DAS FÜNFZEHNTE KAPITEL
ist lang; es erledigt Caligula, Claudius,
Nero, Galba, Otho, Vitellius (nie gehört, nicht wahr?), Vespasian, Titus und Domitian, und auch wir sind schließlich ziemlich erledigt. Strapaziöse Zeiten, gefährliche Zeiten, sagen wir heute; aber kein Römer hätte mit uns getauscht (mit Ausnahme Neros).
Leider.
Was war er als Kind nicht für ein nettes Kerlchen gewesen! Als jüngster Sohn des Germanicus und Enkel des Drusus war er, wenn schon nicht durch Drusus selbst, dann auf jeden Fall durch seine Mutter Vipsa-nia Agrippina ein echter Großenkel des Augustus. Er begriff lange Zeit nicht, was das bedeutete, bis die ehrgeizige Vipsania Agrippina ihn darüber aufklärte. Seine Kindheit verbrachte er in den Garnisonen am Rhein. Er lebte unter Militärs, kleidete sich wie ein Spielzeugsoldat und trug winzige maßgearbeitete »caligae«, nägelbeschlagene Kommiß-Stiefelchen. Er war die Freude und das Maskottchen der ganzen Truppe.
Als er älter wurde und zur Erziehung nach Rom kam, entpuppte er sich als nicht mehr ganz so nett. Er erlag weniger den Versuchungen, die Welt theoretisch als vielmehr praktisch zu studieren, wobei er mit dem weiblichen Teil anfing. Jedoch beließ er es nicht dabei, sondern befaßte sich auch mit dem männlichen. Er war ein playboy jener liebenswürdigen Art, wie sie heutzutage aus dem Bereich der Fabrikantenparvenues kommen, ausgestattet mit demselben Geld, demselben Gehirnvakuum und derselben bedauerlichen Gesundheit. Er war haltlos; aber Bösartigkeit oder gar Grausamkeit bemerkte man an ihm noch nicht. Das Volk sprach von ihm als »unser Kleiner«, »unser Schoßkind« und »unser Augensternchen«. Tiberius, der ihn von Zeit zu Zeit zu sich beorderte, war offenbar der einzige, der ihn hellsichtig erkannte. Mit Schrecken dachte er daran, daß dieser Jüngling jemals zur Herrschaft kommen könnte (er hat ihn nicht eingesetzt); er nannte ihn Phaeton* — ein nicht einmal sehr böses, aber grausig prophetisches Wort.
Mit der Präzision eines falsch gefütterten Computers spuckte das Volk auf die Frage, wer Tiberius’ Nachfolger werden sollte, den Namen Caligula aus. Er war ja der Enkel des geliebten Drusus. Daß es noch einen Sohn des geliebten Drusus gab, hatte man vergessen. Als der Senat zögerte, stürmte die Plebs — ich verbessere mich: der Plebs (laut Duden) die Curia und erzwang Caligulas Ernennung. Man feierte sie mit hundertsechzigtausend Opfertieren.
Der Anfang des Phaeton war nicht schlecht. Er hob einige drückende Bestimmungen des Tiberius auf, ließ ein paar Verhaftete frei und gab der Volksversammlung das Recht der Beamtenernennung zurück. Das alles waren keine dollen Sachen, aber dolle Sachen erwartete auch niemand von ihm.
Plötzlich jedoch schlug das indifferente laue Wetter zu einem entsetzlichen Hurrikan um. Es heißt, daß das nach einer schweren Erkrankung Caligulas geschah, vielleicht einer Gehirnerkrankung, aber sie ist nicht belegt. Sueton beginnt diesen Teil seine Caligula-Biographie mit dem Satz: »So viel von ihm als Fürsten; nun muß ich von ihm, dem Ungeheuer berichten.«
Er wurde für die Nachwelt der Inbegriff des »Cäsarenwahnsinns« (Gustav Freytag). Das erste, was »das Ungeheuer« tat, war die Erhöhung des Principats zu einem orientalischen Kaisertum. Nicht zufällig floß das Blut des Antonius in seinen Adern. Er verlangte den Fußfall und die Verehrung als leibhaftiger Gott. Stundenlang stellte er sich zwischen die Statuen des Castor und Pollux und ließ sich von den andächtig Nahenden anbeten. Er baute sich einen Tempel mit seinem lebensgroßen Standbild, das von den Priestern täglich mit den gleichen Gewändern bekleidet wurde, die er selbst an diesem Tage trug. Wenn er den kapitolinischen Tempel besuchte, so führte er laute Gespräche mit Jupiter wie mit einem Onkel, scherzte, lachte, zankte auch mit ihm und hielt die Hand ans Ohr, um besser hören zu können. Sein Verhältnis zur Umwelt war das eines Irrsinnigen. Während seines ersten und zweiten Regierungsjahres gab es viele Fälle, wo hysterisch begeisterte Bürger bei einer Krankheit Caligulas sich zu opfern gelobten, falls ihr Augensternchen wieder genesen würde. Sobald Caligula davon hörte, ließ er die Leute ergreifen und in den Selbstmord treiben. Gelang das nicht, so wurden sie in der Arena abgeschlachtet. Jedoch, es war nicht das fließende Blut, das ihn wie eine bestimmte Verbrechertype reizte, er mordete auch sehr gern, ohne etwas davon zu sehen zu bekommen. Die Befehle flössen ihm schwerelos aus dem Munde. Seinen Adoptivbruder ließ er von einem Prätorianer erstechen, weil ihn die Ängstlichkeit ärgerte, mit der der arme Junge bei Einladungen von den Speisen kostete. Seinem Schwiegervater ließ er die Kehle durchschneiden, weil der alte Mann ihn bei einem Sturm nicht zu Schiff begleiten wollte. In Wahrheit sind natürlich alle »weil« falsch. Sein Trieb stand in keinem Zusammenhang mit den Scheinanlässen. Wenn er, was wahrscheinlich ist, seine Großmutter Antonia (die Briefschreiberin) vergiftet hat, so fehlt jedes Motiv.
Um das ägyptische Gottkönigtum nicht zu versäumen, vermählte er sich wie die Pharaonen mit seiner Schwester Drusilla, mit der er zügellose Orgien feierte. Er erhob sie ebenfalls zur lebenden Göttin. Als sie starb (er nahm sich die nächste Schwester vor), ordnete er einen Reichstrauertag an, an dem ein Lachen mit dem Tode bestraft werden sollte.
Es wurde bald nicht mehr gelacht. Denn auch, wer nicht mit dem Kaiser in Berührung kam, war seines Lebens nicht mehr sicher. Er hat Tausende ermordet und Zehntausende ins Unglück gestürzt. Er ließ mißliebige Dichter verbrennen und Angeklagten, die ihre Unschuld zu beteuern wagten, die Zunge herausschneiden. Hörte er von der Schönheit eines Mannes, so ließ er ihn verunstalten. Nur mit Mühe und aus Furcht vor dem Militär war er davon abzubringen, die Legionen, die damals beim Tode des Augustus »gestreikt« hatten, ohne Ausnahme hinrichten zu lassen (kein Mensch aus jener Zeit befand sich noch unter ihnen). Bei der Einweihung einer Brücke ließ er die Gäste, die auf der Brücke standen, ins Wasser stürzen.
