DAS NEUNTE KAPITEL
beginnt für einen honorigen Römer sehr ärgerlich: die ersten Dichter und Schriftsteller treten auf. Sie befinden sich natürlich sofort in der bekannten Lage eines unliebsamen Subjekts. Doch die Regierung hat beklagenswerterweise keine Zeit, sich mit ihnen zu befassen, denn gerade jetzt bricht eine tödliche Gefahr herein: der Spartakus-Aufstand, den ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehle.
Sullas Tagebücher, die er von frühester Zeit an führte, und seine Erinnerungen, die er in Puteoli begann, sind verlorengegangen. Aber seine Zeitgenossen haben sie gekannt, sodaß vieles von ihm sich bei späteren Historikern wiederfindet.
Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß wir seit den Punischen Kriegen mit authentischem Material recht gut versorgt sind. Damals, nach dem ersten Krieg, hatte Naevius (gest. 201) die Geschichte des Feldzuges geschrieben — Sie erinnern sich: sehr zum Mißvergnügen der Römer. Dann folgte Fabius Pictor mit der Darstellung des Zweiten Punischen Krieges, Zeitgenosse Hannibals. Ihn zu bemäkeln oder auf ihn als »Schreiberling« herabzusehen, ging schon nicht mehr, denn er war ein Fabier, also ältester Adel, Senator und Gesandter. (Nach der Schlacht bei Cannae hatten die Römer ihn zum Delphischen Orakel geschickt, um von der Pythia guten Rat zu holen, auch wenn er teuer war).
Kurzum, mit Fabius Pictor war die Geschichtsschreibung salonfähig geworden. Das aber war, bis zur Zeit Catos auch das Äußerste, was ein ernsthafter Mann tun durfte.
Davon profitierte ein Herr Ennius, eng mit Scipio Africanus befreundet, was ihn so kühn machte, nicht nur eine weit ausholende Geschichte im Stile Homers, die »Annales«, sondern sogar Tragödien zu wagen. Immer noch kümmerte sich keine Seele um Quellen, Zeugnisse und Dokumente aus Roms frühester Zeit. Eine alte Inschrift war für sie Null, Steine blieben für sie stumm, alte Bauten waren alte Bauten und nichts weiter, Erinnerungen im Volk längst überwuchert von Erfindungen und Phantastik. Rom lebte in der Gegenwart, im Militärischen, im Juristischen und im Handel. Es spürte keine Lücke. Bis Sulla waren die Römer ganz egozentrische, gegenwartsbezogene Menschen, deren Geschichtsbewußtsein über ein paar Sagen und Mythen nicht hinausging.
Mit Sulla wurde es schlagartig anders. Wie so oft in Epochen des Konservativismus flammte plötzlich eine wahre Leidenschaft für die Geschichte des Volkes auf. Denn so wenig schwer es ist, der Masse einzuimpfen, daß die Vergangenheit geringer als ein alter Hut sei, so wenig schwer ist es auch, die Jugend das Gegenteil zu lehren.
Ich sagte, es sei nicht schwer. Aber es ist eine teuflische Sache; sie setzt voraus, daß man Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Erklärt man »Vaterland« für komisch und Liebe für eine Variante von Harndrang, dann ist man der Sorge enthoben, als Amöbe entlarvt zu werden. Setzt man die Ideale wieder ein, so werden sie an einem selbst sogleich zu erbarmungslosen Maßstäben.
Sulla brauchte die Maßstäbe nicht zu scheuen. Das ist nicht mein Urteil allein, das haben alle seine Gegner bezeugt. Er ist der erste in der langen Geschichte Roms, der die Königszeit, diese ängstlich versteckte elektromagnetische Epoche ins Bewußtsein zurückbrachte. Er scheute nicht, er wünschte die Konfrontation! Er wünschte, die republikanische Gründerzeit zu erhellen, er wollte — im Bewußtsein, daß es vielleicht der letzte Moment war — die Geschichte Roms vor dem Versinken in Vergessenheit retten. Er wünschte sich Michelangelos, die die Gestalten der Urzeit in Marmor hauen sollten. Er suchte und förderte. Er erlebte das Ergebnis nicht mehr: Kein Michelangelo, lauter Thoraks.
Wie die Pilze schossen die Geschichtsschreiber hoch. Keiner von ihnen hatte die geringste Ahnung, die über das hinausging, was jedermann wußte, nämlich fast nichts. Aber sie waren von glühendem, nicht ganz sauberem Eifer beseelt, das Dunkel der Vergangenheit zu erhellen und die Lücken auszufüllen. Das machten sie auf die Weise, daß sie für alle Zeiträume, die dessen bedurften, Gestalten und Ereignisse erfanden. So saßen sie mit Griffel und Täfelchen in der Hand unter der Pergola ihres Häuschens oder am offenen Fenster ihrer Wohnung im dritten Stock und zwitscherten Hübsches, Spannendes, Liebliches vor sich hin: Nachtigallen für Rom. Man sollte wenigstens die Bekanntesten unter ihnen nennen, nicht in dem Sinne, wie man Ranke und Mommsen erwähnt, sondern wie Hauff und Andersen. Es waren die Herren Claudius Quadrigarius, Gaius Macer und Valerius Antias. Es sind die sogenannten »jüngeren Annalisten«. Ihre Kuckuckseier findet man noch siebzig Jahre später in den Büchern des Livius.
Wo es im Garten des Geistes so hoch herging, wo so viele dem Staate nützliche Pflanzen hochschossen, konnte es gar nicht anders sein, als daß auch das Unkraut sich hervorwagte: die Dichtung. Schon Plautus hatte, als Hannibal erledigt und Rom in Gönnerlaune war, Komödien geschrieben. Kenner der Geschichte sind von der Behauptung nicht abzubringen, daß die Römer sogar gelacht hätten.
Nach Plautus schaffte Terenz (Terentius Afer, ehemaliger Sklave, gest. 159) den Sprung auf die Bretter, die damals eher die Verbannung als die Welt bedeuteten. Das alles zur Zeit Catos, man möchte es nicht glauben.
Dann folgt ein Vakuum. In der Hölle des Bürgerkriegs dichtet man außer den Haustüren nichts.
Nun könnte man fragen: Und was war unter Sulla da? Nur ein paar Säuglinge, die noch in der Wiege lagen, und Knaben, die Murmeln spielten. Sulla regierte übrigens nur drei Jahre, wir wollen es nicht vergessen.
