10. Kapitel
Der diensttuende Leutnant Hornblower brachte die Sloop Le Reve, eine Prise Seiner Majestät Schiff Indefatigable, in der Bucht von Gibraltar zu Anker. In seiner Aufregung war ihm zumute, als ob die Kieker der ganzen Mittelmeerflotte auf ihn gerichtet wären, wiewohl er jeden ausgelacht hätte, der ihn etwa gefragt hätte, ob er so etwas für möglich hielte. Niemand hätte mit größerer Sorgfalt auf die Stärke der leichten achterlichen Brise achten oder die Abstände zwischen den schweren vor Anker liegenden Linienschiffen schätzen, niemand gewissenhafter den Raum berechnen können, den Le Reve zum Schwojen brauchte. Sein Maat Jackson stand auf der Back und wartete auf den Befehl, den Klüver zu bergen. Als Hornblower von achtern rief, war das Segel denn auch blitzschnell niedergeholt.
»Luv das Ruder«, kommandierte Hornblower, und Le Reve drehte in den Wind. »Gei auf überall!«
Le Reve hatte noch etwas Fahrt voraus, aber der verliehe Wind brachte das Schiff rasch zum Stehen. »Fallen Anker!«
Die Ankertroß ließ rumpelnd ihren Protest vernehmen, als sie vom Anker aus der Klüse gerissen wurde, und zugleich hörte man jenes immer willkommene Aufklatschen des Ankers, das wieder einmal vom Ende einer Reise Kunde gab. Hornblower paßte sorgfältig auf, wie Le Reve eintörnte, erst dann ließ seine innere Spannung etwas nach. Er hatte die Prise sicher in den Hafen gebracht. Der Kommodore, Kapitän Sir Edward Pellow, war offensichtlich noch nicht eingelaufen, darum war es seine Pflicht, sich unmittelbar beim Hafenadmiral zu melden.
»Ich möchte das Boot ausgesetzt haben«, befahl er, dann dachte er an seine Pflicht zur Menschlichkeit und setzte hinzu:
»Übrigens können Sie jetzt die Gefangenen an Deck lassen.«
Die Leute hatten die letzten achtundvierzig Stunden bei geschalkten Luken im Raum zubringen müssen, da die Gefahr der Rückeroberung jeden Prisenkommandanten wie ein Schreckgespenst zu verfolgen pflegte. Aber hier in der Bucht, inmitten der mächtigen Mittelmeerflotte, war diese Gefahr endgültig gebannt. Mit zwei Mann an den Riemen jagte die Gig pfeilschnell durchs Wasser, und zehn Minuten später meldete Hornblower dem Admiral seine Ankunft.
»Sie sagen, das Schiff sei ein guter Läufer?« meinte der und warf einen Blick durchs Fenster nach der Prise.
»Jawohl, Sir. Außerdem besitzt es recht gute Manövriereigenschaften.«
»Ich werde die Sloop für die Marine ankaufen«, überlegte der Admiral. »Man hat ja ohnehin nie genug Fahrzeuge für den Depeschendienst.«
Obwohl Hornblower nach dieser Andeutung schon ahnen mochte, was ihm bevorstand, war es doch eine freudige Überraschung, als er ein schwerversiegeltes Dienstschreiben bekam und nach dem öffnen die wichtigen Worte las:
Sie werden hiermit ersucht und angewiesen, das Kommando über Seiner Majestät Sloop Le Reve zu übernehmen und nach Übernahme der für England bestimmten Dienstpost ohne Verzug nach Plymouth zu versegeln.
Das war das langerträumte unabhängige Kommando, es bedeutete zugleich, daß er endlich, nach drei langen Jahren, England wiedersehen durfte. Nicht zuletzt aber sah er darin mit Recht eine hohe persönliche Auszeichnung. Zugleich mit diesem hocherfreulichen Befehl hatte man ihm aber noch ein zweites Schreiben in die Hand gedrückt, das er mit weit weniger Begeisterung las.
Ihre Exzellenzen, Generalmajor Sir Hew und Lady Dalrymple, würden sich sehr freuen, den diensttuenden Leutnant zur See Horatio Hornblower heute nachmittag drei Uhr zum Dinner im Regierungsgebäude bei sich zu empfangen.
Für diesen oder jenen mochte es wirklich ein reines Vergnügen sein, beim Gouverneur von Gibraltar und seiner Gattin speisen zu dürfen, aber für einen diensttuenden Leutnant, der für sein gesamtes Hab und Gut nur eine einzige Seekiste sein eigen nannte, war dieses Vergnügen zum mindesten recht gemischt, denn nun galt es zunächst, sich für das große Ereignis »in Schale zu werfen«.
Dennoch überwog am Ende die freudige Erregung, die wohl jeden jungen Mann überkommen mußte, wenn er von der Anlegestelle zum Regierungsgebäude emporstieg. Hornblower machte darin keine Ausnahme, zumal ihm sein Freund Bracegirdle, der aus wohlhabendem Hause stammte und einen ansehnlichen Monatswechsel bezog, rasch noch ein Paar weiße Strümpfe aus reiner, makelloser Chinaseide geliehen hatte. Das Pech war nur, daß Hornblower dünne Waden hatte und Bracegirdle dicke, aber diese Schwierigkeit war durch einen kleinen Kunstgriff leicht zu beheben. Zwei kleine Polster aus Werg und ein paar Streifen Heftpflaster aus den Beständen des Schiffsarztes, und schon besaß Hornblower ein Paar Waden, deren sich niemand zu schämen brauchte. Jetzt konnte er den linken Fuß - Spitze nach auswärts - vorsetzen und seine Verbeugung zelebrieren, ohne befürchten zu müssen, daß seine Strümpfe Falten schlugen, und durfte dabei noch das erhebende Bewußtsein genießen, daß er, wie Bracegirdle meinte, ein Paar Beine besaß, auf die jeder Gentleman stolz wäre.
Im Regierungsgebäude wurde Hornblower von einer der üblichen aalglatten, langweiligen Adjutantenfiguren empfangen und seinen Gastgebern vorgestellt. Er machte seinen Kratzfuß vor Sir Hew, einem lebhaften alten Herrn mit gerötetem Gesicht, und Lady Dalrymple, einer ebenso lebhaften alten Dame mit ebenso gerötetem Gesicht.
»Mr. Hornblower«, sagte diese, »ich möchte Sie vorstellen - Euer Gnaden, dies ist Mr. Hornblower, der neue Kommandant der Sloop Le Reve - Ihre Gnaden, die Herzogin von Wharfedale.«
Eine richtige Herzogin! Hornblower stach wieder sein auswattiertes Bein nach vorn, drückte die Zehenspitzen nach außen, legte die Linke aufs Herz und verbeugte sich so tief, wie es seine zu enge Hose zuließ. Er war ja noch ein ganzes Stück gewachsen, seit er sie bei seiner Kommandierung auf die Indefatigable gekauft hatte. Als er seinen Blick wieder hob, begegneten ihm ein Paar blitzblaue Augen und das Gesicht einer Frau in mittleren Jahren, die sicher einmal eine Schönheit gewesen war.
Dann hörte er sie in unverfälschtem Cockney sagen: »Also das ist er, unser Kommandant. Aber sagen Sie, meine liebe Mathilde, wollen Sie uns wirklich diesem jungen Springinsfeld in Uniform da anvertrauen?«
Das kam in einem so ordinären Akzent heraus, daß es Hornblower den Atem verschlug. Er war auf allerlei gefaßt, aber daß eine fürstlich gekleidete Lady das schlimmste Londoner Vorstadtenglisch sprach, das hatte er doch nicht erwartet. Er starrte sie so betroffen an, daß er darüber vergaß sich aufzurichten und mit vorgerecktem Kinn, die Hand noch immer auf der Brust, wie angenagelt stehenblieb.
»Wie ein Gänserich auf der Weide«, sagte die Herzogin, »gleich zischt er mich an.«
Zugleich streckte auch sie ihm ihr Kinn entgegen, stemmte ihre Hände auf die Knie und wackelte so komisch mit dem Körper hin und her, daß sie einer streitbaren Gans verblüffend ähnlich sah. Damit hatte sie Hornblowers Haltung so ausgezeichnet getroffen, daß die ganze übrige Gästeschar in schallendes Gelächter ausbrach. Hornblower bekam einen feuerroten Kopf und wußte vor Verlegenheit nicht ein noch aus.
Als die Herzogin das bemerkte, kam sie ihm sofort zu Hilfe:
»Nein, lassen wir den armen Kerl in Ruhe«, sagte sie und gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter. »Er ist eben noch ein junges Bürschchen, aber deswegen braucht er sich nicht zu schämen. Ich sage sogar, er kann sich etwas darauf einbilden, daß man ihm in seinem Alter schon ein Schiff anvertraut.«
Die Worte der Herzogin brachten Hornblower nur in neue Verlegenheit, darum war er heilfroh, als jetzt verkündet wurde, daß das Dinner angerichtet sei. Natürlich fand er seinen Platz unter den Leutnants und anderen Gästen minderen Ranges in der Mitte der langen Tafel. Am oberen Ende nahmen Sir Hew und die Herzogin Platz, am unteren Lady Dalrymple und ein älterer Kommodore. Im übrigen waren nicht annähernd so viele Frauen wie Männer zu Gast, so daß unter anderen auch Hornblower keine Tischdame bekam. Zu seiner Rechten saß vielmehr der junge Adjutant, der ihn vorhin in Empfang genommen hatte.
»Auf Ihr Wohl, Euer Gnaden«, sagte der Kommodore über die Länge des Tisches hinweg und hob sein Glas.
»Danke, das war höchste Zeit«, rief die Herzogin zurück. »Ich fragte mich schon, wer mich wohl vor dem Verdursten retten würde.«
Sie setzte ihr randvolles Glas an die Lippen und trank es in einem langen Zuge leer.
»Die ist richtig«, sagte der Adjutant zu Hornblower. »Sie werden wohl noch allerlei erleben, wenn sie erst bei Ihnen an Bord ist.«
»Bei mir an Bord?« fragte Hornblower verwundert. »Wie meinen Sie das?« Der Adjutant streifte ihn mit einem mitleidigen Blick.
»Wie, Sie wissen noch nichts davon?« fragte er. »Aber so ist es jedesmal. Derjenige, den es am meisten angeht, erhält als letzter Bescheid.
Wenn Sie morgen mit Ihrer Post in See gehen, dann werden Sie zugleich die Ehre haben, Ihre Gnaden, die Herzogin, nach England mitzunehmen.«
»Gott steh' mir bei!« stieß Hornblower hervor. »Hoffentlich tut er es«, meinte der Adjutant andächtig und schnupperte an seinem Wein. »Dieser süße Malaga taugt nicht viel. Der alte Hare kaufte Anno 95 eine Riesenmenge davon, und seitdem hält es jeder Gouverneur für seine Pflicht, das Zeug auszutrinken.«
»Wer ist denn die Dame eigentlich?« fragte Hornblower.
»Ihre Gnaden, die Herzogin von Wharfedale«, gab der Adjutant zur Antwort. »Haben Sie nicht gehört, wie Lady Dalrymple sie Ihnen vorstellte?«
»Doch. Aber wenn sie den Mund aufmacht, dann klingt das alles andere als herzoglich.«
»Stimmt. Der alte Herzog war schon reichlich senil, als er sie heiratete. Ihre Freunde sagen, sie sei die Witwe eines Gastwirts gewesen, was ihre Gegner über sie reden, können Sie sich leicht selbst ausmalen.«
»Und was macht sie hier in Gibraltar?« erkundigte sich Hornblower weiter.
»Sie ist auf dem Rückweg nach England. Soviel ich weiß, wurde sie in Florenz durch den Einmarsch der Franzosen überrascht. Es gelang ihr, sich nach Livorno durchzuschlagen, dort heuerte sie für viel Geld einen Küstensegler, der sie hierherbrachte. Hier kam sie mit der Bitte zu Sir Hew, ihr die Weiterreise zu ermöglichen, und der wandte sich deswegen an den Admiral - was täte Sir Hew nicht alles für eine Herzogin, und wenn sie die Witwe eines Kneipenwirts ist.«
»Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid«, sagte Hornblower.
Vom Kopf der Tafel her hörte man lautes Gelächter, die Herzogin stieß dem Gouverneur mit dem Griff ihres Messers in die scharlachrot bekleideten Rippen, als ob sie damit die Pointe ihres Witzes unterstreichen wollte.
»Es sieht so aus, als sollte es Ihnen auf Ihrer Heimreise nicht an Spaß fehlen«, meinte der Adjutant.
In diesem Augenblick wurde eine dampfende Ochsenlende vor Hornblower auf die Tafel gesetzt, und damit traten alle seine anderen Sorgen in den Hintergrund, denn nun galt es für ihn, den Braten kunstgerecht zu zerteilen und sich dabei so zu benehmen, wie es die feinen Tafelsitten von ihm verlangten.
»Darf ich Ihnen ein Stück Braten anbieten, Euer Gnaden, Madam, Sir? Gut durch oder halb durch, Sir? Etwas braune Sauce dazu, Sir?«
In dem heißen Zimmer stand ihm der Schweiß auf der Stirn, während er dem mächtigen Stück Fleisch zu Leibe ging. Es war noch sein Glück, daß sich die meisten Gäste an die anderen Gerichte hielten, so daß er nur verhältnismäßig wenig aufzuschneiden hatte. Ein paar zerfetzte Scheiben legte er sich selbst auf den Teller, weil das die einfachste Art war, seine stümperhafte Arbeit vor den anderen zu verbergen.
»Das Fleisch stammt aus Tetuan«, bemerkte naserümpfend der Adjutant, »es ist so zäh, daß man es kaum beißen kann.«
Als Adjutant eines Gouverneurs war er mit diesem abfälligen Urteil rasch bei der Hand und konnte dabei doch nicht ahnen, wie köstlich dieser zähe Braten einem jungen Seeoffizier mundete, der sich bis vor kurzem an Bord einer von Menschen wimmelnden Fregatte auf See herumgetrieben hatte.
Hornblower ließ sich nicht einmal durch die Aussicht den Appetit verderben, daß ihm ab morgen die Pflicht oblag, eine Herzogin zu beherbergen und zu verpflegen. Und der Nachtisch, die Meringuen, Makronen, Cremes und Früchte mußten einen jungen Mann in helles Entzücken versetzen, der am Sonntag zuvor noch einen undefinierbaren Johannisbeerbrei als Pudding vorgesetzt bekam.
»Diese Süßigkeiten verderben einem ganz den Geschmack am Wein«, kritisierte der Adjutant, aber was kümmerte das Hornblower.
Jetzt wurden die offiziellen Trinksprüche ausgebracht.
Hornblower trank auf den König und die königliche Familie und hob sein Glas zum Wohl der Herzogin.
»Ich trinke auf unsere Gegner«, sagte Sir Hew, »daß sie versuchen mögen, mit ihren schatzbeladenen Schiffen den Atlantik zu überqueren.«
»Noch eins, Sir Hew«, rief der Kommodore am anderen Ende des Tisches: »Daß sich die Dons endlich entschließen mögen, aus Cadiz auszulaufen.«
Jetzt erhob sich am Tisch ein allgemeines Geknurre, fast wie von wilden Tieren. Die meisten der anwesenden Seeoffiziere gehörten nämlich zu Sir John Jervis' Mittelmeergeschwader, das nun schon seit Monaten im Atlantik kreuzte, um die Spanier abzufangen, sobald sie sich auf See zeigten. Jervis mußte seine Schiffe immer paarweise nach Gibraltar detachieren, damit sie Proviant und Vorräte ergänzen konnten, und die anwesenden Offiziere kamen von den beiden Linienschiffen, die zur Stunde in Gibraltar lagen.
Dazu würde Jonny Jervis gewiß seinen Segen geben«, sagte Sir Hew. »Also, meine Herren, ein volles Glas auf die Dons!