Eines Tages kam Caligula auf den Gedanken, die Reichen Roms, einen nach dem anderen, der Majestätsbeleidigung anzuklagen, hinzurichten und ihren Besitz einzuziehen. Ein Strom von Geld und Gold floß herein — es machte ihm große Freude. Er führte einen Turnus von zehn Tagen ein, an denen er die Listen der zum Tode Verurteilten unterschrieb.
Das Maß war voll. Sehr spät. Es ist ein wunderlicher Zug der menschlichen Psyche, wie schnell ein Dolch bei der Hand ist gegen einen, der guten Glaubens fehlgeht, und wie langmütig die Masse gegen einen Bösewicht bleibt, wenn er spektakulär und unbegreiflich ist. Verschwörungen mußten mißlingen, solange die Prätorianergarde nicht mitmachte. Diesen Henkersknechten stopfte er das Maul mit Gold. Sie bekamen dreifachen Sold. Ein Gewissen hatten sie nicht. Auch der Kommandeur war nicht damit belastet, solange er sich persönlich sicher fühlen konnte — was bei einem Caligula abzusehen war. Tatsächlich mehrten sich die Anzeichen der Gefahr. Jetzt war Komplizen zu suchen nicht mehr so selbstmörderisch, denn auch der stellvertretende Kommandeur und mehrere Hofbeamte zitterten bereits.
Mit dem 24. Januar 41 nahte endlich der Tag der Erlösung. In dem unterirdischen Gang, durch den der Kaiser um die Mittagszeit vom Circus zu seinem Palast zurückkehrte, zog der hinter ihm gehende Kommandeur der Leibwache das Schwert und schlug das Ungeheuer nieder. Der Kaiser war nicht sofort tot und schrie wie am Spieß, bis die anderen Verschwörer ihn erstachen.
Seinen Leib, massig auf dünnen Beinchen, glatzköpfig mit neunundzwanzig Jahren, aber am Körper behaart wie eine Ziege (das Wort Ziege durfte zu seinen Lebzeiten nicht ausgesprochen werden), schleppte man in der dunklen Nacht weg und verscharrte ihn in einem Garten des Esquilin.
Als die Kunde von seiner Ermordung am nächsten Morgen durch die Straßen flog, löste sie neue Angst aus. Totenstille zuerst, dann vereinzelt Klagen: man hielt die Nachricht für eine Falle Caligulas und wollte sich sichern. Erst als die Verschwörer den Konsuln Meldung machten und ihnen den Palast öffneten, brach die Masse in ungeheuren Jubel aus — genau so groß wie vor vier Jahren; na ja, vielleicht nicht ganz so groß, denn wo blieben diesmal die hundertsechzigtausend Schlachttiere?
Patrizier und Equites dachten weniger an die geopferten Tiere, als an die geopferten Menschen, die fast alle aus ihren Reihen stammten. In einer feierlichen »damnatio memoriae« tilgte der Senat den Namen und das Bild Caligulas von allen Münzen und Schriftstücken, aus allen Räumen und Tempeln. Die Lehre, die Caligula den Menschen erteilt hatte, schien dem Senat so furchtbar, daß er entschlossen war, Rom wieder zur Republik zu machen. Ein schwerer Schritt ins »Ungewisse«. Dennoch war man sich fast einig. Während schöne und erhebende Reden erschallten, erscholl draußen, aus der Richtung der Prätorianer-Kaserne, auch etwas, nämlich ein Trompetenstoß, der alles weitere Gerede überflüssig machte: Die Garde rief eigenmächtig einen neuen Kaiser aus!
*
Der neue Kaiser (der Senat duckte sich sofort) hieß Claudius, genau: Tiberius Claudius Germanicus Caesar Augustus. Er war der Sohn des Drusus, Onkel des Caligula. Die Linie sprang also eine Generation zurück. Die Umstände, unter denen der fünfzigjährige Claudius auf den Thron kam, sind die verrücktesten, die sich denken lassen; aber rührend. Die ganze Gestalt ist rührend. Es ist das schwer wieder gutzumachende Unrecht früherer Geschichtsschreibung, ihn mit Mord und Totschlag, mit blutigen Circuskämpfen, Dolch und Gift umrankt und in einen Topf mit Caligula geworfen zu haben. Da an ihm der Name der schrecklichen Messalina haftet, dieser verrückten Sexualtigerin, hat sich zu allem Überfluß auch noch die Filmbranche des »Stoffes« angenommen, von der Stummfilm-Moritat bis zu Cecil B. de Mille. Auch ich kann mich, soweit ich zurückdenke, nur daran erinnern, einen abscheulichen Claudius flimmern gesehen zu haben.
Er war es nicht. Er war ein armer Teufel. In der Jugend hatte er Kinderlähmung überstehen müssen, er hinkte seitdem, hatte Sprachhemmungen und wackelte mit dem Kopf. Als ewig Zurückgesetzter, als Belächelter, als Schwächling wurde er immer verschlossener und immer scheuer. Daß diese Scheu nicht in Haß gegen die ungeschlachte, gedankenlose Umwelt umgeschlagen ist, scheint mir ein Zeichen von sauberem Charakter. Claudius wurde ein Bücherwurm, belesen, gebildet und philosophisch milde. Er suchte, allein oder im Kreise ganz weniger Vertrauter, auch ein bißchen Trost im Wein, im Würfelspiel und kleinen Zerstreuungen, lauter Dinge, über die zu zetern sich vollkommen erübrigt. »Der vollendete Trottel ist er übrigens nicht gewesen«, schreibt Herr Professor Hohl noch 1931. Nein, Euer Magnifizenz, offensichtlich nicht. Sein Umgang waren Professoren, Herr Professor! Er sprach perfekt griechisch, war ein guter Mathematiker und lernbegieriger Mediziner. »Aber eine teilweise erhaltene Senatsrede wirkt in ihrem Prunken mit Geschichtskenntnissen schon peinlich!« Wie? Der fast vollendete Trottel hatte Geschichtskenntnisse? Und er »prunkte« damit? Der arme Kerl! Seine einzige Freude, sein einziger Stolz floß ihm da einmal in die so beschwerliche, stotternde Rede ein; wie glücklich mag er sich gefühlt haben, daß niemand lachte; daß sie staunten; und daß sie sich alle erhoben, als er hinkend und kopfwackelnd hinausschlurfte — »unser Abortus«, wie ihn seine Mutter Antonia (die Briefschreiberin) seit Kindheit zu titulieren pflegte. Nun — Mutter Antonia war tot. Ihr Augensternchen, Caligula, hatte dafür gesorgt. Das Augensternchen würde auch dafür gesorgt haben, daß Onkel Claudius nicht mehr lebte, wenn er ihn sich nicht als Hofnarren gehalten hätte. Die fürchterlich rohen und gefährlichen Späße, die Claudius im Hause des jungen Ungeheuers ausgehalten hat, müssen die Hölle gewesen sein. Aber er ertrug sie. Je mehr er mit dem Kopf wackelte, desto fester saß er ihm auf den schwachen Schultern. Er wollte nicht sterben, er liebte das Leben, so kümmerlich er auch weggekommen war.