Aber dann kamen sie: Lukrez (Lucretius), Catull (Catullus), Sallust (Sallustius). Lukrez ist ein philosophierender Epikuräer. Er endete durch Selbstmord. Wie man Epikuräer sein kann, also ein Anbeter der Sinnenfreude und des Genießens, und zugleich Selbstmörder, das erklärt uns ein moderner Literaturhistoriker in einer Literaturgeschichte: »Er lebte unter Sulla, einer Vorgestalt Hitlers, und man kann ihm also seine Umdüsterung nicht verübeln.« Wie böse die heutige Welt doch ist, und wie verlogen! Lukrez, dem wir im übrigen gar nichts »verübeln«, hat von seinen vierundvierzig Lebensjahren Sulla ganze drei Jahre als Knabe erlebt. So sieht dann die Wahrheit aus.
Er verrät in vielen seiner Verse schon Schwermut; was wissen wir außerdem von seinem privaten Leben? So gut wie nichts.
Catull, neun Jahre jünger, ist schon um 54 dreiunddreißigjährig gestorben. »Er war eines reichen Mannes Sohn und konnte es sich deshalb gestatten, in Gefühlen zu schwelgen.« (Unser Literaturhistoriker.) Catull ist Roms erster reiner und bedeutender Dichter. Am Grabe des Bruders schrieb er:
»Ach, so früh, so früh der Bruder dem Bruder
geraubt! Nimm, lieber Bruder, mein Opfer,
von Tränen naß, und lebe wohl, leb wohl auf ewig.«
Und seine Geliebte betete er an:
»Laß uns leben, Geliebte, laß uns lieben!
Kümmre dich nicht um das Munkeln und Grämeln
und den Staub überlebter, vertrockneter Sitten.
Die Sonne wird ewig kommen und gehen und
wiederum kommen, doch wenn unser eigenes kleines
Flämmchen einst sinkt, dann schlafen wir
eine Nacht für immer.
Liebste, küsse mich hundert- und tausendmal, und
noch einmal tausend und tausend,
damit wir das Schicksal verwirren, daß es die
Summe nicht weiß und uns neidet.«
Das ist schön. Alkaios und Pindar sind die Väter, die ihn allerdings um Haupteslänge überragen.
Der dritte der Generation ist Sallust, geboren 86, gestorben 35.
»In einigem Abstand«, schreibt unser Literaturhistoriker, »muß hier Sallust genannt werden. Er fing als Politiker an und wurde, wie mancher andere, so reich durch diese Tätigkeit, daß er die berühmten Sallust’-schen Gärten anlegen konnte. Hier hat er dann in Beschaulichkeit seine Geschichtsstudien getrieben und seine Bücher verfaßt. Manches stimmt nicht, aber das ist ihm gleich.« Ja, aber uns ist es nicht gleich.
Sallust begann als Volkstribun, sprang dann in die Senatslaufbahn über, wurde aus dem Senat wegen persönlicher Dinge ausgestoßen, warf sich an den nächsten Machthaber heran, bis er die Stelle eines Statthalters in Numidien erhielt, wo er der größte Blutsauger und Erpresser wurde. Volksfreund und ehemaliger Tribun Sallust wurde natürlich nie zur Rechenschaft gezogen und verbrachte den Rest seines Lebens, den er sich gewiß länger vorgestellt hat, »in Beschaulichkeit«. Sein Hauptanliegen war, die berüchtigte Verschwörung des Catilina zu verewigen und für diesen Strauchritter eine Lanze zu brechen. Zu Herrn Catilina und seinesgleichen kommen wir jetzt.
*
Sulla hatte kaum die Augen geschlossen, da bröckelte Stück für Stück dessen ab, was er errichtet hatte. Es war eigentlich gar nicht die gedankenlose Masse, die das Gebäude zum Einsturz brachte, obwohl auch dies nicht verwunderlich gewesen wäre, denn sie schreit Hosiannah und Kreuzige in einem Atemzug. Ja, man kann nicht einmal den Einpeitschern, die sofort wieder in den Sattel kletterten, die Schuld geben. Die wahren Schuldigen waren die Optimaten selbst, Patrizier und Equités, zu morsch, um noch Rückgrat zu zeigen, zu feige, um noch die Brust hinzuhalten, zu bequem, um nicht den Weg der geringsten Mühe zu gehen. Jeder fand ein Mäntelchen für sein schwaches Kreuz, man wollte »Härten wiedergutmachen« — Sullas natürlich; Marius’ und Cinnas nicht, die hatte es nie gegeben.
Man wollte »Gefallen tun«, man wollte sich »Freunde schaffen« und Brücken für die Zukunft bauen, eine Zukunft, die schon wieder etwas rötelte. Man wollte vor allem nicht »immer der einzige Dumme« sein, das heißt, nicht mehr integer. Sulla hatte viele verärgert, er hatte das Mindestalter für die Ämter heraufgesetzt, um der Jugend, die noch nicht trocken hinter den Ohren war, ein paar Lehrjahre des Lebens mehr aufzubrummen. Er hatte den Ämterschacher unterbunden, die Vetternwirtschaft, die Bestechung, lauter Dinge, die das Leben so ergibt und die doch wirklich nicht schlimm sind. So hören wir denn, daß man mit »Politik« wieder reich werden konnte; daß die Proskribierten der Verurteilungslisten, die Sulla bekanntlich alle getötet hatte, wieder auferstanden und auf Betreiben einflußreicher Verwandter nach Rom zurückkehren durften; daß die Volkstribunen wieder ihre Massen aufwiegelten und »Beschlüsse« durchsetzten; daß ein Konsul versuchte, sich unter den Augen des Senats, dieser Bude voller Manager und Feiglinge, zu einem neuen Robespierre zu machen, was ihm im letzten Moment mißlang; daß ein Subjekt wie Catilina, den gutgläubige Sozialisten heute noch für einen der Ihren halten, einen Geheimbund organisierte mit dem Ziel, die Konsuln zu ermorden und sich an die Spitze zu bringen. Daß die Lebensmittelversorgung Roms in größte Gefahr geriet, weil sich riesige Seeräubergemeinden mit ganzen Flotten und Landfestungen gründeten und die Meere zu beherrschen begannen; daß Mithridates in Asia seine Schlachtfeste wieder aufnahm, und daß ein ehemaliger marianischer Offizier in Spanien die Iberer aufwiegelte, sich zu ihrem König ausrufen ließ, sich als römische »Exilregierung« betrachtete, sich mit dem Staatsfeind Mithridates verbündete und ein Heer gegen Rom aufstellte.
Ein langes Kapitel von Unruhen, Mord und Totschlag, Revolten und Ängsten, das einer ganzen Generation den Frieden ihres Lebens stahl.
