3. Kapitel
Als es über der wogenden Biskaya endlich wieder zu tagen begann, trieb inmitten der weiten Wasserwüste ein einsames, kleines Boot, und dieses Boot trug sicherlich mehr Menschen, als gut war. Vorn drängte sich die französische Besatzung der gesunkenen Marie Galante, mittschiffs saß der Kapitän und sein Steuermann, die Achterplicht war von dem Fähnrich Horatio Hornblower und seinen vier englischen Matrosen besetzt, die vordem die Prisenbesatzung der Brigg gebildet hatten.
Hornblower war seekrank. Sein empfindlicher Magen hatte ihm schon übel mitgespielt, bis er sich an die Bewegungen der Indefatigable gewöhnte, und rebellierte jetzt natürlich aufs neue, als das kleine Boot ruckend und stampfend hinter seinem Treibanker auf- und niedertanzte. Er war aber nicht nur seekrank, sondern auch hundemüde und durchgefroren, denn Schlaf hatte er auch in dieser zweiten Nacht nicht gefunden, weil er sich immer wieder krampfhaft übergeben mußte. Und in der bösen Depression, die die Seekrankheit immer mit sich bringt, machte er sich wegen des Verlustes der Marie Galante die schwersten Vorwürfe. Hätte er doch eher daran gedacht, dieses Schußloch zu dichten! Fiel ihm dazwischen etwas zu seiner Entlastung ein, so ließ er es nicht gelten. Waren der Aufgaben für seine paar Männer nicht allzu viele gewesen? Man mußte die Franzosen bewachen, die havarierte Takelage in Ordnung bringen, den Kurs absetzen! Den größten Streich hatte ihm der quellende Reis gespielt, als er daran dachte, die Bilge zu peilen, und kein Wasser fand. Das war alles gut und schön und sicher richtig, dennoch war am Ende nicht daran zu rütteln, daß er das Schiff, sein Schiff, das erste, das ihm anvertraut war, verloren hatte. Für diese Niederlage gab es keine Entschuldigung.
Die Franzosen waren bei Tagesgrauen munter geworden und schnatterten durcheinander wie eine Horde Spatzen. Matthews und Carson reckten ihre steifen Glieder, um den schmerzenden Gelenken Linderung zu verschaffen.
»Frühstück, Sir?« fragte Matthews.
Hornblower mußte an ein Spiel denken, das er als einsames, einziges Kind so gern gespielt hatte. Da saß er in einem leeren Schweinetrog, und der Trog war ein Boot und er saß ganz allein drin und trieb weit draußen auf See. Er hatte ein Stück Brot, oder was er sonst in der Küche ergattern konnte, säuberlich in zwölf Rationen geteilt, genau abgezählt, und jede Ration mußte für einen Tag langen. Aber der kleine Junge mit seinem unstillbaren Hunger hielt das Warten nicht lange aus, darum waren seine Tage sehr kurz, sie dauerten kaum fünf Minuten. Er war in seinem »Boot«, dem Schweinetrog, aufgestanden und hatte den Horizont vergebens nach Rettung abgesucht, hatte sich noch ein Weilchen das harte Dasein eines Schiffbrüchigen ausgemalt, dann hatte er kurzerhand beschlossen, daß wieder ein Tag und eine Nacht um war und daß er sich mit Fug und Recht die nächste Ration seines schwindenden Vorrats zu Gemüte führen durfte. Das Spiel des Knaben von einst war heute grausame Wirklichkeit. Hornblower sah, wie der französische Kapitän und sein Steuermann jedem Mann im Boot ein Stück Hartbrot reichten und dann allen der Reihe nach die Kumme aus den Fässern mit Wasser füllten. Aber trotz seiner lebhaften Phantasie hatte er sich damals in seinem Schweinetrog doch nicht alles richtig ausgemalt. Er hatte so wenig an die scheußliche Seekrankheit gedacht wie an die Kälte und die Krämpfe in den steifen Gliedern oder an die schrecklichen Schmerzen, die das arme Hinterteil auf den harten Duchten der Achterplicht zu erleiden hatte. Und am allerwenigsten hatte er natürlich in seiner kindlichen Selbstsicherheit geahnt, wie schwer die Last der Verantwortung schon den Siebzehnjährigen drücken konnte, wenn ihm ein selbständiges Kommando zufiel.
Er riß sich mit Gewalt von diesen noch so frischen Erinnerungen an seine Kindheit los, um sich wieder ganz den Aufgaben des Augenblicks zu widmen. Soviel ihm seine noch recht dürftige Erfahrung sagte, verhieß der graue Himmel fürs erste keine Verschlechterung des Wetters. Er näßte einen Finger und hielt ihn in die Höhe, dabei warf er zugleich einen Blick auf den Bootskompaß, um die Windrichtung zu bestimmen.