Als die Palastgarde an jenem Januartage Caligula (und noch weitere Familienmitglieder) tötete, verkroch Claudius sich in einem Versteck des Hauses. Ihm schlug das Herz bis zum Halse, als er die Prätorianer mit blutigem Schwert an seinem dunklen Winkel vorbeistürmen sah, wieder zurückkehren, wieder verschwinden und schließlich — das Entsetzlichste — dauernd seinen Namen rufen hörte.
Dann entdeckten sie ihn. Eine Faust zerrte ihn heraus und stieß ihn vor sich her, Offiziere kamen hinzu, alles schrie durcheinander, und inmitten eines Prätorianerhaufens führte man den Fünfzigjährigen in die Kaserne ab.
Er wartete auf sein Todesurteil. Oh, er war innerlich gefaßt, aber was nützt das, wenn der geschundene Körper zittert?
Da geschah das Unglaubliche: Die Offiziere hoben ihn auf die Schultern und riefen ihn zum Kaiser aus! Claudius, vollkommen ungewiß, ob das Ernst oder Hohn sein sollte, wollte es nicht glauben — alles geschah von nun an wie ein Traum. Die Soldaten legten den Treueid ab und präsentierten den neuen Kaiser dem Volk und dem Senat.
Die meisten sahen ihn zum erstenmal. Seine Mutter Antonia hatte ihn versteckt, Tiberius hatte ihn von allen öffentlichen Pflichten entbunden und Caligula ihn wie einen Affen im Käfig gehalten. Claudius kannte auch niemand unter den Senatoren. Das da vor ihm waren sie also, und jene zwei dort die Konsuln, und offenbar stimmte alles, und er war wirklich Kaiser.
Mit dem Toresschlußmut von Aschenbröteln stürzte er sich in die Arbeit; denn ein Amt faßte er als Arbeit auf. Was konnte es sonst sein? Er hat sich nie als »Ich, Claudius, Kaiser und Gott« gefühlt.
Er war ein guter Amtmann. Er zog neue Straßen durch Italien und Gallien, baute die großen Garnisonen am Rhein zu Städten aus, er ließ den Hafen von Ostia ausbaggern und vergrößern, regulierte den Fuciner See und baute die Claudische Wasserleitung, deren riesige Bögen sich heute noch über die Campania ziehen; er übernahm die Kosten der Kornverteilung, er kümmerte sich um die Rechtsprechung, führte die Erbschaftssteuer ein, gab Erlässe heraus, die den Status der Sklaven erleichterten, er verbot alle Majestätsprozesse, er stand vor der Aufgabe, drei neue Provinzen in Afrika und Thrakien durchzuorganisieren, was er spielend löste, und schließlich stand er vor einer wirklich gefährlichen Aufgabe: das unruhige Belgien durch die Besiegung der ewigen Drahtzieher, der Briten, zum Frieden zu bringen — keine schöne, keine menschlich angenehme Sache, aber notwendig, nachdem damals Caesar den abenteuerlichen Schritt nach England gewagt hatte. Die Rheinarmee, unter einem Befehlshaber, den er besser auswählte als einst Augustus seinen Varus, setzte nach Britannien über und eroberte 43 n. Chr. in einem glücklichen Feldzug den ganzen Süden. Europa war im Sinne des Siegers befriedet.
So saß und arbeitete er Tag für Tag hinter verschlossenen Türen, der zerbrechliche ältere Herr, »unser Abortus« und einstiger Clown mit dem blutenden Fierzen, für das man sich in einem forschen Staat leider nichts kaufen kann. Und abends trank er noch immer sein Viertelchen.
Die einzigen, auf die er sich in seiner Unerfahrenheit verließ, waren seine ehemaligen Freunde: ein paar freigelassene Sklaven. Auf zwei von ihnen, Narcissus und Pallas, stützte sich seine ganze Regierungskunst; sie waren Griechen, hochgebildet und selbstlos.
Diese »Freigelassenen-Wirtschaft« haben ihm schon die antiken Historiker übelgenommen; das Wort »Weiber-und Freigelassenenregiment« erscheint bis in die heutige Zeit. Es ist ganz fehl am Platz. Der weltfremde Kaiser hat im Gegenteil eine Meisterleistung vollbracht, indem er einen Mann wie Narcissus fand und an sich zog, ihn erkannte und ihm vertraute. Hier hat ein Kaiser zum erstenmal der Weltgeschichte einen Reichskanzler vorgeführt — das ist die richtige Bezeichnung. Narcissus war für Claudius das, was Reinald von Dassel für Barbarossa und Marquardt von Annweiler für Heinrieh VI. werden sollten; auch Annweiler war Unfreier am Hofe gewesen. Heinrich VI. hatte unter den Grafen und Baronen niemand seinesgleichen gefunden — Claudius sah unter den Senatoren auch keinen. Lauter Nullen.
Die Nullen verziehen ihm das nie. Sie haben sogar unter äußerster Konzentration ihres Hodenstolzes einmal einen Aufstand probiert. Narcissus hat das leicht in Ordnung gebracht.
Er hat noch mehr in Ordnung bringen müssen: auch das Privatleben seines bewunderten Herrn. Und damit kommen wir zum Stichwort Messalina.
Sie war eine Urenkelin der Augustusschwester Octavia; wie alt, ist nicht sicher. Vielleicht war sie um die Zwanzig, als sie die dritte Frau des Kaisers wurde. Sie soll nicht sonderlich hübsch gewesen sein, auch körperlich nicht das römische Ideal. Auf keinen Fall wird sie (wie sie so oft dargestellt wird) eine Bavaria oder Berolina gewesen sein: Nymphomaninnen findet man eher unter Picassos Büglerinnen.
Claudius wurde ihr hörig — nicht für ewig, aber lange genug. Ist das schlimm? Ja, es ist schlimm bei einem allmächtigen Kaiser. Aber es ist menschlich. Claudius war zweimal vorher verheiratet gewesen — als Clown, als Krüppel, als Idiot, geduldet und mit geschlossenen Augen erlitten. Nun war er Kaiser; plötzlich war er nicht mehr unästhetisch, er wackelte anscheinend nicht mehr mit dem Kopf und humpelte nicht. Er war ein Mann geworden! Unbeschreibliche Erlösung aus Schande und Scham. Gierig suchte er immer wieder die Bestätigung und war glücklich, in Messalina eine ebenso Gierige zu finden.
Sie brauchte sich nicht zu überwinden. Aber es lag nicht an ihm, es lag an ihr. Ihr Geschlechtstrieb, körperlich und gedanklich gleichermaßen, muß abnorm gewesen sein. Sie verlor, sobald sie sich sicher und an der Macht wußte, jede Haltung, fieberte unersättlich nach Befriedigung, nahm Knaben, Schauspieler, Rennfahrer, Kutscher, Bauern, Köhler, Schiffer, Neger, Säufer, zu Hause, in Parks, auf Straßen und schließlich in Bordellen, in denen sie sich einmietete. Daneben war sie gefährlich wie ein Satan, wenn sie Widerstand fand oder Feindseligkeit witterte. Man hat nach ihrem Tode gefälschte Unterschriften des Kaisers gefunden, mit denen sie Frauen, die sie haßte, oder Männer, die sie fürchtete, aus dem Wege räumen ließ.
