4. Kapitel
Diesmal strich der Wolf außen um den Schafpferch. Seiner Majestät Fregatte Indefatigable hatte die französische Korvette Papillon bis in die Girondemündung verfolgt und suchte jetzt nach einer Möglichkeit, sie dort anzugreifen, obwohl sie unter dem Schutz der Küstenbatterien im Strom vor Anker lag.
Kapitän Pellow war in die flachen Küstengewässer vorgestoßen, bis die Landbatterien Warnungsschüsse feuerten, um sie fernzuhalten. Immer wieder hob er sein Glas ans Auge und musterte die Korvette lange und gründlich. Dann schob er den Kieker zusammen, drehte sich auf dem Absatz herum und gab Befehl, kehrtzumachen. Die Indefatigable kreuzte sich von der gefährlichen Leeküste frei und lief dann so weit nach See hinaus, daß das Land ganz aus Sicht kam. Ihr Verschwinden mochte die Franzosen in Sicherheit wiegen, aber gerade darin sollten sie sich, wie er hoffte, gründlich irren. Er hatte nämlich durchaus nicht die Absicht, sie ungeschoren zu lassen. Konnte er die Korvette kapern oder versenken, dann fiel sie nicht nur im Handelskrieg gegen die Engländer aus, sondern die Franzosen wurden darüber hinaus gezwungen, ihre Küstenverteidigung an dieser Stelle zu verstärken und dafür anderswo ihre Kriegsmaßnahmen einzuschränken. Im Krieg ging es nur darum, dem Gegner so hart wie möglich zuzusetzen, und selbst eine kleine Fregatte von vierzig Kanonen konnte ihm empfindliche Schläge versetzen, wenn sie mit kluger Berechnung geführt wurde.
Fähnrich Hornblower ging am Nachmittag auf der Leeseite des Achterdecks auf und ab, wie es sich für seine untergeordnete Stellung als Fähnrich der Wache geziemte, als sein Kamerad, Fähnrich Kennedy, auf ihn zutrat. Kennedy zog mit Schwung seinen Hut und machte eine tiefe Verbeugung, wie sie ihm sein Tanzlehrer beigebracht hatte: linken Fuß vor, Hut zurück bis ans rechte Knie. Hornblower ging sofort auf den Spaß ein, nahm seinen Hut quer vor den Leib und zelebrierte seinerseits in rascher Folge drei tiefe Bücklinge. Dank seiner Gewandtheit war es ihm ein leichtes, das gespreizte Zeremoniell seiner Zeitgenossen aus dem Stegreif zu parodieren.
»Eure Exzellenz«, sagte Kennedy, »es gereicht mir zur Ehre, Ihnen die untertänigsten Empfehlungen Sir Edward Pellows übermitteln zu dürfen, der Eure Exzellenz in aller Bescheidenheit bitten läßt, um acht Glasen auf der Nachmittagswache sein Gast zum Dinner zu sein.«
»Meine Empfehlung an Sir Edward«, gab Hornblower zur Antwort und beugte bei der Nennung des Namens sein Knie, »und versichern Sie ihm, es würde mir eine Freude sein, mich auf ein paar Minuten bei ihm zu zeigen.«
»Ich bin überzeugt, daß der Kommandant von Ihrer schmeichelhaften Antwort entzückt sein und sich hochgeehrt fühlen wird. Ich werde nicht verfehlen, ihn zu seinem Erfolg zu beglückwünschen.«
Wieder schwangen sie ihre Hüte nach allen Regeln des feinen Anstands, aber das Spiel nahm plötzlich ein Ende, als sie merkten, daß ihnen Mr. Bolton, der Wachhabende Offizier, von Luv her zusah. Da klappten beide ihre Hüte rasch auf den Kopf und besannen sich wieder auf ein Benehmen, wie es Offizieren König Georgs zu Gesicht stand. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Hornblower. Kennedy legte einen Finger an die Nase.
»Wenn ich das wüßte«, meinte er, »aber es liegt bestimmt etwas in der Luft. Ich wette, wir werden bald erfahren, was.«
Als das Dinner in der geräumigen Kajüte der Indefatigable serviert wurde, merkte man noch recht wenig davon, daß ein besonderes Ereignis bevorstand, Pellow saß als liebenswürdiger Gastgeber zu Häupten der Tafel, zwischen den anwesenden älteren Offizieren - es waren die Leutnants Eccles und Chadd und der Steuermann Soames - entspann sich eine zwanglose Unterhaltung, bei der alles mögliche zur Sprache kam.
Hornblower und der zweite der eingeladenen Fähnriche, Mallory, der schon über zwei Dienstjahre hinter sich hatte, verhielten sich schweigsam, wie es sich für Fähnriche gehörte, und konnten darum ihre ganze Aufmerksamkeit dem Essen widmen, das alles weit in den Schatten stellte, was sie in ihrer Fähnrichsmesse vorgesetzt bekamen. »Auf Ihr Wohl, Mr. Hornblower«, sagte Pellow und hob sein Glas. Hornblower hob seinerseits das Glas und versuchte, sich im Sitzen möglichst formvollendet zu verbeugen. Er nippte aber nur ein paar Tropfen von seinem Wein, da er längst herausgefunden hatte, daß er nicht viel vertrug, und nichts mehr verabscheute als das Gefühl, nicht mehr nüchtern zu sein.
Der Tisch wurde abgeräumt, und nun bemächtigte sich der ganzen Tafelrunde eine unverkennbare Spannung. Alle warteten darauf zu hören, was ihnen Pellow eröffnen wollte. »Nun, Mr. Soames«, sagte Pellow, »lassen Sie uns einmal einen Blick auf die Karte werfen.«
Die Karte zeigte die Girondemündung, sie enthielt Angaben über die Wassertiefen, und außerdem war von unbekannter Hand mit Bleistift die Lage der Küstenbatterien hineingezeichnet.
