2. Kapitel

Der Wolf wütete unter den Schafen. So weit das Auge reichte, waren die grauen Wogen der Biskaya mit weißen Segeln gesprenkelt, und trotz der harten Brise führte jedes dieser Schiffe so viel Segel, daß man für seine Takelage fürchten mußte. Sie waren alle auf der Flucht, alle bis auf ein einziges, und diese Ausnahme war Seiner Majestät Fregatte Indefatigable unter Kapitän Sir Edward Pellow. Sie war von Lee her auf einen ungeleiteten französischen Konvoi gestoßen und hatte ihm damit den natürlichen Fluchtweg nach dorthin abgeschnitten. Schiff um Schiff wurde überholt, ein paar Schüsse vor den Bug, und die neugebackene Trikolore flatterte von der Gaffel nieder.

Dann wurde Hals über Kopf ein Prisenkommando an Bord geschickt, das die Beute in einen englischen Hafen bringen sollte, und schon jagte die Fregatte ihrem nächsten Opfer nach.

Pellow stand auf seinem Achterdeck und schäumte über jede Minute Verzug. Die Brigg, die sie eben verfolgten, wollte sich nicht gleich ergeben. Die langen Neunpfünder auf dem Vorschiff der Indefatigable donnerten mehr als einmal los, bei dem schweren Seegang war es nicht so leicht zu zielen, und die Brigg blieb unentwegt auf ihrem Kurs. Vielleicht hoffte ihr Kapitän noch auf ein Wunder, das ihm Rettung brachte.

»Ha!« rief Pellow. »Der Kerl will es nicht anders, also gebt's ihm!« Die Geschützführer der Buggeschütze wechselten die Richtung, sie schossen jetzt auf das Schiff selbst und nicht mehr vor seinen Bug. »Nicht in den Rumpf, zum Donnerwetter!« schrie Pellow - ein Schuß hatte die Brigg gefährlich nahe der Wasserlinie getroffen - »nur in die Takelage!«

Der nächste Schuß wurde aus Berechnung oder nur aus gut Glück höher gerichtet. Er traf den Hänger der Vormarsrah, das gereffte Vormarssegel fiel herab, und die Rah blieb in schräger Stellung hängen. Dadurch schoß die Brigg in den Wind. Die Indefatigable drehte dicht neben ihr bei, so daß ihre Breitseite drohend auf sie gerichtet blieb. In dieser aussichtslosen Lage strich sie endlich die Flagge.

»Wie heißt die Brigg?« rief Pellow durchs Megaphon.

»Marie Galante aus Bordeaux«, übersetzte der Offizier neben ihm die Antwort des französischen Kapitäns. »Vierundzwanzig Tage in See von New Orleans mit Reis.«

»Reis«, sagte Pellow, »das trägt einen ordentlichen Batzen Geld, wenn wir sie heil nach Hause bekommen. Zweihundert Tonnen schätze ich und höchstens zwölf Mann Besatzung - also vier Mann Prisenkommando unter Führung eines Fähnrichs.«

Er sah sich suchend um, als erwartete er von irgendwoher eine Erleuchtung, ehe er seinen nächsten Befehl gab.

»Mr. Hornblower.«

»Sir!«

»Nehmen Sie vier Kuttergäste und gehen Sie an Bord dieser Brigg. Mr. Soames gibt Ihnen unseren Schiffsort. Bringen Sie das Schiff in den nächsten englischen Hafen, den Sie erreichen können, und melden Sie sich dort zum Empfang weiterer Befehle.«

»Aye, aye, Sir.«

Hornblower befand sich gerade auf seiner Gefechtsstation an den Steuerbord achteren Karronaden, er trug seinen Dolch und dazu im Koppel eine Pistole. Jetzt galt es rasch zu überlegen, denn Pellow zappelte sichtlich vor Ungeduld. Da die Indefatigable gefechtsbereit war, diente seine Seekiste unten im Zwischendeck zusammen mit einigen anderen dem Schiffsarzt als Operationstisch, er konnte also unmöglich an das Ding heran, um Sachen herauszuholen. So mußte er eben gehen, wie er war. Der Kutter kam von achtern angepullt, er rannte also an die Bordwand und rief ihn an, dabei suchte er seiner Stimme einen möglichst lauten, männlichen Klang zu geben. Der Leutnant, der das Boot führte, drehte daraufhin sofort heran, um längsseit zu kommen.

»Hier ist unsere Länge und Breite, Mr. Hornblower«, sagte Soames, der Steuermann, und drückte ihm einen Zettel in die Hand.

»Danke«, sagte Hornblower und steckte das Papier in die Tasche. Er kletterte etwas linkisch in die Großrüsten und warf einen Blick in den Kutter unter ihm. Schiff und Boot lagen fast gegen die See und stampften fürchterlich, der Abstand zwischen beiden war erschreckend groß. Hornblower zögerte eine ganze, lange Sekunde, aber am Ende blieb ihm keine andere Wahl, er mußte springen, denn hinter ihm tobte der ungeduldige Pellow, und außerdem sah er die Blicke der Bootsbesatzung und der Leute an Deck auf sich gerichtet. Da war es besser, man zog sich beim Sprung eine Verletzung zu, besser sogar, man machte sich dabei lächerlich, als daß das Schiff kostbare Zeit verlor.

Hornblower riß sich zusammen und sprang. Sein Satz war gerade weit genug, daß er mit den Füßen den Setzbord erreichte, dort hielt er sich eine endlose Sekunde lang taumelnd im Gleichgewicht. Endlich packte ihn ein Matrose am Aufschlag seines Jacketts und zerrte ihn ins Boot. Dann aber konnte er mit all seiner Kraft nicht verhindern, daß Hornblower kopfüber und mit den Beinen in der Luft zwischen die Bootsgäste stürzte. Er landete mit voller Wucht auf den Männern der zweiten Ducht und schlug so hart auf ihre muskelstarken Schultern, daß es ihm den Atem verschlug. Dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis er wieder auf die Beine kam.

»Verzeihung«, sagte er noch keuchend zu den Männern, die seinen Sturz aufgefangen hatten.