Eines Tages, als Claudius in Ostia war, feierte sie öffentlich und nach allen gültigen Riten Hochzeit mit einem ihrer Geliebten. Rom, viel gewohnt, war denn doch recht schockiert. Unvorsichtigerweise ließ Messa-lina dabei auch die Bemerkung fallen, der Herr an ihrer Seite sei der künftige Kaiser.
Als Claudius zurückkehrte, mußte Narcissus einen schweren Gang tun — seinen Herrn um die Unterschrift unter das Todesurteil Messalinas bitten.
Claudius hatte zwei Kinder von ihr, eine sanftmütige schöne Tochter und einen sanftmütigen Knaben. Die Hand verweigerte ihm den Dienst, er wollte verzeihen. Aber der Kanzler war unerbittlich, es ging um das Leben des Kaisers. 48 n. Chr., nach sieben höllischen Jahren, wurde Valeria Messalina hingerichtet.
Narcissus und Pallas rieten zu einer Wiederverheiratung, um die Erinnerung an die unwürdige Kaiserin auszulöschen. Die Wahl fiel nach Überlegungen, die uns rätselhaft sind, auf eine Angehörige des Claudischen Hauses selbst, auf die damals über dreißig Jahre alte Julia Agrippina, eine Schwester Caligulas! Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit.
Wahrscheinlich hat sie selbst die Weichen gestellt. Die Heirat mit dem Onkel, der so überraschend der Herr des Imperiums geworden war, scheint ein lang vorbereitetes Ziel gewesen zu sein. Sie war äußerlich imponierend, von sehr regelmäßigem Antlitz, sehr ruhig und beherrscht im Benehmen, und nichts verriet den Vulkan männlicher Leidenschaften, der in ihr brannte. Hat Narcissus nicht gewußt, daß sie, ungeachtet ihrer ersten Ehe, mit ihrem Bruder in Blutschande und völliger geistiger Übereinstimmung gelebt hatte? Oder war für den so oft verwundeten und zum Voyeur gedemütigten Claudius gerade das ein Triumph? Es ist sehr gut möglich. Jedenfalls wurde das stille tiefe Wasser Julia Agrippina sein Untergang. Der Rest ist so banal wie scheußlich.
Sie hat Claudius verachtet. Er war ihr nicht mehr als irgendein tierisches Lebewesen. Sie hielt ihn für einen Kretin und sich selbst für hoch über ihm stehend. Natürlich hat sie an den Mumpitz ihres Bruders mit der Vergöttlichung seiner Schwestern nicht geglaubt, aber ihre männliche Renaissancenatur sah in der Strapazierfähigkeit eines Beines die unerläßliche Voraussetzung für einen Anspruch auf Vollwertigkeit. Claudius hatte ihn in ihren Augen nicht. Sie besaß aus ihrer ersten Ehe mit einem Herrn Domitius ein Kind, einen pausbäckigen Knaben, der inzwischen ein pausbäckiger, musischer, singender, dichtender, tanzender, musizierender Jüngling geworden war; ihn liebte sie bis zur krankhaften Übersteigerung — — vielleicht liebte sie in ihm die eigenen zukünftigen Machtmöglichkeiten noch mehr. Beide Triebe beherrschten sie vom ersten Augenblick an, wo sie den Entschluß faßte, ihr Kind auf den Thron zu bringen.
Der erste Schritt war einfach. Nur bei Narcissus erregte er Verdacht. Julia Agrippina bewog Claudius, den Beatle-Knaben zu adoptieren. Damit war nach römischem Recht und römischer Anschauung der Jüngling ein rechtmäßiger Sohn des Kaisers geworden. Mit Schrecken sah Narcissus, daß dieser »Sohn« jetzt vor dem leiblichen des Kaisers rangierte, denn er war der ältere. Julia Agrippina sorgte dafür, daß Rom nur noch von ihm als Erben sprach.
Eines Tages (im Oktober 54) war es wieder einmal so weit. Der Kanzler hatte sichere Nachricht, daß Julia Agrippina den zweiten Schritt vorbereitete: die Ermordung ihres Gatten. Narcissus suchte seinen Herrn auf und unterbreitete ihm, was er wußte. Claudius wand sich verzweifelt in seinem Glauben an die Menschen, er klammerte sich an sein Vertrauen wie ein Ertrinkender. Narcissus warnte. Er vermutete den Schlag schon für die nächsten Tage. Claudius bat zu warten, nur eine kleine Frist noch, nur eine kleine Hoffnung noch...
Am nächsten Tage war er tot.
Narcissus hatte ein Giftattentat in einem Getränk erwartet und Vorkehrungen getroffen. Falsch. Agrippina hatte Pilze gewählt.
Ein paar Zimmer weiter spitzte Philosoph Seneca bereits die Feder, um der Nachwelt in seiner Schrift »Verkürbissung« ein Zerrbild des blöden Kaisers Claudius zu zeichnen und der Mitwelt den neuen Imperator vorzustellen, der Rom herrlichen Zeiten entgegenführen würde: seinen siebzehnjährigen Schüler Lucius Domitius Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus — den »Nero«.
*
Dreizehn Jahre lang hatte Claudius regiert. Vierzehn hielt sich Nero. Eine lange Zeit. Nicht wahr: gefühlsmäßig hätte man gesagt, vier, fünf Jahre. Man erinnert sich an seinen ausbrechenden Wahnsinn, an den Brand Roms und an seinen Selbstmord als raschen Ablauf eines wirren Films. Aber es dauerte in Wahrheit lange, so lange, daß eine halbe Generation wieder umsonst gelebt hatte. Zumindest in Rom.
Nero begann nicht schlecht, er begann nämlich überhaupt nicht. Die Reichsverwaltung lief von selbst, und das kaiserliche Kabinett leitete Philosoph Seneca, jener zwielichtige Mann, der so viele schöne Gedanken ausgesprochen und so viele häßliche Facts vorexerziert hat. Jedoch, er richtete kein Unheil an. Die ersten zwei Jahre verliefen »glücklich«, wenn man von so kleinen Schönheitsfehlern absieht wie der Ermordung des Claudiussohnes, der vom Vater als Nachfolger nominiert gewesen war.
Um das Jahr 55/56 zeigten sich die ersten Anzeichen des Wahnsinns. Nero entdeckte seine Göttlichkeit. Er geriet in einen Höhenrausch. Zunächst befreite er sich von seinen Vormündern; Seneca schmiß er raus, den Präfekten Burrus ließ er töten. Dann war seine Mutter (»herrlichste aller Mütter«, offizieller Titel) dran, denn sie wollte unvorsichtigerweise an Macht ernten, was sie gesät hatte, und schließlich war seine Gemahlin an der Reihe, die sanfte Claudiustochter, die er vorsichtshalber geheiratet hatte. Beide Frauen gingen sehenden Auges und gefaßt in den Tod. Nero heiratete die bildhübsche aber schrecklich ordinäre Poppaea, deren Gatte Otho (bisher sein Kumpan) nach Portugal abgeschoben wurde. Poppaea starb später unter den Fußtritten, die Nero in einem Wutanfall der Hochschwangeren in den Bauch versetzte.