Mögen sie recht bald die Nase in See stecken.«
Jetzt erhoben sich die Damen und scharten sich um Lady Dalrymple. Sobald es die Schicklichkeit zuließ, bat Hornblower, sich verabschieden zu dürfen, und machte sich davon. Er wollte heute nicht viel trinken, weil er einen klaren Kopf brauchte, wenn er am folgenden Morgen zum erstenmal als selbständiger Kommandant in See ging.
Vielleicht bewirkte gerade die bevorstehende Einschiffung der Herzogin mit all dem Drum und Dran, das dabei zu bedenken war, daß sich Hornblower nicht so viele Gedanken über sein erstes selbständiges Kommando machte. Noch vor Hellwerden, ja ehe noch die kurze Dämmerung des Mittelmeers anbrach, war er schon auf den Beinen, um sich zu überzeugen, ob sein geliebtes Schiff auch wirklich in der Lage war, der See und den Feinden Trotz zu bieten, die ihm etwa in den Weg liefen. Er hatte nur vier winzige Vierpfünder an Bord, um es mit diesen Feinden aufzunehmen, das hieß, daß er vor keinem Gegner sicher war. Sein Schiff war ohne Zweifel allen anderen unterlegen, denn schon die kleinste Kauffahrtei-Brigg hatte schwerere Waffen an Bord als er. So ging es ihm wie allen schwachen Geschöpfen auf dieser Erde: sein Heil lag einzig in der Flucht. Hornblower warf im grauen Dämmerlicht einen Blick in die Takelage, wo sich nachher die Segel breiten sollten, von deren Treibkraft unter Umständen alles abhing. Er ging mit seinen beiden Wachoffizieren, Fähnrich Hunter und Steuermannsmaat Winyatt, noch einmal die Wachrolle durch, um sicherzustellen, daß jeder einzelne Mann seiner elfköpfigen Besatzung genau über seine Dienstobliegenheiten im Bilde war.
Als er schließlich beim besten Willen nichts mehr zu tun fand, warf er sich in sein bestes Bordpäckchen, würgte noch ein paar Bissen Frühstück hinunter und wartete auf die Herzogin.
Glücklicherweise kam sie schon zeitig an Bord. Ihre Exzellenzen hatten sich zu einer unangenehm frühen Stunde erheben müssen, um sich von ihrem Gast zu verabschieden. Mr. Hunter meldete das Näherkommen des Gouvernementsbootes mit kaum beherrschter Erregung. »Danke, Mr. Hunter«, bestätigte Hornblower kühl. So verlangte es jetzt der Dienst, obwohl er mit Hunter noch vor wenigen Wochen in den Riggen der Indefatigable Haschen gespielt hatte.
Das Boot kam im Bogen längsseit, und zwei Matrosen in blitzsauberem Zeug hielten es mit ihren Bootshaken am Fallreep fest. Le Reve hatte einen so niedrigen Freibord, daß es selbst Damen nicht schwerfiel, aus dem Boot an Bord zu gelangen. Als der Gouverneur an Bord stieg, entboten ihm die beiden einzigen Bootsmannspfeifen, über die das kleine Schiffchen verfügte, ihren zwitschernden Gruß. Lady Dalrymple folgte ihrem Mann, und dann kam die Herzogin mit ihrer Begleiterin, einer jungen Dame, die so schön war, wie die Herzogin einst gewesen sein mochte. Ein paar Adjutanten machten den Beschluß, und damit stand das enge Deck des Schiffes bereits so voll Menschen, daß sich für das Gepäck der Herzogin kaum noch ein freies Plätzchen fand.
»So, jetzt wollen wir Ihnen einmal Ihre Kammer zeigen, Euer Gnaden«, sagte der Gouverneur.
Lady Dalrymple kreischte vor Vergnügen, als sie die winzige Kammer sah, die von den beiden Kojen fast ganz ausgefüllt war.
Und dann stieß natürlich jeder der Neugierigen mit dem Kopf gegen den niedrigen Decksbalken.
»Wir werden es schon überstehen«, meinte die Herzogin ergeben in ihr Schicksal. »Das ist immerhin mehr, als so mancher sagen kann, der die kurze Reise nach Tyburn (zum Galgen) antritt.«
Einer der Adjutanten übergab Hornblower ein Paket mit der letzten Dienstpost und verlangte seine Unterschrift auf dem Empfangsschein. Dann ging es ans Abschiednehmen, und schließlich begaben sich Sir Hew und Lady Dalrymple unter neuerlichem Gezwitscher der Bootsmannspfeifen wieder von Bord.
»Mann die Winsch!« rief Hornblower über das Deck, als die Bootsgäste des Gouverneurs ihre Riemen eintauchten. Ein paar Sekunden kräftiger Arbeit, und der Anker war kurzstag.
»Anker ist los, Sir«, meldete Winyatt.
»Klüverfall!« kommandierte Hornblower. »Großsegel klar zum Setzen!«
Le Reve fiel ab und kam vor den Wind, als die Segel standen und das Ruder zu wirken begann. Da alle Mann mit dem Katten des Ankers und mit dem Segelsetzen vollauf beschäftigt waren, dippte Hornblower selbst die Flagge zum Gruß, als sein Schiff vor dem leichten Südost die Mole passierte und die Nase in die mächtige Dünung steckte, die vom Atlantik in die Meerenge hereinstand. Aus dem Skylight zu seinen Füßen drang Geklapper und dann ein Aufschrei herauf, offenbar war dort beim ersten Einsetzen des Schiffs einiges über Stag gegangen.
Aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um die Frauen dort unten zu kümmern. Er nahm sein Glas zur Hand und richtete es erst auf Algeciras, dann auf Tarifa. Wie leicht konnte dort ein stark bemanntes Kaperschiff oder gar ein richtiges Kriegsschiff hervorbrechen, um sein wehrloses kleines Schiffchen ohne Mühe wegzuschnappen. Er kam aus diesem Grunde mindestens während der Vormittagswache nicht zur Ruhe. Kap Marroqui wurde gerundet, er setzte den Kurs nach St. Vincent ab, und dann begannen die Berge von Südspanien hinter der Kimm zu verschwinden. Kap Trafalgar war eben Steuerbord voraus in Sicht gekommen, als er seinen Kieker zusammenschob und an das Dinner dachte. Es war schön, Kommandant eines Schiffes zu sein und die Mahlzeiten nach eigenem Gutdünken bestellen zu können. Die schmerzenden Beine gemahnten ihn, daß er zu lange in einem Zug an Deck gestanden hatte - volle elf Stunden ohne Unterbrechung. Wenn ihm die Zukunft noch viele selbständige Kommandos bescherte, dann untergrub er auf diese Art und Weise vorzeitig seine Gesundheit.
Unter Deck setzte er sich auf die Backskiste und streckte aufatmend die müden Beine aus. Dem Koch gab er den Auftrag, bei der Herzogin anzuklopfen und sie mit einer Empfehlung von ihm zu fragen, ob sie irgendwelche Wünsche hätte. Er hörte bis in seine Kajüte, wie sie in bissigem Ton antwortete, nein, sie brauche nichts, nicht einmal ein Dinner. Hornblower konnte über solches Verhalten nur die Achseln zucken und aß seine eigene Mahlzeit mit allem Appetit, den ein gesunder junger Mann entwickeln kann. Als die Nacht herabsank, war er wieder an Deck. Winyatt hatte die Wache. »Es wird dick«, sagte der.
So war es. Die Sonne stand unsicher dicht über der Kimm und verhüllte sich hinter wässerigem Dunst. Er wußte wohl, daß dies der Preis war, den er für den günstigen Wind zu zahlen hatte.
Der Winter brachte in diesen Breiten immer leicht Nebel, wenn der kühle Landwind über den Atlantik hinstrich.
»Gegen Morgen wird es bestimmt noch dicker«, sagte Hornblower unmutig und änderte auf diese Aussicht hin seinen Nachtbefehl. Es sollte nicht, wie ursprünglich angeordnet, West zu Nord, sondern Kurs West gesteuert werden, damit er im Nebel auf alle Fälle gut frei von Kap St. Vincent blieb. Das war eine jener scheinbar völlig nebensächlichen Entscheidungen, die in Wirklichkeit das ganze Leben eines Menschen in eine andere Bahn lenken. Hornblower hatte später reichlich Zeit, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn er diese Kursänderung nicht befohlen hätte. Die Nacht über war er oft an Deck und spähte in den immer dicker werdenden Dunst hinaus, gerade im entscheidenden Augenblick war er jedoch nach unten gegangen, um sich ein Auge voll Schlaf zu gönnen. Er wurde von einem Matrosen geweckt, der ihn heftig an der Schulter rüttelte.
»Sir, bitte, Sir, Mr. Hunter schickt mich. Sie möchten doch gleich an Deck kommen, Sir.«
»Ich komme«, sagte Hornblower, rieb sich den Schlaf aus den Augen und wälzte sich aus seiner Koje.
Der erste Schimmer des beginnenden Tages drang bereits durch den dicken Nebel, der über dem Schiff lag. Le Reve rollte ohne stützenden Halt in einer unangenehmen See, der leichte achterliche Wind war gerade stark genug, daß das Schiff dem Ruder gehorchte. Hunter stand mit dem Rücken zum Ruder und lauschte gespannt in das undurchdringliche Grau hinaus.
»Horchen Sie!« sagte er, als Hornblower neben ihn trat.
Er sprach halb im Flüsterton und vergaß in seiner Aufregung sogar die Anrede Sir, die er seinem Kommandanten schuldig war - aber Hornblower war selbst so aufgeregt, daß er es nicht einmal merkte. Er lauschte gleich Hunter angestrengt in den Nebel hinaus. Zunächst vernahm er nur die eigenen Schiffsgeräusche, das Klappern der Blöcke beim Rollen, das Rauschen der See vorn am Bug. Dann aber unterschied er etwa das gleiche noch einmal, nur weiter entfernt. Auch dort klapperten Blöcke, auch dort brach sich die See unter einem Schiffsbug.
»Ein Schiff, das dicht neben uns liegt«, sagte Hornblower.
»Jawohl, Sir«, sagte Hunter. »Nachdem ich nach Ihnen geschickt hatte, hörte ich sogar ein Kommando. Ich glaube, es wurde auf spanisch gegeben, jedenfalls in einer fremden Sprache.«
Die Furcht vor der unbekannten Gefahr senkte sich ebenso schwer über das kleine Schiff wie der Nebel.
»Holen Sie alle Mann heraus, aber leise«, sagte Hornblower.
Während er den Befehl noch aussprach, fragte er sich, ob er überhaupt einen Sinn hatte. Gewiß, er konnte seine Besatzung auf Gefechtsstationen schicken und die Vierpfünder bemannen, aber wenn das Schiff dort hinter der Nebelwand auch nur um ein weniges mehr Kampfkraft besaß als ein Kauffahrer, dann drohte ihm tödliche Gefahr. Zu seiner Beruhigung redete er sich ein, das Schiff könnte eine mit Schätzen beladene spanische Galeone sein. Die wollte er mit einem kühnen Handstreich entern und wäre dann bis an sein Lebensende ein reicher Mann.
»Alles Gute zum Valentinstag«, sagte plötzlich jemand neben ihm, daß er erschrocken zusammenfuhr. Er hatte ganz vergessen, daß die Herzogin an Bord war.
»Ruhe da!« zischte er sie wütend an, worauf sie fassungslos verstummte. Sie hatte sich zum Schutz gegen die feuchte Luft in einen Kapuzenmantel gehüllt und war in der nebligen Dämmerung nur als schattenhafter Umriß zu erkennen. »Darf ich fragen...«, begann sie. »Nein, kein Wort«, flüsterte Hornblower.
Der Nebel trug eine rauhe Männerstimme herüber, andere Stimmen wiederholten deren Befehl, Pfeifen schrillten, es gab eine Menge Lärm und Unruhe.
»Das klingt spanisch, Sir, nicht wahr?« flüsterte Hunter.
»Natürlich, sie machen Wachwechsel, horchen Sie.« Zwei Doppelschläge einer Schiffsglocke drangen herüber. Vier Glasen auf der Morgenwache - und dann hörte man ringsum noch ein Dutzend anderer Glocken wie ein Echo der ersten.
»Mein Gott«, flüsterte Hunter, »wir sind anscheinend mitten in einer Flotte.«
»Ja, in einer Flotte von großen Schiffen«, fügte Winyatt hinzu, der mit an Deck erschienen war, als alle Mann herausgeholt wurden. »Die Dons sind also ausgelaufen«, sagte Hunter.
Und der Kurs, den ich absetzte, hat uns mitten hineingeführt, dachte Hornblower bitter. Es war bei Gott zum Verrücktwerden, wenn man sich dieses Pech vor Augen hielt. Dennoch durfte er jetzt nicht bei solchen Gedanken verweilen, er unterdrückte sogar die bitteren Worte, die sich auf seine Lippen drängten, als ihm einfiel, wie begeistert sie noch gestern mit Sir Hew darauf getrunken hatten, daß eben diese Flotte endlich auslaufen möge.
»Sie setzen mehr Segel«, bemerkte er trocken, »die Dagos führen die Nacht über stets kleine Segel, genau wie die dicken Indienfahrer. Sie setzen ihre Bramsegel erst bei Tagesanbruch.«
Ringsum hörte man im Nebel das Quietschen der Blöcke, den Gleichtakt stampfender Schritte beim Holen der Fallen, das Klatschen an Deck geworfener Enden und dazu ein Gewirr unzähliger Stimmen.
»Die machen aber reichlich Krach bei ihren Manövern«, meinte Hunter.
Man sah ihm an, wie ihm die Aufregung zusetzte, als er sich immer wieder vergeblich bemühte, den Nebel mit dem Blick zu durchdringen.
»Gebe Gott, daß sie einen anderen Kurs steuern als wir«, sagte Winyatt, der sich etwas ruhiger und vernünftiger gab, »dann sind wir nämlich bald durch.«
»Das ist recht unwahrscheinlich«, meinte Hornblower.
Le Reve lief fast platt vor dem leichten Hauch einer Brise, wenn die Spanier dagegen aufkreuzten oder mit halbem Wind steuerten, dann hätten sich ihre Kurse in einem erheblichen Winkel geschnitten. In diesem Fall wären die von dem nächstgelegenen Schiff herüberdringenden Geräusche naturgemäß entweder stärker oder schwächer geworden. Aber davon war keine Rede. Daraus war zu schließen, daß Le Reve den Spanier bis mitten in ihren Verband hinein auf gleichem Kurs von achtern aufgelaufen war, weil diese während der Nacht nur kleine Segel führten. Es erhob sich die Frage, was in diesem Fall zu tun war. Sollte man Segel kürzen oder beidrehen, um wieder zurückzubleiben, oder war es besser, noch mehr Segel zu setzen, um die feindliche Flotte vollends zu überholen.
Im Verlauf der nächsten Minuten ergab sich die Gewißheit, daß die Flotte und die Sloop genau auf gleichen Kursen lagen, da sie sich sonst auf alle Fälle dem einen oder anderen Schiff genähert hätten. Solange der Nebel anhielt, konnten sie sich daher auf diesem Kurs verhältnismäßig sicher fühlen.
Aber man konnte kaum erwarten, daß es weiter so dick blieb, wenn erst die Sonne höher kam.
»Sollten wir nicht den Kurs ändern, Sir?« fragte Winyatt.
»Abwarten«, sagte Hornblower.
Es war nun schon hell genug, daß er beobachten konnte, wie die Nebelmassen bald dicker, bald dünner an ihnen vorübertrieben. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß man nicht mit einem Fortbestand des Nebelwetters rechnen durfte.
Schon im nächsten Augenblick liefen sie aus einer Nebelbank heraus und hatten plötzlich klare Sicht.
»Dort ist es, das Schiff!« stammelte Hunter aufgeregt.
Offiziere und Mannschaften begannen im ersten Schreck wie wild an Deck herumzurennen.