»Die Papillon«, sagte Sir Edward (sie hieß bei ihm Päpillon, weil es ihm nicht einfiel, sich um die französische Aussprache des Namens zu bemühen), »liegt genau hier. Mr. Soames hat sie eingepeilt.«
Dabei deutete er auf ein Bleistiftkreuz an einer ziemlich weit stromaufwärts gelegenen Stelle.
»Sie, meine Herren«, fuhr Pellow fort, »werden mit Booten dorthin vorstoßen, um das Schiff herauszuholen.«
Nun wußten sie es. Pellow plante einen Überfall.
»Mr. Eccles übernimmt die Leitung des Unternehmens und wird Ihnen jetzt seinen Plan im einzelnen entwickeln. Bitte, Mr. Eccles.«
Der grauhaarige Erste Offizier wandte sich mit einem Blick aus seinen erstaunlich jungen blauen Augen an die anderen:
»Ich selbst nehme die Barkaß«, sagte er, »Mr. Soames den Kutter. Mr. Chadd und Mr. Mallory übernehmen die erste und zweite Gig, Mr. Hornblower führt die Jolle. Jedes der Boote mit Ausnahme der Jolle bekommt noch einen Fähnrich als zweiten Bootsoffizier zugeteilt.«
Für die Jolle mit ihren sieben Mann Besatzung war das auch überflüssig. Barkaß und Kutter nahmen je dreißig bis vierzig, die beiden Gigs je zwanzig Mann auf. Die entsandte Streitmacht war also recht erheblich, sie machte fast die Hälfte der ganzen Besatzung aus.
»Die Papillon ist ein Kriegsschiff«, erklärte Eccles, der wohl ihre Gedanken las, »kein gewöhnlicher Kauffahrer. Sie fährt auf jeder Seite zehn Geschütze und hat natürlich eine entsprechend starke Besatzung.«
Mit annähernd zweihundert Mann mußte man also rechnen, das war für die hundertzwanzig britischen Matrosen sicherlich eine harte Nuß.
»Aber wir greifen natürlich bei Nacht an, so daß wir den Gegner überraschen«, fuhr Eccles fort und las damit wiederum ihre Gedanken.
»Ja«, warf Pellow ein, »eine geglückte Überraschung bedeutet bekanntlich den halben Erfolg und noch mehr. Bitte entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Mr. Eccles.«
»Im Augenblick«, erklärte Eccles weiter, »befinden wir uns außer Sicht vom Land, sind aber im Begriff näher heranzulaufen. Vor diesem Küstenstrich haben wir uns noch nie länger aufgehalten, um so eher werden die Froschfresser annehmen, wir seien endgültig verschwunden. Um nicht gesehen zu werden, gehen wir erst nach Dunkelwerden auf Sichtweite heran und laufen dann gleich so dicht wie möglich unter Land. Von dort aus stoßen die Boote weiter vor.
Hochwasser ist morgen früh um vier Uhr fünfzig, die Dämmerung beginnt um fünf Uhr dreißig. Als Zeitpunkt für den Angriff ist vier Uhr dreißig vorgesehen, weil die abgelöste Wache der Papillon bis dahin schon schlafen wird. Die Barkaß geht Steuerbord achtern längsseits, der Kutter Backbord achtern.
Mr. Mallory wird mit seiner Gig Backbord vorn angreifen, Mr. Chadd Steuerbord vorn. Mr. Chadd hat die Aufgabe, die Ankertroß der Korvette zu kappen, sobald er auf deren Back Fuß gefaßt hat und die anderen Bootsbesatzungen mindestens den Widerstand auf dem Achterdeck gebrochen haben.«
Eccles blickte die Führer der drei anderen größeren Boote prüfend an, diese antworteten ihm mit einem Nicken, um zu zeigen, daß sie verstanden hatten. Dann fuhr er fort:
»Mr. Hornblower bleibt mit seiner Jolle so lange in Wartestellung, bis die Angreifer an Deck Fuß gefaßt haben.
Dann geht er mit seinen Leuten über die Großrüsten ebenfalls an Bord. Es bleibt ihm überlassen, ob er an Steuerbord oder Backbord anlegen will. Er entert dann sofort in den Großtopp, ohne sich durch etwaige Kämpfe an Oberdeck beirren zu lassen.
Dort hat er die Aufgabe, das Großmarssegel loszumachen und es auf weiteren Befehl schnellstens vorzuschoten. Ich selbst - oder, wenn ich ausfalle, Mr. Soames - werde dafür Sorge tragen, daß zwei Mann das Ruder besetzen und die Schiffsführung übernehmen, sobald die Ankertroß gekappt ist. Die Ebbe wird uns rasch stromabwärts setzen, und draußen, außer Schußweite der Küstenbatterien, erwartet uns die Indefatigable.«
»Sind dazu noch Fragen, meine Herren?« fragte Pellow. Jetzt hätte sich Hornblower melden müssen, das war der gegebene Augenblick dazu. Eccles' Befehl für ihn hatte nämlich die Wirkung, daß ihm schon in der Vorstellung beinahe übel wurde.