Die Stationen folgen jetzt rasch aufeinander.
64 n. Chr. Brand Roms. Zweidrittel der Stadt in Schutt und Asche. Das Volk bezichtigte den verrückten Tyrannen der Brandstiftung (wahrscheinlich zu Unrecht), und Nero lenkte in heller Angst — er war unbeschreiblich feige — den Verdacht auf eine Sekte, die sich in letzter Zeit in Rom ausgebreitet hatte und sich »Christen« nannte. Es waren jene Leute, die sich, wie man hörte, zu einem gewissen Jesus von Nazareth bekannten. Soweit man ihrer habhaft werden konnte, wurden sie verhaftet und zu Tode gemartert. Die heroische Urgemeinde bestand ihre erste Märtyrerprobe!
65 scheiterte ein Anschlag gegen Nero. Die geschwätzigen Verschwörer büßten es mit dem Tode; auch Seneca.
Im gleichen Jahre begann Nero mit dem Bau eines goldenen Palastes für sich. Der Staatshaushalt geriet an den Rand des Bankrotts.
66 reiste Nero nach dem Osten, dem Land seiner Träume, um sich als größter Dichter und Sänger aller Zeiten feiern zu lassen. Bei dieser Gelegenheit entließ er Griechenland aus dem römischen Staatsverband. (Hier verstanden die Generäle nun keinen Spaß mehr.)
67 erhoben sich die Legionen gegen ihn, zuerst die spanischen unter ihrem greisen General Galba aus dem altpatrizischen Geschlecht der Sulpizier. Der Aufstand griff wie ein Lauffeuer um sich.
68 schwenkten auch die Prätorianer, um ihre edle Haut zu retten, um. Der Senat nahm daraufhin all seinen kümmerlichen Mut zusammen und erklärte Nero für abgesetzt und vogelfrei. Angesichts einer Kompanie Soldaten, die ihn gestellt hatten, beging Nero, vollständig wirr und entnervt, Selbstmord.
So endete der letzte des mörderischen julisch-claudischen Hauses.
Die Ähnlichkeit mit Caligula drängt sich auf, aber sie ist in Wahrheit nicht groß. Heute weiß man, daß Nero im Gegensatz zu dem Verbrecher Caligula ein infantiler Paranoiker8 war. Nero lebte in einem albernen, für die Umwelt nur bedingt gefährlichen Kinderwahn. Die Wahrheit ist, daß er ohne die Möglichkeiten der Macht nichts weiter als ein Don Quixote, eine lächerliche, vielleicht gelegentlich rabiate Figur eines verkannten Genies geworden wäre. Vieles deutet darauf hin, daß er wirklich ein begabter Künstler war. Friede seiner Asche, Tod seinen Kreaturen.
*
Die Kreaturen mußten nun hurtig umsteigen. Und wir wollen ihnen folgen, um an Hand dieses Jahres 68/69 einmal zu sehen, in welches Boot wir klettern müssen, um im richtigen zu sitzen; denn das ist das Lebensziel einer echten Kreatur. Wir wollen dazu ein Lexikon zu Rate ziehen, weil Lexika so schön kurz sind.
Nero war tot. Die Truppen riefen den siebzigjährigen Galba zum ersten wahren Soldatenkaiser aus. Also, an Galba müssen wir uns halten. Schlagen wir nach: »Im Juni 68 als Kaiser anerkannt. Da sich Otho zurückgesetzt fühlte, entfesselte er im Januar 69 einen Prätorianeraufstand, bei dem Galba ermordet wurde.« Galba war das falsche Boot. Also, an Otho müssen wir uns halten. Schlagen wir nach: »Otho, ehemals Neros Vertrauter und erster Gatte der Poppaea, ließ Galba erschlagen und sich zum Kaiser ausrufen. Unter dem Druck der Prätorianer anerkannte ihn der Senat. Im April 69 unterlag er in einem Kampf bei Cremona den Truppen des Vitellius, des Oberbefehlshabers der Germanien-Legionen, und tötete sich.«
Fort mit Otho! Wer hätte das gedacht! An Vitellius müssen wir uns halten. Schlagen wir nach: »Vitellius, aus vornehmem Geschlecht, verbrachte seine Jugend am Hofe von Tiberius. Als er Otho, den er als Empörer betrachtete, geschlagen hatte, erhob ihn seine Armee zum Kaiser. Der Senat bestätigte ihn. Da er seinen Soldaten aber jede Freiheit zu Gewalttaten und Plünderungen ließ, rief Rom den Befehlshaber der kleinasiatischen Legionen, Vespasian, zu Hilfe. Es kam im Dezember 69 zu einer Schlacht, Rom wurde gestürmt, Kaiser Vitellius gefangen und getötet.« Vitellius war das falsche Boot. Wir müssen zum vier-tenmal umsteigen. Wie heißt der neue Mann? Vespasian?
Kommen Sie noch mit? Die Römer kamen es spielend. Die Gesellschaft war so verrottet, daß ihr die Erniedrigung des Kaisertums zu einer Art GladiatorenAusscheidungskampf kaum zum Bewußtsein kam. Das einfache Volk von Rom merkte nicht viel von der Unsicherheit des Lebens, und die gehobene Gesellschaft jobbte an der großen Börse. Eine neue Art zu leben; swing high, swing low.
Wie lange lag die Virtus zurück? Wie lange die Furier, die Fabier, die Scipionen? Zweitausend Jahre? Patrizier, Plebejer, Marius, Cinna, Bürgerkämpfe, Revolutionen? Revolutionen, ja, wofür denn? Rechts, links? Vokabeln aus der Steinzeit! Sozialismus, Volksherrschaft? Andere Worte für das Volk vernebeln, es in Trab halten, benutzen. Ideologie? Marschmusik der Urgroßväter! Wofür? War es wirklich erst hundert Jahre her, daß Caesar nicht gewagt hatte, konservativ zu scheinen?
Eine völlige Taubheit war ausgebrochen für alles, was noch bis zu Caesar einen Teil der Gedanken bei Tag und bei Nacht ausgemacht und die Unwiderstehlichkeit von Sirenentönen gehabt hatte. Rom war unansprechbar geworden für die abgenutzte, malträtierte Parteipolitik, für Kampf und Aufruhr. Man hatte es ihm gründlich verleidet. Ja, es wußte nicht einmal mehr, was das war. Demagogien setzen ein Kollektivleben mit Kollektivinteressen voraus. Das gab es nicht mehr. Es gab nur noch Individualleben. Man strebte einzeln, man plante einzeln, man hoffte einzeln, man spielte sein Los einzeln. Die Zusammenrottungen fanden nur noch im Bett und im Circus statt. Was waren die Kaiser anderes, als nicht mehr wegzudenkende Gewinn-auszahler? Faites votre jeu! Wer wünschte die Schließung des riesigen Spielkasinos?
Niemand.