»Macht nichts, Sir«, beruhigte ihn der Zunächstsitzende, eine richtige Teerjacke mit tätowierten Armen und einem Zöpfchen im Genick, »Sie sind ja nur ein Federgewicht.«

Der Bootsoffizier warf ihm von seinem Platz in der Achterplicht einen fragenden Blick zu.

»Bitte, bringen Sie mich auf die Brigg hinüber, Sir«, sagte er.

Auf einen lauten Befehl des Offiziers drehte der Kutter, während Hornblower nach achteraus kletterte.

»Sollen Sie die Prise übernehmen?« fragte der Leutnant alsbald.

»Jawohl, Sir. Auf Befehl des Kommandanten soll ich vier von Ihren Leuten mit an Bord nehmen.«

»Dazu nehmen wir am besten erfahrene Toppsgäste«, meinte der Leutnant nach einem prüfenden Blick auf die Takelage der Brigg. Die Vormarsrah hing pendelnd am Fockmast, außerdem war anscheinend das Klüverfall gebrochen, so daß das Segel knallend im Wind schlug. Er rief vier Namen und bekam von vier Matrosen Antwort.

»Sorgen Sie nur dafür, daß die Leute keinen Schnaps bekommen«, sagte der Leutnant, »dann sind sie ganz brauchbar und manierlich. Und passen Sie vor allem gut auf die französische Besatzung auf, sonst sind Sie Ihr Schiff los, ehe Sie bis drei zählen können, und landen in einem französischen Gefängnis.«

Der Kutter rauschte bei der Brigg längsseit, das Wasser spritzte zwischen den beiden Fahrzeugen schäumend hoch. Der tätowierte Matrose sprang in die Großrüsten, ein zweiter folgte ihm auf dem Fuß. Dann warteten die beiden, bis Hornblower folgte. Der setzte ihnen nach wie ein Frosch, so daß man meinen konnte, er bestünde nur aus Armen und Beinen. Er hielt sich an den Wanten fest, aber seine Knie rutschten ab, und als jetzt die Brigg auch noch überholte, glitten ihm die Wanten durch die Hände, so daß er bis zu den Schenkeln ins Wasser tauchte. Aber die wartenden Matrosen packten ihn sofort an den Handgelenken und holten ihn an Bord. Die beiden anderen Matrosen folgten ihm. Dann stieg er als erster über die Reling und betrat das Deck.

Sein erster Anblick war ein auf der Großluke sitzender Mann, der den Kopf in den Nacken geworfen hatte und gluckernd aus einer himmelwärts gekehrten Flasche trank. Er gehörte zu einer größeren Gruppe, die rings um den Lukenrand Platz genommen hatte. Nahebei stand an Deck ein Kasten, der noch zu einem Viertel mit Flaschen gefüllt war. Einer seiner Matrosen nahm eine dieser Flaschen heraus und betrachtete sie voller Neugier.

Hornblower brauchte sich die Warnung des Leutnants nicht erst ins Gedächtnis zu rufen, der leidige Hang des britischen Seemanns zum Trinken hatte ihm selbst bei seinen verschiedenen Landkommandos mit Preßgangs schon gerade genug zu schaffen gemacht. Wenn er sich jetzt schwach zeigte, war sein ganzes Prisenkommando in einer halben Stunde genauso betrunken wie die Franzosen.

»Stell die Flasche weg!« stieß er so hastig hervor, daß seine Stimme überschnappte wie die eines vierzehnjährigen Jungen.

Der Matrose zögerte noch, als ob er sich nicht von der Flasche trennen könnte.

»Weg damit, sage ich! Kannst du nicht hören?« schrie Hornblower ganz außer sich vor Zorn. Dies war sein erstes selbständiges Kommando, alles war für ihn so neu und aufregend, daß ein solcher Zwischenfall genügte, die ganze Heftigkeit seines stürmischen Temperaments zu entzünden.

Zugleich sagte ihm sein berechnender Verstand, daß er für immer verspielt hatte, wenn er diesen einen Ungehorsam durchgehen ließ. Seine Pistole stak im Koppel, er faßte schon an ihren Griff und war fest entschlossen, sie zu ziehen und auch abzudrücken, als sich der Matrose nach einem nochmaligen Blick auf seinen Vorgesetzten eines Besseren besann und die Flasche wieder in den Kasten stellte. Damit war dieser Fall erledigt, und es wurde Zeit, an die nächste Aufgabe zu denken.

»Bringt diese Leute nach vorn«, befahl er seinen Männern, »und sperrt sie in das Logis!«

»Aye, aye, Sir.«

Von den Franzosen konnten die meisten noch gerade gehen, nur drei mußten am Rockkragen an ihren Bestimmungsort gezerrt werden, die anderen ließen sich widerstandslos wie Schafe hintreiben.

Hornblower schleifte die gefährliche Kiste mit den Flaschen eigenhändig an die Reling und warf die Flaschen ein Paar um das andere über Bord.

Das war geschafft, ehe noch die Franzosen im Logis verschwanden, und Hornblower fand jetzt etwas Zeit, sich umzuschauen. Die scharfe Brise pfiff ihm beängstigend um die Ohren, und das ununterbrochene Geknalle des schlagenden Klüvers erschwerte es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen, als er sich die Verwüstung in der Takelage näher ansah. Vor allem mußte das Schiff einmal richtig beigedreht werden. Hornblower konnte sich ungefähr denken, wie das zu bewerkstelligen war, und legte sich den Befehl dazu gerade noch rasch genug zurecht, daß niemand den Eindruck gewinnen konnte, er sei vielleicht seiner Sache nicht sicher. »Den Großtopp backbord anbrassen!« befahl er. »An die Brassen, Männer!« Hornblower stellte befriedigt fest, daß die Leute sein seemännisches Können augenscheinlich nicht in Zweifel zogen, als er aber dann wieder einen Blick auf die Bescherung im Fockmast warf, wurde ihm klar, daß er keinen Schimmer hatte, wie er dies Problem anpacken sollte. Er wußte noch nicht einmal genau, was da alles in Unordnung war. Aber seine Männer waren wenigstens Seeleute mit großer Erfahrung und hatten sicher schon Dutzende Male ähnliche Havarien erlebt. In dieser Lage blieb ihm keine andere Wahl - er mußte ihnen die Verantwortung überlassen.

