IM ACHTEN KAPITEL
ist die teutonische Gefahr glücklich überwunden, und die Plebs kann sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung hingeben, dem Radaumachen. Clio, was die Muse der Geschichte ist, beschließt, uns einfürallemal die zwei Möglichkeiten eines staatlichen Zusammenlebens wahlweise vorzuführen, undgebiert Marius (mit dem Titel Vater des Vaterlandes) und Sulla (ohne Titel, einfach Sulla).
Wenn die Umstände es erlauben, kommen die Demagogen wieder heraus und treten ins Sonnenlicht.
Die Umstände in Rom erlaubten es. Es war Friede. Es herrschte Wohlstand und Wohlfahrt, was meistens Hand in Hand geht, weshalb ja auch die ersten Silben gleichlauten. Natürlich gab es weiter ein großes Proletariat, es wurde von Tag zu Tag größer, prachtvolles Material für Agitatoren, denn es stand stündlich zur Verfügung, war stets auf den Straßen, immer greifbar, immer ansprechbar, wohingegen Schuster, Färber, Fischer, Maurer bei der Arbeit und nicht so leicht zusammenzutrommeln waren.
Ein ungewöhnlich widerlicher Bursche — auch nach dem Urteil eigenwilligster moderner Historiker — war ein gewisser Appuleius Saturninus, der sich nun an allen Ecken und Enden zum Wortführer der Masse machte. So übernahm er sogleich die »Sorge« für die Veteranen und Reservisten des Heeres, was durchaus Sache von Marius war. Er schrie auch nach verbilligtem Getreide, nach Unterstützung der »Ärmsten der Armen«, er zog sich alle Schuhe der Gracchen an, obwohl sie ihm um vieles zu weit waren. Er arbeitete auch mit Betrug: Eines Tages stellte er dem Volk als seinen Anhänger den Sohn des Tiberius Gracchus vor, der sich bei näherem Hinsehen als ein wildfremder Bengel entpuppte. Und nicht nur mit Betrug arbeitete er, sondern auch mit Mord. Als ein Volkstribun ihn bei einer Abstimmung zu Fall brachte, wiegelte er den Pöbel auf, den Mann zu erschlagen. Sie erschlugen ihn zwar nicht — wohl aus Scheu, direkt Hand an ihn zu legen, aber sie rissen das Pflaster auf und steinigten ihn von weitem zu Tode.
Es gibt keinen Zweifel: es muß den Leuten verhältnismäßig gut gegangen sein, man kann mir erzählen, was man will. Pflasteraufreißen ist erfahrungsgemäß kein Akt, der auf Verzweiflung basiert, sondern auf Lust am Anarchischen, auf Lust an der Machtprobe.
Bei der Konsulwahl des Jahres 99 kam es durch den Pöbel erneut zu Mord und Totschlag. Appuleius Saturninus mobilisierte sogar Sklaven zum Straßenkampf. Immer im Namen des Volkes, im Namen der Gracchen und im Namen von Marius, der sich dieser Laus nicht erwehren konnte. Der Senat verkündete den Notstand und warf Truppen auf die Straße. Marius, noch Konsul, stand zwischen Bork und Baum, zwischen dem Abscheu vor den Verbrechern und dem Haß gegen die »Optimaten« (Patrizier und Geldadel), denen er das Zittern gönnte. Er machte einen lauen Versuch, seine »Freunde« zu retten, mit dem Erfolg, daß er selbst politisch erledigt war. Das Volk, das wirkliche Volk, Lastträger, Maurer, Kutscher, Schmiede, war inzwischen auf die Barrikaden gegangen und hatte an den Aufrührern das Urteil vollstreckt und sie gelyncht. Widerliche Dinge, widerliche Verbiegungen der Wahrheit, widerliche Verbiegungen von Lebensanschauungen. Uneinsichtige Patrizier, die jeden Zopf aus alter Zeit glaubten retten zu müssen; habgierige »Unternehmer«, die, gleichgültig welche Rechte man der Masse zugestand, aufreizend wirkten. Übersättigte, ziellos gewordene Kleinbürger. Ehrgeizige und skrupellose Demagogen, feige, opportunistische Priester, dämliche Senatoren, korrupte Provinzbeamte, korrupte Prätoren und Quästoren, blutsaugerische Steuereinnehmer in Sizilien, in Gallien, in Spanien, in Afrika, in Griechenland, in Kleinasien..., wenn Sie das alles »brennend interessiert«, dann sind Sie der ideale Abnehmer für die modernen Geschichtsbücher. Mich selbst ekeln diese Dinge derart an, daß ich es kaum sagen kann. Konsuln kamen und gingen; Marius war nicht mehr darunter, er war von der Bühne verschwunden. Volkstribunen kamen und gingen, jeder riß den Mund auf, jedoch keiner kannte neue goldene Berge, die man versprechen konnte, und als im Jahre 91 der erste kam, der von der römischen Plebs etwas forderte, statt zu verheißen — da scheiterte er. Der Mann hieß Livius Drusus, Nachkomme jenes Konsuls Livius Salinator, der Hasdrubal am Metaurus geschlagen und den Kopf des Toten in das Lager Hannibals hatte werfen lassen — keine Gedanken an Sippenhaftung, bitte! Livius Drusus war integer, vernünftig, weitblickend und hat nie einen anderen Kopf als seinen eigenen transportiert. Und das auch nicht lange.