Hornblower war kein guter Toppsgast und war sich über dieses Manko auch durchaus im klaren. Er haßte die schwindelnde Höhe der Riggen, und das Entern war ihm ein Greuel, weil er weder die affenartige Geschicklichkeit noch das bedenkenlose Selbstvertrauen eines guten Segelschiffsmannes besaß. Er fühlte sich schon auf der Indefatigable recht unsicher, wenn er nachts einmal nach oben mußte, darum schauderte ihn bei dem Gedanken an das fremde Schiff und die ungewohnte Takelage, in der er sich in aller Eile zurechtfinden sollte. Nein, das war nichts für ihn, er fühlte sich einer solchen Aufgabe in keiner Weise gewachsen und hätte das jetzt in aller Offenheit aussprechen müssen. Aber er ließ die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, weil es ihm das Wort verschlug, als er sehen mußte, wie selbstverständlich die anderen Offiziere ihre Pflichten auf sich nahmen. Er blickte um sich und sah nur gleichmütige Mienen, niemand achtete auf ihn. Sollte er sich bemerkbar machen? Er schluckte, er öffnete schon den Mund - immer noch nahm kein Mensch von ihm Notiz. Da erstarb sein Einwand, ehe er ihn noch über die Lippen brachte.
»Damit wären wir also im reinen, meine Herren«, sagte Pellow, »und nun bitte die Einzelheiten, Mr. Eccles.«
Also war für Hornblower der Augenblick verpaßt. Eccles zeigte an Hand der Karte die Kurse auf, die durch die Untiefen und Schlickbänke der Girondemündung gesteuert werden mußten, und verbreitete sich noch besonders über die Lage der Küstenbatterien. Hornblower hörte aufmerksam zu und versuchte, trotz seiner quälenden Nöte die Gedanken zusammenzuhalten. Endlich war Eccles mit seinen Ausführungen zu Ende, und Pellow hob die Sitzung auf:
»Meine Herren, Sie wissen nun alle genau über Ihre Aufgaben Bescheid. Es scheint mir das Gegebene, daß Sie sofort mit den Vorbereitungen für das Unternehmen beginnen, denn die Sonne geht bereits unter, und Sie wissen wohl selbst, daß noch eine Menge zu tun ist.«
In erster Linie mußten die Bootsbesatzungen eingeteilt werden, dann war dafür zu sorgen, daß die Männer Waffen bekamen und daß die Boote für den Notfall mit Proviant ausgerüstet wurden. Jedem einzelnen Mann mußte erklärt werden, was er zu tun und wie er sich zu verhalten hatte.
Hornblower probte für seine persönliche Aufgabe, indem er über die Großwanten enterte und auf der Großmarsrah auslegte.
Zweimal legte er diese Reise durch die Takelage zurück und kämpfte dabei verbissen gegen das ungute Gefühl im Magen, das ihn bei dem Gedanken an die hundert Fuß Luftraum unter seinen Füßen befiel. Zuletzt schwang er sich mit einem Würgen im Hals an die Brass und glitt trotz aller Angst daran hinunter - das war der schnellste Weg auf seinen Posten an Deck, wenn es Zeit war, das Marssegel vorzuschoten. Obwohl er glücklich unten ankam, war er darum noch keineswegs mit sich zufrieden, er wurde die quälende Vorstellung nicht los, daß er dennoch daneben griff und auf das Deck hinunterstürzte, wenn er nachher auf der Papillon sein Kunststück wiederholen sollte. Dann sauste er ein paar grauenvolle Sekunden lang durch die Luft - ein Krach, und alles war aus. Dabei hing der Erfolg des Überfalls ebensosehr von ihm ab wie von allen anderen. Wenn das Marssegel nicht sofort zum Stehen kam und der Korvette so viel Fahrt verlieh, daß sie dem Ruder gehorchte, dann geriet sie unweigerlich auf einer der unzähligen Untiefen in der Flußmündung auf Grund. Die Folge davon war, daß die schon gewonnene kostbare Beute dem Gegner auf schmachvolle Weise wieder in die Hände fiel und daß dabei die Hälfte der Besatzung der Indefatigable ums Leben kam oder in Gefangenschaft geriet.
Auf dem Mitteldeck war die Besatzung der Jolle zur Musterung angetreten. Hornblower kümmerte sich darum, daß die Riemen gehörig umwickelt waren, damit sie kein Geräusch verursachten, und daß jeder Mann mit Pistole und Entermesser ausgerüstet war. Er überzeugte sich davon, daß die Pistolen nur halb gespannt waren, damit man nicht zu befürchten brauchte, daß ein vorzeitig losgegangener Schuß womöglich das ganze Unternehmen verriet. Endlich wies er jedem einzelnen Mann seine Aufgabe beim Losmachen des Marssegels zu, vergaß dabei aber nicht, zu betonen, daß unvorhergesehene Zwischenfälle diesen Plan leicht über den Haufen werfen und zu sinngemäßem Handeln zwingen konnten.
»Ich entere als erster«, sagte Hornblower.
Das war unerläßlich. Er mußte führen, das wurde von ihm erwartet. Mehr noch: hätte er etwas anderes angeordnet, so hätte man bestimmt darüber geredet - und die Achseln gezuckt.
»Jackson«, wandte sich Hornblower an den Bootssteurer, »Sie verlassen das Boot als letzter und übernehmen das Kommando, wenn ich fallen sollte.«
»Aye, aye, Sir.«
Es war üblich, statt »umkommen« den gehobenen Ausdruck »fallen« zu gebrauchen. Auch Hornblower sprach das Wort leichthin aus, aber hinterher kam ihm doch zum Bewußtsein, daß es unter den gegebenen Umständen ein furchtbares Geschehen in sich beschloß.
»Ist auch alles verstanden?« fragte Hornblower barsch. Seine innere Erregung trug die Schuld, daß seine Stimme so heiser und tonlos klang.
Alles nickte, nur einer hatte noch etwas auf dem Herzen:
»Verzeihung, Sir«, sagte Haies, der junge Bursche, der Schlagriemen pullte, »ich fühle mich nicht ganz wohl.« Haies war ein schlanker junger Mann von auffallend dunklem Teint.