Den Ernst des Lebens gab es noch. Er lag außerhalb der Stadtmauern. Rom war ein Parasit des Imperiums geworden. Faites votre jeu für die Gesellschaft, panem et circenses für die Masse.
*
Mit Vespasian hatte sich ein ehrlicher Croupier an den Tisch gesetzt. Er zahlte aus, aber er strich auch eisern ein. Nero hatte den Fiskus ruiniert, Vitellius den Rest vergeudet. Vespasian fing mit Null an. Er scheute sich nicht, auch vom kleinen Mann zu kassieren. Da er es aber mit bäuerlicher Verschmitztheit tat und sich verrückte Dinge einfallen ließ, lachte das Volk und zog das Beutelchen. Vespasian war es, der zum erstenmal von jedem, der zum Pipimachen eine der öffentlichen Zellen benutzte, Eintrittsgeld verlangte. Als sein Sohn Titus errötend »Aber Papa!« sagte, antwortete der Alte ihm mit einem Wort, das berühmt werden sollte: »non olet« — Geld stinkt nicht. Die Alexandriner nannten ihn »das Groschengrab«.
Sobald die Kasse wieder stimmte, zeigte er sich generös. Das goldene Haus Neros ließ er einreißen; an seine Stelle baute er für das Volk das größte Amphitheater der Welt: das Colosseum. Er ließ die niedergebrannte Stadt wieder aufbauen, unterstützte die Schwerbetroffenen, schaffte den Luxus der Hofhaltung ab, verkloppte die angehäuften Preziosen seiner Vorgänger und stopfte so peu a peu vierzig Milliarden Sesterzen in den Staat und das Volk.
Vor dem Senat als Einrichtung zeigte er eine erstaunliche Achtung. Er wünschte sogar dessen Vergrößerung auf tausend Mitglieder, die er aus den Provinzen heranzog, um frisches Blut und neue Gedanken einzuführen.
Er war ein schlauer Kerl. Wer seine naturalistische Büste in der Kopenhagener Glyptothek gesehen hat, diesen von tausend Ackerfurchen durchzogenen Kopf, durchschaut ihn mit einem Blick: ein bauernschlauer Alter, geradlinig, unzugänglich der Schmeichelei, unempfindlich gegen Tadel, ohne jede Eitelkeit, ein Frühaufsteher und Schwarzbrotesser, nicht ungebildet aber amusisch. Bei der Vorstellung, dermaleinst ein »Gott« zu werden, konnte er sich kaum das Lachen verbeißen. Ein kerngesunder Mann. Solche Gestalten findet man auch heute noch. Sie sind in der ersten Generation Bauer, in der zweiten Raiffeisenvorsitzender und in der dritten Generation Präsident der Dresdner Bank.
T. Flavius Vespasianus stammte vom Lande, aus dem Sabinischen. Sein Vater hatte sich bereits zu einem Kleinstadt-»Bankier« heraufgearbeitet. Der Sohn schlug die Verwaltungs- und dann die Militärlaufbahn ein. Unter Nero, an dessen Freundchen er sich übrigens nie gerächt hat, wurde er General — nicht, weil er dem Kaiser so sympathisch war, im Gegenteil, Vespasian war der einzige, der es wagte, bei einem Gesangsabend Neros einzuschlafen und zu schnarchen. Seine Unbefangenheit war entwaffnend. Nero weinte fast; er warf ihn hinaus, aber er machte ihn zum Feldmarschall.
Im Juni 79, im Alter von neunundsechzig Jahren, starb Vespasian. Er ließ sich in seiner letzten Minute vom Lager heben und auf die Beine stellen. »Ein Kaiser muß stehend sterben«, sagte er und hielt aus, bis er tot war.
*
Ein Bauer, der hinter dem Pflug sterben wollte.
Wozu das?
Ja, wozu? So fragen Krämerseelen.
Wenn zu nichts anderem, dann für seine Söhne. Vielleicht, um ihnen eine Erinnerung zu hinterlassen, die gepfeffert war. Beide hatten es nötig, vor allem der ältere, Titus, dem das Volk mit Hangen und Bangen entgegensah.
Titus war damals vierzig Jahre alt, ein großer, massiger Mann, dem man die Lebenslust, das Genießen, Essen, Trinken und Lieben ansah. Er war kein Weichling, er schlief unter einer Decke im Lager genau so gut wie auf dem Palatin, er brauchte zwei Tage nichts zu essen, er ritt fünfzig Kilometer in einem Sitz, er konnte auf Frauen pfeifen und sich tagelang in die Vorbereitung einer Schlacht vergraben. Als sein Vater nach Rom ging, hatte er ihm in Kleinasien die Legionen übergeben und eine abscheuliche Aufgabe dazu: die Niederwerfung des großen Judenaufstandes. Die Juden, seit jeher eines der militantesten Völker und assimilationsfremd, hatten die Erhebung gegen Rom gewagt und mit der Niedermetzelung der Garnison von Jerusalem ein Ausrufungszeichen dahinter gesetzt, das bei der Allmacht der Römer selbstmörderisch war. Der Aufstand war mehr als verständlich, die Römer saugten das Land bis aufs Blut aus. Jerusalem mit seinen zyklopischen Mauern widerstand Titus ein halbes Jahr. Dann schleiften die Römer die Stadt und plünderten sie total aus. Ein grober, unangenehmer Militärknoten, dieser Titus. Aber zuverlässig wie eine D-Zuglokomotive.
War eine Aufgabe, zu der ihn sein Vater bloß mit dem kleinen Finger zu winken brauchte, erledigt, so verwandelte sich Titus in ein Nilpferd. Er sielte sich in allem, was seine dampfende Vitalität befriedigte. Er war auch reich an ausgefallenen Ideen. Die letzte, mit der er seinen Vater überraschte, war sein Wunsch, Königin Berenike zu heiraten. Vespasian schlug das Meyersche Lexikon nach und las: »Berenike, Tochter des jüdischen Königs Herodes Agr. I., Gemahlin ihres Oheims Herodes von Chalkis, dann Geliebte ihres Bruders, dazwischen Gemahlin des Königs Polemon von Kilikien, Geliebte des Titus.« Vespasian winkte milde ab und empfahl seinem Sohn, irgendeine andere Jüdin als Geliebte mitzunehmen. Das tat das Nilpferd.
Ganz Rom kannte diese Geschichten und fühlte sich höchst unwohl bei dem Gedanken, Titus würde der neue Kaiser werden.
Nun war er es, und die Römer trauten ihren Augen nicht! Ein maßvoller, disziplinierter, unermüdlich freundlicher Mann stand vor ihnen, der niemals schimpfte, niemals fluchte, jeden anhörte. Der als erster seit Augustus ausgiebig und ohne jeden Schutz durch Rom spazierte, um es sich einmal bei Tage anzusehen, wozu er zuvor nur des Nachts Gelegenheit gehabt hatte. Ein gerechter Mann. Es ist, dachten die Römer, zum Verrücktwerden, wie man sich irren kann. War dies ein neuer Augustus, ein dicker?
Natürlich war er kein Augustus. Dazu war er zu unbedarft. Wahrscheinlich war er ein neuer Vespasian, dessen Jugend wir ja nicht kennen.