Das Wichtigste dessen, was er wollte, war die Verleihung des vollen Bürgerrechtes an alle Italiker. Sie hatten in Not und Leid an der Seite Roms gestanden und verdienten, Römer zu heißen. Die römische Plebs jedoch dachte mit keinem Gedanken daran, ihre Sonderstellung zu teilen. Ein anderer Gesetzesvorschlag führte zum Zwist zwischen Nouveaux riches und den Patriziern, und alle beide krachten mit dem Proletariat wegen Senkung der Getreidepreise auf den Nullpunkt zusammen. Auf der ganzen Halbinsel, wo die Bürgerrechtsfrage das Tagesgespräch war, grollte und donnerte es unruhig, kurzum, es war wieder einmal eines der schönsten Friedensjahre... da wurde Livius Drusus von unbekannten Tätern ermordet.
Sofort schoß die Wut der Italiker hoch. Die Empörung über den Tod »ihres« Livius Drusus nahm überraschende Ausmaße an. Ein Volk nach dem anderen kündigte die Bundesgenossenschaft, täglich und stündlich trafen immer beunruhigendere Nachrichten in Rom ein, man hörte, es sei ein neuer Staat gegründet worden, »Italia«, man sprach von Corfinium als Bundeshauptstadt, man wußte sogar, daß es schon Konsuln und einen Senat gab, und schließlich hatte man eines Tages eine Münze in der Hand, einen Denar des neuen Staates. Er zeigte, wie man ihn heute noch, wenn man Glück hat, in einem Münzkabinett sehen kann, auf der Vorderseite den Kopf des Ersten Konsuls und auf der Rückseite etwas weit Interessanteres: einen Stier, der mit den Hörnern die Wölfin niederstößt! Den Römern muß es schier das Herz zerrissen haben.
Sie hatten nicht viel Zeit, den Denar rundumgehen zu lassen. Zwei Heeresgruppen des neuen »Italia« waren auf dem Marsch, griffen romtreue Orte an (nicht alle Städte und Landschaften waren abgefallen), schnitten Versorgungswege ab, schlugen die Besatzung der Garnisonen und näherten sich Rom.
In letzter Stunde entschloß sich der Senat zu dem, wozu er sich ohne Blutvergießen und ohne diese gefährliche Zerreißprobe der Freundschaft schon zwei Jahre früher hätte durchringen können: Im Jahre 89 erhielten alle Italiker, sofern sie die Waffen niederlegten, das Bürgerrecht.
Es war fünf Minuten vor Zwölf gewesen.
Und fünf Minuten nach Zwölf bei den Samniten im Süden. Gar nicht daran zu denken, sie gütlich wieder zur Räson zu bringen.
In solchen Fällen, wenn den Römern das Wasser nicht mehr bis zum Halse stand, waren sie von grausiger Entschlossenheit. Die Samniten sollten die Wölfin kennen lernen, wie damals vor zweihundert Jahren. Man hatte jetzt die Hände frei.