*
In den Beginn dieser Zeit, in das Jahr 73, fällt ein Ereignis, das um vieles gefährlicher war als der ganze andere aufgequirlte Morast, ein Ereignis von der Wucht eines Vulkanausbruchs. Seltsamerweise spricht man nicht gern davon, denn die Wurzeln sind peinlich, und die Gedanken, die einem dabei kommen können, nicht minder. Grund genug, daß wir uns sofort darüber hermachen. Nur bitte ich Sie, über meine Gedanken nicht zu erschrecken.
Ich spreche vom Spartakus-Aufstand!
Nehmen wir an, Sie hätten den Namen Spartakus nie gehört, dann will ich Ihnen beim Nachschlagen behilflich sein. Ein zehnbändiges Geschichtswerk widmet ihm vier Zeilen. Es spricht von einem »örtlichen Sklavenaufstand, einer Meuterei einer Gladiatorenbande, die den Umfang eines bedrohlichen Krieges annahm, der zwei Jahre lang die Regierungstruppen in Atem hielt. Erst im Jahre 71 v. Chr. glückte es dem Marcus Licinius Crassus, durch umsichtige Kriegsführung Italien von dieser Geißel zu befreien.«
In einer französischen Historie Roms, von 1960, stehen zwei Zeilen: »Im Süden Italiens sammelten sich revoltierende Sklaven um den Thraker Spartakus. Zehn Legionen waren nötig, um sie zu vernichten.« Meyers Konversationslexikon, der alte, unbestechliche Meyer, gibt ihm im Drange von zweihunderttausend Stichwörtern noch zwölf Zeilen: »Spartakus, Führer im Sklaven- oder Gladiatorenkrieg 73—71 v. Chr., von Geburt ein freier Thrazier, kam als Kriegsgefangener in die Gladiatorenschule zu Capua, entfloh mit siebzig Genossen, besetzte den Vesuv, schlug den Prätor Varinius und gewann Zulauf bis auf siebzigtausend Mann. Nunmehr bemächtigte er sich Süditaliens, besiegte viermal die Römer, bis ihn, schon hundertzwanzigtausend Mann stark, der Prätor M. Licinius Crassus 71 nach der Südwestspitze Italiens drängte. Er fiel bei Potelia mit sechzigtausend Sklaven. Die Gefangenen wurden gekreuzigt, die Überlebenden, die sich durchgeschlagen hatten, von Pompeius am Fuße der Alpen vernichtet.«
Hiermit, meine verehrten Leser, wissen Sie alles, was Sie wissen dürfen, ja sogar — durch Meyer — schon etwas zu viel.
Auf den ersten Blick scheint das Thema so recht nach dem Herzen von Volksfreunden zu sein: Die Ärmsten der Armen stehen auf. Erhebung, Befreiung, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ach, möchte man ausrufen, daß das ein Gracchus, ein Marius nicht mehr erlebte!
Bei genauerem Hinsehen aber erweist es sich als ein Thema von fürchterlicher Strenge, als eine Gewissenserforschung, die den meisten über die Kräfte geht. Dieser Spartakus ist das »Heiss Eysen« der mittelalterlichen Gottesgerichte, von dem Hans Sachs sagt, nur der ganz Wahrhaftige könne es »neun Schritte tragen, ohne daß die Hand verbrenne«. Passen Sie jetzt gut auf, ob ich es neun Schritte tragen kann.
Die Gladiatoren-»Spiele« gehörten neben den Wagenrennen zu den begehrtesten Volksbelustigungen der Römer. Sie waren nicht ihre Erfindung, aber sie hätten es sein können, jedenfalls schätzten die Griechen ihre Nachbarn so ein und verachteten sie dafür tief. Ursprünglich scheinen es bei den Etruskern Schwertkämpfe bei Leichenfeiern von vornehmen Verstorbenen gewesen zu sein, und auch da wahrscheinlich schon eine Umformung früherer Menschenopfer, die einmal in grauer Vorzeit vorgekommen sein mochten. Von den Etruskern übernahmen es bereitwilligst die Römer, nicht mehr als Riten natürlich, sondern als Belustigung. Der Circus Maximus (das Colosseum gab es noch nicht) faßte anfangs, als die Tribünen noch aus Holz waren, vielleicht zehn- oder zwanzig-, später hundertfünfzigtausend Zuschauer. In der ersten Zeit der Republik waren Gladiatorenschaukämpfe so selten, wie die Festtage überhaupt selten waren. Dann setzten sie sich in der Gunst der Masse immer mehr durch (die Nobilität hat kaum teilgenommen), und um 100 v. Chr. schon bedeuteten sie der Plebs das ganze Glück, Inbegriff dessen, was das Leben lebenswert machte; »das bißchen Freude«, das »unsereins« hatte.
Nach Sulla, also zur Zeit des Spartakus, waren die Gladiatoren-Veranstaltungen längst nicht mehr an Feste gebunden, sondern Unternehmen, von denen eines das andere jagte, wie bei uns die Renntage. Und wie es heute chic ist, sich einen Stall zu halten, so gab es damals zahlreiche Nouveaux riches, die sich Gladiatorenkasernen hielten. Dort lebten die Kämpfer hinter Gittern, trainierten tagaus tagein, wurden verladen, wenn sie irgendwo aufzutreten hatten, kehrten zurück oder auch nicht zurück und wurden wieder aufgefrischt. Die Besitzer solcher »Ställe« waren fast nie selbst Veranstalter von Circus-Spielen, sondern vermieteten die Gladiatoren an die Unternehmer. Von Quittungen aus einer Provinzstadt wissen wir, daß man zwanzig Denare pro Mann verlangte, sofern er unversehrt zurückkam, das Doppelte, wenn er verwundet wurde, und tausend Denare für jeden Toten. Um vieles mehr zahlte und erwartete man natürlich in Rom. Die Rechnungen waren nie niedrig, denn je größer die Verluste, desto schöner die Veranstaltung. Zur Zeit des Spartakus traten zweihundert bis dreihundert Paare auf; bei den acht von Kaiser Augustus gegebenen Staatsspielen fochten zehntausend Mann, ebenso viele bei den Volksfesten, die Trajan einhundertdreiundzwanzig Tage lang veranstaltete. Dazu ertönte dezente Musik auf der Ktesibios-Orgel.
Wenn zu Beginn der Veranstaltung die Schar der Gladiatoren, den federgeschmückten Visierhelm auf dem Kopf, das blanke Schwert in der Faust, zum Parademarsch einzogen, war das ein Anblick, der das Volk von den Bänken riß: Die Morituri, die »Todgeweihten« kamen — ein Schauer ging durch die Menge, und sie dankte es ihnen mit lautem, freudigem Jubel.