Er faßte sich beim Sprechen an die Stirn, als ob er Kopfschmerzen hätte.
»Ach was, glauben Sie, daß es den anderen besser geht?« fuhr ihn Hornblower an.
Alles lachte. Der Gedanke an das bevorstehende Spießrutenlaufen zwischen Landbatterien und dann den Angriff auf die schwerbewaffnete Korvette konnte einem Hasenfuß wohl allerlei zu schaffen machen. Sicher war den meisten Teilnehmern an dieser Unternehmung nicht ganz wohl in ihrer Haut.
»Nein, Sir«, meinte Haies ganz entrüstet, »so meine ich das nicht, bestimmt nicht.«
Aber Hornblower und die anderen kümmerten sich nicht mehr weiter um ihn.
»Du hältst jetzt gefälligst den Schnabel«, knurrte Jackson. Ein Mann, der sich krank meldete, wenn es eine gefährliche Aufgabe zu übernehmen galt, war für ihn ein verächtliches Subjekt. Hornblower fühlte neben Verachtung wohl auch ein bißchen Mitleid mit dem Jungen. War er selbst nicht eben sogar zu feige gewesen, etwas von seiner Angst verlauten zu lassen, nur weil er die bösen Zungen fürchtete?
»Weggetreten«, befahl Hornblower, »ihr bekommt Befehl, wenn es soweit ist.«
Jetzt galt es, noch einige Stunden zu warten, während sich die Indefatigable unter ständigem Loten langsam der Küste näherte.
Pellow hatte die nautische Führung seines Schiffes persönlich in die Hand genommen, und Hornblower fand trotz seiner Aufregung und Angst noch Zeit, die hohe Seemannskunst dieses Mannes zu bewundern, der hier seine schwere Fregatte in schwarzer Nacht durch eines der schwierigsten Gewässer führte.
Sein Interesse wurde durch diesen Vorgang so gefesselt, daß er den Druck, der auf ihm lastete, darüber ganz vergaß. So war eben seine Art, er hätte noch auf dem eigenen Totenbett weiter gelernt und beobachtet. Bis die Indefatigable den Punkt vor der Mündung erreichte, wo die Boote ausgesetzt werden mußten, hatte Hornblower ein gut Teil von der Anwendung der Theorie der Küstennavigation in der Praxis gelernt und allerlei Wissen über die Organisation überraschender Bootsangriffe erworben - am meisten aber hatte er dank seiner Selbstanalyse über die seelische Verfassung eines Landungskommandos in Erfahrung gebracht.
Als es Zeit war, die Jolle zu besteigen, die längsseit auf dem tintenschwarzen Wasser tanzte, hatte er sich wenigstens nach außen hin völlig in der Gewalt und gab mit ruhiger, sicherer Stimme das Kommando zum Absetzen. Er nahm die Pinne - es wirkte irgendwie beruhigend, den festen Holzknüppel in der Hand zu halten -, und alles war wie immer, als er, Hand und Ellbogen auf das Setzbord gestützt, in der Achterpiek saß, während seine Leute langsam hinter den schattenhaften Umrissen der vier anderen Boote herpullten. Noch war eine Menge Zeit, und die Flut trug sie ohnehin rasch in die Mündung hinein. Das war ein großer Vorteil, denn an ihrer einen Seite lagen die Batterien von St. Dye und weiter innerhalb an der anderen das Fort Blaye. Vierzig Geschütze waren so gerichtet, daß sie das Fahrwasser bestreichen konnten, und keines der fünf Boote - am wenigsten die Jolle - hätten auch nur einem einzigen Treffer standgehalten.
Hornblower ließ den Kutter vor ihm keinen Augenblick aus den Augen. Soames trug die schwere Verantwortung, die Boote durch das schwierige Fahrwasser an ihr Ziel zu bringen, er brauchte ihm nur im Kielwasser zu folgen, das war seine ganze Aufgabe - ja, und dann war eben noch dieses Marssegel zu setzen. Er merkte, wie ihn schon wieder das dumme Zittern befiel.
Haies, der Mann, der gemeldet hatte, er fühle sich nicht wohl, pullte am Schlagriemen, Hornblower konnte eben noch erkennen, wie sein dunkler Schatten im Takt der langsamen Schläge vor- und zurückschwang. Nach einem ersten kurzen Blick gab er nicht weiter auf den Mann acht, weil er vor allem den Kutter im Auge behalten mußte, bis ihn plötzlich eine Unruhe im Boot aufmerken ließ. Einer der Bootsgäste war aus dem Schlag gekommen und hatte alle sechs Riemen in Verwirrung gebracht, man hörte sogar, wie die Blätter klappernd aneinanderschlugen.
»Haies, so passen Sie gefälligst auf, verdammt noch mal!« zischte Jackson, der Bootssteurer. Statt einer Antwort schrie Haies plötzlich auf, laut genug, doch glücklicherweise nicht allzu durchdringend, dann kippte er vornüber gegen Hornblowers und Jacksons Beine, wand sich in Krämpfen und stieß wie ein Wilder um sich. »Der Kerl hat einen Anfall«, knurrte Jackson. Das Zappeln und Stoßen wollte kein Ende nehmen. Aus dem Dunkel drang eine zornige Flüsterstimme herüber.