Wen sollte man runterschicken? Marius, inzwischen rüstiger Siebziger, kam ankutschiert und empfahl sich. Aber der Senat dankte und berief als Oberbefehlshaber einen Mann namens Lucius Cornelius Sulla.
Sie erinnern sich richtig: es ist der ehemalige Quästor von Marius. Doch bevor ich Ihnen von jener seltsamen Episode bei dem afrikanischen König Jugurtha berichte, möchte ich noch ebenso schnell wie Sulla den Feldzug gegen die Samniten beenden: Er schlug sie. Mit Sulla muß ich Sie genauestens bekanntmachen, er ist eines der bewundertsten und gehaßtesten Objekte der Geschichtsschreibung. Er — ach so, zuerst die Episode bei Jugurtha!
Jugurtha war durch Mord und Totschlag seiner Verwandten auf den »Thron« von Numidien gekommen, jenes Numidien, das Karthago mitbeerbt hatte. Er war ein Strolch, Lügner, Hehler und Bestecher. Als Rom endlich gegen ihn vorging und Marius, damals aufgehender Stern, ihn besiegte, floh der Numidier zu seinem »königlichen Kollegen« Bocchus nach Mauretanien. Sie werden stöhnen: was für finstere Hinter-waldstaaten! Ja, natürlich, aber diese Hinterwaldstaaten am Nordrand Afrikas besaßen auch Menschenmassen, auch Lanzen, Pfeil und Bogen, und Entfernungen, an denen die Legionen scheitern konnten. Mauretanien umfaßte das heutige Algerien plus Marokko!
Marius wußte nicht, was er machen sollte. Er brauchte nicht Numidien, das nun in seiner Hand war, er brauchte das Scheusal Jugurtha, wenn er sich in Rom blicken lassen wollte.
König Bocchus von Mauretanien andererseits war unschlüssig, was er mit dem Flüchtling anstellen sollte, der selbstredend mit Gold und Juwelen beladen angekommen war und das Blaue vom Himmel versprach. Dies war der Moment, wo Oberstintendant Sulla zu Marius ging und ihm vorschlug, allein zu Bocchus zu reiten und Jugurtha herauszuholen. Der Generalissimus hielt die Idee für wahnsinnig, denn die halbwilden Mauri waren bekannt dafür, daß sie auch den harmlosesten Leuten die Kehle durchschnitten. Aber er gab seine Zustimmung, teils in vager Hoffnung, teils aus einer Regung seines Zwerchfells: Sulla war ein Cornelier, verarmter aber höchster Adel. Sollte er ruhig!
Er war damals dreiunddreißig Jahre alt und etwa im Range eines Ministerialrates im Finanzministerium, als er jenes Tier bestieg, für das ihn im stillen Marius hielt, ein Kamel. So begann er den Ritt durch die Wüste, nicht mutterseelenallein, jedoch fast. Ein kleiner Stab begleitete ihn.
König Bocchus empfing ihn und hörte ihn an. Dann wurde Sulla abgeführt, sah und hörte nichts mehr. Bei Bocchus begann ein erbittertes Tauziehen zwischen Jugurtha, der, um seinen Kopf zu retten, dem Mauri sein halbes Königreich versprach, und einer kleinen Gruppe von Beratern, die um keinen Preis die römischen Legionen auf dem Halse haben wollten. Es stand auf des Messers Schneide, Sulla schloß mit seinem Leben ab.
Doch das Glück war mit ihm. Bocchus entschied sich für Rom. Tollkühn forderte Sulla Jugurtha. Er erhielt ihn. Am Halfter führte er ihn zu Marius, der nun der große Mann war und seinen Triumphzug bekam, mit Jugurtha in Ketten vor dem vergoldeten Wagen.
Von Sulla war nicht viel die Rede. Er machte dann als Offizier und Einheitsführer verschiedene Feldzüge mit, kam langsam zu einem gewissen Ruf, je mehr Marius in den Schatten trat. Und jetzt hatte er also den ersten Oberbefehl und siegreichen Feldzug hinter sich — leider in einem Bruderkrieg — nicht schön, aber nicht zu ändern.