»Wer ist der älteste Seemann unter euch?« fragte er schroff, damit seine Stimme auf keinen Fall Unsicherheit verriet.

»Matthews, Sir«, ließ sich endlich einer vernehmen und deutete mit dem Daumen auf den bezopften, tätowierten Matrosen, auf den er im Kutter gefallen war.

»Schön, ich befördere Sie hiermit zum Unteroffizier. Machen Sie sich sofort an die Arbeit und klarieren Sie die Wuhling im Vortopp. Ich habe jetzt hier achtern zu tun.«

Hornblower durchlebte wieder eine unruhige Sekunde, aber Matthews legte gehorsam die Fingerknöchel an die Stirn.

»Aye, aye, Sir«, sagte er schlicht, als wenn es sich um etwas ganz Selbstverständliches handelte.

»Bergen Sie vor allem den Klüver, ehe er ganz in Fetzen fliegt«, sagte Hornblower jetzt schon wesentlich kühner.

»Aye, aye, Sir.«

»Dann also an die Arbeit.«

Der Seemann wandte sich nach vorn, Hornblower ging auf das Achterdeck. Dort nahm er den Kieker aus seinen Klampen an der Reling und suchte die Kimm ab. Weit in Luv entdeckte er die Marssegel der Indefatigable, die den Rest des Geleitzuges verfolgte. Es dauerte nicht mehr lange, dann war er allein auf der weiten See, dreihundert Seemeilen von England.

Dreihundert Meilen, das waren bei gutem Wind zwei Tage Fahrt; wie viele Tage konnten aber daraus werden, wenn ihn der gute Wind im Stich ließ?

Als er den Kieker gerade wieder an seinen Platz legte, kam Matthews nach achtern gerannt und fuhr wieder ehrerbietig mit den Knöcheln an die Stirn.

»Entschuldigung, Sir, aber wir werden Rahtakel anschlagen müssen, um die Rah neu einzustroppen.«

»Schön.«

»Dazu brauchen wir aber mehr Leute, als wir sind, Sir.

Könnte ich vielleicht ein paar von den Frenchies dazu anstellen?«

»Meinetwegen, wenn Sie glauben, daß die Kerle zu gebrauchen sind. Sind sie nicht alle stockbetrunken?«

»Ich komme schon mit ihnen zurecht, Sir, nüchtern oder betrunken.«

»Gut, ich bin einverstanden.«

Während Matthews nach vorn ging, begab sich Hornblower unter Deck, um dort Umschau zu halten. In der Kapitänskajüte fand er einen Kasten mit ein paar Pistolen, daneben hing eine Pulverflasche und ein Kugelbeutel. Hornblower lud beide Pistolen und schüttete bei seiner eigenen neues Zündpulver auf, dann erschien er mit allen drei Pistolen im Koppel wieder an Deck, als seine Leute eben mit sechs von den Franzosen aus dem Logis auftauchten. Er postierte sich auf dem Achterdeck, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und versuchte auf diese Art, den Eindruck eines Mannes zu machen, der sich jeder Lage gewachsen fühlt und daher alles mit größter Ruhe an sich herankommen läßt. Als die Rahtakel erst angeschlagen waren und das Gewicht von Rah und Segel aufnahmen, war die Hauptsache geschafft, es bedurfte dann nur noch einer guten Stunde harter Arbeit, bis die Rah wieder sachgemäß eingestroppt war und das Vormarssegel gesetzt werden konnte.

Erst als das Werk schon fast so weit gediehen war, erwachte Hornblower aus seinem Tagtraum und besann sich darauf, daß er ja in wenigen Minuten einen Kurs befehlen mußte. Er stürzte also wieder nach unten, um Karte, Zirkel und Parallellineal zurechtzulegen, dann kramte er den zerknüllten Zettel mit dem Schiffsort aus der Tasche, beugte sich über die Karte und trug den Punkt nach Länge und Breite ein. Von da aus setzte er seinen Kurs ab, wie er es gelernt hatte. Es war ein seltsam unbehagliches Gefühl, sich sagen zu müssen, daß aus den bloßen Übungen, bei denen man sich in Obhut Mr. Soames' so sicher fühlte, nun plötzlich bitterer Ernst geworden war, weil es bei dieser Aufgabe nicht nur um das Resultat, sondern womöglich um sein Leben und seinen Ruf als Seemann ging. Er überprüfte also seine Arbeit nochmals mit großer Sorgfalt, entschied sich nach reiflicher Überlegung für den zu steuernden Kurs und schrieb ihn gleich auf einen Zettel, damit ihm sein Gedächtnis keinen Streich spielen konnte. Als die Vormarsrah wieder glücklich an ihrem Platz hing, die Franzosen in ihr Logis getrieben waren und Matthews weitere Befehle heischend achteraus kam, war er gerade fertig geworden.

»Wir wollen vierkant brassen«, sagte er, »schicken Sie einen Mann ans Ruder.« Er griff an den Brassen selbst mit zu, der Wind hatte inzwischen etwas nachgelassen, und er hatte den Eindruck, daß seine Leute mit der Brigg gut fertig wurden, ohne daß er Segel kürzte.

»Welcher Kurs soll gesteuert werden, Sir?« fragte der Rudergänger.

Hornblower griff in die Tasche und holte den Zettel hervor.

»Nordost zu Nord«, las er ab.

»Nordost zu Nord, Sir«, wiederholte der Rudergänger und brachte die Marie Galante vor den Wind auf den befohlenen Kurs, der sie nach England führen sollte.

Jetzt senkte sich schon die Nacht herab, und dabei gab es doch noch so viel zu tun und zu bedenken. Die ganze Verantwortung lag ja auf Hornblowers jungen Schultern, für die eine solche Bürde noch so neu und ungewohnt war. Die Gefangenen mußten sicher verwahrt und vor allem bewacht werden - das übernahm am besten der ohnedies nötige Ausguckposten, der zugleich ein Auge auf die Leute unten im Logis halten konnte. Ein zweiter Mann mußte das Ruder bedienen. Die beiden anderen konnten sich ein Auge voll Schlaf gestatten, obwohl sie sich darüber klar sein mußten, daß jedes Segelmanöver alle Mann auf den Posten rief. Hartbrot aus dem Kapitänsvorrat und ein Schluck Wasser aus dem Decksfaß gaben eine karge, hastig verzehrte Mahlzeit. Und über all dem durfte er nie vergessen, sorgfältig auf jede Änderung der Wetterlage zu achten. Hornblower ging in dunkler Nacht ruhelos an Oberdeck auf und ab.

