DAS SIEBENTE KAPITEL
ist die logische Fortsetzung des sechsten, und Gaius Gracchus die logische Fortsetzung des Tiherius Gracchus. Er nahm auch dessen Ende. Und so wäre es wohl noch ein Weilchen weitergegangen, wenn nicht die Cimbern und Teutonen mit ihren Keulen an die Tür geklopft hätten, eine kleine Gedächtnisauffrischung, die von Zeit zu Zeit jedem gut tut.
Videant consules!
»Jetzt mögen die Konsuln Zusehen, daß die Republik keinen Schaden nimmt!« Mit dieser Formel erhielten einst die Konsuln die Vollmacht, den Diktator zu ernennen, und mit diesen Worten hatte der Senat den Staatsnotstand ausgerufen und dem Konsul Publius Mucius den Auftrag gegeben, gegen die Verfassungsbrecher einzuschreiten. Mucius hatte die Hände in den Schoß gelegt. Er hatte keine Polizei gerufen, es waren keine Soldaten aus den Kasernen geholt und Tiberius nicht angeklagt und verurteilt worden. Die Senatoren hatten den Pflichtvergessenen nicht angetastet, aber sie hatten zur letzten, verzweifelten Notwehr gegriffen und Tiberius und seine »Fäuste« erschlagen. Menschlich wie staatsrechtlich liegt der Fall klar. Die Wahrung des Staatsrechts, in dessen Schoß das Straf-recht ja nur geborgen liegen kann, ist eine diktatorische Forderung für die, in deren Obhut es gelegt wurde. Ein Staatsmann, der an dieser Forderung vorübergeht, begeht »Fahrerflucht«; wer sie erfüllt, genießt einen über allem Strafrecht stehenden Schutz. Der Fall liegt klar, und die Senatoren sind auch nicht vor die Schranken eines Gerichtes gekommen. Menschlich aber ist er schrecklich. Schrecklich der Zynismus auf der einen, schrecklich die entfesselte Verzweiflung auf der anderen Seite. Am schrecklichsten, daß es wahrscheinlich ein Scipione war, Scipio Nasica, der den Tiberius, Sohn der Cornelia Scipio, erschlug. Er ging freiwillig außer Landes.
Die Plebs hielt den Tod des Gracchen für reinen Mord. Denn das eine, das Recht, war für sie Theorie, das andere, Tiberius, war Fleisch und Blut gewesen. Es dauerte nicht lange, da verklärte er sich zum unschuldigen Märtyrer. Im ursächlichen Sinne war er es sogar; die, für die er alle Schuld auf sich genommen hatte, verdienten es nicht.
Der Senat mißbrauchte seinen »Sieg« nicht, er ließ die Agrarkommission im Amt, das Gracchenprojekt ging weiter. So war es ja auch seine Pflicht, denn das Projekt selbst widersprach nicht der Verfassung. Ob der Senat das gern oder ungern duldete, ist nur interessant, wenn man Stoff sucht, ihn zu diskriminieren. Das Volk also sah, daß es weiterging. Die Gracchenpartei gewann eine gewisse Sicherheit zurück, vor allem Jugendliche drängten sich vor, sofern man unter »Jugend« das versteht, was Rom zu dieser Zeit darunter verstand: junge Leute von siebenundzwanzig, achtundzwanzig Jahren, die knapp ihren Militärdienst absolviert hatten. Sie besaßen nicht den geringsten Weitblick, aber sie waren enthusiastisch, vor allem, da es sich nicht um die Verteilung ihres persönlichen Eigentums handelte.
In jener Periode schuf man rund siebzigtausend Bauernstellen, zumindest steckte man, da noch keine Bewerber und oft keine Gebäude vorhanden waren, die Claims ab. Daß diese Felder zu einem Teil gar nicht römischen Grundbesitzern, sondern wildfremden Leuten, nämlich befreundeten Völkern oder verbündeten Italikern gehörten, Eigentümern, die oft selbst Bauern waren, das störte diese jungen Menschen wenig.