*
Lucius Cornelius, aus der verarmten Linie der Sulla, war ein äußerst disziplinierter Mann, gänzlich uneigennützig, ohne Eitelkeit, weil ohne Illusionen über die Menschen. Er war als Offizier fleißig wie Napoleon, stets auf das Genaueste präpariert, schnell im Entschluß und von gefährlicher Schärfe. Er war gebildet, sprach natürlich Griechisch, war mit den Historikern und Philosophen des alten Hellas vertraut und aß eine Scheibe trockenes Brot mit der Grandezza, als wäre es ein Stück Pfauenpastete.
Das alles mag im Urteil der heutigen Zeit noch hingehen, aber er hatte einen für uns nicht mehr verzeihlichen Fehler: er fand die damalige politische und moralische Entwicklung zum Kotzen. Und da hört es nun wirklich auf! Mit dieser Ansicht befinden wir uns in bester Gesellschaft; auch die Plebs von Rom hatte an diesem Mann keinen Gefallen. Nie ging er über den Fischmarkt und versprach höhere Löhne, nie grüßte er einen Straßenfeger zuerst, sondern immer umgekehrt, nie nahm er das Wort Volkstribun in den Mund, ohne einen Hustenanfall zu bekommen. Andererseits sahen ihn die Upper Tens nie bei einem Gelage und nie in der schönen Brüderlichkeit einer Besoffenheit. Dabei konnte dieser Mensch durchaus lachen und fröhlich sein. Was so furchtbar störte, war seine Anschauung, daß es den sogenannten gesunden Menschenverstand der Masse nicht gäbe, daß die Heiligsprechung der Quantität vor der Qualität gegen jede Vernunft sei, und daß der Fortschrittswahn bisher nur Mist geboren habe. Der Mann — wir wollen es mal beim Namen nennen — war einfach ein Konservativer.
Und wie das so geht: Im Jahre 88 wurde er Konsul. Ein Teil der Plebs scheint ihn gewählt zu haben.
In diesem Jahre wurde .eine Expedition nach Kleinasien nötig. Mithridates, König von Pontus, einem Riesenterritorium zwischen dem Schwarzen Meer und Cypern, fiel seit Jahren regelmäßig in das römische »Asia« ein, das etwa der einstigen griechischen Provinz vom Bosporus bis zur Insel Rhodos entsprach. Er empfand die Römer als Einbrecher und rottete sie, wo er sie erwischte, systematisch aus. Bis jetzt waren es achtzigtausend Tote. Die Toten schrien zum Himmel, die Lebenden zu Rom.
Der Senat sammelte eine bedeutende Streitmacht in Süditalien, um sie dort einzuschiffen. Mit dem Oberbefehl wurde einer der Konsuln selbst betraut, Sulla. Zugegeben, laut Verfassung war das in Ordnung. Aber die Plebs dabei überhaupt nicht um ihre Meinung zu fragen, war eine glatte Ohrfeige für jeden selbstbewußten Schuhmacher und Bäcker, von denen mancher es als alter Soldat bis zum Feldwebel gebracht hatte und von der Sache was verstand. Es gab gar nicht so wenige aus dem Volke, die viel lieber Marius an der Spitze gesehen hätten, und zwar nicht nur einfache Leute, nein, auch Marius selbst. Er hatte zwar die Siebzig überschritten, aber was besagt das? Schließlich war Moses Zweiundachtzig, als die Kinder Israels Kanaan eroberten.
Die Tributkomitien, eiligst mit Neubürgern aufgefüllt, beschlossen, Marius den Oberbefehl zu übertragen.
Es ist richtig, das war ein Verfassungsbruch. Na, schön. Und? Motiviert das die Reaktion Sullas? Er verlangte die Ächtung der Schuldigen. Daran war vom Senat natürlich nicht zu denken, schließlich waren ja auch noch die Proletarier als außerparlamentarische Opposition da.
Sulla reiste nach Süden ab und holte das Heer. Zum erstenmal in der Geschichte führte ein Konsul Soldaten gegen Rom! Die Offiziere waren bedenklich, aber die Truppe folgte Sulla, den sie als Feldherrn verehrte, sofort.
Der Senat bekam einen Heidenschreck. Er schickte dem Konsul eine Delegation entgegen, die der hohe Herr einfach beiseite schob. Da kann man mal sehen! Er glaubte dem Senat nicht, noch Herr der Lage zu sein. Mit blanker Waffe marschierte er in Rom ein. Alle Quellen sind sich allerdings einig, daß nicht die geringsten Ausschreitungen vorkamen.