»Warum legen Sie sich nicht etwas schlafen, Sir?« fragte der Mann am Ruder.

»Dazu ist später noch Zeit genug, Hunter«, gab Hornblower zur Antwort und war dabei bestrebt, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese nie erlebte Kühnheit überraschte.

Immerhin, der Rat war sicher vernünftig, und er beschloß, ihn zu befolgen. So wie er war, warf er sich unten auf die Koje des Kapitäns, aber an Schlaf war natürlich nicht zu denken. Als er hörte, wie der Ausguckmann den Niedergang herabbrüllte, um die beiden anderen zur Ablösung zu wecken (sie schliefen in der Kammer, die sich an seine Kajüte anschloß), da ließ es ihm keine Ruhe mehr. Er mußte hinaus und wieder an Deck, um sich zu überzeugen, daß dort alles in Ordnung war. Da nun Matthews die Wache hatte, schien ihm jede weitere Besorgnis wirklich überflüssig, darum zwang er sich, abermals unter Deck zu gehen. Kaum lag er jedoch wieder auf seiner Koje, da überfiel ihn schon ein neuer schrecklicher Gedanke, der ihm geradezu den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen. Er stürzte an Deck und eilte nach vorn, wo Matthews auf dem Kranbalken hockte. »Wir haben noch nichts unternommen, um festzustellen, ob das Schiff kein Wasser macht«, sagte er. »Sie müssen sofort die Pumpen peilen.«

»Aye, aye, Sir«, sagte Matthews ohne Zögern und begab sich nach achtern zur Pumpe.

»Kein Tropfen, Sir«, meldete er, als er wieder erschien, »trocken wie ein leergetrunkener Krug.«

Hornblower war von dieser Kunde angenehm überrascht. Er hatte noch nie von einem Schiff gehört, das nicht mehr oder minder leck gewesen wäre, sogar auf der kerngesunden Indefatigable mußte jeden Tag gepumpt werden. Er hatte keine Ahnung, ob es nicht doch einmal vorkam, daß ein Schiff überhaupt kein Wasser machte, oder ob das etwas ganz und gar Unerhörtes war. Dennoch fragte er nicht danach, weil er sich um keinen Preis der Welt eine Blöße geben wollte. Das war ihm ebenso wichtig wie seine unerschütterliche Haltung.

»Hm«, war also alles, was er dazu noch zu sagen hatte.

Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Marie Galante keinen Tropfen Wasser machte, hätte er vielleicht doch noch Schlaf gefunden, wenn nicht von neuem eine Störung eingetreten wäre.

Kaum hatte er sich nämlich zurückgezogen, als der Wind stetig nach rechts auszuschießen begann und zugleich etwas an Stärke zulegte. Matthews kam den Niedergang herunter und hämmerte mit der unangenehmen Nachricht an seine Tür.

»Wir können den befohlenen Kurs nicht mehr viel länger halten, Sir«, schloß er seine Meldung, »außerdem kommt der Wind jetzt böiger ein.«

»Schön, ich komme an Deck. Wecken Sie alle Mann«, sagte Hornblower. Sein mürrischer Ton war leicht damit zu erklären, daß man ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte, in Wirklichkeit sollte ihm diese Brummigkeit aber dazu dienen, seine zitternde Angst zu verbergen. Mit seiner winzigen Besatzung durfte er sich auf keinen Fall von schlechtem Wetter überraschen lassen. Er hatte bald einsehen müssen, daß es ausgeschlossen war, irgendein Manöver schnell durchzuführen.

Jetzt stand er selbst am Ruder, während seine vier Männer in der Takelage schufteten, um die Marssegel zu reffen und das Schiff dadurch händiger zu machen. Über dieser Arbeit verging die halbe Nacht, und als sie endlich getan war, lag auch auf der Hand, daß die Marie Galante bei dem immer nördlicher drehenden Wind den Kurs Nordost zu Nord nicht mehr anliegen konnte. Hornblower gab das Ruder ab und ging unter Deck an die Karte. Was er dort feststellen mußte, konnte ihn nur in dem traurigen Beschluß bestärken, zu dem er durch überschlägige Schätzung gekommen war. Sie mochten noch so hoch am Wind liegen, mit diesem Schlag kamen sie von Ushant nicht mehr frei.

Mit seinen paar Mann Besatzung wagte er es nicht, nur auf die Hoffnung hin durchzuhalten, daß der Wind vielleicht wieder zurückdrehen könnte, dazu standen ihm die Schrecken viel zu lebhaft vor Augen, die jedem Schiff an einer Leeküste drohten und vor denen ihn seine Bücher und seine Lehrer so eindringlich zu warnen pflegten. Nein, es gab keine Wahl, er mußte das Schiff auf dem anderen Bug an den Wind legen. Schweren Herzens kletterte er wieder an Deck.

»Alle Mann auf, klar zum Halsen!« befahl er und versuchte, diese Worte so kräftig hinauszubrüllen wie Mr. Bolton, der dritte Leutnant der Indefatigable.

Sie brachten die Brigg sicher auf den anderen Bug, und bald lag sie hart am Wind mit Steuerbordhalsen auf ihrem neuen Kurs. Der führte zwar fort aus dem Bereich der gefährlichen Küste Frankreichs, leider aber entfernten sie sich damit fast ebenso rasch von den gastlichen Gestaden Englands. Natürlich war es nun vorbei mit aller Hoffnung auf eine rauschende Heimreise von zwei Tagen, vorbei auch für Hornblower mit der Hoffnung, in dieser Nacht noch Schlaf zu finden.

Das letzte Jahr vor seinem Eintritt in die Marine hatte Hornblower französischen Unterricht gehabt. Vieles von dem Gelernten hatte in seinem guten Gedächtnis eine bleibende Heimstatt gefunden, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß ihm dieses Zeug einmal von Nutzen sein könnte. Er wurde darüber eines Besseren belehrt, als ihn der französische Kapitän beim ersten Morgengrauen dringend um eine Unterredung bat.

