemand oder kaum jemand aus der fortschrittlichen Gesellschaft verdarb das Spiel. Man bildete sexuelle Supermärkte zu dritt, zu viert, ein Gedicht spricht von einer »Kette von fünf«. Wenn das nicht mehr zog, nahm man Haschisch aus dem Orient zu Hilfe.
»Die Frauen aus der Gesellschaft und die aus der Plebs sind in ihrer Verderbtheit völlig gleich. Die vornehme Dame ist nichts anderes als die Dirne im Schmutz der Straße. Manche verschwenden sich und ihr letztes Geld an Eunuchen und bartlose Knaben; andere suchen ihren Kitzel bei den brutalen Kerlen und groben Sklaven, und manche können nur noch Wollust empfinden beim Anblick von Blut.«
Eine Delikatesse war, dem Entmannen von Kriegsgefangenen zuzusehen. Und Apuleius beschreibt nicht zufällig die Sodomie zwischen einer Dame und einem brünstigen Eselshengst.
Mit einer Blume im Haar und Belladonna im Ärmel ging man durch das Leben. Die Jagd nach der Erbschaft war so groß wie die Jagd nach dem Sinnenglück. Es gab eine Hochzeit in Rom, die alles in den Schatten stellte, was die Freiheit bisher geboren hatte: Es heirateten — das ganze Volk war auf den Beinen — ein Mann, der bereits zwanzig Ehefrauen unter die Erde gebracht und beerbt hatte, und eine Dame, die schon zweiundzwanzig Ehemänner von Geld und Leben befreit hatte. Jedermann wußte es, und man schloß Wetten ab, wen es diesmal erwischen würde. Nach einigen Wochen zügelloser Orgien stand das unvorsichtige Opfer fest: die Frau war tot. Als der Ehemann, Palmwedel schwingend, hinter der Bahre durch die Straßen zog, feierte ihn die Menge wie einen Gladiator. «
* * *
Das wär’s.
Rom ging sang- und klanglos unter. Es wurde nicht wie Hellas besiegt, zerfetzt, verschlungen; es verunglückte nicht in der Kurve, es prallte mit niemand zusammen, es stürzte nicht ab und bekam keinen Herzschlag.
Es verfaulte.
Man hätte es retten können. Aber man gab ihm Opium, statt zu schneiden.
Hören Sie, was die Ruinen, was die Säulenstümpfe auf dem Forum romanum rufen?
Schönen Gruß an die Enkel.