Aber die Italiker störte es, und es kam zu einem soliden Aufstand gegen Rom. Der Senat hatte die Ehre, ihn beizulegen.
Scipio Aemilianus, der zu diesem Zeitpunkt gerade von irgendwoher als siegreicher Feldherr heimgekehrt war, nutzte den Augenblick seiner Popularität, einen Beschluß durchzudrücken, durch den der Agrarkommission wenigstens die Rechtshoheit in ihrer Arbeit genommen und dem Senat zurückgegeben wurde. Wohlgemerkt: Die Volksversammlung faßte den Beschluß.
Die Reaktion (Ja, wessen? Wie vieler?) war ein Aufschrei! Scipio Aemilianus, der sich bester und robustester Gesundheit erfreut hatte, war am nächsten Morgen tot. Der rätselhafte Fall wurde nie geklärt. Aber um der Plebs die Ehre zu geben: sie sprach auch hier von reinem Mord. Viele, sehr viele kluge Römer haben sich gewünscht, es würde noch ein Karthago geben oder die Kelten; irgendeine Angst, die Rom wieder zur Besinnung bringen könnte.
*
Neun Jahre waren seit dem Tode des ersten Gracchen vergangen, da schickten die Sempronier den zweiten Gracchen ins Feld, seinen Bruder Gaius. 124 kam er von seiner auswärtigen Quästur in Rom an — genau wie einst Tiberius.
Wenn Tiberius in seinem Lebensstil nie etwas mit der Plebs gemein hatte, so war sein Bruder Gaius überhaupt der Prototyp eines Feudalherrn. Gewiß hat er sich nie in seinem Leben jemals eine Sandale selbst gebunden und ein Glas Wasser geholt, geschweige denn einen Handschlag für einen anderen getan. Sein Haus war voll von Dienern, die auf seinen Wink warteten. Auf seinen Wink warteten auch sonst viele, denn er war als Mann eine auffallende Erscheinung, als Gesprächspartner sprühend, als Gesellschafter amüsant — wenn er wollte. Und er wollte stets, wenn es sich lohnte. Eine alkibiadeske Figur, ebenso verschwenderisch von der Natur dotiert, nicht so skrupellos wie der Grieche, dafür weniger hellsichtig, und nicht mit dem Anflug von Feigheit, die Alkibiades gezeigt hat.
Ein Gewächs der Jeunesse dorée, ein reines Feudalgewächs, das sein Leben säuberlich von dem Beruf trennte, den er zu ergreifen gedachte: den Beruf eines Sozialisten.
Früher — aber das ist schon lange her — habe ich immer geglaubt, es sei nicht nur anständig, sondern Pflicht, seine Lebensanschauung zuerst in seinem eigenen Leben zu verwirklichen und vorzuführen. Inzwischen weiß ich, daß meine Ansicht — weil außerordentlich unbequem — ganz albern ist. Auch bei Simone de Beauvoir, Sartres alter Freundin, finde ich meinen Irrtum bestätigt: »Manche Sittenrichter machen mir meinen Wohlstand zum Vorwurf; wohlgemerkt, nur die Vertreter der Rechten. Nie nimmt man in Linkskreisen einem Linken sein Vermögen übel, selbst wenn er Milliardär ist«. Verzeihen Sie, Madame, »einem Linken« sagten Sie? Und einem »Rechten«? Oder einem »Mittleren«? Und noch eine Frage: Wie kommt der Linke zu einer Milliarde, für die Sie sogar Beispiele anführen? Ferner schreiben Sie ein paar Zeilen weiter: »Das Privatleben ist der marxistischen Ideologie völlig gleichgültig.« Das erstaunt mich, Madame. Ich persönlich zog bisher immer einen Menschen mit noch so falscher Ideologie einem Manne vor, der als private Existenz ein Schwein ist. Ich zog bisher immer einen Menschen, der seine Lebensanschauung bei sich selbst verwirklicht, einem Mann mit Lippenbekenntnis vor.