»Mr. Hornblower«, sagte die Stimme - sie gehörte Eccles und verriet in einer einzigen, sottovoce gestellten Frage einen wahren Abgrund von Entrüstung -, »ist es Ihnen denn nicht möglich, in Ihrem Boot Ruhe zu halten?«
Eccles war mit seiner Barkaß fast bei der Jolle längsseit gekommen, um ihm das zu sagen. Dabei unterließ er sogar die üblichen Flüche, der beste Beweis, wieviel jetzt von strengem Schweigen abhing. Hornblower konnte sich schon jetzt ausdenken, was er morgen auf dem Achterdeck in aller Öffentlichkeit zu hören bekam. Er öffnete bereits den Mund, um den Fall klarzustellen, aber glücklicherweise fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß derartige Erklärungen fehl am Platze waren, wenn man in offenen Booten unter den Geschützen des Forts Blaye entlangfuhr, um ein feindliches Schiff zu überfallen.
»Aye, aye, Sir«, flüsterte er schließlich zurück, und die Barkaß entfernte sich, um der ganzen Bootsflottille weiter hinter dem Kutter her den Weg zu weisen.
»Nehmen Sie den Schlagriemen, Jackson«, zischte er wütend dem Bootssteurer zu und zerrte den immer noch um sich schlagenden Haies näher zu sich heran, damit er nicht störte.
»Schütten Sie ihm Wasser über den Kopf, Sir«, schlug Jackson leise vor, während er sich auf die achtere Ducht setzte, »das Ösfaß ist zur Hand.«
Seewasser galt dem Seemann als Allheilmittel, es half nach seiner Meinung gegen jede Krankheit. Dachte man allerdings daran, wie oft der Seemann nicht nur in nassem Zeug, sondern in einer nassen Koje stak, dann hätte man sich bei dieser Einstellung eigentlich wundern müssen, daß er überhaupt noch einen Tag krank werden konnte. Hornblower ließ den Kranken in Ruhe. Sein Gezapple ließ allmählich nach, außerdem wollte er mit dem Ösfaß nicht neuen Lärm verursachen. Das Leben von mehr als hundert Mann hing davon ab, daß jetzt alles lautlos ruhig blieb. Sie waren inzwischen schon ziemlich weit flußaufwärts gelangt und befanden sich daher in bequemer Schußweite der Küste - wurde man dort aufmerksam und löste nur ein einziges Geschütz, dann war auch die Besatzung der Papillon alarmiert, und man konnte gefaßt sein, daß die Männer dort schon hinter der Reling auf der Lauer lagen, um den Angriff abzuwehren, daß sie Kanonenkugeln von oben in die Boote schmetterten, ja, daß sie die Boote schon von weitem mit einem Hagel von gehacktem Blei empfingen.
Lautlos glitt die Flottille weiter stromauf. Soames vorn im Kutter nahm sich so viel Zeit, daß sie nur gelegentlich einen Schlag mit den Riemen zu tun brauchten, um Steuer im Boot zu haben. Sicherlich wußte er genau, was er wollte, Er hatte nicht das Hauptfahrwasser gewählt, sondern benutzte einen schmalen, sonst unbefahrenen Seitenarm, der wegen seiner geringen Tiefe nur für kleine Boote befahrbar war. Eine zwanzig Fuß lange Stange diente ihm zum Peilen der Wassertiefe - das ging viel rascher und verursachte weniger Geräusch als die Benutzung eines richtigen Lots. Die Minuten vergingen im Fluge, aber es war immer noch stockfinster, kein Anzeichen verriet das Nahen der Dämmerung. Hornblower mochte noch so angestrengt Ausschau halten, es war ihm unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, daß er die flachen Ufer zu beiden Seiten unterschied. Da brauchten die Leute an Land erst recht scharfe Augen, wenn sie die kleinen Boote ausmachen wollten, die von der Flut stromauf getragen wurden.
Haies, der dicht vor Hornblowers Füßen lag, begann jetzt wieder unruhig zu werden, er tastete mit einer Hand suchend im Dunkeln herum und fand schließlich Hornblowers Knöchel, den er anscheinend voll Neugier betastete. Dazu murmelte er unverständliches Zeug und endete mit einem langgezogenen Stöhnen.
»Seht!« zischte Hornblower und bemühte sich, wie jener Heilige in alten Tagen ganz Zunge zu sein, um allen nur denkbaren Nachdruck in seine Mahnung zu legen, die doch nicht lauter sein durfte als ein Flüstern. Plötzlich stützte sich Haies mit dem Ellbogen auf Hornblowers Knie und setzte sich auf, dann stemmte er sich weiter hoch, bis er schließlich aufrecht im Boot stand. Er wankte in den Knien und suchte an Hornblower Halt.
»Hinsetzen, verdammt noch mal!« flüsterte Hornblower. Er flog vor Zorn und Angst am ganzen Körper.
»Wo ist Mary?« fragte Haies im Gesprächston.
»Halts Maul!«
»Mary!« sagte Haies und taumelte gegen ihn. »Mary!«
Er sprach den Namen von Mal zu Mal lauter. Hornblower wußte genau, daß der Mann über kurz oder lang laut losreden, ja sogar schreien würde. Dunkel tauchte wieder in seiner Erinnerung auf, was ihm sein Vater, der Arzt, vor langer Zeit über diese armen Teufel erzählt hatte. Epileptiker, so hatte er damals gehört, die aus ihren Anfällen wieder zu sich kommen, sind sich ihrer Handlung nicht bewußt und nicht selten sogar gefährlich.
»Mary!« sagte Haies schon wieder.
Der Sieg und das Leben von hundert Mann hingen davon ab, daß er Haies zum Schweigen brachte, und das mußte jetzt sofort geschehen.
Hornblower dachte an die Pistole in seinem Koppel, ihr Knauf war keine schlechte Hiebwaffe, aber dann fiel ihm sofort etwas viel Besseres ein. Er riß einfach die Pinne aus dem Ruder und schwang den drei Fuß langen, schweren Eichenknüppel mit der rasenden Wut der Verzweiflung. Die Pinne traf Haies krachend auf den Kopf, so daß er lautlos auf die Bodenbretter niedersank.