Die Ächtung der Verfassungsbrecher durchzusetzen, war nun eine Kleinigkeit. Sulla begnügte sich zunächst mit zehn Namen, darunter Marius. Dem alten Kämpen gelang es, auf einem Schiff nach Afrika zu fliehen. Seine Mitstreiter mußte er in der Eile leider zurücklassen.
Nachdem Sulla noch einige Gesetze suspendiert hatte, darunter wirklich unverständlicherweise das Einbürgerungsgesetz, und nachdem er die Konsulatswahlen für 87 durchgeführt hatte (nicht für seine Person), verließ er Rom und trat den Feldzug gegen Mithridates an. Während Sulla an der Front war, nahm man in Rom das wichtigste Anliegen der Menschheit wieder auf: den Parteikampf. Die beiden neuen Konsuln waren Patrizier, ein konzilianter Herr namens Gnaeus Octavius (der Vorfahre des späteren Kaisers Augustus) und ein Cornelier aus dem Zweig der Cinna, nicht der Sulla.
Zwei Patrizier könnten im ersten Moment bedenklich stimmen, aber keine Sorge, Octavius war ein friedlicher Mann, der sich schon im voraus vor allen Scherereien bekreuzigte, und Cinna gehörte zu jenen fortschrittlichen Aristokraten, die stets up to date sind, wie heute unsere linksgesteuerten Freiherren und Grafen.
Auf Cinna war also in diesem Sinne Verlaß. Er versuchte sofort, durch Komitienbeschluß alles rückgängig zu machen, was Sulla durchgesetzt; hatte. Das Volk jedoch, und das ist ja der ewige Jammer, zeigte keine Einigkeit. Altbürger standen gegen Zugewanderte auf, es kam, ohne daß der zaghafte Herr Octavius etwa als Opponent auch nur einen Finger zu rühren brauchte, zu blutigen Straßenkämpfen; Cinna unterlag, floh aufs Land, dort sammelte er Sklaven und einige Garnisons-Einheiten, die er reichlich mit Geld bestach, und rief Marius aus Afrika zurück. Sein Trumpf-As.
Der Alte kam. Und damit beginnt ein wenig schöner Abschnitt der römischen Geschichte. Freilich kommt es darauf an, durch welche Brille man ihn sieht. Es geschah ja schließlich alles fürs Volk.
Die Gefühle, die sich inzwischen bei Marius aufgespeichert hatten, kann man schlicht mit Tollwut bezeichnen. Er marschierte nach heftiger Gegenwehr der Bürger als Triumphator in Rom ein und begann ein jakobinisches Schreckensregiment. Ein leidiges Kapitel, aber man kann es schlecht weglassen.
Marius bediente sich einer Bande von regelrechten Strolchen, zum größten Teil entfesselten Sklaven und Hafengesindel. Als erstes ließ er seine persönlichen Gegner ermorden, dann seine politischen, alle oder fast alle ohne auch nur den Schein eines Gerichts, und schließlich ließ er seine Schergen auf die Wohlhabenden los. Es wurden Tausende umgebracht, auf der Straße erstochen oder nachts aus den Häusern gezerrt, erschlagen und in den Tiber geworfen. Ihr Geld und Gut wurde »konfisziert«. Kein Mensch weiß, wo es geblieben ist. Marius selbst hat sich bestimmt nicht vom Gold, sondern nur vom Blutrausch leiten lassen. Zu seinen Opfern gehörte auch der amtierende Konsul Octavius, dessen Kreuzschlagen also erfolglos geblieben war, sowie Marius’ alter Kriegskamerad Lutatius Catulus, sein Mitkämpfer gegen die Cimbern, dem er nie den Konkurrenzruhm verziehen hatte. Sein Haß machte vor nichts halt. Zahllose gänzlich unpolitische, ja unbemittelte Männer wurden einen Kopf kürzer gemacht, weil gerade dieser Kopf ihn ärgerte, wenn sie Gelehrte oder prominente Vertreter des geistigen Lebens waren.
Ein Flüchtlingsstrom ergoß sich aus Rom, nach Süden, Sulla entgegen.