Der schönste Kampf schien den Römern der samnische. Der Gladiator trug den Raupenhelm, Schild und Stoßschwert, Eisenschuppen am rechten Arm und Lederschienen an den Beinen. Helm oder Schild zu zerspalten oder den Arm abzuschlagen, waren Augenblicke höchster Spannung, aber der klassische Sieg war immer noch der Stoß ins Herz. Auch der thrakische Kampf mit dem Sichelschwert war schön. Schön und gruselig auch der Retiarius, der Netzkämpfer, der das Fangnetz über den Kopf des Gegners warf und ihn dann mit dem Dreizack zu töten versuchte. Es gab auch Kämpfer, die von Kopf bis Fuß gepanzert waren. Da gab es nur eine aussichtsreiche Chance: sie durch den Sehschlitz in die Augen zu stechen. Etwas für Feinschmecker.
In all diesen Sparten kannte das Volk sich fachmännisch aus; es stellte Prognosen an, schloß Wetten ab, erhitzte sich auf der Straße vorher und nachher, feierte, zankte und verfeindete sich, und wenn ein Liebling fiel, war es richtig traurig.
Was man nicht vermuten sollte, war aber doch der Fall: Es gab auch Feiglinge unter den Gladiatoren, es gab Verwundete, die die Hand hoben als Bitte um Gnade. Da kam es dann darauf an, wie man die Sache ansah: Handelte es sich um einen Neuling, so hatte es wirklich keinen Sinn, ihn zu begnadigen, denn die Prozedur würde sich voraussichtlich dauernd wiederholen. Waren es aber Männer, die bereits schöne Kämpfe geliefert hatten, dann konnte man schon ein Auge zudrücken und die Tücher schwenken zum Zeichen, daß das Volk ihm das Leben schenkte.
Das Problem, woher die Gladiatoren kamen und wie sie sich rekrutierten, hatte man sehr einfach angepackt und gelöst.
Die Römer, die ja zu jeder Zeit irgendwo, sei es auch an fernen Grenzen und in bescheidenem Ausmaße, Krieg führten, machten jeden Kriegsgefangenen zunächst einmal prinzipiell zum Sklaven. Gebildete Sklaven, Menschen, die vorher in ihrer Heimat Aristokraten oder Ärzte oder Philosophen gewesen waren, hatten die gute Chance, Hauslehrer oder Erzieher oder Ähnliches bei ihrem Besitzer zu werden. Das Gros fand Verwendung auf dem Lande, in Werkstätten, auf dem Bau, als Ruderer (schlimm), in den Minen (schlimmer), in den Werften oder im Haushalt. Die körperlich besonders imponierenden, die Giganten, die Athletischen, wurden zum Tode verurteilt. Das war natürlich nur eine kleine Finte. Man teilte ihnen mit, daß sie begnadigt würden, wenn sie einwilligten, Gladiator zu werden. Man half da also ein bißchen nach, zugegeben. Alle entschieden sich naturgemäß für die Laufbahn eines Schwertkämpfers. Aber auch Freiwilligen stand dieser Beruf offen, durchaus. Er bot Ruhm und Belohnung, und dem Sklaven schließlich sogar die Befreiung — nicht unbedingt von der Sklaverei, aber zumindest vom Gladiatorenberuf —, wenn ein Kämpfer drei Jahre lang unbesiegt geblieben war. Das soll vorgekommen sein.
Spartakus war in der Kaserne von Capua zu der Ansicht gelangt, daß drei Jahre gleich tausend Tage und eine lange Zeit seien. Ihm kam der Gedanke, man könne die Frage »Sterben oder Überleben« auch vorverlegen, und zwar gleich auf morgen. Er hatte viele Freunde, wirkliche Freunde unter seinen Kampfgenossen, Freunde, die bei jeder Vermietung davor zitterten, gegeneinander zu kommen. Sie alle teilten seine Meinung. Spartakus war von Geburt ein freier Thraker, er stammte also aus der Gegend des heutigen Bulgariens, ein kluger Mann, ein Mann mit Weitblick, rascher Auffassungsgabe, Verantwortungsbewußtsein, ein Mann von deutlicher Noblesse trotz seines ungeschlachten Wesens und seiner titanischen Figur, die über sein leidempfindliches Herz hinwegtäuschte. Er wollte nicht Sklave sein, er wollte, daß niemand Sklave sei. Und er wollte nicht sterben. Das war eigentlich alles, was ihn bewog. Nichts Kompliziertes also, nichts, was die hochempfindliche, die so fein differenzierte, schöne Volksseele Roms nicht hätte begreifen können.
Wie oft hatte Spartakus nicht die Plebs beobachten können, wie sie, keine Kosten und keine Zeit scheuend, von weit hergereist kam, nur um den Gladiatoren am Vorabend ihres Kampfes bei der »libera cena« zuzusehen, einer — nun sagen wir — Henkersmahlzeit, die in der Öffentlichkeit stattfand. Die Gladiatoren haßten dieses Fressen, denn da galt es, mit gutem Appetit tüchtig zuzugreifen, um sich nicht dem Spott der Menge auszusetzen. Und er hatte die Plebs gesehen, wie sie in den Circus strömte, heiter und wohlgenährt, oft mit Pferd und Wagen, das große Wort führend, Gebäck und Früchte knabbernd, ein Näpfchen hier an einer Bude trinkend, ein Würstchen dort an einem Stand essend, mit den Sesterzen und Denaren in der Hand klimpernd. Nein, nichts zu erwarten von diesen »Armen«. Und er dachte an Thrakien, wo man Bauer und Jäger war, abends müde aber glücklich in das Dorf heimkehrte, mit Freunden um das Feuer saß, ein Stückchen Ziegenfleisch teilte, eine Schale voll geröstetem Korn in Milch aß und mit den Hunden spielte oder die Käuzchen nachäffte und neckte. Jetzt war er ein Stück Vieh, sie hatten ihm den »Eid« abgenommen, seinem Herrn blind zu gehorchen, auch auf Befehl sich »schlagen, brennen, verwunden und töten zu lassen«.
Eines Tages im Jahre 73, nach dem Training, ehe die Waffen wieder eingesammelt und verschlossen wurden, brach Spartakus mit siebzig seiner Kameraden aus, Thraker, Germanen und keltische Gallier. Sie bahnten sich den Weg mit Waffengewalt und versteckten sich bei Einbruch der Dunkelheit an den Hängen des Vesuvs. Wie vorauszusehen, war niemand da, der sie hätte verfolgen können. Siebzig Gladiatoren, die Elite der Fechter — dafür, so schätzte der Kasernenkommandant, wären ein- bis zweihundert Soldaten nötig gewesen. Wir werden später sehen, daß der Herr sich irrte: in der letzten Schlacht besiegte, wie die alten Quellen berichten, Spartakus allein einhundert. Gelernt ist gelernt.