Die Bootsbesatzung verhielt sich mäuschenstill, nur Jackson stieß einen Laut aus, der wie ein Seufzer klang. Hornblower wußte nicht und wollte nicht wissen, ob er damit sein Einverständnis oder seine Mißbilligung kundtat. Er hatte jedenfalls seine Pflicht getan, soviel wußte er genau, er hatte einen hilflosen Narren niedergeschlagen, vielleicht sogar totgeschlagen und damit auf alle Fälle verhindert, daß die Überrumpelung des Gegners mißlang, von der der Erfolg des ganzen Unternehmens abhing. Jetzt steckte er die Pinne wieder in den Ruderschaft und folgte schweigend und aufmerksam dem Kielwasser der beiden Gigs.
Weit voraus - es war bei dieser Finsternis ausgeschlossen, die Entfernung zu schätzen - tauchte jetzt dicht über der Wasseroberfläche ein kleiner Kernschatten von noch dichterer Schwärze auf. Das konnte die Korvette sein. Noch ein Dutzend leiser Riemenschläge, und Hornblower war seiner Sache sicher.
Soames hatte also das Ziel auf Anhieb gefunden und damit seine nautische Aufgabe in glänzender Weise gelöst. Jetzt trennten sich der Kutter und die Barkaß von den beiden Gigs. Die vier Boote nahmen ihre befohlenen Ausgangsstellungen ein, um nachher gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen zum Angriff vorzustoßen.
»Auf Riemen!« befahl Hornblower flüsternd, und seine Bootsbesatzung hörte auf zu pullen.
Hornblower wußte, was er zu tun hatte. Er mußte warten, bis die Angreifer an Deck Fuß gefaßt hatten. Die Korvette war deutlich zu unterscheiden, aber die Boote waren ihm alsbald aus Sicht gekommen, die Dunkelheit hatte sie verschluckt. Die Papillon lag vor Anker, ihre Spieren hoben sich schwach gegen den nächtlichen Himmel ab - dort hinauf führte nachher sein Weg. Wie hoch diese Masten waren! Sie schienen ihm bis in den Himmel zu ragen. In Richtung der Korvette hörte man das Wasser aufklatschen, die Boote näherten sich offenbar schon dem Ziel, und irgendwer hatte wahrscheinlich beim Pullen nicht aufgepaßt. Im gleichen Augenblick wurde vom Deck der Korvette aus angerufen, und als sich der Anruf wiederholte, antwortete ein hundertfaches Echo aus den längsseit gehenden Booten.
Das Geschrei wurde immer wilder und wollte kein Ende nehmen. So war es nämlich angeordnet, weil dieser Lärm beim schlafenden Gegner Verwirrung stiftete und weil jede Bootsbesatzung aus seinem Vorrücken entnehmen konnte, wie weit der Angriff der anderen drei gediehen war. Die britischen Matrosen brüllten wie die Irrsinnigen. Ein Blitz und ein Knall vom Deck der Korvette gab Kunde, daß der erste Schuß gefallen war, und bald krachten und blitzten auch an vielen anderen Stellen die Flinten und Pistolen.
»Ruder an!« rief Hornblower. Er stieß den Befehl aus, als wäre er ihm auf der Folter abgepreßt worden.
Während die Jolle vorwärts schoß, gab sich Hornblower alle Mühe, seine Ängste zu bannen, und versuchte gleichzeitig auszumachen, was an Deck der Korvette vor sich ging. Er sah keinen Grund, der einen oder anderen Seite des Schiffs den Vorzug zu geben, die Backbordseite war ihm zugewandt, also steuerte er auf die Backbord-Großrüsten zu. Seine Aufgabe nahm ihn so in Anspruch, daß ihm erst im letzten Augenblick einfiel, »Riemen ein« zu kommandieren. Er legte das Ruder, das Boot schlug einen Bogen, und der Bugmann hakte ein. Von Deck vernahm man ein metallisches Klirren, es klang genau, als ob ein Kesselflicker auf einen Kochtopf hämmerte - Hornblower hörte, wie es einsetzte, als er sich eben von seinem Platz in der Achterpiek erhob. Er fühlte noch einmal nach dem Entermesser an seiner Hüfte und der Pistole im Koppel, dann sprang er mit einem verzweifelten Satz in die Rüsten. Schon hatte er sie zu fassen und holte sich daran hoch. Seine Hände griffen die Wanten, die Füße suchten und fanden die Webeleinen, und er begann zu entern. Als er mit dem Kopf über die Reling gelangte und das Deck übersehen konnte, tauchte ein Pistolenschuß die Szene vor ihm für den Bruchteil einer Sekunde in helles Licht, so daß er einen statischen, bildhaften Eindruck von dem nächtlichen Kampfgetümmel empfing. Vor und unter ihm gingen ein britischer Matrose und ein französischer Offizier wie rasend mit Entermessern aufeinander los. Was ihm wie das Hämmern eines Kesselflickers geklungen hatte, war also in Wirklichkeit nichts anderes als das Geklirr aufeinanderschlagender Klingen, von dem die Dichter so begeistert zu singen pflegten. Romantik und Wirklichkeit waren eben doch zweierlei Dinge.