»Jeder bleibt, wo er ist, verflucht noch mal!« stieß Hornblower wütend und heiser vor Aufregung hervor.
An Steuerbord, kaum eine Kabellänge entfernt, war ein riesiger Dreidecker aus dem Nebel aufgetaucht, der auf Parallelkurs neben ihnen herlief. Voraus und an Backbord unterschied man die schattenhaften Umrisse anderer Kriegsschiffe. Wenn sie jetzt die Aufmerksamkeit des Gegners auf sich zogen, dann gab es keine Rettung mehr. Es blieb ihnen also nur der Ausweg, weiterzusteuern wie bisher und so zu tun, als hätten sie das gleiche Recht hier zu sein wie die Linienschiffe. Bei dem verlotterten Dienstbetrieb in der spanischen Marine war es immerhin denkbar, daß der Wachhabende Offizier da drüben nicht wußte, ob eine Sloop wie Le Reve zu seiner Flotte gehörte oder nicht. Vielleicht - das wäre allerdings ein Wunder gewesen - gab es bei diesem Verband sogar ein Fahrzeug ähnlicher Art. Le Reve stammte immerhin aus Frankreich und war auch nach französischer Art getakelt.
Jetzt glitt das kleine Schiff Seite an Seite mit dem riesigen Linienschiff über die träge auflaufenden Seen. Es befand sich in Kernschußweite von fünfzig schweren Geschützen, ein einziger gut gezielter Treffer hätte genügt, es zum Sinken zu bringen.
Hunter fluchte zwar noch immer leise vor sich hin, rührte sich jedoch nicht von der Stelle - die Disziplin wirkte wieder einmal Wunder. Auch mit dem schärfsten Kieker wäre es keinem von dort drüben gelungen, an Bord der Sloop irgend etwas von verdächtiger Unruhe zu entdecken. Eine neue Nebelwand zog heran, und bald waren sie wieder ganz in feuchtes Grau gehüllt.
»Gott sei Dank«, atmete Hunter auf. Er schien gar nicht zu merken, wie schlecht dieser fromme Ausruf zu seiner eben beendeten Flucherei passen wollte.
»Klar zum Halsen«, sagte Hornblower. »Gehen Sie auf Backbord-Bug an den Wind.«
Es war nicht nötig, die Leute noch besonders zur Ruhe zu ermahnen, jeder von ihnen wußte nur zu genau, welche Gefahr ihm drohte. Die Schoten wurden lautlos dichtgeholt und an Deck aufgeschossen, die Sloop wurde so hart wie möglich an den Wind gebracht, sie neigte sich in der leichten Brise um ein weniges zur Seite und stemmte sich mit dem Backbord-Bug gegen die müde anrollenden Seen. »Jetzt kreuzen wir ihren Kurs«, sagte Hornblower. »Hoffentlich laufen wir ihnen dabei nicht vor den Bug, sondern hinter dem Heck vorbei«, meinte Winyatt.
Die Herzogin stand noch immer in ihrem Kapuzenmantel auf dem Achterdeck. Sie hatte sich ganz an das Heck zurückgezogen, um möglichst niemandem im Weg zu stehen.
»Würden es Euer Gnaden nicht doch vorziehen, unter Deck zu gehen?« fragte Hornblower und mußte sich dabei richtig dazu zwingen, die formelle Anrede zu gebrauchen.
»O nein, bitte, lassen Sie mich hier«, sagte die Herzogin.
»Unter Deck? Das wäre mir unerträglich.«
Hornblower zuckte nur die Achseln und vergaß dann ganz ihre Gegenwart, da ihn alsbald eine neue Sorge befiel. Er verschwand unter Deck und erschien sogleich mit den beiden dicken Umschlägen wieder an Deck, die die Depeschen enthielten. Dann zog er einen Belegnagel aus der Nagelbank und begann die Umschläge sorgfältig mit einem Ende Kabelgarn daran zu befestigen.
»Bitte, Mr. Hornblower«, sagte die Herzogin, »verraten Sie mir doch, was Sie da tun.«
»Ich will sicherstellen, daß diese Umschläge samt ihrem Inhalt bestimmt untergehen, wenn ich sie im Fall unserer Gefangennahme über Bord werfe.«
»Dann sind sie also unwiederbringlich verloren?«
»Das ist immer noch besser, als daß sie die Spanier zu lesen bekommen«, sagte Hornblower so geduldig, wie es seine Verfassung erlaubte.
»Wie wäre es, wenn ich sie übernähme?« schlug die Herzogin vor. »Ich könnte sie wirklich an Ihrer Stelle besorgen.«
Hornblower blickte sie durchdringend an.
»Nein«, sagte er, »man könnte Ihr Gepäck durchsuchen.
Damit müssen wir auf alle Fälle rechnen.«
»Ach was, Gepäck!« sagte die Herzogin, »glauben Sie denn, ich bin so töricht und lege sie in meinen Koffer? Nein, ich trage sie auf der Haut, so weit werden sie mich doch auf keinen Fall untersuchen. Ich stecke sie unter meinen Unterrock, dort finden sie sie nie.«
Hornblower hörte sich ganz verblüfft diese ungeschminkt sachliche Sprache an. Aber gerade darum mußte er sich eingestehen, daß der Plan der Herzogin Hand und Fuß hatte.
»Wenn sie uns gefangennehmen«, fuhr sie jetzt fort, »ich bete zu Gott, daß es uns erspart bleibt, aber wenn es doch dazu kommt, dann behalten sie mich auf keinen Fall in Gefangenschaft. Das wissen Sie so gut wie ich. Um mich loszuwerden, bringen sie mich nach Lissabon oder auf irgendeine Art an Bord eines britischen Kriegsschiffs. In beiden Fällen erreichen diese Depeschen doch noch ihr Ziel. Wohl kommen sie vielleicht spät, aber das ist immer noch besser als gar nicht.«
»Da haben Sie recht«, sagte Hornblower nachdenklich.
»Ich werde sie behüten wie mein eigenes Leben«, sagte die Herzogin. »Ich schwöre Ihnen, daß ich mich nie von den Papieren trennen werde. Niemand soll erfahren, daß ich sie habe, bis ich sie einem Offizier Seiner Majestät übergeben kann.«
Sie begegnete Hornblowers Blick mit einem Ausdruck von entwaffnender Offenheit.
»Der Nebel wird dünner, Sir«, meldete Winyatt.
»Machen wir rasch«, sagte die Herzogin.
Zu einem längeren Für und Wider war keine Zeit mehr.
Hornblower löste die Umschläge aus ihrer Verschnürung, reichte sie ihr hin und steckte den Belegnagel wieder an seinen Platz.
»Diese verdammten französischen Moden«, schimpfte die Herzogin. »Ich hatte doch recht, daß ich Ihre Briefe unter dem Unterrock verstecken wollte. Im Busen hätte ich keinen Platz dafür.«
Das Oberteil ihres Gewandes bot wirklich allzuwenig Raum für ein Versteck. Die Taille war bis unter die Achseln hochgezogen, und der Rest des Kleides fiel ohne jede Rücksicht auf anatomische Einzelheiten glatt am Körper herab.
»Geben Sie mir einen Meter von dem Bindfaden da, aber rasch!« sagte die Herzogin.
Winyatt schnitt ihr mit seinem Messer ein entsprechendes Stück Kabelgarn ab und gab es ihr. Sogleich zog sie ihre Unterröcke hoch, und Hornblower wandte bestürzt den Blick zur Seite, als er oberhalb ihres Strumpfes eine Handbreit weißen Fleisches schimmern sah. Der Nebel lichtete sich, darüber gab es nun keinen Zweifel mehr. »Jetzt können Sie wieder herschauen«, sagte die Herzogin, ihr Unterrock fiel aber erst, als Hornblower längst wieder hinsah.
»Die Briefe sind unter meinem Hemd«, sagte die Herzogin, »ich trage sie auf der bloßen Haut, genau wie ich Ihnen versprach. Diese Directoiremode hat den Nachteil, daß niemand mehr ein Korsett trägt. Darum habe ich einfach den einen Umschlag auf der Brust und den anderen auf dem Rücken befestigt. Können Sie etwas davon entdecken? Bitte sehen Sie mich an!«
Sie drehte sich vor Hornblower um sich selbst, damit er sie genau in Augenschein nehmen konnte.
»Nein, man sieht bestimmt nichts«, sagte er. »Ich muß Euer Gnaden meinen aufrichtigen Dank für diese Hilfe sagen.«
»Hm, die Dinger tragen doch etwas auf«, sagte die Herzogin, »aber die Spanier können meinetwegen weiß Gott was vermuten, wenn sie nur nicht auf die Wahrheit kommen.«
Für Hornblower gab es im Augenblick nichts zu tun, und das eben brachte ihn in Verlegenheit. War es nicht mehr als seltsam, mit einer Frau an Bord des eigenen Schiffes über ihr Hemd und ihr Korsett besser gesagt ihr nicht vorhandenes Korsett - reden zu müssen?
Die Sonne stand noch immer tief am Horizont und brach nun mit wäßrigem Schimmer durch den Nebel, so daß er vor ihrer Helligkeit die Augen zusammenkniff. Das Großsegel warf schon einen dunkleren Schatten über das Deck. Sekunde um Sekunde nahmen die Strahlen an Wärme und Leuchtkraft zu.
»Jetzt ist es soweit«, sagte Hunter.
Der Horizont vor ihnen weitete sich rasch und immer rascher.
Aus ein paar Metern Sicht wurden hundert, wurde eine halbe Meile. Die See wimmelte von Schiffen, sechs waren schon deutlich zu erkennen, vier Linienschiffe und zwei große Fregatten alle mit der rotgoldener, spanischen Flagge im Topp und, was sie noch deutlicher als Spanier kennzeichnete, jedes mit einem riesiger hölzernen Kreuz an der Gaffelpiek. »Noch einmal Halsen Mr. Hunter«, sagte Hornblower, »damit wir wieder in den Nebel kommen «
Nur dort konnte man noch auf Rettung hoffen, denn die Schiffe, die ihnen vor dem Wind entgegenkamen konnten ja nicht umhin, Verdacht zu schöpfen und Fragen zu stellen und es bestand nicht die geringste Aussicht, ihnen allen weit genug auszuweichen. Le Reve schwenkte also abermals herum, aber die Nebelbank aus der sie eben aufgetaucht war, wurde unter den zehrenden Strahlen der Sonne schon zusehends dünner. Nur ein Schleier zog noch träge vor ihnen her und löste sich vor ihren Augen auf, während sie vergeblich hofften, ihn noch einzuholen.
Jetzt hallte der Donner eines Kanonenschusses zu ihnen herüber, und zugleich spritzte an Steuerbord achtern dicht beim Schiff die Wassersäule einer abprallenden Kugel auf, die dann im Bogen über sie hinwegflog und vor dem Bug in die See klatschte. Hornblower fuhr rasch genug herum, daß er eben noch den verwehenden Qualm am Bug der Fregatte sah, die offenbar hinter ihnen hersetzte.
»Zwei Strich Steuerbord«, befahl er dem Rudergänger und versuchte mit einem einzigen raschen Blick den Kurs der Fregatte, die Windrichtung, die Peilungen der anderen Schiffe und des letzten dünnen Restes der Nebelbank gegeneinander abzuschätzen.
»Zwei Strich Steuerbord«, wiederholte der Rudergänger.
»Vor- und Großschoten!« befahl Hunter.
Wieder ein Schuß, diesmal viel zu kurz, aber der Seite nach genau gezielt.
Jetzt fiel Hornblower plötzlich die Herzogin ein.
»Euer Gnaden müssen jetzt unter Deck«, sagte er kurz und bestimmt.
»Nein, um Gottes willen, nur das nicht«, wehrte sich die Herzogin ganz entsetzt. »Bitte lassen Sie mich bleiben, wo ich bin. Unten halte ich es nicht aus. Meine Zofe liegt seekrank in ihrer Koje und möchte am liebsten sterben. Dieses winzige, stinkende Loch ist die Hölle.«
Die Kammer bot natürlich nicht die geringste Sicherheit, denn die Planken des kleinen Schiffchens waren viel zu dünn und schwach, um einer Kanonenkugel zu widerstehen. Tief unten im Laderaum wären die Frauen vielleicht in Sicherheit gewesen, aber dort hätten sie sich höchstens flach auf die Salzfleischfässer legen können.
»Segel voraus!« schrie der Ausguckposten.
Auch dort teilte sich jetzt der Nebel, und es zeigten sich die Umrisse eines Linienschiffes, das höchstens eine Meile entfernt war und den gleichen Kurs steuerte wie Le Reve. Bum - bum.
Das waren gleich zwei Schüsse von der Fregatte hinter ihnen.
Diese Schießerei verriet natürlich der ganzen spanischen Flotte, daß sich etwas Ungewöhnliches begab. Auch das Linienschiff dort vorn hatte wahrscheinlich längst beobachtet, daß die kleine Sloop verfolgt wurde. Eine Kugel sauste mit schrecklichem Geheul ganz dicht vorüber. Das Linienschiff schien auf sie warten zu wollen, Hornblower sah, wie seine Marssegel langsam backgeholt wurden.
»An die Schoten!« befahl Hornblower. »Mr. Hunter, bitte halsen.« Le Reve kam wieder herum und steuerte auf die immer enger werdende Lücke zu, die an Backbord noch offen war. Die Fregatte achtern drehte auf, um ihr den Weg zu verlegen.
Wieder qualmte es um ihren Bug. Eine Kugel sauste mit ohrenbetäubendem Geheul so dicht an Hornblower vorbei, daß er vom plötzlichen Winddruck taumelte. Das Großsegel hatte plötzlich ein Loch.
»Das sind keine Warnungsschüsse mehr, Euer Gnaden«, sagte Hornblower. Jetzt feuerte das Linienschiff, das ein paar Oberdecksgeschütze ausgerannt und besetzt hatte. Es war, als wäre der Weltuntergang gekommen. Le Reve bekam einen Treffer in den Rumpf, man fühlte, wie sich das Deck bei seinem Einschlag hob, als wollte das kleine Schiff in Stücke fliegen. Im gleichen Augenblick wurde auch der Mast getroffen, Wanten und Stege brachen, ein Regen von Splittern prasselte an Deck.
Der Mast, samt Segeln, Baum und Gaffel stürzte krachend nach Luv über Bord. Die Trümmer schleppten im Wasser nach und holten das arme, hilflose Wrack mit dem Rest Fahrt, den es noch hatte, zu sich herum. Die kleine Gruppe auf dem Achterdeck war im ersten Augenblick sprachlos vor Schreck.
»Ist jemand verletzt?« fragte Hornblower, der als erster wieder zu sich fand.
»Ich habe einen kleinen Kratzer abbekommen«, meldete sich ein Matrose. Es war ein Wunder, daß der Mast niemanden erschlagen hatte.
»Meistersmaat, peilen Sie die Pumpen«, sagte Hornblower, besann sich aber gleich eines Besseren: »Nein, belege das, sollen die Dons das Schiff über Wasser halten, wenn sie können.«
Das Linienschiff, dessen Salve den Schaden angerichtet hatte, braßte seine Marssegel schon wieder und hielt von ihnen ab, während die verfolgende Fregatte jetzt rasch näher kam. Eine weinende Jammergestalt tauchte aus dem achteren Niedergang auf, es war die Zofe der Herzogin, so außer sich vor Angst und Schrecken, daß sie die Seekrankheit ganz vergessen hatte. Die Herzogin legte ihr den Arm schützend um die Schultern und versuchte, ihr gut zuzureden.
»Ich würde Euer Gnaden empfehlen, sich um Ihr Gepäck zu kümmern«, sagte Hornblower. »Voraussichtlich werden wir uns bald trennen müssen, da Sie bei den Dons wohl ein Extraquartier bekommen werden. Ich hoffe, daß Sie dort besser untergebracht sind als hier.«
Er gab sich verzweifelte Mühe, so ruhig und sachlich zu reden, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre, als ob er nicht schon sehr bald in spanische Gefangenschaft geraten würde. Aber der Herzogin entging doch nicht, wie es um seine Mundwinkel zuckte und wie sich seine Hände krampfhaft zu Fäusten ballten.