Die Römer waren so entzückt von der angenehmen Überraschung, daß sie ihn »amor et deliciae«, ihre Liebe und reine Freude nannten.
Seine Fürsorge zu erleben hatten sie sehr bald Gelegenheit. Er war genau zwei Monate an der Regierung, als sich die größte Naturkatastrophe der römischen Geschichte ereignete. Am 24. August 79 brach der Vesuv aus und verschüttete Pompeii, Herculaneum und Stabiae, drei blühende Städte, darunter den Stolz und das Kleinod der Römer: Pompeii.
Ein Ereignis, das inzwischen legendär geworden ist. Unendlich viele Geschichten ranken sich darum. Wie war es wirklich?
*
Der Vesuv, der schöne, friedliche, bis zum Gipfel begrünte und bewaldete Berg, gab nach tausendjähriger Ruhe die erste Vorwarnung im Jahre 62 mit eine plötzlichen starken Erdbeben. Die Geschichtsschreibung erwähnt es selten, in Wahrheit war bereits dieser Vorbote eine Katastrophe. Hilfe vom Staat war nicht zu erwarten, Nero hatte kein Geld. Die reichen Römer, die in dem bevorzugten, Luftkurort ihre Winterresidenzen hatten, ließen 'ihre eigenen Villen zunächst im Schutt liegen, um zuvor die Werkstätten und Läden aufbauen zu helfen. Es dauerte Jahre, bis die Spuren des Erdbebens beseitigt waren. Die Villen wurden jetzt prächtiger als zuvor restauriert, die damals schon berühmten Wandgemälde und Mosaiken ausgebessert, neue geschaffen. Dies alles vertrauend und dankbar, daß das Unheil, das man mit dem grünen Berg nicht in Zusammenhang brachte, vorüber war.
Der Ausbruch des tückischen Riesen am 24. August 79 n. Chr. überraschte Pompeii vollständig; überraschte die ganze Campania. Plinius minor (damals siebzehn Jahre alt, später berühmt durch seinen Briefwechsel mit Kaiser Trajan) hat in zwei Briefen an Tacitus den Hergang berichtet.
Der 24. August versprach, ein schöner Tag zu werden, sonnig und heiß wie die vorausgegangenen. Den ganzen Vormittag wehte ein leichter Wind aus Nordnordwest.
Herzlich uninteressant, nicht wahr? Ja. An diesem Tage aber von furchtbaren Folgen. Wäre der Wind von Osten gekommen, so würde die Katastrophe über dem Meer niedergegangen sein, und die Pompeianer hätten das grausige Schauspiel aus der Ferne von der Stadtmauer und von den Feldern beobachten können. Aber der Wind stand auf Pompeii.
Gegen ein Uhr mittags erschütterte ein leichter Erdstoß die Häuser, die Menschen liefen erschrocken auf die Straße und sahen zu ihrem Entsetzen, daß sich der Vesuv mit einer Feuergarbe geöffnet hatte und eine riesige Rauchsäule ausstieß, die in großer Höhe zu einem Atompilz explodierte. Neue Beben und ununterbrochene Ausbrüche schwefelgelber Qualmwolken riefen jetzt Panik hervor, es war wie der Weltuntergang. Der Rauchpilz bedeckte schon den ganzen Himmel und senkte sich langsam auf die Erde nieder. Es wurde dunkel wie bei einer Sonnenfinsternis, die Luft roch giftig und machte das Atmen zur Qual. Ein Staubregen begann niederzurieseln, und dann prasselten Bimssteine wie Hagel herunter, um wieder mit einem dicken Ascheregen abzuwechseln. Die Schichten zeichnen sich noch heute ab.
Die Menschen warfen sich auf die Pferde oder rissen die Wagen heraus zur Flucht. Andere rannten in die Häuser zurück, um sich vor dem heißen Ascheregen und der Pestluft zu schützen oder weil sie noch ihr Hab und Gut holen wollten. Sie haben es mit dem Leben bezahlt. Der tonnenschwere Steinhagel drückte die Dächer und Decken ein und begrub sie unter sich. Es werden etwa zweitausend Tote gewesen sein; andere Zahlen sind übertrieben. Bei den Ausgrabungen hat man viele von ihnen als Mumien in der sechs Meter hohen Asche wiedergefunden, so, wie sie erstickt oder verschüttet wrorden waren: die Arme schützend über den Kopf gehoben, unter eine Treppe gekauert, noch eine Preziose in der Hand.
Es wurde stockdunkle Nacht. Mit Fackeln bahnte man sich den Weg auf das freie Feld. Das gelang, denn kein einziger flüssiger Lavastrom hat die Stadt erreicht. Der Vulkanausbruch dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Dann erst kam die Sonne wieder durch: Pom-peii und Herculaneum waren verschwunden. Ein ödes Steinfeld, kahl wie eine Wüste, zog sich bis zum Vesuv hin. Auch der Berg war nicht wiederzuerkennen. Kein Fleck Grün mehr, die Hänge zerklüftet, der riesige Kegel ein einziger Lavablock. Ein Anblick — nie zuvor gesehen, grausig.
Titus sandte Hilfscorps unter Führung eines Konsularen hinunter, ließ Lebensmittel, Kleidung, Geld verteilen und Unterkünfte errichten, bis die Umsiedlung der Überlebenden (ca. fünfzehntausend) in die Wege geleitet werden konnte.
Stabiae, nur halb zerstört, kehrte mühsam zum Leben zurück; Pompeii und Herculaneum blieben tot, begraben, verschwunden. Im Mittelalter waren sie fast nur noch eine Sage.
Tausendsiebenhundert Jahre lang ruhte Pompeii unter der Erde. Heute ist bis auf wenige Teile alles ausgegraben, und eine Wanderung durch die Straßen ist schöner als ein Gang über das römische Forum, erschütternder und melancholischer. Man geht über die alten Quadern der Bürgersteige, überquert wie einst in der Antike die Fahrbahnen auf den zwei erhöhten Steinen, die die Radspuren freilassen, aber vor den entlangschälenden Regenwassern schützen; man sieht noch die Sperrsteine am Eingang der Gassen, die zum pompeianischen Forum führten; rechts und links ragen die Hausmauern als Ruinen in die Höhe, bekritzelt mit Kinderzeichnungen oder noch beschriftet mit Wahlparolen; überall stehen die Säulen noch; die Stadtmauern mit ihren Türmen sind noch da, die Gewölbe der Weinkeller, die Öfen der Bäckereien, die Kornmühlen, die Steintische der Schenken, die herrlichen Peristyle der vornehmen Villen mit ihren Fresken, den Brunnen, Fischteichen, Hausgeräten und intimen Dingen, das Amphitheater mit seinen Sitzrängen, die verschachtelten Thermen, ja sogar die Liebeskämmer-chen der städtischen Lupanare. Es stehen noch die Giebel der Markthalle, die Mauerreste der »Industrie-und Handelskammer«, des Finanzamtes, der Sporthallen, der Gladiatorenkaserne und des augusteischen Theaters, das fünftausend Personen faßte und mit eine Zeltdach überdeckt werden konnte.