Madame, es ist begreiflich, daß Sie in Ihrer Situation so schreiben. Auch Gaius Gracchus würde so geschrieben haben. Nur wäre er klug genug gewesen, einen Nachsatz zu unterdrücken, den ich am Ende Ihrer Lebensbeichte lese und den ich für den bewundernswertesten Ihres ganzen Buches halte: »Das peinliche Gefühl, das sich bei mir eingeschlichen hat, ist nicht verschwunden.«
Nehmen Sie es nicht schwer, Madame; Hauptsache, die Ideologie stimmt.
Gaius Gracchus hatte kaum eine andere Wahl, als das ideologische Erbe seines Bruders zu übernehmen. Es war das beste Sprungbrett, das sich ihm darbot. »Doch wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an«. Wer weiß, wie es in ihm aussah?
Er war um vieles klüger als Tiberius, um vieles nüchterner und um vieles weniger Parzival. Er war ein viel besserer Redner als sein Bruder. Bis zu Cicero galt er als der größte römische Rhetor. Er war durch und durch intellektualistisch; seine ersten Volksreden, mit denen er sich Gehör verschaffte, waren ganz bewußt nur aufwühlende Bilder, mit denen er die Toten des Jahres 133 beschwor. Shakespeare hat in seinem Caesardrama denselben Kunstgriff angewandt, wenn er Antonius wieder und wieder rufen läßt: »Hier, schaut! Hier fuhr des Cassius Dolch herein; seht, welchen Riß der tücksche Casca machte! Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch, und als er den verfluchten Stahl hinwegriß, schaut her, wie ihm das Blut des Caesar folgte.«
Sehr wirkungsvoll. 123 wurde Gaius Volkstribun. Im darauffolgenden Jahre noch einmal, denn inzwischen hatte er dafür gesorgt, daß das Gesetz gegen die Wiederwahl geändert wurde. Er hatte legal dafür gesorgt, er hütete sich, zum Gesetzesbrecher zu werden — mit einer einzigen Ausnahme, und diese eine Ausnahme steht wenigstens in ihrer Ehrlichkeit über dem Verfassungsbruch seines Bruders.
Über Gaius muß man entweder zwanzig Seiten schreiben oder nur eine. Ich ziehe die zweite Möglichkeit vor. Seine vielen Reformversuche sind ermüdend anzuhören; achtbar, einseitig, unrealistisch, utopistisch. Wenn Gaius zum Beispiel in Afrika Kolonien mit römischen Bauern anlegen wollte (und die ganze Organisations- und Auswanderungsmaschinerie sofort in Gang setzte), so zeigte er sich als absoluter Phantast. Bauern, die zur Not auf eine lohnendere Scholle wechseln, viel lieber aber von den umbrischen Hügeln herabsteigen und in die Städte streben, sind um keinen Preis nach Afrika zu bekommen. Seine Reformideen und der »Volkswille« strebten hier schon weit auseinander; noch weiter in seinem Wunsch, allen Latinern das römische Bürgerrecht zu geben. Die Plebs, gerade die Plebs, war empört.
Gaius ist auch — bei vielen guten Ansätzen — vom Volke ausgebeutet worden. Sein Projekt, durch die Anlage von großen Kornvorräten die Getreidepreise zu stabilisieren und das Leben aller Bewohner Roms durch dieses unbegrenzte Staatsaufkommen zu sichern, ist von Scharen von Zuwanderern mißbraucht worden wie eine öffentliche Vogeltränke. Während er (zwei Monate lang) in Afrika weilte, ging sein Stern in Rom unter. Zum Teil von selbst, zum Teil durch Agitation der Gegner. Das Kolonialgesetz wurde abgelehnt, er selbst 121 nicht mehr wiedergewählt. Es wird kein so großer Zufall gewesen sein, daß er schon im Jahre zuvor nur an vierter Stelle unter den Volkstribunen durchgekommen war.