»Könnte ich Ihnen nur sagen, wie sehr ich Sie um Ihr Mißgeschick bedauere«, sagte die Herzogin mit einer Wärme, die ihr echtes Mitgefühl verriet.
»Dann könnte ich es nur um so schwerer ertragen«, meinte Hornblower und zwang sich dabei sogar ein Lächeln ab.
Die spanische Fregatte drehte jetzt bei, sie lag eine Kabellänge in Luv.
»Darf ich etwas fragen, Sir?« sagte Hunter. »Bitte.«
»Könnten wir nicht kämpfen? Wenn Sie befehlen, werfen wir Kanonenkugeln in ihre Boote, sobald sie längsseit kommen.
Einmal könnten wir sie damit vielleicht abschlagen.«
In der Qual seiner Verzweiflung hätte ihm Hornblower ums Haar ins Gesicht geschrien: Sie sind ja verrückt!, aber er konnte eben noch an sich halten und begnügte sich damit, stumm auf die Fregatte zu zeigen. Zwanzig Geschützmündungen starrten ihnen dort aus nächster Schußentfernung entgegen. Allein das Boot, das sie eben aussetzte, war doppelt so stark bemannt wie sein kleines Schiff, das doch nicht größer war als so manche Lustjacht. Die Aussicht auf einen Erfolg hätte nicht zehn zu eins, nicht hundert zu eins, ja kaum zehntausend zu eins gestanden.
»Ja, es hätte wohl keinen Zweck, Sir«, sagte Hunter.
Jetzt war das Boot des Spaniers zu Wasser und stand im Begriff abzusetzen.
»Ein Wort unter vier Augen, Mr. Hornblower«, sagte die Herzogin unvermittelt.
Hunter und Winyatt hatten ihre Worte gehört und zogen sich zurück.
»Bitte, Euer Gnaden?« sagte Hornblower.
Die Herzogin hielt immer noch ihre weinende Zofe im Arm und blickte ihm fest in die Augen.
»Ich bin so wenig eine Herzogin wie Sie selbst«, sagte sie.
»Großer Gott!« rief Hornblower. »Aber wer sind Sie dann?«
»Kitty Cobham.«
Der Name kam Hornblower irgendwie bekannt vor, dennoch wußte er nichts Rechtes damit anzufangen.
»Offenbar sind Sie noch zu jung, als daß Ihnen mein Name etwas bedeuten könnte. Immerhin ist es schon fünf Jahre her, seit ich das letztemal auf den Brettern stand.«
Richtig, nun wußte er Bescheid: Kitty Cobham, die berühmte Schauspielerin.
»Ich kann Ihnen jetzt nicht alles erzählen«, fuhr die »Herzogin« fort, als das spanische Boot schon über die Seen herangetanzt kam, »also fasse ich mich kurz. Der Einmarsch der Franzosen in Florenz war für mich nur die letzte einer ganzen Reihe von Katastrophen. Als ich ihnen entwischte, besaß ich keinen Pfennig Geld. Konnte ich erwarten, daß auch nur ein Mensch für eine ehemalige Schauspielerin einen Finger rührte, für eine Schauspielerin, die von aller Welt verraten und verkauft war und mutterseelenallein durch die Fremde irrte? Welcher Ausweg blieb mir da noch? Als Herzogin hatte ich sofort wieder Boden unter den Füßen. Sie wissen ja selbst, wie sich der alte Darymple bemühte, der Herzogin von Wharfedale zu Diensten zu sein.«
»Wie kamen Sie gerade auf diesen Namen?« fragte Hornblower trotz aller Aufregung voller Neugier.
»Nun, ich hatte von ihr gehört«, sagte die »Herzogin« achselzuckend, »und wußte, daß sie so war, wie ich sie spielte.
Darum verfiel ich auf sie. Außerdem lagen mir Charakterrollen von jeher besser als tragische. Sie werden vor allem nie langweilig, auch auf die Dauer nicht.«
Hornblower durchfuhr bei diesen Eröffnungen plötzlich ein eisiger Schreck.
»Um Gottes willen, meine Depeschen!« rief er. »Geben Sie sie mir zurück, aber rasch!«
»Wenn Sie durchaus wollen«, entgegnete die »Herzogin«.
»Für die Spanier bleibe ich natürlich die Herzogin. Sie werden mich so rasch wie möglich in Freiheit setzen, und ich werde die Depeschen besser behüten als mein Leben. Darauf schwöre ich Ihnen einen heiligen Eid. Wenn Sie mir Vertrauen schenken, gelangt diese Post in weniger als einem Monat ans Ziel.«
Hornblower bohrte seinen Blick in ihre flehenden Augen.
Gewiß, sie konnte eine Spionin sein, die mit aller List versuchte, die Post vor der Vernichtung zu bewahren, um sie den Spaniern in die Hände zu spielen. Wie aber hätte sie je damit rechnen können, daß Le Reve ausgerechnet mitten in die spanische Flotte geraten würde?
»Ich weiß, ich habe in meinem Leben gern und viel getrunken«, sagte die »Herzogin«, »das stimmt, und ich will es nicht leugnen. Aber in Gibraltar blieb ich nüchtern, das wissen Sie doch. Und ich rühre keinen Tropfen mehr an, keinen Tropfen, bis ich wieder in England bin. Auch das schwöre ich Ihnen. Bitte, Sir, bitte erlauben Sie mir doch, daß ich meinem Vaterland diesen Dienst erweise.«
Für einen jungen Menschen von neunzehn Jahren war es alles andere als einfach, zu diesem seltsamen Begehren ja oder nein zu sagen, zumal er noch nie im Leben mit Schauspielern zu tun gehabt hatte. Eine harte Befehlsstimme von außenbords verriet ihm, daß die Spanier im Begriff waren, längsseit zu kommen.
»Behalten Sie sie in Gottes Namen«, sagte Hornblower, »und liefern Sie sie ab, so bald Sie können.«
Er hatte den Blick nicht von ihr gewandt und wartete darauf, in ihren Augen ein triumphierendes Aufleuchten zu entdecken.
In diesem Fall hätte er ihr die Depeschen noch irgendwie vom Leibe gerissen. Aber ihr Ausdruck verriet ihm nichts als echte Freude über seine Entscheidung. Da erst - und keinen Augenblick eher - beschloß er, ihr sein Vertrauen zu schenken.
Das spanische Boot hatte inzwischen längsseit eingehakt, ein spanischer Leutnant kletterte linkisch über die Reling und landete schließlich auf allen vieren an Deck. Als er wieder auf den Beinen stand, trat ihm Hornblower zum Empfang entgegen.
Der Häscher und sein Gefangener begrüßten sich mit einer höflichen Verbeugung. Was der Spanier dabei sagte, konnte Hornblower nicht verstehen, offensichtlich handelte es sich um eine formelle Erklärung. Alsbald entdeckte der Spanier die beiden Frauen und hielt überrascht in seiner Rede inne.
Hornblower beeilte sich, ihn, so gut es ging, auf spanisch vorzustellen.
»Senor el teniente espanol«, sagte er, »Senora la Duquesa de Wharfedale.«
Der Titel verfehlte seine Wirkung nicht, der Leutnant knickte förmlich zusammen und wurde dafür von der »Herzogin« mit einem unglaublich hochmütigen Kopfnicken belohnt. Jetzt war Hornblower überzeugt, daß seine Depeschen gut aufgehoben waren. Das war wenigstens ein kleiner Lichtblick in dem Elend, das er durchlitt, während er an Deck seines kleinen, lecken Schiffes stand und der Gefangenschaft entgegensah. Noch wartete er auf das, was kommen mußte, da hörte er weit in Lee ein um das andere Mal ein donnerndes Grollen, das gegen den Wind herüberdrang. Echter Donner konnte das nicht sein, dazu hielt er viel zu lange an. Blieb also nur noch eine zweite Möglichkeit: was er da hörte, waren Schiffe - waren Flotten im Gefecht. Da drüben lag Kap St. Vincent. Sollte es der britischen Flotte endlich gelungen sein, die Spanier dort zum Kampf zu stellen? Immer lauter und wilder rollten die Salven der Artillerie. Die Spanier, die an Bord geklettert waren, verrieten wachsende Unruhe, während Hornblower barhäuptig vor ihnen stand und darauf wartete, in Gefangenschaft abgeführt zu werden.
Gefangenschaft war ein entsetzliches Los. Erst als die Betäubung von Hornblower wich, konnte er ermessen, was es hieß, ein Gefangener zu sein. Nicht einmal die Nachricht von dem vernichtenden Schlag, den die spanische Flotte bei St.
Vincent erlitten hatte, konnte sein Elend und seine Verzweiflung lindern. Ursache seines Zustandes waren nicht etwa die äußeren Lebensbedingungen - er hauste mit anderen gefangenen Deckoffizieren auf einem alten Segelboden in Ferrol mit zehn Quadratfuß pro Mann Lebensraum, also durchaus nicht schlechter als so mancher Leutnant an Bord. Worunter er litt, war vielmehr allein der Verlust der Freiheit, das entsetzliche Bewußtsein, ein Gefangener zu sein.
Volle vier Monate hatte er dieses Elendsdasein schon gefristet, als ihn endlich der erste Brief erreichte. Spanien, dessen Regierung in jeder Hinsicht versagte, hatte auch das schlechteste Postwesen von ganz Europa. Aber schließlich war der Brief doch angelangt. Man hatte ihn ein um das andere Mal umadressiert, bis er endlich in Hornblowers Hand gelangte, und der hatte ihn zu guter Letzt noch einem dummen spanischen Unteroffizier buchstäblich aus der Hand geschnappt, als jener ratlos über seinem ausländischen Namen brütete. Hornblower kannte die Handschrift nicht. Als er das Siegel erbrochen und den Brief geöffnet hatte, brachte ihn die Anrede zunächst auf den Gedanken, daß er vielleicht gar nicht für ihn bestimmt sei.
Mein lieber Junge, begann er.
Wer in aller Welt konnte ihn mit diesen Worten anreden? Wie im Traum las er weiter.
Mein lieber Junge, ich hoffe, Du wirst Dich ein wenig freuen, wenn ich Dir sage, daß das, was Du mir gabst, wohlbehalten an seinen Bestimmungsort gelangte. Als ich es ablieferte, erfuhr ich, Du seiest in Gefangenschaft, und darum blutet mein Herz für Dich. Ich hörte weiter, man sei mit Deinem Verhalten sehr zufrieden. Stell' Dir vor, einer dieser Admirale ist Teilhaber am Drury Lane-Theater. Wer hätte das gedacht. Er sah mich so freundlich lächelnd an, daß auch ich ihm mein liebenswürdigstes Lächeln zeigte. Das war alles. Da ahnte ich noch nicht, daß er an dem Theater beteiligt ist, ich lächelte wirklich nur, weil ich ihm von Herzen gut war. Was ich ihm dann noch über meine ausgestandenen Ängste und über die Gefahren der Reise mit meiner kostbaren Bürde erzählte, war wohl zum größten Teil nur Schauspielerei - leider. Immerhin, er glaubte mir aufs Wort und war von meinem Lächeln und meinen Abenteuern so hingerissen, daß er Sherry veranlagte, mir eine Rolle zu geben. Und siehe da, seitdem spiele ich - wieder zweite Hauptrollen, meistens Heldenmütter, und das Parkett spendet mir begeistert Beifall. Ja, ich beginne einzusehen, daß auch das Alter seine guten Seiten hat. Noch eins: seit wir damals auseinander gingen, habe ich keinen Tropfen Wein mehr angerührt und weiß heute schon, daß ich es bis zum Ende meiner Tage nicht mehr tun werde. Als weitere Belohnung versprach mir der Admiral, daß er Dir diesen Brief durch die nächste Kartellkommission übermitteln wird - wahrscheinlich sagt Dir dieser Ausdruck mehr als mir. Ich kann nur hoffen, daß er recht bald in Deine Hände gelangt und Dir in Deinem Leid ein bißchen Trost spendet. Ich bete jeden Abend für Dich.
In herzlicher Zuneigung Deine Katharine Cobham
Trost in seinem Leid? Doch, ein bißchen vielleicht. Es war tröstlich zu wissen, daß die Depeschen gut angekommen waren, es war auch tröstlich, aus zweiter Hand zu erfahren, daß Ihre Lordschaften mit ihm zufrieden waren, ja, es bot sogar ein klein wenig Trost, zu hören, daß seine »Herzogin« wieder auf der Bühne stehen durfte. Und doch, was wogen alle diese Tröstungen zusammen gegenüber der endlosen Qual der Gefangenschaft?
Ein Wachmann meldete sich mit dem Auftrag, ihn zum Lagerkommandanten zu bringen. Neben dem Kommandanten erwartete ihn der irische Renegat, der den Dienst eines Dolmetschers versah. Auf dem Schreibtisch des Spaniers lagen verschiedene Papiere, es sah so aus, als hätte die Kartellkommission nicht nur den Brief von Kitty Cobham, sondern auch Post für den Kommandanten überbracht.
»Guten Abend, Sir«, begrüßte ihn der Kommandant höflich wie immer und bot ihm einen Stuhl an.
»Guten Abend, Sir, und besten Dank«, erwiderte Hornblower.
Spanisch machte ihm immer noch große Schwierigkeiten, daher blieb auch der Erfolg entsprechend gering.
»Sie sind befördert worden«, eröffnete ihm der Ire auf englisch. »Was sagen Sie da?« stammelte Hornblower ungläubig. »Daß Sie befördert sind«, wiederholte der Ire. »Hier in diesem Brief steht es: die spanischen Behörden werden davon in Kenntnis gesetzt, daß der Fähnrich zur See und diensttuende Leutnant Horatio Hornblower auf Grund seiner Verdienste zum Leutnant zur See befördert wurde und das Patent seines neuen Dienstgrades erhalten hat. Ihre Lordschaften der Admiralität sprechen die Erwartung aus, daß Mr. Horatio Hornblower ohne Verzug in den Genuß aller Rechte gelangt, die gefangenen Offizieren zustehen. Nun, junger Mann, was sagen Sie dazu?«
»Meinen Glückwunsch, Sir«, sagte der Kommandant.
»Besten Dank, Sir«, sagte Hornblower.
Der Kommandant war ein gütiger alter Herr und schenkte dem linkischen jungen Mann ein freundliches Lächeln. Er sagte noch alles mögliche auf spanisch, aber Hornblower verstand ihn nicht, weil ihm viele von den Ausdrücken fehlten, die jener gebrauchte. Schließlich sah er sich hilfesuchend nach dem Dolmetscher um.
»Da Sie jetzt Offizier sind«, erklärte ihm dieser, »wird man Sie bei den anderen gefangenen Offizieren unterbringen.«
»Danke«, sagte Hornblower.
»Als Gefangener erhalten Sie den halben Sold Ihres Dienstgrades.«
»Danke.«
»Noch eins: von nun an gilt Ihr Ehrenwort. Auf dieses hin dürfen Sie täglich für zwei Stunden Ihr Quartier verlassen, um die Stadt oder die Umgebung aufzusuchen.«
»Danke«, sagte Hornblower.
Während der langen Monate, die nun folgten, bot es ihm in seinem Unglück doch ein bißchen Linderung, daß ihm sein Ehrenwort täglich zwei Stunden Bewegungsfreiheit gab, Freiheit, die Gassen der kleinen Stadt zu durchwandern, wenn er Geld in der Tasche hatte, eine Tasse Schokolade oder ein Glas Wein zu genießen und dabei mit spanischen Soldaten, Matrosen oder Zivilisten eine höfliche, aber anstrengende Konversation zu pflegen. Noch besser war es, diese beiden Stunden in Wind und Sonne auf einsamen Ziegenpfaden zu durchwandern, die sich über das Vorgebirge hinzogen, und dabei Zwiesprache mit dem Meer zu halten, um daraus Trost in seinem Leid zu schöpfen.