Das Jahr 86 brach an, mit Marius als Konsul selbstverständlich. Es war das siebente Mal; bedeutungslos, weil er seine Schreckensmacht nicht aus diesem Amte nahm, und bedeutungslos, weil er nur noch wenige Tage lebte. Er starb unerwartet. Unerwartet, aber von jedermann, auch von seinen »Freunden«, herbeigesehnt. Am meisten von Cinna. Ja, Herr Baron lebten noch, er hatte sich scheintot gestellt. Nun war er wieder da, der natürliche Erbe von Volksfreund Marius.
In Rom herrschte das komplette Chaos. Cinna faßte die Gelegenheit beim Schopfe, ließ die Regierungswahlen fallen und ernannte sich selbst zum Konsul. Der Einfachheit halber nominierte er auch gleich seinen Kollegen. Das blieb drei Jahre so. Dann erschlugen ihn seine eigenen Soldaten.
Was Sulla aus der Heimat hörte, muß ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben haben. Er konnte nicht weg, er war an den Kriegsschauplatz gefesselt. Aber eines Tages würde er zurückkehren!
Dieser Tag kam im Frühling 83. Im Glanz des Sieges über Mithridates landeten Sulla und sein Heer in Süditalien. Das erste, was er sah, war eine Schar von Romflüchtlingen. Und das erste, was er versprach, war, das Einbürgerungsgesetz gutzuheißen. Etwas Besseres hätte er als erstes gar nicht aussprechen können, es ließ bei allen Italikern (außer den Samniten natürlich) das Mißtrauen schwinden.
Dann marschierte er auf Rom. Der Sohn des Marius hielt noch schnell Nachlese und richtete ein Blutbad unter den Senatoren an; auch der Pontifex wurde im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit abgeschlachtet.
In der Stadt gab es daher eine Menge Leute, die Sullas Erscheinen nicht freudig entgegensahen, viele aus der Soldateska, auch »Offiziere«. Da es jetzt offensichtlich um den Kopf ging, formierte sich diese Terrorgruppe noch einmal in aller Eile und trat Sulla entgegen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Sullas militärisches Genie wog eine Legion auf.
Als er in Rom einzog, gaben sich die Mörder und Marodeure für ihr eigenes Schicksal keinerlei Illusionen mehr hin, und da taten sie recht daran. Anders die heutigen feinsinnigen Historiker. »Die letzten zehn Jahre«, schreibt ein Professor, »hatten unendliches Blut fließen sehen. Sulla war das nicht genug. Er muß der Ansicht gewesen sein, es sei nicht das richtige Blut geflossen.« Achten Sie, meine Freunde, auf die feinen Unterschiede, die unsere Jugenderzieher und Friedensfürsten zwischen »richtigem« und »falschem« Blut machen!
Sulla, für diese zarten Wellenlängen ohne Organ, rächte die Opfer Cinnas und Marius’, obwohl es ja das »richtige« Blut gewesen war, das die beiden vergossen hatten! Nicht, daß Sulla der Rache freien Lauf gelassen hätte, nein, das nicht; er ließ fein säuberlich und ordentlich Listen der Verbrecher aufstellen (ein grober Fehler vor der Nachwelt; Marius hat keine Listen und Zahlen hinterlassen) und öffentlich aushängen, so daß man wußte, woran man war. Die Betroffenen selbst allerdings ließ er aufhängen, sofern er sie erwischte. Ihre Besitztümer — denn er machte keineswegs vor seiner »Klasse« halt — wurden beschlagnahmt. Sie verschwanden nicht spurlos, sondern wurden öffentlich versteigert. Die Gebeine des alten Marius ließ er in alle Winde verstreuen. Früher hätte ich solch eine Handlung für verwerflich gehalten, aber die Alliierten, die in Deutschland 1945 das gleiche Beispiel gaben und gewiß tadellose Nationen sind, lassen mich nun fortschrittlicher denken.
Als Gegengewicht gegen die von Cinna hereingeholte und freigelassene Meute von Sklaven verfügte Sulla jetzt die Freilassung aller jener Sklaven, die die Terroristen und Weltbeglücker aus ihrem eigenen »Besitz« nicht freigelassen hatten. Es waren immerhin zehntausend!