Weder er selbst noch seine Anhänger waren gewillt, die Wahlniederlage hinzunehmen. Sie waren nicht der Meinung, daß ein Volksvertreter die Entscheidung des Volkes, daß ein Demokrat die Entscheidung des Demos zu respektieren habe. Sie entschieden sich für den bewaffneten Aufstand, für den Bürgerkrieg!
Der Senat rief den Notstand aus. Konsul Lucius Opimius, ein Plebejer, mobilisierte das Militär. Die Aufrührer zogen sich auf den Aventin zurück, wurden eingeschlossen und bald darauf überwältigt. Gaius Gracchus, den Bankrott seiner Ideen und das Ende seines Lebens vor Augen, zog es vor, freiwillig in den Tod zu gehen. Auch dafür, für diese letzte Mühe, bediente er sich noch der Hand und des Gewissens eines anderen: er ließ sich von seinem Leibsklaven erstechen.
Die Gracchen waren tot, sie hatten sich ausgerottet mit lauter Vabanquespielen. Vieles, was sie versucht hatten, war ehrenvoll, mehr aber war utopisch, mehr noch gegen das Gesetz und alles zur falschen Zeit. Cornelia Scipio Sempronius trug die Tragödie stumm und mit so großer Würde, daß noch spätere Geschlechter sie als bewundernswerte Gestalt in der Geschichte der römischen Frau verehrten.
*
Die Souveränität von Konsulat, Senat und Tributkomitien war wieder hergestellt. Dem Anschein nach trugen einige Ideen der Gracchen auch über deren Tod hinaus noch Früchte. In Wahrheit waren es Halbheiten eines nach den Aufregungen der vergangenen Jahre fast eingeschlafenen und ratlosen Senats. Fallen gelassen hatte man natürlich die extremen Projekte der Gracchen; aber mit einigen anderen glaubte man, noch hökern gehen zu können. So ließ man die Agrarreform nicht eingehen; von Zeit zu Zeit kam dabei auch irgendetwas heraus, meist etwas Unsinniges, so daß es fast den Eindruck macht, als wollte man die an sich schon unrealistischen Gedanken der Gracchen vollends ad absurdum führen. So verfügte man zum Beispiel eines Tages, sämtliche Pachthöfe hätten in den uneingeschränkten Besitz der Bauern überzugehen, eine Maßnahme, die bei den Pächtern eine geradezu amüsierte Dankbarkeit auslöste, denn nun konnten sie endlich alles verkaufen und in die Stadt ziehen. Auch das Getreidegesetz, auf dem sich das stetig zuwandernde Proletariat häuslich niederlassen konnte, wurde verwirklicht. Und schließlich blieb — beinahe möchte man es »zufällig« nennen — ein wenigstens im Ansatz vernünftiges Gesetz der Gracchen unverfälscht in Kraft, das sogenannte »Richtergesetz«. Ersparen Sie mir, es Ihnen auseinanderzusetzen — so begeisternd ist es auch wieder nicht.
Ein subalterner Trott war überall spürbar. Zwischen Bombenlegen und eingeschlafenen Füßen schien es zehn Jahre lang kein Mittelding mehr zu geben.
Dann kam endlich das, was so mancher sich als Medizin ersehnt hatte: die Gefahr von außen. Von Norden. Vom höchsten, noch sagenhaften, unerforschten Norden.
»Die Deutschen kommen« ist ein Ruf, der heute alljährlich aufs neue die Herzen der Italiener, vor allem der Hoteliers und des Finanzministers schneller schlagen läßt. Auch damals, als der Ruf erscholl »Die Teutonen kommen«, schlugen alle Herzen schneller, womit medizinisch bewiesen ist, daß man sich auf den Herzschlag als Kriterium nicht verlassen kann. Der ewige Versuch des menschlichen Herzens, mitzudenken und zu urteilen, geht über seine Befugnisse hinaus. Es sollte sich damit begnügen zu schlagen, und zwar regelmäßig.