Die Kunde vom Ausbruch der Gladiatoren verbreitete sich in Windeseile. Rom war zunächst nicht erschrocken, nur empört. Feine Zustände, fluchte das Volk. Und wie diese Siebzig hausten! Erpreßten Nahrung bei den Bauern, räuberten in den Vorräten, fraßen die Obstgärten kahl und vergriffen sich sogar an den jungen Kirschplantagen, dem Augapfel des Exkonsuls Lucullus, der mit so vieler Mühe die ersten Bäumchen aus Asia importiert hatte.
Die Siebzig am Vesuv bekamen schon in den nächsten Tagen Verstärkung. Immer neue Grüppchen von Sklaven kletterten des Nachts den Berg hinauf, mit Waffen, Kleidung, Lebensmitteln, mit allem, was sie aus den Häusern ihrer Herren mitgehen lassen konnten. Die Schar der Morituri — jetzt waren sie endgültig mori-turi — wuchs. Die erste Polizeitruppe, die man gegen sie ausschickte, wurde mühelos geschlagen, solche Versuche waren ja Kinderspiele gegen die Kämpfe in der Arena. Sorge machten nur die Verpflegung, die Bewaffnung und die Frage, wie es weitergehen sollte. Sie zählten jetzt schon fast ein halbes Tausend.
Man wählte einen Führer: Spartakus. Anscheinend mit großer Einmütigkeit, was nicht selbstverständlich ist, denn noch zwei andere hatten den Ausbruch mitorganisiert und großen Einfluß besessen, vielleicht als siegreiche Kämpfer, vielleicht auch durch ihre Persönlichkeit: die beiden Kelten Crixus und Oenomaus. Daß wir ihre Namen kennen, zeigt schon ihre Bedeutung. Den Namen Crixus müssen Sie sich merken. Dieser Mann verkörperte das Verhängnis.
Die überragende Figur ist von Anfang an Spartakus gewesen. Theodor Mommsen hat die Vermutung ausgesprochen, daß der Thraker von vornehmster Herkunft war; es hat in Thrakien tatsächlich eine mächtige Familie gegeben, deren Name sehr ähnlich klingt. Aber von Einfluß ist das bestimmt nicht gewesen. Der Thraker war, als es militärisch ernst wurde, schon deshalb unersetzlich, weil er als gepreßter Kriegsgefangener lange im römischen Heer gekämpft und Erfahrung gesammelt hatte. Er kannte ihre Kriegsmaschinerie genau.
Seine Feuerprobe als Führer folgte auf dem Fuß.
Der Aufstand war von Capua aus nicht mehr zu bewältigen — Rom schaltete sich ein; ein äußerst dummer Zeitpunkt für die Römer, denn ihre Kerntruppen kämpften in Kleinasien, man war also gezwungen, Miliz zu schicken. Man entschloß sich, die Zahl nicht zu niedrig zu greifen: dreitausend Mann — eine halbe Legion. Gegen vierhundert, das schien eine glatte Rechnung. Den Oberbefehl bekam ein Prätor, Name unwichtig. Der Prätor zog in Eilmärschen los. Den ersten Schreck bekam er, als er von Capua südwärts zog und sich dem Golf näherte, wo die prächtigen, gepflegten Landsitze der reichen Römer und ihre winterlichen »Luftkurorte« Pompeji und Herkulaneum lagen: Die Landsitze verwüstet, die Sklaven verschwunden, alles Eßbare gestohlen. Den zweiten Schreck bekam er, als er am Fuße des Vesuvs angekommen war und feststellen mußte, daß die Empörer in einer steilen Schlucht saßen, deren Zugang so eng war, daß man nur einzeln durchkonnte. Erkennen konnte man aus der Höhe nichts, die Schlucht war bewaldet und mit Sträuchern und Reben bewachsen. Sie ist heute nicht mehr zu identifizieren, denn der Ausbruch des Vesuvs, hundertfünfzig Jahre später, hat die ganze Struktur des Berges verändert.
Der Prätor beschloß das einzig Richtige: den Zugang zu besetzen. Er schlug davor ein Lager auf und wartete.
Nicht lange. Mit selbstverfertigten Leitern und Seilen aus den zähen Schlingästen der Reben erkletterte Spartakus die Steilwände, gelangte in der Nacht in den Rücken der unbesorgten Römer und überrumpelte sie im Morgengrauen so überraschend, daß es auf seiner Seite nicht einen Toten gab.
Eine halbe Legion vernichtet, lautlos, in einer Stunde! Rom war erschrocken, das Volk wutschnaubend gegen den Senat, der »alles falsch« gemacht und dreitausend Familien in Trauer gestürzt hatte. Jetzt galt es zu handeln, und zwar rasch, denn es wurde Herbst.
Man hob neue Miliz aus, um die Garnisonen zunächst noch intakt zu lassen: zwei komplette Legionen, zwölftausend Mann. Eine Armee. Oberbefehlshaber wurde der Stadtkommandant von Rom, Varinius. (Fataler Name: Alles, was mit Var anfing, hat kein Glück gehabt: Varro, Varus, Varius, Varinius.)
Spartakus hatte inzwischen den Vesuv verlassen, er war jetzt etwa fünftausend Mann stark — etwas eng in einer Schlucht.
Varinius sichtete ihn eines Mittags kurz in einer Ebene der Campania. Der Haufe verschwand südwärts und sog die Römer hinter sich her. Im zerklüfteten Bergland der Lucania riß das Heer des Varinius auseinander, und in drei kurzen Schlägen vernichtete Spartakus die zwölftausend Mann. Unter den wenigen, die sich durch Flucht retten konnten, befand sich — wie könnte es anders sein — der unersetzliche General. Eine schicksalsschwere, legendäre Schlacht; jedenfalls nannte es Varinius eine »Schlacht«. Spartakus nicht. Ihm war klar, daß es, wie damals am Vesuv, eine abenteuerliche Improvisation gewesen war. Dieser Abschnitt mußte nun beendet sein, aus der Bande mußte eine Armee werden. Die Zeit, die man ihm lassen würde, war der kurze Winter. Er brauchte ein festes Standquartier und Hinterland. Ehe Kälte, Regen und Schnee kamen, nahm er daher noch eine Reihe von mittleren Städten im Sturm und ließ sich in ihnen nieder.