Diese Menschen, die nun zum erstenmal einen Familiennamen tragen sollten, nannten sich aus Dankbarkeit künftig Cornelii. Ich weiß nicht, warum die heutigen Historiker noch nicht auf die listige psychologische Deutung gekommen sind, daß die Sklaven bei dem Namen Cornelius in der Tiefe ihres Herzens gar nicht an Sulla, sondern an Cinna, den anderen Cornelier, gedacht haben, nicht wahr?
Sulla war sich darüber klar, daß zur Restauration der Staatsgewalt mehr als die paar Wochen nötig waren, in denen er dank seiner Militärmacht alles durchsetzen konnte. Er schlug vor — man kann selbstverständlich auch sagen: er ließ sich — auf unbefristete Zeit zum Diktator berufen.
Man tat es. Auf unbestimmte Zeit? Ein glatter Verfassungsbruch, meine Herren Senatoren, soweit Cinna Sie am Leben gelassen hat!
So übel aber wirkte er sich nicht aus, wie wir gleich einmal, ohne in Details zu gehen, sehen wollen.
*
Sulla gab dem Senat, der ja keineswegs etwa nur aus Patriziern bestand, sondern voll von Plebejern war, die Regierungsgewalt zurück. Um mehr Meinungen und Stimmen zur Geltung zu bringen, erhöhte er die Zahl der Sitze von dreihundert auf sechshundert. Die Befugnisse der Volkstribunen reduzierte er auf das, um dessentwillen sie einst erfunden worden waren: sie sollten Anwalt derer sein, denen Unrecht geschehen war, sie sollten den machtlosen, ämterlosen, vielleicht gegenüber einem Gericht hilflosen einzelnen aus der Plebs vertreten. Sie sollten auch wie einst in Fällen von Unrecht und Willkür ihr Veto aussprechen, und sie sollten die Wünsche und Vorschläge der Gesamtheit der Plebs an die Regierung herantragen.
Alle diese Dinge waren ja längst von einer Woge von gewaltsamen Machteroberungen überschwemmt gewesen. Die Volkstribunen hatten sich an das Räderwerk des Staates gestellt, ohne jedoch die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Sie hatten von ewig neuen Erpressungen, Forderungen, Machtproben gelebt und bei der Masse mit Appellen an die niedrigsten Instinkte gearbeitet. Diese Entwicklung war um so heftiger und rasanter geworden, als die »Gegenseite« sich erklärlicherweise versteifte. Auch Fehlschläge erwiesen sich als Dynamit — so, wie ein Gewerkschaftsführer der zwanziger Jahre einmal sagte: »Jeder gescheiterte Streik entfacht Wut und ist in Wahrheit ein Sieg«. Sulla empfand es als undenkbar, daß zehn »Rechtsanwälte beim Bundesverfassungsgericht« (nennen wir die Tribunen mal so) dem Bundesverfassungsgericht befehlen konnten, wie das Urteil zu lauten habe. Genau darauf lief es aber hinaus. Sulla nahm auch den Equites, den Unternehmern und Nouveaux riches, die hohe Gerichtsbarkeit, die Gracchus ihnen, um sie zu ködern, gegeben hatte. Der Senat erhielt sie zurück. Wenn einige Geschichtslehrer daran den Kommentar knüpfen, daß damit den vielen ungetreuen Statthaltern der Provinzen vor Gericht von »ihresgleichen« Straffreiheit so gut wie sicher gewesen sei, so ist das sehr farbenblind. Erstens unterschiebt es den Lesern immer wieder die Meinung, der Senat und damit der Gerichtshof sei ein Adelsklüngel gewesen; zweitens unterstellt es, die Prae-toren der Provinzen hätten sich ebenfalls aus lauter Peers rekrutiert. Drittens setzt es als selbstverständlich voraus, daß gehobene Stände ungerecht, niedrige dagegen immer gerecht seien; und viertens waren die großen Übel, die Blutsauger der Provinzen, gar nicht die Statthalter, sondern die Steuerpächter, und ausgerechnet die kamen aus dem Equites-Stand, dem Gracchus die Gerichtsbarkeit zugeschustert hatte.