Es gab damals in Rom wenige, die das fertigbrachten. Ja sogar heute noch — wenn man vom touristischen Sektor absieht — beginnen die Herzen der Italiener mitzudenken, wenn das Wort »tedeschi« oder (sehr gern) »teutonici« fällt. Sobald eine deutsche Fußballmannschaft zu einem Gastspiel nach Italien kommt, schreiben die Zeitungen »Vengono i teutonici« und »i Panzer in arrivo« — »die Panzer im Anmarsch«. Und wenn man hinschaut, sind es die Offenbacher Kickers. Ein Trauma aus römischer Zeit.
Das Wort vom Furor teutonicus wurde damals geboren, als aus der gallischen Provinz die Kunde eintraf, Germanen seien mit unwiderstehlicher Gewalt über den Rhein nach Frankreich eingedrungen, ein Meer, eine Woge, ein Tornado von Giganten, von schrecklichen Walhall-Riesen mit Weibern und Kindern, Büffelhörner oder halbe Auerochsenschädel über den Kopf gestülpt, Keulen von urzeitlichem Ausmaß und Speere wie Bäume in den Händen, im Kampf brüllend wie Stiere, angefeuert von ihren Frauen, die ihnen — die Kinder auf den Schultern und mit nackten Brüsten — bei Gefahr bis in die vorderste Linie folgten. Gegen diese Wotansgestalten seien die Kelten des Brennus reine Spaßvögel gewesen.
Weiß der Himmel, woher wir schon immer einen Ruf wie Donnerhall hatten. Wenn die Wache vor dem Buckingham-Palast in monströsen Bärenmützen aufmarschiert, so ist das »hübsch«, wenn wir in Pickelhauben Wache schöben, so wäre es »furchterregend«. Schließlich kannten die Römer die wilden Gallier und die schwarzen Teufel in Nubien. Und schließlich wirkten die römischen Kohorten selbst, wenn sie in Reih und Glied vollverchromt dastanden, auch nicht harmlos. Na ja. Es ist aber auch wirklich zu blöde, sich Büffelhörner auf den Kopf zu setzen, wo es für uns Deutsche ein Taschentuch mit vier Knoten ebenso getan hätte.
Es waren zwei germanische Völkerstämme, die in Bewegung geraten waren: die Cimbern und die Teutonen. Genau genommen sogar drei. Es lief eine Gruppe mit, die sich Ambronen nannte, wahrscheinlich kein geschlossener Stamm. Alle stammten sie aus der Gegend von Holstein, Hamburg, Lübeck bis hinauf nach Jütland. Über die Ursache ihrer Wanderung wissen wir nichts. Es könnte, wie die Alten vermuteten, eine ungewöhnlich verheerende Springflut gewesen sein; vielleicht auch eine Wikinger-Invasion, jedenfalls nicht der gleiche Grund, den fünfhundert Jahre später die große Völkerwanderung hatte.3
Die Stämme zogen zunächst elbaufwärts in Richtung Prag (das noch nicht existierte), Wien (das schon eine bedeutende keltische Siedlung war) und Jugoslawien, wo sie in dem heutigen slowenischen Drau-Donau-Dreieck eine Zeitlang blieben und siedelten. Die Hauptmasse geriet dann abermals in Bewegung, diesmal Richtung Kärnten, wobei sie sozusagen mit dem linkein Ärmel römisches Gebiet streiften — nun ja, nicht direkt römisches Gebiet, aber »Interessengebiet«, wie ein Historiker so schön sagt, denn in Kärnten gab es Eisengruben, was den Germanen notabene vollkommen schnuppe war.
Das werden wir gleich haben, versicherte Konsul Papirius Carbo, bekannt als theoretischer Haudegen, zog mit einem Heer los und stellte die Germanen bei Noreia, südlich Klagenfurt. Das war im Jahr 113. Die Sache ging sehr rasch über die Bühne, die Römer wurden geschlagen.
Die Nachricht flog in Windeseile durch alle Länder. In Gallien kam es zu Aufständen, bei Tolosa (Toulouse) wurden die römischen Besatzungstruppen von Kelten verprügelt. Inzwischen waren Cimbern und Teutonen unermüdlich weitermarschiert. Ein Ziel schienen sie nicht zu haben. Die Römer als einzige waren nicht im Zweifel, daß das Ziel nur Rom sein konnte, die herrlichste Stadt der Welt, die honorigste, erstrebenswerteste, vorbildlichste, very finest town des very finest people.