Verpflegung und Unterbringung waren etwas besser geworden. Vor allem aber konnte er sich sagen, daß er nun endlich Leutnant war und ein vom König unterzeichnetes Patent besaß. Allerdings war er auch damit immer noch zum Hungern verurteilt, wenn der Krieg eines Tages doch zu Ende ging, weil man ihn dann bestimmt mit Halbsold entließ. Im Frieden gab es ja für junge Leutnants wie ihn kaum noch eine Aussicht auf Verwendung. Immerhin, er hatte sich seine Beförderung redlich verdient, seine Vorgesetzten waren offenbar mit ihm zufrieden.
Daran konnte er sich immer wieder aufrichten, während er seine einsamen Wege ging.
Eines Tages wehte es stürmisch aus Südwest, der Wind fegte in heulenden Stößen vom Atlantik her gegen die Küste.
Dreitausend Meilen war er über offenes Meer gebraust, er hatte seine Kräfte ungehindert sammeln können und trieb nun riesige Wogenungetüme vor sich her, die eines um das andere mit donnerndem Getöse an der spanischen Küste zerschellten.
Hornblower stand auf dem Landvorsprung oberhalb des Hafens von Ferrol. Er stemmte sich gegen den Wind, um nicht umgerissen zu werden, und schlug sich seinen alten, abgetragenen Wintermantel enger um den Leib. Es wehte so hart, daß er gegen den Wind kaum atmen konnte. Drehte er sich um, dann fiel ihm zwar das Atmen leichter, aber dafür wehte ihm der Sturm die wirren Haare in die Augen, stülpte ihm den Mantel fast über den Kopf und zwang ihn mit unwiderstehlicher Gewalt dazu, sich trippelnd den Hang hinunterzubewegen, an dessen Fuß Ferrol lag. Er verspürte jedoch einstweilen nicht die geringste Lust, schon wieder in die Stadt zurückzukehren. Für zwei Stunden durfte er Freiheit und Alleinsein genießen, und darum war ihm diese Spanne die kostbarste des ganzen Tages.
Solange sie währte, durfte er mit vollen Zügen die reine Seeluft atmen, durfte er gehen, wohin er wollte, und tun, wonach ihm der Sinn stand. Am schönsten war es, mit scharfem Blick über die See hinauszuspähen, denn es kam immer wieder einmal vor, daß man von dem hohen Kap aus ein britisches Kriegsschiff entdeckte, das sich langsam an dieser Küste entlangarbeitete, um vielleicht einen kleinen Segler abzufangen und dabei zugleich alle Bewegungen der spanischen Flotte zu überwachen. Wenn sich ein solches Schiff während Hornblowers freier Stunde zeigte, dann verfolgte er es unverwandten Blicks, so wie ein Verdurstender einem Eimer Wasser nachstarrt, der außerhalb seiner Reichweite vorübergetragen wird. Dabei studierte er alle kleinen Einzelheiten, den Schnitt der Marssegel, die Art der Bemalung und so weiter, während ihm der Jammer in den Eingeweiden wühlte.
Denn nun neigte sich schon das zweite Jahr seiner Kriegsgefangenschaft dem Ende zu. Zweiundzwanzig Monate lang hatte er täglich zweiundzwanzig Stunden hinter Schloß und Riegel gesessen, er und fünf andere junge Leutnants waren in einem einzigen Raum der Festung Ferrol zusammengepfercht.
Heute aber sang ihm der Sturm ein brausendes Lied von schrankenlos schweifender Freiheit. Er stemmte sich wieder mit aller Kraft gegen an und blickte über die See hinaus. Vor ihm lag La Corufia, seine weißen Häuser sahen aus wie über die Hänge hingestreute Zuckerstücke. Zwischen ihm und La Corufia lag die offene Bucht gleichen Namens, weiß von Gischt unter den peitschenden Stößen des Sturms, zur Linken öffnete sich die schmale Einfahrt in die Bucht von Ferrol, rechter Hand endlich breitete sich der freie Atlantik. Dort unten aber, am Fuß der niedrigen Klippen, begann das gefährliche Riff der Dientes del Diablo - der Teufelszähne -, das sich weit nach Norden hinaus erstreckte, quer zur Bahn der gewaltigen Roller, die der Sturm gegen das Festland jagte. Jede halbe Minute warf sich einer dieser Wellenberge mit solcher Wucht gegen das Riff, daß sogar der Felsen unter Hornblowers Füßen erbebte, im gleichen Augenblick zersprühte er zu Gischt, den der Wind verwehte, bis die drohenden schwarzen Felszacken wieder zum Vorschein kamen.
Hornblower hielt sich nicht allein auf dem Vorgebirge auf.
Wenige Meter weiter stand ein Milizsoldat der spanischen Artillerie auf Ausguck und starrte mit tränenden Augen durch ein Fernrohr, mit dem er ständig den Seehorizont absuchte. Der Krieg gegen England verlangte allergrößte Wachsamkeit. Wie leicht konnte da draußen an der Kimm plötzlich eine Flotte auftauchen und eine Truppenmacht an Land setzen, um Ferrol zu erobern, seine Werften niederzubrennen und alle Schiffe im Hafen zu zerstören. Heute, sagte sich Hornblower, mußte man allerdings jede Hoffnung auf ein derartiges Unternehmen begraben, weil sich an dieser sturmgepeitschten Leeküste jede Landung von selbst verbot.
Und doch hielt der Posten sein Fernrohr allem Anschein nach ständig auf einen Punkt genau in Luv gerichtet. Er wischte sich nur kurz mit dem Ärmel die tränenden Augen aus und starrte dann sofort wieder in die gleiche Richtung. Hornblower folgte seinem Blick und strengte seine Augen an, konnte aber nicht erkennen, was die Aufmerksamkeit des Mannes so in Anspruch nahm. Der Posten murmelte etwas vor sich hin, dann wandte er sich ab und rannte schwerfällig bergab auf das kleine Wachhaus zu, wo seine Milizabteilung untergekrochen war, die die Bedienungen der auf dem Vorgebirge aufgestellten Geschütze zu stellen hatte. Er tauchte sogleich mit dem Feldwebel der Wachabteilung wieder auf, der nun selbst das Fernglas zur Hand nahm und auf die Stelle in Luv richtete, die ihm der Posten angab. Dann schwatzten die beiden aufgeregt in ihrem barbarischen Gallego-Dialekt. Hornblower hatte zwar im Lauf der Zeit Galicisch ebenso verstehen gelernt wie Kastilisch, aber diesmal verwehte der heulende Wind die Worte der beiden, so daß er so gut wie nichts davon aufschnappte. Endlich, als der Feldwebel auf eine Bemerkung des anderen zustimmend nickte, erkannte er mit bloßem Auge, was sie so aufregte. Ein winziges, blaßgraues Rechteck ragte in der Kimm über die graue See - das war das Marssegel eines Schiffes, das offenbar vor dem Sturm auf die Küste zulief, um in La Coruna oder Ferrol Schutz zu suchen.
Das war auf alle Fälle ein gewagtes Unternehmen, denn es war bei diesem Wetter alles andere als einfach aufzudrehen, um in der Bucht von La Coruna zu ankern, und bestimmt erst recht schwierig, auf Anhieb die schmale Einfahrt nach Ferrol zu treffen. Ein vorsichtiger Kapitän zöge es bei diesem Wetter sicherlich vor, sich von der Küste freizukreuzen oder bei ausreichendem Seeraum so lange beizudrehen, bis es sich ausgeweht hatte.
So sind sie eben, diese Spanier, dachte Hornblower und zuckte geringschätzig die Achseln. Aber im Grunde genommen konnte man es ihnen nicht verdenken, wenn sie so rasch wie möglich nach einem schützenden Hafen strebten, da ihnen doch draußen die Royal Navy überall auf den Hacken saß. Aber die Aufregung des Feldwebels und des Postens war mit Auftauchen eines einzelnen Schiffes schlechthin nicht zu erklären.
Hornblower konnte sich zuletzt nicht mehr beherrschen, er pirschte sich an das schwatzende Paar heran und legte sich dabei schon auf spanisch die Worte zurecht, die er an die beiden richten wollte.
»Bitte, meine Herren«, begann er und nahm dann mit erhobener Stimme gleich noch einen zweiten Anlauf, um den heulenden Sturm zu überschreien: »Bitte, meine Herren, sagen Sie mir, was Sie dort sehen.«
Der Feldwebel maß ihn mit einem unschlüssigen Blick, fand sich dann aber doch aus einem unerkennbaren Grund bereit, der Bitte zu willfahren, und reichte ihm das Fernrohr. Hornblower konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln, er hätte ums Haar seine Beherrschung verloren und es dem Mann aus der Hand gerissen. Mit dem Glas am Auge ließ sich natürlich alles viel besser unterscheiden. Er sah, daß das Schiff voll getakelt war und unter dichtgerefften Marssegeln (was bei diesem Wetter jeder Vernunft Hohn sprach) mit rasender Fahrt auf die Küste zujagte. Im nächsten Augenblick machte er dann noch ein zweites graues Rechteck aus. Noch ein Marssegel - noch ein Schiff! Sein Vortopp war merklicher niedriger als der Großtopp und nicht nur das, der ganze Aufbau dieser Takelage war nicht zu verkennen: es konnte sich nur um ein britisches Kriegsschiff, eine Fregatte, handeln, die ihrem Gegner, wahrscheinlich einem spanischen Kaperschiff, mit brausender Fahrt nachsetzte. Ob sie rechtzeitig an den Spanier herankam? Oder ob es diesem im letzten Augenblick doch noch gelang, den Schutz der Küstenbatterien zu erreichen? Er senkte das Glas, um sein Auge ein wenig auszuruhen, und schon hatte es ihm der Feldwebel wieder entrissen. Der hatte die ganze Zeit das Mienenspiel des Engländers beobachtet, und Hornblowers Ausdruck hatte ihm verraten, was er wissen wollte. Die beiden Schiffe da draußen verhielten sich so ungewöhnlich, daß er sich berechtigt fühlte, seinen Offizier herauszuholen und Alarm zu schlagen.
Feldwebel und Posten rannten spornstreichs zum Wachhaus hinunter, und alsbald quollen dort die Artilleristen aus allen Türen, um die Geschütze auf dem Kamm des Kliffs zu besetzen.
Sehr bald zeigte sich auch ein berittener Offizier, der seinen Gaul mit den Sporen eilig den Pfad herauftrieb. Ein kurzer Blick durch das Fernrohr sagte ihm alles. Mit klappernden Hufen sprengte er wieder bergab zur Batterie, und gleich darauf fiel dort ein Schuß, der die ganze übrige Küstenverteidigung alarmierte. Am Mast neben der Batterie stieg die spanische Flagge empor, und Hornblower sah, daß auf San Anton wie zur Antwort ebenfalls die Flagge gesetzt wurde. Dort lag nämlich eine weitere Batterie, die die Aufgabe hatte, die Bucht von La Coruna zu schützen. Jetzt waren alle Geschütze besetzt, denen die Verteidigung dieser Einfahrt oblag, und ein englisches Schiff, das in ihre Reichweite kam, hatte bestimmt keine Gnade zu erwarten.
Verfolger und Verfolgter hatten seit ihrem Insichtkommen schon den halben Weg bis La Coruna zurückgelegt. Hornblower erkannte von seinem erhöhten Standort aus bereits ihre Rümpfe über der Kimm und konnte mit bloßem Auge verfolgen, wie sie taumelnd über die graue See einherschnoben. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß ihnen bei diesem Wahnwitz die Stengen über Bord gingen oder die Segel aus den Lieken flogen. Die Fregatte war immer noch eine halbe Meile zurück und mußte noch wesentlich aufholen, ehe sie bei diesem Seegang hoffen konnte, ihre Geschütze wirksam zum Tragen zu bringen.
Jetzt kam sogar der Kommandant mit seinem Stab klappernd den Weg herauf geritten, um den Höhepunkt dieses dramatischen Geschehens mitzuerleben. Als er Hornblower bemerkte, zog er mit echt spanischer Höflichkeit seinen Hut, worauf ihm Hornblower, der keinen Hut aufhatte, wenigstens mit einer ebenso höflichen Verbeugung zu danken suchte. Er hatte ein dringendes Anliegen vorzubringen und ging daher gleich auf den Kommandanten zu. Der Sturm zwang ihn, sich am Sattelknopf des Spaniers festzuhalten und mit voller Lungenkraft zu ihm hinaufzuschreien: »Mein Urlaub auf Ehrenwort läuft in zehn Minuten ab, Sir. Darf ich um Verlängerung bitten? Bitte, erlauben Sie mir noch hierzubleiben!«
»Ja, bleiben Sie nur«, sagte der Kommandant großzügig.
Hornblower verfolgte die Jagd, dennoch versäumte er nicht, auch die Vorbereitungen genau im Auge zu behalten, die die Spanier zur Abwehr trafen. Er hatte zwar sein Ehrenwort gegeben, aber der Ehrenkodex eines Gentleman konnte ihm nicht verbieten, von allem Notiz zu nehmen, was er wahrnahm.
Eines Tages winkte ihm vielleicht doch wieder die Freiheit, und dann mochte es von Nutzen sein, wenn er über die Verteidigung von Ferrol genau Bescheid wußte. Jeder der vielen Leute, die sich inzwischen angesammelt hatten, verfolgte jetzt den Verlauf der Jagd, die allgemeine Erregung stieg, je näher die beiden Schiffe kamen. Der Engländer hielt sich etwa hundert Meter hinter dem Spanier, war aber augenscheinlich nicht imstande, ihn vollends einzuholen - Hornblower hatte sogar den Eindruck, als ob sich der Vorsprung des Spaniers etwas vergrößerte. Aber die englische Fregatte stand immerhin weiter seewärts, das hieß, daß es für den Gegner dorthin kein Entrinnen gab. Jeder Versuch, von Land abzudrehen, mußte ihm sofort seinen ganzen Vorsprung kosten. Wenn es ihm also nicht gelang, die Bucht von La Coruna oder die Einfahrt nach Ferrol zu erreichen, dann war er rettungslos verloren.
Jetzt stand er schon auf der Höhe des Kaps von La Coruna, es wurde Zeit, hart Ruder zu legen und in die Bucht hineinzudrehen, immer in der Hoffnung, daß seine Anker hinter dem schützenden Vorgebirge Halt fanden. Wenn jedoch der Sturm mit so unbändiger Gewalt gegen die Kliffs und Felsenkaps einer Steilküste tobt, dann entstehen zuweilen ganz unerwartete Lagen. Eine Bö, die überraschend aus der Bucht herausstieß, mußte den Spanier von vorn gefaßt haben, als er gerade im Begriff stand aufzudrehen, denn seine Segel schlugen plötzlich back. Hornblower sah, wie das Schiff taumelnd seine Fahrt verlor. Dann, als der Rückwind sich erschöpfte und der Sturm wieder die Oberhand gewann, legte es sich beim ersten Stoß so weit über, daß die Rahnocken ins Wasser tauchten.
Langsam, langsam richtete es sich wieder auf. Da sah Hornblower, wie sich in seinem Großmarssegel ein Schlitz auftat. Das dauerte nur einen kurzen Augenblick, im nächsten schon war das Segel weg - verschwunden, der Sturm hatte es einfach zu Fetzen zerrissen, als seine Festigkeit erst gelitten hatte. Mit dem Verlust des Großmarssegels war der Segeldruck einseitig nach vorn verschoben, so daß sich das Schiff nicht mehr manövrieren ließ. Der Sturm faßte in das Vormarssegel und drehte es wie eine Wetterfahne vor den Wind. Wäre Zeit genug gewesen, achtern auch nur einen Fetzen Segel zu setzen, dann hätte das die Rettung bedeutet, aber hier in diesen engen Gewässern ging es ja um Sekunden. Einen Augenblick hatte es ausgesehen, als sollte es dem Spanier gelingen, die Huk von La Coruna zu runden, im nächsten schon mußte er diese Hoffnung für immer begraben.