Der Franzose konnte zwar ein paar Brocken Englisch, aber Hornblower stellte bald mit freudiger Genugtuung fest, daß sie sich auf französisch besser verständigen konnten, sobald er nur seiner Schüchternheit Herr geworden war und die ungewohnten Worte über die Lippen brachte.

Der Kapitän schien aufmerksam zu beobachten, wie die Brigg unter seinen Füßen arbeitete.

»Sie benimmt sich etwas schwerfällig, finden Sie nicht?« sagte er.

»Hm, vielleicht«, meinte Hornblower. Er war mit der Marie Galante ja nicht vertraut, so wenig wie mit irgendeinem anderen Schiff, darum war er auch außerstande, zu der angeschnittenen Frage irgendeine persönliche Ansicht zu äußern, aber es fiel ihm natürlich nicht ein, seine Unwissenheit preiszugeben.

»Leckt sie denn?« fragte der Kapitän.

»Sie ist lenz, in der Bilge ist kein Wasser«, antwortete Hornblower.

»Aah«! sagte der Franzose. »Dort finden Sie natürlich keinen Tropfen. Bedenken Sie, daß wir Reis geladen haben.«

»Ja«, sagte Hornblower.

Es fiel ihm in diesem Augenblick sehr schwer, äußerlich die Fassung zu bewahren, obwohl ihm alsbald die ganze Tragweite des eben Gehörten klar wurde. Natürlich, der Reis saugte sofort jeden Tropfen Wasser auf, der in das Schiff eindrang, die Bilge blieb also auch bei leckem Schiff immer trocken, und doch bedeutete jeder eingedrungene Tropfen einen Verlust an Auftrieb.

»Ein Schuß Ihrer verfluchten Fregatte schlug in den Rumpf«, sagte der Kapitän, »ich nahm natürlich an, daß Sie den Schaden untersucht haben.«

»Gewiß«, log sich Hornblower tapfer aus der Verlegenheit.

Als das endlich überstanden war, holte er sich sofort Matthews zu einer Unterredung unter vier Augen. Der wurde todernst, als er hörte, worum es ging.

»Wo hat denn der Treffer eingeschlagen, Sir?« fragte er.

»Irgendwo an Backbord, meiner Schätzung nach ziemlich weit vorn.« Sie gingen beide hin und beugten suchend den Kopf über die Reling.

»Nichts zu sehen, Sir«, sagte Matthews. »Fieren Sie mich in einem Pahlstek über Bord, dann werde ich bald finden, was da los ist.«

Hornblower wollte schon einwilligen, dann aber besann er sich anders. »Nein, ich mache das lieber selbst«, sagte er.

Matthews und Carson legten ihm einen Pahlstek um den Leib und fierten ihn über Bord. Dort baumelte er nun an der Bordwand, und dicht unter ihm brodelte die See. Wenn das Schiff einsetzte, hob sie sich ihm entgegen, so daß er schon nach fünf Sekunden bis an die Hüften durchnäßt war, holte es rollend über, dann pendelte er von der Bordwand ab und schlug alsbald wieder mit Wucht dagegen. Unterdessen bewegten sich die Männer mit der Leine langsam achteraus und gaben ihm so Gelegenheit, die ganze Seite der Brigg abzusuchen, soweit sie sich über Wasser befand. Nirgends war ein Schußloch zu entdecken. Das sagte er Matthews, als sie ihn wieder binnenbords geholt hatten.

»Dann muß es unter der Wasserlinie sein«, sagte Matthews und drückte damit aus, was Hornblower selbst befürchtete.

»Sind Sie denn sicher, daß der Schuß getroffen hat, Sir?«

»Dumme Frage, natürlich!« schnauzte ihn Hornblower an.

Die ständige Aufregung und der Schlafmangel zerrten an seinen Nerven. Er mußte sich durch barsche Worte Luft machen, sonst wäre er glatt in Tränen ausgebrochen. Sein nächster Entschluß stand jedoch bereits fest.

»Wir wollen das Schiff über den anderen Bug beilegen und dann noch einmal nachsehen.«

Auf dem anderen Bug lag das Schiff auch nach der anderen Seite über, dann befand sich das Schußloch, wenn es überhaupt vorhanden war, nicht so tief unter Wasser. Die entgegengesetzte Neigung des Rumpfes bewirkte, daß er nun in seinem Pahlstek richtig an der Bordwand klebte. Sie fierten ihn so weit weg, daß seine Beine über den Muschelbewuchs scheuerten, den das Schiff zwischen Wind und Wasser trug. Dann gingen sie wieder Schritt für Schritt nach achtern und holten ihn dabei außen an der Bordwand entlang. Um ein Weniges hinter dem Fockmast entdeckte er endlich, was er suchte.

»Fest an Deck!« schrie er nach oben und wurde nur mit Gewalt der Verzweiflung Herr, die sich seiner bemächtigen wollte. Die Leine bewegte sich nicht mehr weiter nach achtern.

»Fier langsam weg! Noch zwei Fuß tiefer!«

Jetzt hing er bis an die Hüften im Wasser, und wenn die Brigg etwas tiefer tauchte, schlug es ihm wohl auch ganz über dem Kopf zusammen, als wäre plötzlich das Ende da. Hier war das Loch, es lag selbst auf diesem Bug noch zwei Fuß unter Wasser, eine stark aufgesplitterte, zerfetzte Öffnung, eher viereckig als rund und mit einem Durchmesser von etwa einem Fuß. Während das Wasser um Hornblower brodelte und rauschte, glaubte er sogar zu hören, wie es gurgelnd ins Schiff strömte, aber das mochte nur Einbildung sein.

Er rief die Männer an Deck an, daß sie ihn aufholen sollten, und als er glücklich wieder bei ihnen stand, lauschten die beiden gespannt auf seinen Bericht.

»Sie sagten, zwei Fuß unter Wasser, Sir?« sagte Matthews.