Es ist erwiesen, daß die Cimbern und Teutonen bis zur Schlacht von Noreia keine Sehnsucht gespürt hatten, den Römern überhaupt zu begegnen. Hinterher auch nicht, obwohl ihre Achtung erheblich gesunken war.
Die Wandernden überquerten die Alpen, durchzogen Schwaben, wo ein Teil von ihnen hängen blieb, und stiefelten dann über den Rhein zur Rhone. Das war der Moment, der den Großalarm vom furor teutonicus auslöste.
109 v. Chr. Konsul Servilius Caepio, piekfeiner Adliger, der gerade auf dem Wege zur Bestrafung von Toulouse war, gedachte vermittels eines kleinen Abstechers die Sache mit den Cimbern und Teutonen zu bereinigen und stellte sie bei Lyon. Es wurde die zweite Niederlage. Aber es scheint ihm in Rom nicht sehr geschadet zu haben, jedenfalls riß sich niemand darum, ihn abzulösen. Der Senat klammerte sich in seiner Angst an diesen Idioten wie an einen Strohhalm, obwohl der Mann, der die Rettung gewesen wäre, schon da war.
Vier Jahre nach Lyon — die Germanen tollten jetzt in der Gegend von Avignon und Nîmes herum — zog derselbe Servilius mit neuen Legionen aus, um Gallien von diesen fürchterlichen Menschen zu säubern. Die Cimbern und Teutonen, überrascht, die Römer schon wieder vor sich zu sehen, die doch zumindest genau so wenig hier zu suchen hatten wie sie selbst, gerieten außer Rand und Band und vernichteten die Legionen (bei Arausio) fast bis auf den letzten Mann. Dieser besagte letzte Mann war kein Obergefreiter, sondern natürlich der Generalissimus persönlich. Als er nach überstürzter Flucht heimkehrte, waren die Römer vom Schreck zu sehr gelähmt, um ihn einen Kopf kürzer zu machen. Sie verbannten ihn bloß. Servilius dankte den Göttern für dieses Geschenk, packte die Koffer und verließ in Windeseile die Stadt, von deren Untergang in den nächsten Tagen er überzeugt war. Ich habe diese Ereignisse in einem beinahe leichtfertigen Ton erzählt. Sie reizen dazu, das entschuldigt es. Aber ich muß die Dinge wieder zurechtrücken: Auf den Schlachtfeldern lagen über fünfzigtausend Tote, fünfzigtausend Väter, Söhne, von beiden Seiten. Wofür? Für nichts. Für ein falsches Klopfen des Herzens. Die Cimbern und Teutonen hatten keine Sekunde die Absicht gehabt, Italien zu überfallen. Sie waren »harmlos« in Anführungsstrichen; keine Schneise von Ruinen bezeichnete ihren Weg. Sie wollten nicht erobern, sie waren Zugvögel, ruhe- und rastlose. Kahlgefressen, ja, das war ihre Route wohl. Aber ihnen zu begegnen, nur einfach zu begegnen, war weniger gefahrvoll als an einem Ostersonnabend friedvoll von München nach Salzburg zu fahren.
Hätten sie die Absicht gehabt, die ihnen die Römer hysterisch zuschrieben, so wäre es jetzt um Rom tatsächlich geschehen gewesen, denn die besten Legionen waren vernichtet. Arausio war fast ein Cannae gewesen.