Es ist ermüdend — ich weiß — die Rechnungen unserer pädagogischen Oberkellner dauernd nachprüfen zu müssen, aber es ist notwendig. Sie kennen doch die Geschichte jenes Obers, der auf jede Rechnung zum Schluß den Posten »Geht’s« setzte, bis ein Gast ihn fragte: »Was ist das hier zu vier Mark fünfzig: Geht’s«?, worauf der Kellner resigniert antwortete: »Also geht’s nicht.«
Nein, es geht nicht.
Vollkommen richtig hat Sulla den Volkstribunen auch einen Strich durch die Rechnung gemacht, über das gefürchtete Sprungbrett eines Tribunen in das Konsulat oder die Praetur zu turnen. Diese Männer sollten sich entscheiden: Jesus oder Pilatus.
Für die Veteranen des Krieges stellte er rund hunderttausend Höfe bereit. Er übergab sie ihnen nicht zum Weiterverkloppen, er bat auch nicht lange, er machte es zur Bedingung ihrer Versorgung. Da er die Landluft überhaupt für gesünder hielt als die Luft der Halbmillionenstadt, beförderte er auch das lichtscheue, in den Wirren zugewanderte Gesindel an die frische Luft, denn er war nicht der Meinung, jeder könne sich bei jedem einnisten.
Es gab wieder viele Circusspiele und Festlichkeiten. Und es wurde viel gebaut, privat und öffentlich. Rom machte städtebaulich einen großen Schritt nach vorn, neue Quartiere wuchsen hoch, Plätze wurden gepflastert, Staatsgebäude vergrößert, Tempel gestiftet. Immer noch sah Rom natürlich nicht so aus, wie später in der Kaiserzeit, und wir wollen uns bis dahin einen Rundgang aufsparen.
Aber man konnte wenigstens wieder rundgehen, auch nachts. Rom war immer schön gewesen und ist es heute noch, wenn der Mond im Tiber badet oder auf die Pilzköpfe der Pinien fällt. Man fürchtete sich nicht mehr. Man konnte bei offenen Türen schlafen.
Das bedeutet nicht die Welt, gewiß nicht, aber das sind so Sachen, die man ganz gerne hat.
Sulla war jetzt drei Jahre Diktator. Kein gesunder Mann mehr; die Strapazen wirkten nach. Er hatte vom Mithridates-Feldzug aus Asien eine Infektionskrankheit mitgebracht, die ihm zu schaffen machte. Er fand, es sei getan, was zu tun war.
Im Jahre 79 rief er das Volk von Rom zusammen und verkündete ihm, daß er die Diktatur nun niederlege. Er empfahl den Staat der Einsicht des Volkes und das Volk der Einsicht der Macht. Dann winkte er mit einer Handbewegung die Liktoren und die Leibwache weg, stieg von der Rednertribüne und ging allein durch die Menge fort.
Das Volk, Kopf an Kopf, öffnete ihm ehrfürchtig eine Schleuse. Keine Hand erhob sich gegen ihn, kein Dolch. Ungefährdet schritt er an Menschenmauern vorbei durch die Straßen zu seinem Haus. Dort ließ er die Wagen fertigmachen, lud seine Familie ein, bestieg sein Pferd und verließ Rom.
Er besaß in Puteoli (Pozzuoli) bei Neapel ein Gut, auf das er sich zurückzog. Er lebte dort für jede Freundes- und für jede Mörderhand erreichbar. Er lebte so, wie er war: sehr kultiviert, gern im Kreis geistreicher Menschen, auch sinnenfreudig und fröhlich.
Über die Kurzlebigkeit seines Werkes machte er sich keine Illusionen, denn er bekannte, daß dazu der Volkskörper schon zu krank sei. Er war selbstbewußt, aber bescheiden, gütig und zugleich hart, immer aber — wie auch seine Feinde überliefert haben — von achtunggebietender moralischer Autorität. Er lebte nur noch ein Jahr.
Zu seinem Staatsbegräbnis begann eine Völkerwanderung aus allen Teilen Italiens: seine einstige Armee trat noch einmal in Reih und Glied vor ihm an.
Sie fragen, ob Sulla mein Ideal sei?
So dürfen Sie nicht fragen. Es gibt kein »Wer«-Ideal, weil jeder »Wer« ge-timed sein muß; es gibt nur ein »Was«-Ideal.
Mein Ideal ist ein Sulla in einem Staat, der keinen Sulla nötig hat.