Jetzt konnte er nur noch versuchen, die schmale Einfahrt zu erreichen, die nach Ferrol führte. Der Wind war für einen solchen Versuch beinahe günstig - beinahe. Hornblower versetzte sich in die Lage des spanischen Kapitäns auf dem schwankenden Deck dort unten und suchte seine Gedanken mitzudenken. Da! Er zwang das Schiff herum, man sah, er wollte wirklich die enge Einfahrt erreichen, die ihrer Schwierigkeiten wegen bei allen Seefahrern berüchtigt war.
Jetzt lag er auf dem richtigen Kurs, und als er nun quer über die Bucht hinjagte, da schien es sekundenlang, als sollte es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit doch noch glücken, die Einfahrt in den engen Schlauch genau zu treffen. Aber schon faßte ihn wieder der Rückwind von den Bergen. Hätte sein Schiff noch rasch genug dem Ruder gehorcht, dann wäre auch jetzt noch nichts verloren gewesen, nun aber bewirkte der falsch verteilte Segeldruck, daß es dem Ruder nur träge folgen konnte. Der heulende Sturm drückte ihm einfach den Bug herum, und damit schien das bittere Ende unvermeidlich. Aber der spanische Kapitän gab den Kampf noch immer nicht auf. Er fand sich nicht damit ab, sein Schiff am Fuß der niedrigen Klippen auf Strand zu setzen, er legte vielmehr das Ruder hart zu Bord und unternahm den tollkühnen Versuch, mit Hilfe des von den Felsen abprallenden Rückwindes vom Kap von Ferrol klarzukommen und sich am Wind nach See zu freizusegeln. Der Mann war weiß Gott tollkühn, aber sein Versuch war eben doch zum Scheitern verdammt, ehe er ihn noch recht begonnen hatte.
Wieder drückte ihm der Wind den Bug herum, und er konnte nicht mehr verhindern, daß sein Schiff vierkant auf die langgestreckte, drohende Zackenkette der Teufelszähne lossteuerte. Hornblower, der Kommandant und alle anderen eilten quer über den Rücken des Vorgebirges, um den letzten Akt der Tragödie mit anzusehen. Mit unheimlicher Fahrt, platt vor dem Wind raste das Unglücksschiff auf die Klippen zu. Ein mächtiger Roller nahm es auf den Rücken, als es ihnen näher kam, und schien es noch schneller voranzutreiben. Dann kam der Stoß, der Roller zerstob rings um das Schiff zu Gischt, der es sekundenlang der Sicht entzog. Als der Gischt endlich verwehte, kam es, zum Wrack verwandelt, wieder zum Vorschein. Alle drei Masten waren bei dem Stoß über Bord gegangen, nur der dunkle Rumpf hob sich noch aus der schäumenden See. Die hohe Fahrt und die schiebende Gewalt des Rollers hatten es fast ganz über das Riff hinweggejagt, wobei ihm zweifellos der ganze Boden aufgerissen wurde. Jetzt hing es achtern auf dem Felsen und ragte daher mit dem Heck hoch heraus, während der Bug an der ruhigeren Leeseite des Riffs ganz unter Wasser lag.
Auf dem Wrack lebten noch Menschen. Hornblower sah, wie sie am Schott des Achterdecks kauerten, um etwas Schutz zu finden. Ein neuer atlantischer Roller wälzte sich heran, zerstob an den Teufelszähnen und hüllte das ganze Wrack in Gischt.
Aber schon kam es wieder zum Vorschein, ein schwarzer Fleck in dem schneeigen Schaumgewirbel ringsumher. Das Schiff war weit genug über das Riff hinweggerutscht, um mit dem größten Teil seines Rumpfes hinter eben den Felsen Schutz zu finden, die ihm zum Verderben geworden waren. Hornblower sah nur noch die armen Menschen, die da drüben um ihr bißchen Leben rangen. Noch war ihnen eine kurze Frist gegönnt, wenn sie Glück hatten, fünf Minuten, wenn es ihr Unglück wollte, fünf lange, bange Stunden.
Die Spanier um ihn her ergingen sich in lauten Verwünschungen. Frauen weinten, Männer schüttelten drohend ihre Fäuste nach der britischen Fregatte, die, zufrieden mit ihrem Erfolg, rechtzeitig an den Wind gegangen war und nun unter Sturmsegeln wieder von der Leeküste freikreuzte. Es war schauderhaft, hilflos zusehen zu müssen, wie die armen Teufel da unten zugrunde gingen. Wenn nur eine einzige, besonders hohe See über das Riff hinfegte und dabei das aufgespießte Heck losriß, dann sank das ganze Wrack sofort in die Tiefe.
Aber auch wenn dies nicht geschah, mußte der Rumpf mit der Zeit aufbrechen. Wer dann noch am Leben war, kam rettungslos in den berstenden Trümmern um. Und wenn es noch lange dauerte, bis das Schiff auseinanderbrach, dann tat bis dahin der eiskalte Gischt sein Werk, der die armen Burschen mit seinen pausenlosen Hieben allmählich zu Tode peitschte. Es mußte etwas geschehen, um sie zu retten. Aber was sollte man tun? Es war von vornherein ausgeschlossen, daß ein Boot bei diesem Wetter die Huk der Einfahrt rundete, um sich von Luv her den Teufelszähnen zu nähern und auf diesem Weg an das Wrack heranzukommen. Das lag so klar auf der Hand, daß man keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden brauchte. Also mußte man es anders versuchen. Hornblower dachte fieberhaft nach, um eine Lösung des Problems zu finden. Der Kommandant redete vom Pferd herunter heftig auf einen spanischen Seeoffizier ein, offenbar drängte auch er auf einen Versuch zur Rettung der Schiffbrüchigen. Und als der Seeoffizier dann hilflos die Arme ausbreitete, da konnte das nur bedeuten, daß er jedes derartige Unterfangen für aussichtslos hielt.
Und doch, es gab einen Weg zu helfen... Hornblower war nun schon zwei Jahre in Gefangenschaft, sein ganzer aufgestauter Tatendrang wollte sich jetzt plötzlich entladen. Die lange elende Kerkerhaft hatte ihn so weit gebracht, daß er bereit war, sein kümmerliches Dasein bedingungslos in die Schanze zu schlagen. Er trat entschlossen an den Kommandanten heran und fiel ihm kurzerhand ins Wort.
»Sir«, sagte er, »lassen Sie mich versuchen, die Leute zu retten. Vielleicht von dieser kleinen Bucht aus... wenn ein paar Fischer mitmachen wollen...«
Der Kommandant blickte den Offizier fragend an, und dieser zuckte die Achseln.
»Was schlagen Sie vor, Herr?« fragte der Kommandant Hornblower.
»Wir könnten ein Boot aus der Werft holen und über die Landzunge schaffen, auf der wir stehen«, stammelte Hornblower mühsam auf spanisch. »Aber wir müssen uns beeilen - sehr beeilen!«
Dabei wies er auf das Wrack, und seine Mahnung wurde dadurch unterstrichen, daß gerade wieder ein mächtiger Roller über die Teufelszähne hinwegbrauste.
»Wie wollen Sie ein Boot so weit über Land schaffen?« fragte der Kommandant.
Es wäre bei diesem Wind schon mühsam genug gewesen, dem anderen seinen Plan auf englisch ins Ohr zu schreien, auf spanisch war es ihm ganz und gar unmöglich.
»Ich kann Ihnen das in der Werft zeigen, Sir«, schrie er, »hier kann ich es nicht erklären. Aber wir müssen vor allem schnell sein.«
»Sie wollen also zur Werft?«
»Ja! Ja!«
»Dann sitzen Sie hinter mir auf«, sagte der Kommandant.
Hornblower kletterte linkisch in den Reitsitz auf der Kruppe des Gauls und hielt sich am Koppel des Kommandanten fest. Er wurde bei jedem Schritt übel gestaucht, als das Pferd kehrtmachte und den Hang hinuntertrabte. Alle müßigen Gaffer aus der Stadt und aus den Kasernen rannten neben ihnen her.
Die Werft von Ferrol bestand fast nur noch dem Namen nach.
Sie war unter dem Druck der englischen Blockade verkümmert wie ein Baum, den man seiner Wurzeln beraubt hat. Da sie im äußersten Winkel Spaniens lag und das Innere des Landes nur über weite, unglaublich schlechte Straßen zu erreichen war, mußte der ganze Nachschub an Vorräten und Ausrüstungsstücken über See herangeschafft werden. Diese einzige Verbindung war aber durch die vor der Küste kreuzenden englischen Fregatten ernstlich gestört. Spanische Kriegsschiffe hatten bei ihrem letzten Aufenthalt die Lager noch vollends geleert und überdies eine Menge Werftarbeiter zum Borddienst gepreßt. Dennoch mußte alles vorhanden sein, was Hornblower brauchte, so viel war ihm dank seiner sorgfältigen Beobachtung aller Vorgänge längst bekannt. Er rutschte von der Kruppe des Pferdes herunter und entging dabei wie durch ein Wunder dem Huf des aufgeregt auskeilenden Tieres. Jetzt galt es vor allem, die Gedanken beisammen zu haben, damit ihm kein Fehler unterlief.
Er deutete auf einen niedrigen Rollwagen - eigentlich war es nur eine Plattform mit Rädern, die sonst dazu diente, Fleisch-und Branntweinfässer an die Pier zu bringen.
»Pferde!« sagte er, und sogleich ging ein Dutzend dienstwilliger Männer daran, ein Gespann anzuschirren. An der Brücke lag ein halbes Dutzend Boote. Ein Zweibein mit Takel und alles übrige Gerät zum Hantieren schwerer Lasten war vorhanden. Stroppen um das Boot zu legen und es daran aufzuheißen, war das Werk weniger Minuten. Diese Spanier mochten in ihrem Alltag träge und langsam sein, konnte man sie jedoch überzeugen, daß rasches Handeln nötig war, verstand man es, ihre Begeisterung zu wecken und sie für einen neuen Plan zu gewinnen, dann legten sie sich ins Zeug wie die Wilden - und einige von ihnen erwiesen sich dabei sogar als besonders geschickt und anstellig. Riemen, Mast und Segel (obwohl dies sicher überflüssig war), Pinne, Ösfässer, alles war zur Stelle. Ein paar Männer kamen mit Klampen für das Boot aus einem Schuppen angerannt. Sie wurden sofort auf dem Rollwagen befestigt, dann wurde der Wagen herangeschoben und das Boot in die Klampen eingefiert.
»Leere Fässer«, sagte Hornblower, »kleine - nur so groß.«
Ein dunkelhäutiger galicischer Fischer hatte sofort begriffen und ergänzte Hornblowers Gestammel durch eine wortreiche Erklärung. Ein Dutzend leere Wasserfässer mit fest eingetriebenen Spunden wurde herangeschleppt, der schwarzbraune Fischer kletterte auf den Wagen und machte sich daran, sie unter die Duchten zu laschen. Waren sie richtig festgemacht, dann hielten sie das Boot noch über Wasser, wenn es bis zum Dollbord vollschlug.
»Ich brauche sechs Mann!« rief Hornblower vom Wagen herab und warf einen Blick über die Menge. »Sechs Fischer, die mit einem Boot umgehen können.«
Der Schwarzbraune war noch beim Festlaschen der Fässer.
Jetzt unterbrach er seine Arbeit und richtete sich auf.
»Ich weiß, wen wir brauchen können, Herr«, sagte er.
Er rief eine Reihe von Namen, daraufhin traten sechs Männer vor, alles kräftige, wetterfeste Burschen mit jenem selbstsicheren Ausdruck, den nur ein hartes Leben im Kampf mit den Naturgewalten zu formen pflegt. Offensichtlich war der dunkle Galicier ihr Kapitän.
»Los denn!« sagte Hornblower, aber der Galicier hielt ihn durch eine Geste zurück.
Hornblower verstand nicht, was er dabei sagte, aber ein paar von den Umstehenden nickten und eilten davon. Kurz darauf kamen sie wieder angerannt, keuchend unter der Last eines Fasses mit Frischwasser und einer Kiste, die wahrscheinlich Hartbrot enthielt. Natürlich brauchten sie Proviant, denn es konnte immerhin sein, daß sie nach See zu abgetrieben wurden.
Hornblower ärgerte sich weidlich über sich selbst, weil er diese Möglichkeit nicht ins Auge gefaßt hatte. Der Kommandant, der immer noch zu Pferde saß und die Vorbereitungen aufmerksam verfolgte, hatte ebenfalls gesehen, wie der Proviant verstaut wurde.
»Ich habe Ihr Ehrenwort«, sagte er, »bitte denken Sie daran.«
»Sie haben mein Ehrenwort, Sir«, versicherte ihm Hornblower - ein paar glückliche Minuten lang hatte er in der Tat vergessen, daß er ein Gefangener war.
Der Proviant lag sicher in der Achterplicht des Bootes. Der Kapitän blickte ihn fragend an, und Hornblower gab ihm mit einem stummen Kopfnicken Bescheid.
»Auf, Leute!« brüllte er in die Menge.
Die eisenbeschlagenen Hufe klapperten auf dem Kopfpflaster, und der Wagen schwankte vorwärts. Männer führten die Pferde, Männer wimmelten zu beiden Seiten, Hornblower und der Kapitän standen auf dem Wagen wie triumphierende Feldherren beim Einzug in eine eroberte Stadt. So ging es durch das Werfttor und durch die ebene Hauptstraße des Städtchens, dann bogen sie in den steilen Weg ein, der zum Kamm des Vorgebirges hinaufführte. Eifer und Hilfsbereitschaft der Menge ließen nicht nach. Wenn die Pferde an einer steilen Stelle langsamer wurden, dann griffen sofort an die hundert Männer zu, schoben von hinten, drückten an den Seiten und zogen mit an den Strängen, um den Wagen in Fahrt zu halten. Dicht unter dem Kamm verschlechterte sich der Weg zur bloßen Spur, aber der Wagen wankte und polterte dennoch unentwegt weiter. Auf der Höhe zweigte von dieser Spur eine noch schlechtere ab, die sich in Windungen durch Myrthen und anderes Strauchwerk zu Tal zog und an der Bucht mit dem Sandstrand mündete, die sich Hornblower gleich zuerst ausgesucht hatte. An schönen Tagen hatte er schon oft gesehen, wie dort Fischer mit ihrem Zugnetz arbeiteten, außerdem hatte er sich diesen Platz besonders eingeprägt, weil er ihm für eine überraschende Landung geeignet schien, wenn die Royal Navy einmal beabsichtigen sollte, Ferrol anzugreifen.
Der Wind hatte noch um kein bißchen nachgelassen, er pfiff Hornblower gewaltig um die Ohren, und die See, die nun in Sicht kam, glich einem brodelnden Hexenkessel. Als sie bald darauf um einen Vorsprung bogen, konnten sie auch die Kette der Teufelszähne erblicken, die sich von der Küste weit nach Luv hinaus erstreckte, und an einer ihrer gezackten Spitzen hing immer noch das Wrack als dunkler Fleck mitten im kochenden Schaum der Brandung. Irgendwer schrie bei diesem Anblick auf, und alles stemmte sich von neuem gegen den Wagen, so daß die Pferde in Trab fielen und das Fahrzeug samt seiner Last krachend über Stock und Stein bergab rollte.