Die Germanen hatten jedoch andere Pläne, wenn es überhaupt Pläne und nicht Zufälligkeiten waren. Die Stämme trennten sich. Die Cimbern beschlossen, sich die Pyrenäen anzusehen, die Teutonen die Loire. In Belgien trafen sie sich wieder; rätselhaft wie der Drang der Zugvögel. Dann gingen sie ein Stück Wegs gemeinsam südwärts. In Burgund entschlossen sich die Teutonen, wieder Arles, Avignon und Nîmes aufzusuchen, weil’s so schön gewesen war, während die Cimbern auf Einladung der freundlichen Helvetier, die mitmarschierten, in die Alpen einstiegen, der Nase und der Sonne nach. Schließlich hatten sie die Berge hinter sich und machten es sich in einer weiten Ebene bequem, von deren Bewohnern sie erfuhren, daß sie sich Po-Ebene nannte und im Besitz der Römer war. »Teufel, Teufel«, sagten die Cimbern, »da werden wir die Leute gleich wieder auf dem Halse haben.« Mit diesem nicht historischen Ausspruch wollen wir die Cimbern in der Lombardei und die Teutonen in der Landschaft Vincent van Goghs zunächst stehen lassen, denn in Rom hat sich inzwischen — die Wanderung hatte drei Jahre verstreichen lassen — einiges ereignet. Sobald Rom gemerkt hatte, daß es einstweilen außer Gefahr war, avancierte es sofort wieder zur mächtigsten und kühnsten Nation der Welt. Immerhin war der Senat aber weitsichtig genug, die Konsequenzen aus dem militärischen Fiasko zu ziehen. Er zog diese Konsequenzen, die man mit einem einzigen Wort bezeichnen kann: Marius, höchst ungern und verwünschte ihn nicht weniger als die Cimbern und Teutonen, die ihm lediglich das größere von zwei Übeln schienen. Den Senatoren wurde schon schlecht, wenn sie den Namen nur hörten. Das Volk fand Marius herrlich, zumindest zunächst. Beide Ansichten sind unschuldige Übertreibungen.
Gaius Marius war ein Bauernsohn, ein robuster Mann mit sehr schlichter Erziehung und eckigem Benehmen; spröde, eigenbrötlerisch, querköpfig bis zum Nervtöten, jähzornig, mitleidlos und von einem geradezu maßlosen Ehrgeiz. Es war nicht einfach Geltungssucht — er konnte sich unterordnen. Es war der krankhaft gewordene Wunsch seines Lebens, die einfache Herkunft vergessen zu machen und zu den bewunderten und zugleich gehaßten Aristokraten zu gehören. Er litt, weil er war, der er war, gleichgültig, welche Taten er vollbrachte. Und er war permanent tödlich gekränkt, gleichgültig ob ein Patrizier sich unbefangen gab oder nicht.
Er machte seinen Weg nach oben als Soldat. Vom Muschko über den Spieß zum Oberbefehlshaber. Er war Militär durch und durch. Ein harter Mann, der alles, was er von der Truppe forderte, auch selbst erfüllte. Er hatte sich die Sporen in einem grausamen Grenzkrieg in Afrika gegen Jugurtha verdient. Damals war sein Oberstintendant ein gewisser Quästor Sulla gewesen, bitte erinnern Sie sich später dieser Erwähnung; im Moment müssen wir bei Marius bleiben.
Nach der Katastrophe von Arausio wurde er (zum zweitenmal) Konsul, allerdings gegen erheblichen Widerstand. Aber es gab keine andere Lösung, als diesen Militär-Knoten zu berufen.
Marius hatte Glück: Die Germanen kamen nicht. Sobald er darüber sichere Nachrichten hatte, machte er seine Not-Improvisationen rückgängig und ging daran, das Heer von Grund auf und nach ganz neuen Ideen zu reorganisieren. Das läßt sich in zwei Sätzen sagen: Er verwandelte es in ein stehendes Berufsheer, und er eröffnete es dem Proletariat als normalen Erwerbszweig. Immer noch waren die Proletarier (im Frieden) nicht wehrdienstpflichtig, jetzt aber wehrdienstfähig. Eine Riesenmenge strömte ihm zu.