Tröstlich ist das Grün, das überall wieder zum Leben erwacht ist. Hohe Zypressen, Pinien, Palmen, Sträu-cher und Blumen stehen zwischen den Ruinen, Zeugen der ewigen Wiedergeburt des Lebens.
Wunderschön sind einige Villen, die der Spaten ans Tageslicht gebracht hat. Das Haus der Vettier ist mit seinem herrlichen Innengarten voller Blumen, Plastiken, Springbrunnen und Vasen ein Idyll. Die sogenannte Villa des Faun (nach der Plastik im Peristyl benannt) ist heute noch ein südländisches Märchen. Vielleicht war es die sagenhafte Villa des Maecenas.
Vor den Toren der Stadt lagen das Landhaus des Cicero und ein Sommerpalast, der nach dem Thema seiner kostbaren, leuchtenden Wandmalereien den Namen »Villa der Mysterien« trägt, aber wahrscheinlich Haus der Julier heißen müßte. Man hat in ihm eine große Statue der Livia, Gemahlin des Augustus, und einen entzückenden Marmorkopf des Marcellus, des jugendlichen ersten Gatten der Julia, gefunden. Im Garten, der noch voller Rosenwurzeln war.
»Wie fremd und wunderlich das ist,
daß immerfort in jeder Nacht
der leise Brunnen weiterfließt,
von Ahornschatten kühl bewacht,
und immer wieder wie ein Duft
der Mondschein auf den Giebeln liegt
und durch die kühle dunkle Luft
die leichte Schar der Wolken fliegt.«*
*
Noch ein zweites Unheil traf den guten Kaiser Titus. Eine Feuersbrunst zerstörte zum zweitenmal einen Teil Roms, vernichtete das Kapitol und das Pantheon Agrippas und konnte erst nach drei Tagen gelöscht werden. Die Obdachlosen zählten zu Zehntausenden, Kranke und Verwundete lagen auf den Straßen, Seuchen brachen aus — eine Katastrophe, die Pompeii vergessen ließ. Titus, mitten im Volk stehend, tröstete, beruhigte, half.
Die »Liebe und reine Freude« des Volkes blieb den Römern im Gegensatz zu den bösen Kaisern, die ein zähes Leben zu haben scheinen, nur drei Jahre erhalten. Auf einer Reise in seine sabinische Heimat packte ihn das Fieber der römischen Seuche und warf ihn in dem Haus seiner Vorfahren, in dem er eingekehrt war, nieder.
Der riesige starke Mann, der abgehärtete, bullige Soldat blieb diesmal nicht Sieger. An den Iden des September 81 n. Chr. starb Titus in der Blüte seiner Mannesjahre. Das Volk trauerte wie um einen Vater und Bruder. Es hat ihn nie vergessen.
*
Ein drittes Mal, nach Augustus und Titus, wiederholte sich das Wunder der Metamorphose nicht. Die Römer hofften vergeblich auf Domitian, der jetzt den Thron bestieg.
Er war zwölf Jahre jünger als sein Bruder Titus, er sah ihm ähnlich, war aber ein ganz anderer Charakter: ehrgeiz-zerfressen von Jugend an, ärgerlich auf den jovialen Vater, neidisch auf den erstgeborenen Bruder, junkerhaft hochfahrend, krankhaft stolz. Er war der Typ des blinden Reaktionärs; alle »Fortschrittler« sind dankbar, daß es ihn gibt, weil er sich so wunderbar als Schreckgespenst verwenden läßt. In Wahrheit ist er nur der Beweis für den Unterschied von reaktionär und konservativ.
Er war kein Dummkopf, die Flavier waren es alle nicht. Seine außenpolitischen Maßnahmen waren sehr gut und manche innenpolitische auch. Er erließ ein Gesetz, das jeden unbescholtenen Bürger vor Diffamierung und Verunglimpfung durch die Asphaltliteraten schützte, er griff bei Fällen von Unzucht der Vestalinnen (die Fälle häuften sich) unerbittlich durch, er ordnete Prozesse gegen parteiische und ungerechte Beamte an — aber froh wurde dieser Dinge niemand, weil Domitian auf der anderen Seite von einer geradezu hysterischen Empfindlichkeit war. Niemand wußte es ihm recht zu machen; die Maxime des Verhaltens ruhte allein in der Brust des Kaisers. Er glaubte, stets gerecht zu sein, wobei er vergaß, die Grundsätze klarzumachen. Seine Wege waren mindestens ebenso un-erforschlich wie die sprichwörtlichen Wege Gottes. Er selbst hätte das durchaus logisch gefunden, denn er ließ sich Dominus und Deus ansprechen. Eine Ungeheuerlichkeit für die Römer; sie hatten noch nicht vergessen, daß Dominus einst »Besitzer« geheißen hatte. Erstklassig war seine Militärpolitik; ich meine also nicht die Erfolge des Heeres in Britannien, Germanien, Dakien (im heutigen Ungarn), sondern die außerordentlich kluge Auswertung. Er rief seinen Feldherrn aus Britannien zurück, sobald eine Linie erreicht war, die die größte Sicherheit bot. Er begnügte sich bei dem Vorstoß in Württemberg, als er die Verbindung von Main und Oberdonau durch einen Limes sichern konnte. Und mit den Dakern schloß er sofort Frieden, als er sah, daß er (übrigens er persönlich als Feldherr) nicht durchkam.
Er war ein seltsames Gemisch von vernünftig und unvernünftig, von harmlos und bedrückend. Er war ein Anachronismus.
Eine große Veränderung ging in ihm vor, als im Jahre 89 die Rheinarmee gegen ihn revoltierte (der Grund war ziemlich läppisch: man protestierte nach dem »schmachvollen« Dakerfrieden gegen ihn als obersten Befehlshaber). Argwohn gegen seine Umgebung erwachte, er begann alle, auch seine Familie, mit anderen Augen, mit den Augen des bedrohten Tieres zu sehen. Die Wechselwirkung blieb nicht aus: Es wisperte und flüsterte bald wirklich überall. Um das Jahr 90/91 war Domitian bereits soweit, daß er an Verfolgungswahn litt.
Den Keim einer Verschwörung rottete er blutig aus. Auch Juden und Christen fielen dem Wahn zum Opfer. Als er einen neuen Anschlag auf sein Leben entdeckt zu haben glaubte (oder wirklich entdeckt hatte), räumte er mit der Blindheit eines Gehetzten auch unter seinen Getreuen auf. Er war nicht mehr wiederzuerkennen.
Auch Rom — Senat, Hof und Offizierscorps — war nicht mehr wiederzuerkennen. Alles schwebte in Angst. Als sich Anzeichen bemerkbar machten, daß Domitian sogar seiner Frau mißtraute (zu Unrecht), und als allmählich klar wurde, daß es auch ihr an den Hals gehen würde, da versuchte sie sich zu retten, indem sie das tat, was der Verfolgungswahnsinnige ihr zutraute: sie verbündete sich mit einer Gruppe von Verschwörern und öffnete die Tür einem Mörder, der den Kaiser erdolchte.
September 96. Das Ende des letzten Flaviers.