»Langsam!« brüllte Hornblower. »Langsam!«
Wenn ihnen jetzt noch ein Rad oder eine Achse brach, dann hätte das ein blamables Ende seines ganzen kühnen Unternehmens bedeutet. Der Kommandant auf seinem Pferd verlieh Hornblowers Warnungsschreien durch seine eigenen lauten Befehle besonderen Nachdruck und dämpfte damit den Übereifer seiner Leute. Der Wagen legte den Rest des Weges in etwas mäßigerem Tempo zurück und langte zuletzt in der Bucht mit dem Sandstrand an. Der Wind war so stark, daß er sogar den feuchten Sand hochblies, der ihnen stechend ins Gesicht flog; dennoch spülten hier nur kleine Wellen ans Ufer, weil die Küste an dieser Stelle zurücksprang, so daß der Südweststurm hier sogar etwas ablandige Richtung hatte. Und die Gewalt der schweren Roller aus dem Atlantik, die fast parallel zur Küstenlinie angerauscht kamen, brach sich schon weit draußen in Luv an den Teufelszähnen. Die Räder mahlten im Sand, und die Pferde machten am Rande des Wassers halt. Ein Dutzend dienstbereiter Hände schirrte sie ab, und hundert willige Arme schoben den Wagen ins Wasser hinein - wenn man so viele Menschen zur Verfügung hatte, war eben alles ein Kinderspiel.
Als die erste Welle über die Plattform des Wagens spülte, kletterte die Besatzung hinauf und hielt sich bereit. Ein paar Felsbrocken verlegten dem Wagen den Weg, aber die Männer von der Miliz und die Werftarbeiter wuchteten ihn, bis an die Hüften im Wasser stehend, unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft darüber hinweg. Das Boot schwamm schon beinahe in seinen Klampen auf, jetzt schob es die Besatzung vollends frei und kletterte dann rasch an Bord, da es der Wind schon herumdrehen wollte. Sie griffen nach ihren Riemen und rissen mit solcher Kraft daran, daß das Fahrzeug nach einem halben Dutzend verbissener Schläge dem Ruder gehorchte. Der galicische Kapitän hatte sofort einen Steuerriemen in die Rundsei am Heck des Bootes gelegt, er machte gar nicht erst den Versuch, mit Ruder und Pinne zu steuern. Ehe er sich gegen den Riemen stemmte, sah er Hornblower fragend an, der ihn schweigend gewähren ließ.
Hornblower stand gegen den Wind gebeugt in der Achterplicht des Bootes und suchte zu ermitteln, wie sie am besten zwischen den Klippen hindurch an das Wrack gelangen konnten. Die Küste und der ruhige Strand lagen nun schon weit hinter ihnen, es schien unendlich lange her, daß sie dort abgefahren waren. Und immer noch kämpfte sich das Boot durch die tosende See und den heulenden Sturm unverdrossen weiter hinaus. In der tollen Kabbelung, die hier herrschte, schienen die Seen aus allen Richtungen zu laufen, daher machte das Boot ganz sinnlose Bewegungen und taumelte fortwährend wie ein Betrunkener. Wie gut, daß es die Männer an den Riemen gewohnt waren, in bewegtem Wasser zu pullen, und darum das Boot trotz aller Schwierigkeiten in Fahrt halten konnten. So allein setzten sie den Kapitän in Stand, das Fahrzeug durch das tobende Chaos zu steuern. Er riß dabei mit aller Gewalt an seinem Steuerriemen, während Hornblower nur auf den richtigen Kurs bedacht war und den Kapitän durch Handbewegungen einwinkte. So konnte dieser seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten zu verhüten, daß eine unversehens anrollende See das Boot zum Kentern brachte. Der Wind heulte, das kleine Boot arbeitete schwer in dem kurzen, steilen Seegang, dennoch kamen sie dem Wrack Meter um Meter näher. Wenn die Seen in diesem wilden Hexenkessel dennoch hauptsächlich aus einer Richtung zu kommen schienen, so lag das offenbar daran, daß sie um das äußere Ende der Teufelszähne herumschwenkten. Damit kamen sie für das Boot ungefähr querein und zwangen zu besonderer Vorsicht beim Steuern. Es galt jedesmal aufzudrehen, um einer anrollenden See mit dem Bug zu begegnen und dann sofort wieder auf den alten Kurs zu gehen, um sich wieder ein paar kostbare Meter gegen den Wind voranzuarbeiten. Hornblower nahm sich einen Augenblick Zeit, um einen Blick auf die Männer an den Riemen zu werfen, die Sekunde um Sekunde ihr Letztes an Kraft hergeben mußten. Hol - weg! Hol - weg! Es war erstaunlich, was Herz und Muskeln dieser Menschen hergaben.
Immer näher kamen sie dem Wrack. Wenn es Gischt und Wind erlaubten, konnte Hornblower jetzt schon die ganze Länge des geneigten Decks überblicken. Er sah auch die Menschen, die am Schott des Achterdecks kauerten, einer von ihnen winkte sogar herüber. Aber schon im nächsten Augenblick mußte er auf etwas ganz anderes achten. Plötzlich tauchte nämlich keine zwanzig Meter voraus ein merkwürdig gezacktes Ungetüm aus der Tiefe. Eine Sekunde lang konnte er sich nicht vorstellen, was das war, dann erschien es von neuem, und jetzt wußte er gleich Bescheid: es war das Fußende eines gebrochenen Mastes, dessen Topp noch mit einem einzelnen, heilgebliebenem Want am Schiff festhing. Der Mast war ein Stück nach Lee abgetrieben und tanzte nun in der See auf und nieder, als drohte ihnen ein Meergott mit zorniger Faust aus der Tiefe.
Hornblower machte den Bootssteurer auf das unheildrohende Ding aufmerksam, und dieser nickte zum Zeichen, daß er gesehen hatte. Sein entsetztes »Nombre de Dios!« verwehte ungehört im Sturm.
Sie hielten gut frei von dem gefährlichen Rundholz. Als sie langsam, langsam daran vorüberkamen, konnte Hornblower sehen, wie es um ihre Fahrt bestellt war, da dieses festverankerte Objekt eine sichere Schätzung erlaubte. Er mußte feststellen, daß sie mit jedem Schlag nur ein paar armselige Zoll vorwärts kamen, obwohl sich die Männer wie toll in die Riemen legten, ja, daß das Boot zuweilen sogar stand oder gar achteraus sackte, wenn es von einer besonders heftigen Bö gefaßt wurde, als ob die peitschenden Schläge der Riemen überhaupt keine Wirkung hätten. So war jeder Zoll, der sie dem Ziel näher brachte, mit einer Unsumme von Kraftaufwand erkauft.
Jetzt hatten sie den Mast endlich hinter sich und kamen dem gesunkenen Vorschiff immer näher. Zugleich waren sie auch den Teufelszähnen so nahe gekommen, daß sie jedesmal mit Gischt überschüttet wurden, wenn wieder ein neuer Brecher gegen die Außenkante des Riffs andonnerte. Im Boot schwappte das Wasser schon einen Fuß hoch von einem Ende zum anderen, aber an Ausösen war natürlich nicht zu denken, zumal jetzt der schwierigste Teil des ganzen Unternehmens bevorstand. Es galt nämlich, von der Seite her so dicht an das Wrack heranzukommen, daß die Überlebenden von Bord geholt werden konnten, aber ohne daß sich dabei das Boot etwa die Planken eindrückte. Rings um das Achterschiff des Wracks drohten allenthalben gefährliche Felsen, vorn ragte zwar die Back noch aus dem Wasser, aber das konnte nichts nützen, weil die Seen zuweilen über den vorderen Teil des Mitteldecks spülten. Das Schiff lag etwas nach Backbord, also nach ihrer Seite zu über, was das Herankommen etwas leichter machte. Im Wellental, unmittelbar ehe der nächste Brecher auf das Riff traf, erreichte das Wasser um das Wrack seinen tiefsten Stand. Auch dann waren mittschiffs neben dem Rumpf keine Felsen zu erkennen, wovon sich Hornblower hochaufgerichtet und mit gerecktem Hals überzeugte. Es war nicht schwer, den Bootssteurer genau dorthin einzuwinken. Als das Boot näher kam, gab er mit den Armen Zeichen, um die kleine Schar am Schott des Achterdecks aufmerksam zu machen, und deutete auf die Stelle, die das Boot ansteuerte. Wieder brandete eine See donnernd über das Riff, brach über das Heck des Wracks und füllte dabei das Boot bis fast zum Dollbord mit Wasser. Wirbelnde Strömungen rissen es zurück und dann wieder voraus, aber die Fässer hielten es über Wasser, und Geschick, Kraft und Erfahrung der Bootsgäste und des Mannes am Steuerriemen bewahrten es davor, entweder am Wrack oder an den Felsen zu zerschellen.
»Jetzt!« schrie Hornblower hinüber - es machte nichts aus, daß er in diesem entscheidenden Augenblick Englisch sprach.
Das Boot schoß vorwärts, die Überlebenden lösten sich aus den Laschings, mit denen sie sich an ihrem Zufluchtsort gesichert hatten, und schlitterten über das abfallende Deck auf sie zu.
Bestürzt stellte Hornblower fest, daß ihrer nur noch vier waren - das hieß, daß zwanzig bis dreißig Mann über Bord gewaschen worden waren, als das Schiff aufsetzte. Jetzt war das Boot ganz dicht heran. Auf einen mit lauter Stimme gegebenen Befehl des Bootssteurers hielten die Ruderer inne, der erste der Schiffbrüchigen riß alle Kraft zusammen, schnellte sich mit einem gewaltigen Satz durch die Luft und landete im Bug des Bootes. Ein Riemenschlag, ein Riß am Steuerriemen, und das Boot kam abermals heran. Der zweite Überlebende sprang und fiel zwischen die Duchten. Hornblower hatte währenddessen ständig auf die See geachtet und sah nun, daß vor dem Riff der nächste schwere Brecher angerollt kam. Auf seinen Warnruf strichen die Männer sofort mit aller Kraft, um das Boot in Sicherheit - oder besser gesagt, in eine etwas weniger gefährliche Lage - zu bringen, während der Rest der Schiffbrüchigen eilends wieder hinter dem Schott des Achterdecks Schutz suchte. Die See brach donnernd herein und hüllte alles in brausenden, prasselnden Gischt. Als sich dann der schlimmste Tumult gelegt hatte, arbeiteten sie sich sofort wieder an das Wrack heran. Der dritte Schiffbrüchige setzte zum Sprung an, verpaßte jedoch den richtigen Augenblick und fiel neben dem Boot ins Wasser. Er kam nicht wieder hoch, niemand bekam ihn je wieder zu Gesicht. Wahrscheinlich waren seine Kräfte durch Kälte und Nässe schon so erschöpft, daß er wie ein Stein unterging. Aber jetzt war keine Zeit, dem armen Kerl nachzutrauern. Der vierte und letzte paßte schon auf den richtigen Augenblick, sprang sofort und landete sicher im Boot.
»Sind noch mehr an Bord?« rief Hornblower. Die Antwort war ein stummes Kopf schütteln. So hatten sie also nur drei Mann retten können, und acht hatten dafür ihr Leben eingesetzt.
»Wir wollen weg«, sagte Hornblower, aber der Bootssteurer hätte dieser Aufforderung nicht bedurft.
Er hatte schon zugelassen, daß der Wind das Boot ein Stück vom Wrack und von den Felsen abtrieb, zugleich aber auch von der Küste. Ab und zu ein paar kräftige Riemenschläge reichten hin, es mit dem Bug gegen Wind und See zu halten. Hornblower kümmerte sich um die Geretteten, die halb bewußtlos und ständig vom Wasser überspült auf den Bodenbrettern lagen. Er beugte sich nieder und rüttelte sie kräftig durch, um ihre Lebensgeister zu wecken, dann drückte er ihnen die Ösfässer in die steifen Hände. Untätigkeit bedeutete den sicheren Tod. Es dunkelte beängstigend schnell, das hieß, daß sofort beschlossen werden mußte, wie sie sich weiter verhalten sollten. Die Männer an den Riemen hielten bestimmt nicht mehr allzulange durch, es war zum mindesten fraglich, ob ihre Kräfte noch ausreichten, um den weiten Rückweg nach der Bucht mit dem Sandstrand zu bewältigen, aus der sie gekommen waren. Klappten sie aber zusammen und wurde es gar noch vollends dunkel, ehe sie die heimtückischen Klippen vor der Küste hinter sich hatten, dann kamen sie in eine schlimme Lage. Hornblower setzte sich neben den galicischen Kapitän, und dieser legte ihm mit einsilbigen Worten seine Ansicht dar, ohne den wachsamen Blick von den Seen abzuwenden, die sich gegen den Bug des Bootes heranwälzten.
»Es wird dunkel«, sagte er und wies nach dem Himmel.
»Überall Felsen. Die Männer müde.«
»Wir bleiben also besser draußen«, meinte Hornblower.
»Dann müssen wir weiter von der Küste weg.«
Im jahrelangen Blockadedienst, der immer wieder zum Kreuzen vor einer Leeküste zwang, war Hornblower der Grundsatz in Fleisch und Blut übergegangen, daß man stets auf genügend Seeraum bedacht sein müsse.
»Ja«, sagte der Kapitän und fügte dann noch einen Ausdruck hinzu, den Hornblower wegen des Windes und wegen seiner mangelhaften Sprachkenntnisse beim besten Willen nicht verstehen konnte. Der Kapitän brüllte ihm das unbekannte Wort ein zweites Mal ins Ohr, nahm eine Hand vom Steuerriemen und erklärte ihm durch eine Art Zeichensprache, was er sagen wollte.
Plötzlich kam Hornblower die Erleuchtung: Aha, er meint einen Treibanker, dachte er und sagte sich, daß das wirklich das Gegebene war.
Er warf einen Blick achteraus nach der verschwindenden Küste und schätzte zugleich die Windrichtung. Der Wind schien etwas nach Süden gekrimpt zu haben, und nach Norden zu wich die Küste immer weiter zurück. Sie konnten also während der Dunkelheit ruhig vor Treibanker liegenbleiben, ohne unter den gegebenen Verhältnissen befürchten zu müssen, daß sie dabei auf die Küste trieben.
»Gut«, sagte Hornblower laut.
Er wiederholte ebenfalls durch Zeichensprache, was ihm der Kapitän eben begreiflich gemacht hatte. Und dieser bestätigte ihm durch ein Nicken, daß er richtig verstanden hatte. Auf ein lautes Kommando von ihm nahmen die beiden vordersten Bootsgäste ihre Riemen ein und machten sich daran, den Treibanker zurechtzutakeln. Er bestand nur aus einem Paar Riemen an einer langen Leine, die vom Bug des Bootes aus gefiert wurde. Bei diesem Sturm übte der Winddruck auf das Boot einen solchen Zug auf diesen bescheidenen Schwimmkörper aus, daß sein Bug dadurch gegen die See gehalten wurde. Hornblower sah, wie der Treibanker zu wirken begann.
»Gut«, sagte er noch einmal.
»Gut«, sagte auch der Kapitän und zog befriedigt seinen Steuerriemen ein.
Hornblower merkte erst jetzt, daß er die ganze Zeit naß bis auf die Haut dem tobenden Wintersturm getrotzt hatte. Er war vor Kälte ganz steif und schlotterte gegen seinen Willen am ganzen Körper. Einer der drei Geretteten lag kraftlos und völlig erschöpft zu seinen Füßen, die beiden anderen hatten inzwischen das Boot ausgeöst und waren dank dieser Tätigkeit wieder in leidlich guter Verfassung. Die Bootsgäste, die bis jetzt unentwegt an den Riemen gerissen hatten, saßen nun müde und in sich zusammengesunken auf ihren Duchten. Der galicische Kapitän hockte schon auf den Bodenbrettern und umfing den Erschöpften mit seinen Armen. Schließlich zogen es alle vor, sich unter die Duchten zusammenzukauern, um endlich dem kalten, heulenden Wind zu entgehen.