Hier brach zum erstenmal der verhängnisvolle Zwiespalt zwischen ihm und Crixus aus. Der Kelte führte ihm vor Augen, wie er sich die Revolution dachte, und was die Welt von ihm zu erwarten hatte. Die Kelten mordeten, brannten, vergewaltigten, raubten, plünderten, rafften Gold und Silber in Körben zusammen und schleppten Zentnerlasten mit sich herum. Im Anblick der Macht und nach dem ersten Tropfen Blut, den Crixus geleckt hatte, beherrschte ihn nur noch ein einziger Trieb: der ewige verächtliche, widerliche Traum des Pöbels — oh nein, nicht gleich zu sein — sondern die Welt umzukehren, die Herren zu Dienern und die Diener zu Herren zu machen. Die Umstülpung erst — die ist süß. Ein Instinkt, den nicht einmal ein Tier besitzt.
Mit Crixus war zweifellos nicht zu reden. Für ihn war Spartakus nur ein halber Genosse, ein Mann, der kein Klassenbewußtsein besaß. Die Frage, wie Crixus sich das Morgen und Übermorgen vorstellte, ist müßig; der Pöbel lebt im Augenblick.
Aus dem, was Crixus tat, und dem, wie Spartakus reagierte, können wir auch ohne antike Quellen heute noch deutlich ihre Gedanken erkennen. Spartakus’ Ziel, als sie noch zu siebzig waren, wird die Heimkehr, die Flucht nach Thrakien gewesen sein. Seit seine Revolte eine Revolution, eine Bewegung geworden war und ihm eine Riesenlast auf die Schultern gelegt hatte, sah er die Welt mit anderen Augen. Er konnte nicht mehr fliehen, er war eine Verheißung geworden. Das große Schwungrad des Schicksals war in Gang gekommen, er mußte es mit Siegen, mit beständigen Siegen füttern, bis es raste und bis Rom ihm nicht mehr in die Speichen fallen konnte. Seine Armee mußte über Italien rollen, hin und zurück, kreuz und quer. Alles, was Ketten trug, mußte aufstehen, alle Sklaven ihre Herren verlassen und des Weges gehen. Es mußten unendliche Scharen sein, er wußte nicht, wieviele. Aber wir heute wissen es: eine Million. Dem Koloß Rom mußten diese Million Hände abgeschlagen werden, und der Tyrann der Welt würde wieder zurückfallen zu dem, was er vor den Samnitenkriegen gewesen war. Siege waren nötig, Siege als Fanal für die Sklaven, aufzustehen, und zwar gefahrlos aufzustehen. Denn in der Sklaverei verkümmert leicht der Mut.
Deshalb war das Schauspiel, das Crixus bot, so erschreckend. Spartakus brauchte Verbündete, nicht Tote. Er brauchte Felder und Ernten, nicht Wüsten. Er brauchte Städte und Volksstämme, die sich sicher fühlen konnten, sobald sie von Rom abfielen. Er wollte nicht, daß »Spartakus« so viel wie »Tod« bedeutete, nicht einmal für seine ehemaligen Peiniger. Er brauchte ihre Sorglosigkeit so lange wie möglich.
Im Vergleich zu Spartakus war Crixus ein Nichts für die Menschheit, weniger als ein aufsässiger Diener, der sich damit begnügt, seinem Herrn eines Nachts die Kehle durchzuschneiden. Mit seinem wertlosen Herzen und engen Gehirn hätte er auch als Sohn eines Sklavenhändlers und Millionärs so, wie er war, bleiben können. Im Pöbel und in Gerhart Hauptmanns Herrn Dreißiger trifft sich, von der einen und von der anderen Seite kommend, der Circulus menschlicher Gestalten im Nullpunkt.
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Spartakus verbot den Besitz von Gold und Silber, er untersagte jeden Komfort im Lager, jagte die Truppe bei Regen und Schnee hinaus und exerzierte von morgens bis abends. Er richtete Schmieden ein, in denen Speerspitzen, Pfeile, Schwerter und Schilde hausgemacht hergestellt wurden, und ließ eine Schar junger Sklaven reiten lernen. Er zog Offiziere heran und zeigte ihnen auf der Schreibtafel die Taktiken der Römer. Er pflanzte in ihre verwundeten Herzen das Gefühl, den Weg der Illegalität hinter sich gelassen zu haben, ein Heer geworden zu sein und im Kriege zu stehen. Eine Fremdenlegion war in Italien eingebrochen, der Feind stand im Land wie einst Pyrrhos oder Hannibal. Spartakus verkündete das Jus belli, das Kriegsrecht.
Crixus betrachtete das alles mit Widerwillen. Auch der Neid wird eine Rolle gespielt haben. Als Spartakus im März 72 den Abbruch des Lagers befahl, sonderte sich Crixus mit seinen Kelten ab und machte sich selbständig. Es werden etwa Zehntausend gewesen sein, ein Drittel der Gesamtheit. Crixus hatte nicht einmal die Absicht, mit dem Thraker in Tuchfühlung zu bleiben, es war ein offener Bruch. Spartakus ging in die Berge, Crixus in die Ebene. Spartakus blieb diesseits des Apennin, er ging jenseits. Er wollte die Küste plündern. Der Verdacht, er habe über die Adria nach Illyrien verschwinden wollen, ist bei seinem Charakter und seiner Hirnlosigkeit sicher unbegründet.
In Rom herrschte Alarmstimmung. Man hatte die Wintermonate dazu genutzt, aus dem Fundus der Garnisonen und der Städte ein weiteres Heer zusammenzubringen. Der unerhörte Schritt, beide Konsuln als Oberbefehlshaber an die Front zu schicken, zeigt, wie ernst man die Lage sah. Sechs Legionen, vierzigtausend Schwerbewaffnete und Reiter stampften, daß die Erde dröhnte, heran. Man wußte, wo Spartakus stand. Daß Crixus sich von ihm getrennt hatte, war eine freudige Überraschung.
Bitte, verlieren Sie, meine verehrten Leser, jetzt nicht die Geduld, wenn ich Ihnen von der Apenninschlacht etwas sorgfältiger berichte. Wenigstens einmal müssen Sie genug zu sehen bekommen, um die Feldherrnbegabung des ehemaligen Sklaven Spartakus zu ahnen. Die Konsuln zogen mit der Hauptmacht ins Gebirge, um den Thraker dort festzunageln, während eine Abteilung unter einem Prätor sich inzwischen die Kelten vornahm. Der Prätor fand Crixus am Fuße des Monte Garganus, dicht am Meer, griff ihn sofort an und besiegte ihn. Die Hälfte der Sklaven wurde erschlagen, auch Crixus lag unter dem Berg von Toten.