»Nun ja, das Schiff lag hart am Wind und lag wohl ziemlich weit über, als wir es trafen. Vielleicht hob sich auch der Bug gerade besonders hoch aus dem Wasser, als der Schuß fiel. Vor allem liegt aber das Schiff jetzt überhaupt schon viel tiefer im Wasser.«

Das war der springende Punkt. Was immer man unternahm, wie weit man das Schiff auch überlegte, das Schußloch blieb unter Wasser. Also mußte es unter allen Umständen gedichtet werden. Hornblower hatte nicht umsonst seine seemännischen Handbücher studiert, er wußte genau, wie das zu bewerkstelligen war.

»Wir müssen ein Segel füttern und über das Leck holen«, sagte er. Ein Segel »füttern« hieß etwas Ähnliches, wie eine große haarige Fußmatte daraus machen, indem man unzählige kurze Enden halb aufgedrehter Kardeele hindurchzog. Wenn das getan war, holte man das Segel mit Hilfe von Leinen, die unter dem Kiel hindurchführten, von außen genau vor das Leck. Dann preßte der Wasserdruck dieses dicke, haarige Polster von selbst so fest gegen das Loch, daß das weitere Eindringen von Wasser mindestens sehr erschwert war.

Die Franzosen erwiesen sich bei der Durchführung dieser Aufgabe als recht unwillige Helfer. Das Schiff gehörte ja nicht mehr ihnen, und ihre Reise endete so oder so in einem englischen Gefängnis. Was Wunder, wenn sie keinen Schwung zur Arbeit aufbrachten, obwohl es hier nicht minder um ihr eigenes Leben ging. So dauerte es denn eine ganze Weile, bis ein neues Bramsegel an Deck geholt war und eine eingeteilte Arbeitsgruppe damit begann, Hanfkardeele in kurze Enden zu zerschneiden, die durch das Segel gezogen und aufgedreht werden mußten.

Endlich konnte sich Hornblower in die Kajüte zurückziehen, um trockenes Zeug aufzutreiben. Dort unten kam es ihm vor, als ob die verschiedenen Schiffsgeräusche - jenes ständige Knacken und Ächzen eines hölzernen Schiffes auf See - lauter und aufdringlicher klängen als sonst. Die beigedrehte Brigg ritt ohne Fahrt wie eine Ente über die anrollenden Seen, dennoch krachten und knirschten alle Schotten und Verbände, als ob sie sich in einem schweren Sturm in Stücke segeln wollte. »Ach was«, sagte er sich vor, »das ist doch nur Einbildung, ein Schreckbild meiner überreizten Phantasie.« Er rieb sich gründlich trocken, bis er wieder etwas wie Wärme in den Gliedern fühlte, und fuhr in den Sonntagsanzug des Kapitäns.

Dann aber hielt er von neuem lauschend inne. Die Brigg krachte wirklich in allen Fugen, als ob sie auseinanderbrechen wollte.

Er ging wieder an Deck, um sich vom Stand der Arbeit an dem Lecksegel zu überzeugen. Noch war er keine zwei Minuten oben, da ließ einer der Franzosen plötzlich den Arm sinken, als er eben nach einem neuen Kardeel hinter sich langen wollte, und starrte eine Weile regungslos auf das Deck zu seinen Füßen. Er stocherte mit dem Finger in einer Decksnaht, dann sah er sich suchend nach Hornblower um und rief ihn herbei. Hornblower brauchte nicht zu verstehen, was der Mann sagte, seine Gesten sprachen deutlich genug. Die Decksnaht hatte sich ein wenig geöffnet, und das Pech quoll daraus hervor. Hornblower sah sich dieses seltsame Phänomen aufmerksam an, wußte es jedoch nicht zu erklären. Nun, die offene Stelle maß immerhin nur einen bis zwei Fuß, das ganze übrige Deck war dicht und in bester Ordnung. Oder war es etwa doch nicht so? Nachdem seine Aufmerksamkeit einmal geweckt war, suchte er weiter und fand richtig noch zwei andere Stellen, wo das Pech wie eine Wulst aus der Naht gequollen war. Er stand vor einem Rätsel.

Weder seine magere Erfahrung noch seine umfangreiche Lektüre lieferten ihm eine Erklärung für diesen geheimnisvollen Vorgang. Der französische Kapitän war an seine Seite getreten und starrte ebenfalls auf das Deck.

»Die Ladung!« sagte er. »Sie - sie wird größer und größer.«

Matthews war ebenfalls herzugekommen. Obwohl er kein Wort Französisch verstand, hatte er die Geste des Kapitäns sofort richtig begriffen. »Habe ich recht gehört?« fragte er. »Das Schiff hat eine Reisladung an Bord?«

»Ja.«

»Dann wissen wir Bescheid. Der Reis hat Wasser gezogen, jetzt quillt er auf.«

Natürlich. Wenn man trockenen Reis in Wasser einweicht, dann quillt er alsbald auf das zwei- bis dreifache Volumen. Die Ladung quoll auch und sprengte die Nähte des Schiffes mit unwiderstehlicher Gewalt. Hornblower dachte wieder an das unnatürlich laute Krachen und Ächzen unter Deck. Er durchlebte einen der schmerzlichsten Momente seines Daseins, sein Blick schweifte über die kalte, erbarmungslose See hinaus, als ob er sich von dort Erleuchtung und Hilfe erwartete. Aber das Wunder blieb aus. Sekunden vergingen, ehe er wieder Worte fand und sich imstande fühlte, die Haltung zu wahren, die sich für einen Seeoffizier auch in den schlimmsten Lagen geziemte.

»Je eher wir das Lecksegel über das Schußloch bekommen, desto besser«, sagte er endlich. Es wäre wohl zuviel verlangt gewesen, hätte er sich jetzt auch noch um ruhige Gemessenheit bemühen sollen. »Machen Sie endlich diesen Franzosen Beine, daß sie fertig werden.«

Während er noch sprach, fühlte er plötzlich einen scharfen Ruck unter den Füßen, wie wenn jemand mit einem Hammer von unten gegen das Deck geschlagen hätte. Das Schiff platzte langsam aus den Nähten.

»Beeilt euch mit dem Segel!« schrie er auf die Arbeitsgruppe ein, dann ärgerte er sich über sich selbst, weil er mit seinem Gebrüll eine Aufregung verraten hatte, die eines Offiziers unwürdig war.