Es scheint der natürlichste Gedanke von der Welt. Profis sind Amateuren fast immer überlegen, und die Nichtstuer kamen von den Straßen, zwei sehr einleuchtende Vorteile. Die geldliche Belastung für den Staat war leicht zu tragen. Das also war es nicht, was den Senat so sehr beschäftigte; er sah, daß viel Folgenschwereres dahinter steckte: Das Heer, dessen Männer bisher kamen und gingen, sich zusammenballten und auflösten wie die Wolken, dieses Heer wurde jetzt ein permanenter Block, weil seine Zusammensetzung sich nicht mehr fluktuierend veränderte, sondern unabhängig blieb von Krieg und Frieden, von sozialen Sorgen und Entwicklungen. Und noch etwas anderes sah der Senat: Was würde passieren, wenn es einmal einem populären militärischen Führer einfallen sollte, sein Heer als wirklich »sein« Heer, als seine Hausmacht einzusetzen?
Mit Hangen und Bangen also sagte man Ja zu dem, was Marius tat. Man sagte auch Ja, als er 103 wieder zum Konsul gewählt zu werden wünschte, und noch einmal, als er es im Jahre 102 zum viertenmal für notwendig hielt. Man hob extra das Gesetz auf, das dagegen stand. Ja und Amen und drei Kreuze zu diesem Mann, denn eben kamen Gerüchte von Norden, daß die Cimbern in die Po-Ebene eingefallen seien. Oh, ihr Götter, es ging also wieder los! Konnte denn auch der Beste nicht in Frieden leben?
Ja, dachte der Bauernsohn Marius, jetzt flattern ihnen wieder die Nerven und das blaue Blut erstarrt.4
Marius war bereit. Die Teutonen in Gallien? Die Cimbern in der Lombardei? Gerade das, was Rom so aufregte, gefiel ihm. Endlich waren die beiden Haufen getrennt. Er entschloß sich, zuerst die Teutonen anzugreifen, und wenn der Senat noch so zeterte. Die Cimbern würden ihm nicht weglaufen. Die Frage einer Niederlage stand bei ihm gar nicht zur Debatte, sonst hätte er sich anders entschieden.
Im Sommer des gleichen Jahres noch, 102, stellte er sich den Teutonen zur Schlacht auf den Feldern von Aquae Sextiae (Aix en Provence).
Es war keine Schlacht, es war ein Schlachten. Als die Römer bis zu den Wagenburgen vorgedrungen waren, warfen sich auch die Teutonen-Frauen in den Kampf. Und als sie sahen, daß die letzten Männer gefallen waren, gaben sie sich und den Kindern selbst den Tod.
Saubere Arbeit. Ein ganzer Mann, dieser Gaius Marius. Jetzt lebte wirklich nichts mehr, was noch schreien konnte. Der Traum der Sieger.
Größer als die Schuld der Teutonen war natürlich die der Cimbern: Sie hatten Gebiet betreten, das Rom mit vieler Mühe erst kürzlich für sich persönlich erobert hatte. Im nächsten Sommer gedachte Marius auch mit diesen Leuten aufzuräumen.
Das Jahr 101 kam, er wurde zum fünften Male Konsul! Sein Kollege stand mit einer zweiten Heeresgruppe bei Verona und meldete, er sei im Begriff, sich hinter den Po zurückzuziehen, um Rom in einem Angebot des Feindes nicht vorzugreifen: Die Cimbern ließen sagen, sie wollten keinen Krieg; sie bäten, bleiben und siedeln zu dürfen. Trojanisches Pferd im Hause, wie? Marius lachte und brach sofort mit den Legionen nach Oberitalien auf. Die Armeen der beiden Konsuln vereinten sich, Marius übernahm den Oberbefehl und stellte die Cimbern bei Vercellae (westlich von Mailand) zum Kampf. Die Schlacht verlief wie die von Aquae Sextiae, mehr ist nicht zu sagen. Der Stamm der Cimbern war ausgelöscht.
Rom empfing Marius wie einen Halbgott. Er bekam einen Triumphzug, man trug ihm das sechste Konsulat an, und man verlieh ihm den offiziellen Namen »Vater des Vaterlandes«.