Die Überlebenden retteten sich ins Gebirge und suchten Spartakus. Sie fanden ihn leider nicht viel früher, als auch der Prätor schon im Rücken auftauchte.
Die Zange war zugeschnappt.
Spartakus nahm die Hiobsbotschaft ruhig auf. Er tat zuerst das Wichtigste, was zu tun war: sich genau über den Stand der römischen Armeen, ihre Stärke, ihre Bewegungen zu informieren. Das sagt sich leicht, zu verwirklichen ist es sehr schwer. Wer je eine Kesselschlacht mitgemacht hat, weiß, daß das Schlimmste von allem das Abgeschnittensein von jeder Nachricht, das totale Im-Dunkeln-Tappen über den Feind ist. Eben dies war die erste große Leistung Spartakus’ vor der Schlacht. Als nächstes erzwang er durch einen Scheinangriff den Zusammenschluß der Prätor-Legionen mit der Ersten Konsulararmee.
Sobald er dadurch den Rücken frei hatte, stürzte er sich mit aller Wucht und Schnelligkeit auf die Zweite Konsulararmee und schlug sie innerhalb von Stunden. Dann machte er kehrt, riß die zwanzigtausend Mann in die Flanke der im Scheingefecht verhedderten Ersten Armee und vernichtete auch sie.
Zwei Schlachten, ehe die Sonne gesunken war!
Die Beute an Kriegsmaterial war ungeheuer. Auch die Legionsadler fielen in seine Hand. Und hätte er Reiterei besessen, so wären nicht einmal die beiden Konsuln entkommen. Wie lange lag die Zeit zurück, als Konsuln noch auf dem Schlachtfeld fielen! Da galoppierten sie hin! Ohne Adler, ohne Schild, ohne Schwert, nur mit der Kriegskasse bewaffnet. Es war die größte römische Katastrophe seit Cannae und Arausio.
Dreihundert römische Gefangene ließ Spartakus hinrichten. Daß sie sich gegenseitig als »Gladiatoren« töten mußten, ist sicher ein Greuelmärchen der Römer. Gewiß war Spartakus ein harter Mann, der bei seiner Revolution das Schild »Bitte nicht den Rasen betreten« nicht achtete. Aber er war nicht grausam. Noch nach seinem Ende fanden sich in seinem Lager dreitausend römische Gefangene unverletzt.
Die Völker des Mittelmeeres hielten den Atem an. Der Name Spartakus schoß wie ein Komet in den Himmel. Der Sklave schickte sich an, die Nemesis zu werden. Der Koloß Rom, der verhaßte Tyrann der Welt, wankte! Der Weg zum Tiber war frei! Spartakus beschritt ihn nicht. Er ließ Rom, das bibbernde Rom liegen und ging nordwärts. Alles deutete darauf hin, daß er jetzt Italien verlassen wollte. In Gedanken sah er in seinem Gefolge eine Million marschierender Sklaven. In diesen Tagen würden sie aufbrechen! Er hatte ihnen das Signal gegeben. Rom war ohnmächtig.
In der Po-Ebene, bei Mutina (Modena) stellten sich ihm noch einmal Römer entgegen, die Grenzgarnison, eine Legion verängstigter Rekruten. Er schlug sie.
*
Hier, in seinem Feldlager bei Modena, in einer nächtlichen Stunde, in der Spartakus sein Leben noch einmal an sich vorüberziehen ließ, stand das Abendland am Scheideweg. Der thrakische Sklave, der in diesem Augenblick unser Los in der Hand hielt, faßte einen Entschluß, der zum Schicksal Europas wurde, zum Schicksal für ihn, für Rom und nach zweitausend Jahren noch für uns Nachkommen; einen unbegreiflichen Entschluß: umzukehren.
Bis auf den heutigen Tag rätseln die Historiker daran herum, was oder wer ihn zu diesem verhängnisvollen Schritt angesichts des Tores zur Freiheit bewogen hat. Eine Nacht, eine Stunde, eine Sekunde, die alles entschied; die einen Strich durch alles Errungene machte, durch alle Siege, alle Hoffnungen, alle Träume.
Ältere Historiker vermuten, daß ihn die vielen einheimischen Hirten und Landarbeiter, die sich zu ihm geschlagen hatten, nicht ziehen lassen wollten.
Aber warum gingen die Gallier, Germanen, Thraker nicht? Der sowjetische Historiker Uttschenko glaubt, daß die Schwierigkeit der Alpenüberquerung schreckte. Aber der Weg nach Thrakien führt über Triest und der nach Gallien über Nizza.
Francis Ridley, der Engländer, sieht in der Entscheidung kein Geheimnis; er ist überzeugt, daß Spartakus in Italien bleiben und einen »sozialistischen Sonnenstaat, eine Art Heliopolis wie Moskau« gründen wollte. Ich glaube, daß sein Beweggrund von viel größerem sittlichen Ernst war als dieser utopische Unfug. Mehrere Quellen sprechen davon, daß Spartakus an einen gigantischen Exodus aller Sklaven gedacht hat. Nun sah er, daß die Million nicht aufgestanden und nicht gefolgt war. Und er schloß daraus, daß er sich geirrt hatte: er war noch nicht der Sieger. In den Hunderten von kleinen Städten und den Zehntausenden von Landgütern lag also die Hand Roms fest wie vorher auf den Sklaven. Ja, so mußte es sein.
Er vergaß, daß es Hunderttausende gab, denen es gut ging, und die ihm nicht folgen wollten. Er war in dem Irrtum befangen, sie hätten sein Signal gesehen, ohne sich rühren zu können. Wenn er Italien verließ, nahm er ihre letzte Hoffnung mit. Niemals mehr würde ein neuer Spartakus aufstehen.
So beschloß er, Italien noch einmal kreuz und quer zu durchziehen. Weiter zu siegen, zu werben, Hoffnungen zu wecken. Tatsächlich wuchs seine Armee von Tag zu Tag. Bald waren es an die Hunderttausend. Aber wo blieben die anderen? Als er unter den Mauern Roms vorbeimarschierte, gab es keinen Sklaven, der ihm von innen die Tore öffnete, nicht einen der drei- bis vierhunderttausend, die drinnen lebten. Das war ein erschreckendes Menetekel.
Er sah es nicht.
Wir können heute nicht mehr entscheiden, ob es ein Fehler war, die Stadt nicht anzugreifen. Spartakus besaß kein Belagerungsgerät, das ist richtig. Aber Rom hatte damals schon fast eine Million Einwohner, Hunger und Durst hätte es bald zu Fall gebracht. Der zweite tragische Irrtum?