Endlich waren fünf Quadratfuß des Segels gefüttert. Nun wurden Leinen durch die Grummets geschoren, und die Arbeitsgruppe eilte nach vorn, um das Segel unter das Schiff zu bringen und es von dort bis zum Leck achteraus zu holen.

Hornblower warf seine Kleider ab, nicht etwa aus Rücksicht auf das Eigentum des Kapitäns, sondern um sie für den eigenen Gebrauch trocken zu halten.

»Ich gehe außenbords, um zu sehen, daß das Segel an die richtige Stelle kommt«, sagte er. »Matthews, einen Pahlstek.«

Nackt und naß hing er an der Bordwand, es schien ihm, als bliese der kalte Wind durch ihn hindurch; sooft das Schiff rollte, scheuerte er mit dem Körper an den Planken und verlor dabei ganze Fetzen Haut, jede am Schiff entlangrollende See schlug erbarmungslos mit lautem Klatschen über ihm zusammen. Aber er hielt aus, bis das gefütterte Segel genau vor dem Loch saß, und sah zu seiner größten Freude, daß sich die haarige Fläche sogleich richtig festsaugte. Sie zeigte nämlich über dem Leck eine Höhlung nach innen, die sich alsbald noch weiter vertiefte, so daß er sicher sein konnte, daß das Leck in der Bordwand nunmehr wirksam verstopft war. Auf seinen Zuruf holten sie ihn wieder an Deck und warteten auf seine Befehle, er aber stand nackt und ganz dumm vor Kälte und Müdigkeit vor ihnen und kämpfte um seinen nächsten Entschluß.

»Legen Sie das Schiff wieder auf Backbord-Bug«, brachte er endlich heraus.

Als er sich wieder angezogen hatte, erwartete ihn Matthews mit recht besorgter Miene. »Verzeihung, Sir«, sagte er, »aber die Geschichte will mir nicht mehr gefallen. Ganz ehrlich gesagt, sie gefällt mir gar nicht. So wie sich das Schiff jetzt benimmt, ich sage Ihnen, Sir, da stimmt etwas nicht. Es sackt schon immer tiefer und bricht uns zuletzt noch vollends auseinander. Für mich ist das eine ausgemachte Sache. Entschuldigen Sie, Sir, daß ich das so herausgesagt habe.«

Unter Deck hatte Hornblower zur Genüge gehört, wie der Rumpf des Schiffes unausgesetzt ächzte und stöhnte, hier an Deck klafften die Nähte immer weiter. Der quellende Reis hatte bestimmt auch die Nähte der Bordwand auseinandergetrieben, dann strömte jetzt immer noch Wasser ein, das die Ladung weiter aufquellen ließ, bis das Schiff vollends in Stücke ging.

»Schauen Sie, dort, Sir!« rief Matthews plötzlich.

Mitten am hellen Tag huschte ein kleiner grauer Schatten den Luv-Wassergang entlang, ein zweiter folgte und dann ein dritter.

Ratten! Eine Panik mußte sie aus ihrem Versteck unten im Raum vertrieben haben, sonst hätten sie sich niemals am hellen Tag an Deck gewagt. Wieder fühlte Hornblower einen schwachen Ruck unter den Füßen, der ihm verriet, daß unter ihm neuerdings etwas gebrochen war. Aber er hatte immer noch eine Karte auszuspielen, die letzte Verteidigungslinie war noch nicht bezogen.

»Ich will die Ladung werfen«, sagte Hornblower. Er hatte dieses Wort noch nie im Leben ausgesprochen, aber es war ihm von seiner Lektüre her geläufig. »Hol die Gefangenen heraus, wir wollen sofort damit beginnen.«

Die geschalkten Lukendeckel hatten sich schon seltsam und verräterisch nach oben gewölbt. Als jetzt die Keile herausgeschlagen wurden, riß sich das eine Ende einer Planke sofort krachend los und zeigte schräg nach oben, und während die Männer die übrigen Deckel abhoben, drängte gleich ein braunes Etwas nach; es war ein Sack Reis, der durch den Druck von unten emporgetrieben wurde, bis er in der Luke festsaß.

»An die Taljen! Hievt das Zeug heraus!« befahl Hornblower.

Sack um Sack wurde der Reis aus dem Laderaum geholt, manchmal platzte einer, dann ergoß sich der Reis in Strömen an Deck, aber das machte nichts aus. Eine zweite Gruppe schaffte Reis und Säcke nach Lee und hievte sie dort über die Reling in den unersättlichen Schlund der Tiefe. Schon nach den ersten drei Säcken begannen die Schwierigkeiten. Die Ladung war nämlich so ineinander verklemmt, daß es nur mit größtem Kraftaufwand gelang, so einen Sack aus seiner Lage zu wuchten. Zwei Mann mußten in die Ladeluke hinunter, um die Säcke loszubrechen und die Stroppen darumzulegen. Stunde um Stunde verging so bei härtester Arbeit, die Männer an den Taljen waren in Schweiß gebadet und wankten vor Müdigkeit, dennoch mußten sie von Zeit zu Zeit im Raum mit Hand anlegen, denn die Säcke hatten sich in ganzen Lagen verklemmt und saßen zwischen dem Schiffsboden unten und den Decksbalken oben unverrückbar fest. Als die Partie unter der Luke glücklich herausgehievt war, mußten schon die nächsten Säcke Lage um Lage mühsam herausgebrochen werden. Allmählich war im unmittelbaren Bereich der Luke doch etwas Raum geschaffen, so daß man endlich weiter in die Tiefe dringen konnte. Dort kam denn auch bald das längst Erwartete zum Vorschein. Die unteren Sacklagen waren naß geworden, ihr Inhalt war dadurch aufgequollen und hatte die Säcke gesprengt. Die ganze untere Hälfte des Laderaums war mit einer festgepreßten Masse feuchten Reises angefüllt, die man nur mit Schaufeln und Fässern herausbekommen konnte.

Hornblower war so in seine Probleme vertieft, daß er erst auf Matthews aufmerksam wurde, als ihm dieser am Ärmel zupfte.