So kam die Nacht über sie. Das Boot stand abwechselnd auf dem Kopf und dann wieder auf dem Heck, so oft eine See unter ihm durchlief, und jedesmal, wenn es den Kamm erreichte, ruckte es so heftig in den Treibanker ein, daß es vom Bug bis zum Heck erzitterte. Alle paar Sekunden ergoß sich eine neue Ladung Spritzwasser in das Boot und über ihre zusammenschauernden Leiber. Da dauerte es natürlich nicht lange, bis sich wieder so viel Wasser angesammelt hatte, daß sie sich aus ihrer Umschlingung lösen und im Dunkel der Nacht nach den Ösfässern tasten mußten, um sich wieder davon zu befreien. Dann konnten sie sich erneut unter den Duchten zusammenkuscheln.
Als das in diesem Inferno von Kälte und Erschöpfung zum dritten Male geschah, da kam es Hornblower vor, als läge der Mann, um den er seinen Arm schlang, unnatürlich kalt und steif neben ihm. Es war der, den der Kapitän vor Stunden hatte munter machen wollen. Nun war es also doch mit ihm zu Ende gegangen, als er still zwischen den beiden auf den Bodenbrettern lag. Der Kapitän schaffte den Toten in der Finsternis so weit wie möglich achteraus, für die anderen nahm das Grauen dieser Nacht seinen Fortgang.
Hornblower wollte seinen Augen nicht trauen, als er endlich - endlich die ersten Anzeichen des nahenden Tages bemerkte.
Dann stieg eine graue Dämmerung über der grauen See herauf, und schon erhob sich die Frage: was nun? Aber dieses Problem löste sich von selbst, als der Tag zunahm. Einer der Fischer hatte sich im Boot erhoben, um Ausschau zu halten. Plötzlich stieß er einen heiseren Schrei aus und deutete aufgeregt nach Norden.
Dort, so nah, daß der Rumpf fast ganz über der Kimm zu sehen war, lag ein großes Schiff unter Sturmsegeln beigedreht. Der Kapitän, der offenbar ausgezeichnete Augen hatte, erkannte es auf den ersten Blick.
»Die englische Fregatte«, sagte er.
Offenbar hatte diese beigedreht etwa den gleichen Leeweg zurückgelegt wie das Boot vor seinem Treibanker.
»Wir wollen ein Notsignal machen«, sagte Hornblower.
Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden.
Das einzige Stück weiße Zeug an Bord war Hornblowers Hemd. Er zog es schaudernd vor Kälte aus, andere befestigten es an einem Riemen und setzten ihn in die Mastspur. Der Kapitän sah, wie Hornblower bebend in sein tropfnasses Jackett schlüpfte. Da zog er sich mit einem einzigen Griff seinen dicken blauen Sweater über den Kopf und forderte ihn auf, ihn anzuziehen.
»Nein, nein, danke«, wehrte Hornblower ab, aber der Kapitän bestand darauf, daß er das Kleidungsstück anzog. Mit breitem Grinsen deutete er auf den steifen Leichnam in der Achterplicht und meinte, er könne den Sweater ja leicht durch die Sachen des Toten ersetzen.
Die beiden kamen erst zum Schluß, als einer der Fischer wieder einen Ruf ausstieß. Die Fregatte kam an den Wind und lief, getrieben von dem abflauenden Sturm, unter dreifach gerefften Vor- und Großmarssegeln auf sie zu. Hornblower beobachtete eine Weile, wie sie rasch näher kam, dann warf er einen Blick nach achtern. Dort am südlichen Horizont zeichneten sich in zarten Umrissen die Berge Galiciens ab - voraus winkte ihm Wärme, Freiheit und Kameradschaft, hinter ihm lag die trostlose Einsamkeit der Gefangenschaft.
In Lee der Fregatte tanzte das Boot unheimlich in der aufgewühlten See, und viele Augenpaare blickten neugierig auf sie herab. Sie selbst waren so steifgefroren, daß sie sich kaum rühren konnten. Die Fregatte setzte ein Boot aus, und bald darauf sprangen ein paar Matrosen gewandt zu ihnen herüber.
Vom Schiff aus wurde ihnen eine Leine zugeworfen, eine Hosenboje wurde an einem Jolltau ins Boot gefiert, dann halfen die englischen Seeleute der Bootsbesatzung der Reihe nach in die Boje und hielten sie mit einem Beiholer frei, während sie an Deck geheißt wurde.
»Ich gehe als letzter«, sagte Hornblower, als sie sich zu ihm wandten. »Ich bin Offizier Seiner Majestät.«
»Wie? Das ist ja allerhand!« riefen die Matrosen überrascht.
»Nehmt den Toten ebenfalls mit«, sagte Hornblower. »Er soll ein anständiges Leichenbegängnis erhalten.«
Der steife Leichnam wirkte geradezu grotesk, als er durch die Luft nach oben schwebte. Der galicische Kapitän wollte sich mit Hornblower um die Ehre streiten, als letzter von Bord zu gehen, aber Hornblower ließ in diesem Punkt nicht mit sich reden.
Endlich halfen die Matrosen auch ihm, seine Beine in die Hose zu stecken, und sicherten ihn noch mit einer Leine um den Leib.
Schon schwebte er nach oben und pendelte dabei wie toll hin und her, da das Schiff stark rollte. Zuletzt holte man ihn binnenbords, er wurde vorsichtig gefiert und ab und zu wieder etwas geheißt, damit er keinen Stoß erlitt, bis ihn ein Dutzend kräftiger Arme aufnehmen konnten und sachte an Deck legten.
»Siehst du, mein Junge, jetzt bist du glücklich in Sicherheit«, ließ sich ein bärtiger Seemann vernehmen.
»Ich bin Offizier Seiner Majestät«, sagte Hornblower, »und möchte sofort den Wachhabenden Offizier sprechen.«
Bald darauf saß er in herrlich trockenem Zeug in der Kajüte des Kommandanten Seiner Majestät Fregatte Syrtis, Kapitän Crome, und wärmte sich an einem steifen Grog. Crome war ein kleines dürres Männchen mit sorgenvoller Miene, aber Hornblower wußte, daß er als hervorragend tüchtiger Seeoffizier galt.
»Diese Galicier sind gute Seeleute«, sagte Crome. »Pressen kann ich sie leider nicht, aber freiwillig bleibt vielleicht doch einer oder der andere bei mir an Bord, weil es ihm hier besser geht als auf einer Gefangenenhulk.«
»Sir«, begann Hornblower, hielt aber gleich wieder zögernd inne. Einem Kapitän zu widersprechen ist für einen Leutnant immer eine gewagte Sache.
»Ja?«
»Diese Männer sind mit dem Boot in See gegangen, um Menschenleben zu retten. Nach den geltenden Bestimmungen dürfen sie nicht gefangengenommen werden.«
Cromes kalte graue Augen bekamen einen eisigen Schimmer - Hornblower hatte richtig geahnt, für einen Leutnant war es wirklich ein gefährliches Unterfangen, einen Kapitän eines Besseren belehren zu wollen.
»Wollen Sie mir etwa vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe, Sir?«
»Gott bewahre, Sir, das liegt mir natürlich fern«, versicherte Hornblower eilends. »Es ist schon lange her, seit ich mich zum letzten Male mit den ständigen Befehlen der Admiralität befaßte. Wahrscheinlich trügt mich mein Gedächtnis.«
»Wollen Sie etwa sagen, die Admiralität...?« fragte Crome in etwas verändertem Ton.
»Wie gesagt, Sir, wahrscheinlich bin ich im Irrtum«, meinte Hornblower, »aber ich glaube mich doch zu erinnern, daß es einen solchen Befehl gibt und daß er im übrigen auch für die beiden anderen - die Schiffbrüchigen - gilt.«
Selbst für einen Kapitän war es gefährlich, sich über eine grundsätzliche Anordnung der Admiralität hinwegzusetzen.
»Ich will mir die Sache überlegen«, sagte Crome.
»Ich habe den Toten mit an Bord schaffen lassen, Sir«, fuhr Hornblower fort, »weil ich annehme, daß Sie den Galiciern erlauben werden, ihn in würdiger Form zu bestatten. Die Leute haben immerhin ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten.
Ich glaube, Sir, sie wären Ihnen für dieses Entgegenkommen sehr dankbar.«
»Auch das noch! Eine papistische Bestattung auf meinem Schiff! Also schön, ich werde anordnen, daß man die Leute gewähren läßt.«
»Danke, Sir«, sagte Hornblower.
»Und nun zu Ihnen selbst, Mr. Hornblower. Sie sagen, Sie hätten ein Leutnantspatent. Sie können hier an Bord Dienst tun, bis wir wieder zum Admiral stoßen. Der soll dann über Ihren weiteren Verbleib entscheiden. Soviel ich weiß, ist die Indefatigable nicht außer Dienst gestellt, also gehören Sie wahrscheinlich immer noch Rechtens zu ihrer Besatzung.«
Eben diesen Augenblick hatte sich der Teufel ausgewählt, um Hornblower zu versuchen, der sich gerade wieder einen Schluck Grog zu Gemüte führte. Die Freude, wieder an Bord eines Kriegsschiffs Seiner Majestät zu sein, war so überwältigend groß, daß sie fast schmerzte. Endlich wieder Salzfleisch und Hartbrot zu schmecken und nie mehr Bohnen und Garbanzos, endlich wieder ein Deck unter den Füßen zu haben und Englisch reden zu können! Und frei, so herrlich frei zu sein! Es war schließlich kaum anzunehmen, daß er ein zweites Mal in die Hände der Spanier fiel. Noch in der Erinnerung schauderte ihn vor dem Elend der Gefangenschaft, das er so gründlich durchgekostet hatte. Und jetzt brauchte er nur zu schweigen, ein paar Tage lang den Mund zu halten, sonst nichts. Aber der Teufel setzte ihm nicht lange zu, nur bis zum nächsten Schluck Grog. Dann schlug er ihn mit Schimpf und Schande in die Flucht und sah Crome wieder offen in die Augen.
»Leider geht das nicht, Sir«, sagte er.
»Warum?«
»Ich stehe unter Ehrenwort, Sir. Ich habe mich ehrenwörtlich verpflichtet, wieder zurückzukommen, ehe ich auslief.«
»Ach so. Das ist natürlich etwas anderes. Ich setze voraus, daß Sie dazu berechtigt waren.«
Es war allgemein üblich, daß gefangene britische Offiziere ihr Ehrenwort gaben, darum war auch in diesem Falle kaum etwas dagegen einzuwenden.
»Nach dem, was Sie sagen«, fuhr Crome fort, »haben Sie sich also in der üblichen Form verpflichtet, keinen Fluchtversuch zu machen, nicht wahr?«
»Jawohl, Sir.«
»Und welche Folgerungen ziehen Sie daraus für Ihr weiteres Verhalten?«
Crome durfte sich auf keinen Fall herausnehmen, die Entscheidung eines Gentleman nach irgendeiner Richtung zu beeinflussen, wenn es um etwas so rein Persönliches wie sein Ehrenwort ging.
»Ich muß wieder zurück, Sir«, sagte Hornblower, »und zwar bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet.« Das Herz wollte ihm brechen, als er fühlte, wie sich das Schiff weich unter ihm wiegte, und er den Blick in der gemütlichen Kajüte umherwandern ließ.
»Zum mindesten können Sie heute noch an Bord essen und schlafen«, sagte Crome. »Ich gehe erst unter Land, wenn es erheblich abgeflaut hat. Sobald ich kann, schicke ich Sie unter Parlamentärflagge nach La Coruna hinein. Außerdem werde ich nachlesen, wie ich nach den ständigen Befehlen mit meinen Gefangenen verfahren muß.«
Die Sonne schien hell vom Morgenhimmel, als der Posten des Forts San Anton im Hafen von La Coruna seinem Vorgesetzten Meldung machte, daß die englische Fregatte draußen vor dem Kap außer Schußweite beigedreht habe und eben ein Boot aussetze. Damit hatte der Posten seine Pflicht getan und konnte die Entwicklung der Dinge in Ruhe abwarten. Der Offizier sah, wie das Boot unter Segel in flotter Fahrt näher kam, und konnte bald darauf ausmachen, daß es eine weiße Flagge führte. In Büchsenschußweite drehte es bei, auf den Anruf des Offiziers erhob sich ein Mann seiner Besatzung und antwortete zum größten Erstaunen des Postens im unverfälschten Galego-Dialekt. Als das Fahrzeug, der ergangenen Aufforderung folgend, an der Landungsbrücke angelegt hatte, entstiegen ihm zehn Mann. Gleich darauf warf es wieder los und hielt ohne Verzug wieder auf die Fregatte zu. Neun von den Zehnen schrien und lachten überglücklich durcheinander, der zehnte blickte verschlossen vor sich hin und verriet mit keiner Miene, was in ihm vorging. Sein starrer Ausdruck löste sich nicht einmal, als ihm die anderen in sichtlicher Zuneigung die Arme um die Schultern legten. Niemand machte sich erst die Mühe, dem Posten zu erklären, wer dieser junge Mann war, und der Posten war auch nicht sonderlich neugierig, es zu erfahren. Als er schließlich noch mit angesehen hatte, wie die ganze Gesellschaft ein Boot bestieg, um über die Bucht von La Coruna nach Ferrol zu gelangen, war die Geschichte endgültig für ihn abgetan, und er dachte nicht mehr weiter an dieses Erlebnis.
Der Frühling war schon nahe, als ein Offizier der spanischen Miliz die Kaserne betrat, die in Ferrol als Offiziersgefängnis diente. »Senor Hornblower?« fragte er und zerbrach sich dabei fast die Zunge.
Hornblower hörte ihn von seiner Ecke aus und konnte sich immerhin zusammenreimen, daß er gemeint war, hatte er doch oft genug gehört, was aus seinem guten Namen wurde, wenn ihn ein Spanier in den Mund nahm.
»Ja«, sagte er und erhob sich.
»Wollen Sie die Güte haben mitzukommen. Der Kommandant schickt mich zu Ihnen.«
Der Kommandant trat ihm mit einer Depesche in der Hand entgegen und strahlte über das ganze Gesicht.
»Dies hier, Sir«, sagte er und wies Hornblower das Papier, »ist ein Befehl, der Ihre Person betrifft. Der Marineminister Herzog von Fuentesauco hat ihn gegengezeichnet, er trägt jedoch die persönliche Unterschrift unseres Ministerpräsidenten, des Friedensfürsten und Herzogs von Alcudia.«
»Jawohl, Sir«, sagte Hornblower trocken.
Er hätte in diesem Augenblick Hoffnung schöpfen können, aber die Gefangenschaft zermürbt am Ende jeden Menschen so, daß er überhaupt zu hoffen aufhört. So kam es, daß ihn zunächst nur die gehäuften Titel dieses Friedensfürsten fesselten, die er nun in spanischer Sprache zu hören bekam:
»Das Schreiben lautet: ›Wir, Carlos Leonardo Luis Manuel de Codoy y Boegas, Erster Minister Seiner Allerkatholischsten Majestät, Friedensfürst, Herzog von Alcudia und Grande höchsten Ranges, Graf von Alcudia, Ritter des Allerheiligsten Ordens vom Goldenen Vlies, Ritter des Heiligen Ordens von San Diego, Ritter des Allerhöchsten Ordens von Calatrava, Generalkapitän der gesamten Streitkräfte Seiner Allerkatholischsten Majestät zu Lande und zu Wasser, Generaloberst der Leibgarde, Admiral der beiden Ozeane, General der Kavallerie, der Infanterie und der Artillerie‹- um es kurz zu sagen, Sir, dieser Befehl weist mich an, unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Sie so bald wie möglich in Freiheit zu setzen. Ich bin verpflichtet, Sie unter der Parlamentärflagge zu Ihren Landsleuten zurückzuschicken, und zwar, so heißt es, ›in Anerkennung Ihrer selbstlos tapferen Haltung bei der unter Einsatz Ihres eigenen Lebens durchgeführten Rettung Schiffbrüchigen‹.«
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Hornblower.