Kaum war die Sklavenarmee vorbeigezogen, als die Römer wieder fieberhaft zu rüsten begannen. Als Spartakus in Thurii, seinem alten Stützpunkt am Golf von Tarent, ankam, holte ihn schon die Nachricht ein, acht römische Legionen seien im Anmarsch. Nicht zu fassen, wie dieser Militärstaat funktionierte.
Eine Vorhut, die gegen den Befehl des Kommandierenden Spartakus angriff, besiegte er. Wenige konnten sich retten. Der Oberbefehlshaber ließ den besiegten römischen Leutnant und jeden zehnten der Geflohenen hinrichten. Seit Menschengedenken war ein solches Exempel nicht statuiert worden!
Dieses bemerkenswerte Scheusal von General war der zum Prätor ernannte und von dem verängstigten Senat mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattete Crassus. Er war zu dieser Ehre (um die er sich gerissen hatte) gekommen, weil kein anderer sie haben wollte. Man fand für das kommende Jahr überhaupt nur noch mit Mühe zwei Männer, die bereit waren, Konsul zu werden. So dicht sah man in Rom das Schwert des Spartakus über sich.
Crassus war zu diesem Zeitpunkt zweiundvierzig Jahre alt. Er war Plebejer aus der Gens Licinius und dem Zweig, der den Beinamen »der Dicke« führte. Schon Vater Crassus hatte Geld, Sohn Crassus stellte alles in den Schatten; er war durch Sklavenhandel und Spekulationen der reichste Mann Roms geworden. »Reich, was das ist?« hat er selbst einmal gesagt. »Reich ist, wer ein ganzes Heer auf eigene Kosten aufstellen kann, ohne es zu spüren.« Auch dieses Heer hier ging zur Hälfte auf seine Rechnung. Mit der Gefühllosigkeit eines Börsianers betrachtete er es als seine Aktie.
Der erste ernste Zusammenstoß zwischen den Legionen und Spartakus endete unentschieden. Auf beiden Seiten waren die Verluste hoch, es sollen sechstausend Sklaven gefallen sein. Spartakus zog seine Armee vorsichtig zurück und ging weiter südwärts über die Silaberge nach Rhegium (Reggio Calabria). Was er dort erhoffte, wissen wir aus den Quellen; er nahm Kontakt mit den Piraten auf, die ihr Revier in der Meerenge zwischen Rhegium und Sizilien hatten, um sie für eine Überfahrt seiner Truppen anzuheuern. Sizilien als Endstation wäre tatsächlich eine gute Chance gewesen. Aber die Piraten ließen ihn im Stich. In Sichtnähe und doch unerreichbar lag die Insel vor ihm. Rechts und links das Meer, in seinem Rücken die Legionen des Crassus. Der Zipfel Land, auf dem er stand, war zur Falle geworden.
Fünfzigtausend römische Soldaten hoben in Windeseile einen fünf Meter tiefen, achtundfünfzig Kilometer langen Graben aus, der die Sklaven endgültig abschnitt. Es war klar: Crassus wollte sie aushungern.
Es kam der Winter, streng wie selten, mit Sturm, Eis und Schnee. Die Lage schien hoffnungslos, aber Spartakus rettete sich noch einmal. In einer Nacht, bei eiskaltem Schneegestöber, stieg er über den Graben und erstürmte die Schanze. Am nächsten Morgen war er verschwunden.
Von nun an aber ging alles schief. In Tarent landete Lucullus mit seiner Macedonien-Armee, von Gallien herab kam Pompeius mit den Spanien-Legionen, und die Kelten trennten sich abermals von Spartakus. Crassus, das schwache Glied erkennend, heftete sich an ihre Fersen.
Erste Schlacht an der Lucanischen Küste. Spartakus eilt im letzten Moment herbei und rettet die Kelten. Zweite Schlacht am Silarus-Fluß. Spartakus, wieder zu Hilfe gerufen, kommt zu spät und findet zwölftausend Tote. Er fühlt, das Ende ist nahe und nicht mehr abzuwenden.
Dritte Schlacht bei Petelia (Calabrien), März 71. Spartakus wird verwundet. Er versucht mit einer kleinen Schar Gladiatoren durch das römische Heer zum Feldherrnzelt des Crassus vorzudringen. Aber zwei Centurien, die das Zelt verteidigen, sind zu viel, Spartakus blutet aus vielen Wunden, wird schwächer und schwächer und stirbt unter einem Hagel von Speeren.
Der Kampf ist aus. Er hat von einem einzigen Mann gelebt, und der ist tot.
Fünftausend Sklaven konnten fliehen. Pompeius fing sie in der Toskana ab und vernichtete sie. Sechstausend fielen in Crassus’ Hand. Er ließ sie entlang der Via Appia von Capua bis Rom lebendig ans Kreuz nageln.
»Der Krieg des Spartakus und der Sklaven war der gerechteste, vielleicht der einzig gerechte Krieg der Geschichte.«
Voltaire.
Spartakus ist nicht identisch mit denen, die ihre utopischen Programme in ihn hineindichten. Spartakus war ein Kämpfer für den humansten, den elementarsten Gedanken einer menschlichen Existenz: das Leben ohne Versklavung. Er hat nicht an »Sozialismus«, nicht an »Klassen«, nicht an »Rechte«, nicht an arm oder reich gedacht, nur an den guten Gott, der nicht gewollt haben kann, daß ein Mensch ein Stück Ware, eine »res« ist; der nicht gewollt haben kann, daß ein Mensch Heimat, Freiheit, Liebe, Hoffnung verliert ohne eine Schuld. Spartakus kann von allen, denen das heilig ist, in Anspruch genommen werden. Auch ich nehme ihn für mich in Anspruch, und mein ganzes Herz ist mit ihm. Ich bin »Spartakist«, stellen Sie sich vor! Ich wäre es damals gewesen und bin es heute. Spartakus kann von allen in Besitz genommen werden, von Weißen und Schwarzen, von Bettlern und Fürsten. Denn wir wollen nicht vergessen, was wahr ist: Unter seinen Sklaven waren auch ehemals Mächtige, ehemals Reiche. Sie alle wurden gleich und werden immer gleich sein auf der Stufe des Sklaven Spartakus.
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Das Kapitel über das »Heiss Eysen« ist beendet.
An mir können Sie das Wunder beobachten, daß meine Hand unversehrt geblieben ist, und daß ich mir wahrscheinlich dennoch die Finger verbrannt habe.