Über dieser Feststellung war er ziemlich weit nach oben gelangt. Jetzt stieß er mit dem Ellbogen gegen die Püttingswanten, das übelste Stück der ganzen Klettertour. Er hing dabei hintenüber, krallte sich mit den Zehen in die Webeleinen und packte mit den Händen zu, als ob er die dicken Wanten zerquetschen wollte. Nach drei oder vier bangen Sekunden war das überstanden, er bekam die Toppwanten über dem Mars zu fassen und holte sich daran in die Höhe. Nun kam das letzte Stück, er keuchte vor Anstrengung, als ob ihm die Lunge bersten wollte. Gottlob, da war die Marsrah! Hornblower warf sich bäuchlings darauf und angelte mit den Füßen nach dem Pferd. Barmherziger Gott! Das Pferd war nicht da - er suchte in der Dunkelheit verzweifelt unter der Rah herum, aber seine Füße fanden nirgends Halt, sie pendelten nur im Leeren.
So hing er hundert Fuß über Deck und strampelte dabei mit den Beinen wie ein kleiner Junge, den sein Vater mit gestreckten Armen in die Höhe schwingt. Es half alles nichts, das Fußpferd war einfach nicht da, vielleicht hatten es die Franzosen sogar mit Absicht weggenommen, um genau das zu verhindern, was er eben unternehmen wollte. Wie sollte er ohne Pferd, ohne Halt für die Füße, auf die Rah hinausgelangen? Es war ausgeschlossen. Aber die Zeisings mußte losgeworfen werden, damit das Segel gesetzt werden konnte. Alles hing davon ab.
Unter den Seeleuten gab es Tollköpfe, die sich stehend freihändig auf den Rahen produzierten und wie Seiltänzer bis zur Nock hinausliefen. Hornblower hatte solche Kunststücke zuweilen mit angesehen, und jetzt fielen sie ihm wieder ein, weil er offenbar nur auf diese Art an die Nock der Rah gelangen konnte. Im ersten Augenblick stockte ihm der Atem, so sehr sträubte sich sein schwaches Fleisch bei dem bloßen Gedanken an diesen Gang über dem finsteren Abgrund. Das war Angst, nackte Angst, die den Mann seiner Mannheit beraubte und eine lächerliche Vogelscheuche aus ihm machte. Dennoch arbeitete sein rastloser Geist wie im Fieber. Ha, mit Haies war er fertig geworden, dazu war er Manns genug gewesen. Offenbar war er nur ein mutiger Mann, wenn es nicht um seine eigene Haut ging.
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Die Rah maß zwanzig Fuß bis zur Nock, er legte diese Strecke mit wenigen, traumwandlerischen Schritten zurück.
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Tor, der er war! Kam er denn nie mehr zur Vernunft? Mußte er immer wieder alle Vorsicht und Bedachtsamkeit in den Wind schlagen? Kurzum, er ließ sich so rasch niedergleiten, daß ihn das grobe Tau in die Hände schnitt. Als er das merkte und fester zugreifen wollte, um die Fahrt zu mindern, da verursachte ihm das solche Schmerzen, daß er den Griff sofort wieder lockern mußte. Es ging also mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, und die Brass schälte ihm dabei die Haut von den Händen wie einen Handschuh. Endlich stieß er mit den Füßen auf und war an Deck. Der Anblick, der sich ihm dort bot, ließ ihn seine Schmerzen vergessen.
Das erst Grau am Himmel kündete den nahenden Morgen, und aller Lärm des Kampfes war verstummt. Der Überfall war glänzend geglückt, hundert Mann hatten das Deck der Korvette urplötzlich von allen Seiten gestürmt, die Ankerwache überwältigt und von dem Schiff Besitz ergriffen, ehe die Freiwache nach oben gelangen und an irgendeine Abwehr denken konnte. Chadd meldete mit seiner Stentorstimme von der Back:
»Ankertroß ist gekappt, Sir!«
Gleich darauf brüllte Eccles von achtern: »Mr. Hornblower!«
»Sir!« schrie Hornblower zurück.
»An die Fallen!«
Eine Menge Leute rannte herbei, um zu helfen - nicht nur seine Bootsgäste, sondern alle, die sich durch Tatendrang und Begeisterung dazu getrieben fühlten. Fallen, Schoten und Brassen wurden geholt, die Rahen schwenkten herum, bis die leichte südliche Brise das Segel füllte. Die Papillon gewann Fahrt und drehte den Bug stromabwärts, um, von der einsetzenden Ebbe unterstützt, nach See zu gelangen. Die Helligkeit nahm rasch zu, über dem Wasser lag ein dünner Morgendunst.
Von Steuerbord achtern her brüllte es donnernd auf, und gleich darauf schnitt ein vielfaches, infernalisch lautes Geheul durch die diesige Luft. Hornblower empfing seine Feuertaufe, er hörte zum erstenmal im Leben Kugeln fliegen.
»Mr. Chadd! Setzen Sie die Vorsegel! Vormarssegel los! Und ihr hier? Habt ihr nichts zu tun? Los, ein paar Mann hoch, Kreuzmarssegel klar zum Setzen!«
Die zweite Salve kam von Backbord vorn - Blaye beschoß sie also von der einen, St. Dye von der anderen Seite. Offenbar hatte man dort inzwischen erraten, was sich auf der Papillon ereignet hatte. Aber die Korvette machte jetzt mit Wind und Strom eine gute Fahrt, so daß es bestimmt nicht einfach war, sie in dem immer noch herrschenden Zwielicht durch Treffer in die Takelage manövrierunfähig zu machen. Aber der Erfolg hing immer noch an einem Haar, sie hätten keine Sekunde später kommen dürfen, wenn sie dem Verhängnis entgehen wollten.
Von der nächsten Salve flog nur noch eine Kugel in Hörweite über das Schiff. Als sie darüber hinwegsauste, gab es oben in der Takelage einen heftigen Ruck.