Er merkte denn auch sogleich, daß ihn Matthews zu sprechen wünschte.

»Es hat keinen Zweck mehr, Sir«, sagte Matthews. »Wir liegen schon wieder ein ganzes Stück tiefer als vorhin. Ich meine, es wird nicht mehr lange dauern.«

Hornblower trat mit ihm an die Reling und sah an der Bordwand hinunter. Ja, der Mann hatte ohne Zweifel recht. Er selbst war ja außenbords gewesen und wußte noch recht gut, wo die Wasserlinie gewesen war. Noch besser war der Anhalt, den ihm die Oberkante des Lecksegels bot. Demnach lag die Brigg schon wieder einen guten halben Fuß tiefer im Wasser als zuvor - und das, obwohl man inzwischen mindestens fünfzig Tonnen Reis über Bord geworfen hatte. Das Schiff leckte offenbar wie ein Sieb, das Wasser drang durch die klaffenden Nähte herein, und der durstige Reis sog es sofort bis zum letzten Tropfen in sich auf. Hornblower fühlte, daß ihn die linke Hand schmerzte.

Erst als er hinsah, merkte er, daß ihm das Blut aus den Fingern gewichen war, weil er sich ganz unbewußt mit aller Kraft in die Reling krallte. Nun lockerte er seinen Griff, sein Blick suchte die Sonne, die sich schon zum Abend neigte, und wanderte über die wogende See. Er wollte sich um keinen Preis geschlagen geben, schon der Gedanke daran schien unerträglich. Jetzt trat der französische Kapitän an seine Seite. »Das ist doch heller Wahnsinn«, sagte er, »so geht es wirklich nicht weiter, Sir.

Meine Leute sind am Ende ihrer Kraft, sie sind ganz einfach fertig.«

Hornblower sah, wie Hunter die französischen Matrosen mit einem Tauende zur Arbeit trieb und dabei rücksichtslos dreinschlug. Aber wie er auch tobte und schrie, aus diesen Menschen vermochte er auch mit Gewalt nichts mehr herauszuholen. In diesem Augenblick hob sich die Marie Galante schwerfällig auf den Kamm einer See und sackte gleich darauf in das folgende Wellental. Selbst der unerfahrene Hornblower mußte zu seinem Schrecken erkennen, wie träge und leblos sie sich dabei benahm. Er mußte sich sagen, daß das Schiff fast keinen Auftrieb mehr hatte und daher nicht mehr lange schwimmen konnte. Wollte man aber auf das Schlimmste gefaßt sein, dann gab es noch eine Menge zu tun.

»Matthews«, sagte er, »ich möchte sofort alle Vorbereitungen zum Verlassen des Schiffes getroffen haben.«

Bei diesen Worten drückte er das Kinn besonders energisch nach vorn, weil er auf keinen Fall wollte, daß ihm die Franzosen oder seine eigenen Leute anmerkten, wie verzweifelt er war.

»Aye, aye, Sir«, sagte Matthews.

Die Marie Galante fuhr ein Rettungsboot in Klampen hinter dem Großmast. Auf Matthews' Anordnung ließen die Männer jetzt ihre Arbeit in der Ladung liegen, um dieses Boot in aller Eile mit Proviant und Wasser auszurüsten. Dann bemannten sie die Bootstakel, heißten es aus den Klampen und fierten es in Lee des Achterdecks zu Wasser, wo sich leidlicher Schutz gegen Wind und Seegang bot. Die Marie Galante steckte ihre Nase in eine See, weil sie nicht mehr die Kraft besaß, sich auf ihren Kamm zu heben, grünes Wasser brach über ihren Steuerbord-Bug und strömte über das ganze Deck nach achtern, bis sich die Brigg plötzlich träge zur Seite wälzte und ihm den Weg nach den Speigatten wies. Man durfte nicht mehr viel Zeit verlieren - abermals gab ein besonders heftiges, dumpfes Krachen von unten her Kunde, daß die Ladung unbarmherzig weiterquoll und alle Widerstände sprengte. Unter den Franzosen brach eine richtige Panik aus, sie rannten mit lautem Geschrei achteraus und stürzten sich in wilder Flucht ins Boot. Der französische Kapitän maß Hornblower mit einem stummen Blick und folgte ihnen dann nach. Zwei der britischen Matrosen waren ebenfalls schon von Bord gegangen, um das Boot vom Schiff freizuhalten.

»Los, ins Boot«, sagte Hornblower zu Matthews und Carson, die noch zögerten.

Er war hier Kommandant und durfte daher sein Schiff nur als Letzter verlassen. Die Brigg lag jetzt schon so tief, daß es ein leichtes war, von Deck ins Boot zu gelangen. Die britischen Matrosen saßen sämtlich in der Achterpiek und machten ihm Platz.

»Nehmen Sie das Ruder, Matthews«, sagte Hornblower, weil er sich die Führung dieses überladenen Fahrzeugs doch nicht so recht zutraute. »Setz ab vorn!«

Das Boot hatte abgelegt, die Marie Galante wälzte sich mit festgelaschtem Ruder in der See. Sie drehte allmählich ihre Nase in den Wind und blieb dann unentwegt so liegen. Plötzlich zeigte sie so starke Schlagseite, daß die Steuerbord-Speigatten fast im Wasser verschwanden. Noch einmal rauschte eine See über ihr Deck und in das offene Ladeluk. Da richtete sie sich langsam auf und lag nun schon so tief, daß das Deck kaum noch aus dem Wasser ragte. Dann sank sie auf ebenem Kiel in die Tiefe. Die See schloß sich über ihrem Rumpf, allmählich verschwanden auch die Masten, nur die hellen Flecke der Segel schimmerten noch sekundenlang durch das klare Grün des Wassers.

»Sie ist weg«, sagte Matthews.

Hornblower hatte den Untergang seines ersten Schiffes mit brennenden Augen verfolgt. Ihm war die Marie Galante übergeben worden, daß er sie sicher in den Hafen brächte, und er hatte versagt, versagt bei seinem ersten selbständigen Auftrag. Er blickte starr in die untergehende Sonne und hoffte, daß niemand die aufsteigenden Tränen sah, deren er sich nicht erwehren konnte.