»Mr. Mallory, lassen Sie sofort das Vorstag spleißen!«
»Aye, aye, Sir.«
Inzwischen war es hell genug geworden, so daß sich Hornblower genauer an Deck umsehen konnte. Eccles stand an der Vorkante des Achterdecks und leitete die seemännischen Manöver, Soames stand neben dem Ruder und navigierte das Schiff durch das schwierige Fahrwasser. Zwei Gruppen von Seesoldaten in roten Röcken bewachten mit aufgepflanztem Bajonett die Niedergänge. Über das Deck verstreut lagen vier oder fünf seltsam verrenkte Gestalten. Das waren Tote.
Hornblower konnte sie mit der Härte der Jugend ohne jede Regung des Gefühls betrachten. Aber dort hockte auch noch ein Verwundeter und beugte sich stöhnend über seinen zerschmetterten Oberschenkel. Der ließ Hornblower nicht so kalt, und er war, wenn auch nur um seines eigenen inneren Gleichgewichts willen, froh, als im selben Augenblick ein Matrose von Mallory die Erlaubnis erbat und auch erhielt, seine dienstliche Tätigkeit zu unterbrechen, um ihm in seiner Not Beistand zu leisten.
»Klar zum Wenden!« rief Eccles vom Achterdeck. Die Korvette hatte das Ende der Mittelgrund-Bank erreicht und konnte nun auf den neuen Kurs gehen, der sie in die offene See hinausführte.
Die Männer rannten an die Brassen, Hornblower reihte sich ein und faßte mit zu. Aber die erste Berührung mit dem rauhen Hanfende verursachte ihm solche Schmerzen, daß er beinahe laut aufgeschrien hätte. Seine Hände waren wie rohes Fleisch und noch dazu von einem frisch geschlachteten Tier, denn sie trieften noch von Blut. Jetzt, da er wieder daran dachte, taten sie ihm plötzlich höllisch weh.
Die Vorsegel wurden übergenommen, und die Korvette kam glatt und schnell durch den Wind.
»Dort liegt die alte Indy!« ließ sich ein Mann von vorn vernehmen.
Die Indefatigable war jetzt schon deutlich auszumachen. Sie hatte eben außerhalb des Schußbereichs der Küstenbatterien beigedreht und erwartete ihre Prise. Irgendwer rief hurra, und sofort fiel alles begeistert ein, während noch die letzten, auf größte Entfernung gefeuerten Schüsse von St. Dye hinter dem Schiff ins Wasser schlugen. Hornblower zog sein Taschentuch und versuchte, wenigstens eine Hand damit einzubinden.
»Kann ich Ihnen dabei helfen, Sir?« fragte Jackson.
Jackson schüttelte den Kopf, als er das rohe Fleisch in der Handfläche sah.
»Das war aber leichtsinnig, Sir. Sie hätten Hand über Hand herunterkommen sollen«, meinte er, nachdem ihm Hornblower erklärt hatte, wie er zu dieser Verletzung gekommen war. »Das war sehr leichtsinnig, nichts für ungut, Sir, wenn ich das offen sage. Aber so sind sie eben, die jungen Herren, riskieren bei jeder Gelegenheit ihre Knochen samt der Haut.«
Hornblower warf einen Blick zur Großmarsrah hinauf, die jetzt hoch über ihm hing, und mußte wieder daran denken, wie er im Dunkel der Nacht auf dieser schlanken Spier freihändig bis zur Nock hinausgelaufen war. Noch in der Erinnerung an jene Sekunden überlief es ihn eiskalt, obwohl er das sichere Deck unter den Füßen hatte.
»Verzeihung, Sir, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Jackson und knotete das Taschentuch fest. »So, hoffentlich hält das, Sir, ich habe getan, was ich konnte.«
»Danke, Jackson«, sagte Hornblower.
»Wir müssen noch melden, daß wir die Jolle verloren haben, Sir«, fuhr Jackson fort.
»Was, verloren?«
»Sie ist nicht mehr längsseit, Sir. Wir haben keinen Bootsgast darin gelassen. Wells hätte zurückbleiben sollen, Sie wissen wohl noch, Sir, aber den habe ich noch mit in die Riggen geschickt, weil Haies ja nicht mehr dabei war. Wir waren ohnehin nicht zuviel Leute für das, was uns aufgetragen war.
Die Jolle wird beim Wenden auf Drift gegangen sein.«
»Und was ist aus Haies geworden?« fragte Hornblower.
»Der war noch im Boot, Sir.«
Hornblower warf einen Blick nach achtern in die breite Mündung der Gironde. Dort irgendwo trieb jetzt seine Jolle, und in ihr lag Haies, wahrscheinlich tot, vielleicht aber noch am Leben. So oder so, die Franzosen fanden ihn auf jeden Fall. Und während er an Haies dachte, der dort trieb, verwandelte sich die heiße Freude, die ihn eben noch durchströmte, in frostiges Leid.
Wäre Haies nicht gewesen, dann hätte er sich niemals dazu aufgerafft, freihändig über die Rah zu laufen (so meinte er wenigstens), dann wäre jetzt sein Leben verpfuscht, und er stünde als elender Feigling da, statt sich im Bewußtsein wohlerfüllter Pflicht zu sonnen.
Jackson sah seine niedergeschlagene Miene.
»Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, Sir«, sagte er, »kein Mensch wird Ihnen wegen der Jolle einen Vorwurf machen, der Kommandant nicht und Mr. Eccles auch nicht, die denken nicht daran.«
»Ach, die Jolle, an die dachte ich nicht«, sagte Hornblower, »ich dachte an Haies.«
»Der?« meinte Jackson. »Den können Sie sich ruhig aus dem Kopf schlagen, Sir. Der hätte nie im Leben einen ordentlichen Seemann abgegeben, soviel steht fest.«