»Dreht ein wenig nach Westen zurück, Sir«, bemerkte Matthews, der es ihm nachgetan hatte.
»Ja«, stimmte ihm Hornblower zu und überholte rasch seine unlängst gelernte Kompaßkunde. Der Kurs, den er abgesetzt hatte, um von Ushant freizukommen, war Nordost zu Nord gewesen, das wußte er noch. Das Boot lag mit dicht geholten Schoten höchstens acht Strich am Wind. Er hatte die ganze Nacht vor Treibanker gelegen, weil der Wind so weit nördlich einkam, daß er England nicht mehr ansteuern konnte. Jetzt hatte er nach Westen zurückgedreht. Acht Strich von Nordost zu Nord zurückgerechnet ergab Nordwest zu West, und der Wind kam jetzt sogar noch weiter westlich ein. Er konnte also mit dichten Schoten frei von Ushant laufen und hatte dabei sogar noch für alle Fälle Höhe übrig, die ihm half, sich gut von Leegenvall fernzuhalten, wo ihm, wie er aus den seemännischen Lehrbüchern wußte und auch aus eigener Überlegung begriff, die größten Gefahren drohten.
»Wir wollen Segel setzen, Matthews«, sagte er. Er hielt immer noch ein Stück Hartbrot in der Hand, das sein rebellischer Magen zurückwies.
»Aye, aye, Sir.«
Ein Zuruf hieß die im Bug zusammenhockenden Franzosen aufmerken. Unter den gegebenen Umständen hatte es Hornblower kaum nötig, sein stockendes Französisch anzuwenden, um sie zum Einholen des Treibankers zu veranlassen. In dem überfüllten Boot, das kaum einen Fuß Freibord hatte, war dies Manöver gar nicht so einfach. Der Mast war schon gesetzt, das Luggersegel lag klar zum Heißen. Zwei Franzosen standen unsicher schwankend auf und griffen nach dem Fall, dann stieg das Segel am Mast hoch.
»Hunter, nehmen Sie die Schot«, sagte Hornblower, »Matthews ans Ruder. Halten Sie das Boot auf Steuerbord Bug am Wind.«
»Steuerbord Bug am Wind«, wiederholte Matthews. Der französische Kapitän war von seinem Platz in der Mitte des Bootes aus dem ganzen Vorgang mit gespanntem Interesse gefolgt. Den letzten, entscheidenden Befehl hatte er nicht verstanden, aber es fiel ihm nicht schwer, ihn zu erraten, als das Boot abfiel und über Steuerbord Bug Kurs auf England nahm.
Er stand auf und erhob mit einem Schwall von aufgeregten Worten Einspruch.
»Bei diesem Wind können wir leicht Bordeaux ansteuern«, schrie er und fuchtelte mit den Fäusten in der Luft herum. »Bis morgen wären wir dort. Warum steuern wir nördlichen Kurs?«
»Weil wir nach England segeln«, sagte Hornblower. »Aber - aber, dazu brauchen wir mindestens eine Woche! Ja, auch wenn der Wind so günstig bleibt. Dieses Boot ist doch völlig überlastet - einen Sturm können wir damit unmöglich abreiten.
Ihr Plan ist reiner Wahnsinn!«
Schon als sich der Kapitän von seiner Ducht erhob, hatte Hornblower erraten, was jetzt kommen würde. Er machte sich nicht einmal die Mühe, dem aufgeregten französischen Wortschwall des Mannes genau zu folgen, da er viel zu müde und seekrank war, um sich in einer fremden Sprache mit ihm herumzustreiten. Jetzt die französische Küste ansteuern? Nein, um keinen Preis der Welt! Seine Laufbahn als Seeoffizier hatte kaum erst begonnen, und wenn sie jetzt schon ein trauriges Ende fand, weil er die Marie Galante verloren hatte, so war er darum noch längst nicht bereit, auf Jahre hinaus hinter französischen Gefängnismauern zu verkommen.
»Monsieur!« rief der französische Kapitän.
Der Steuermann, der mit dem Kapitän die Ducht teilte, erhob die gleichen Vorstellungen. Jetzt wandten sich beide um und erklärten ihren Leuten, worum es ging. Der Erfolg war, daß sich auch unter diesen Männern ein zorniges Murren erhob.
»Monsieur!« begann der Kapitän von neuem, »ich bestehe darauf, daß Sie Bordeaux ansteuern.«
Er machte Miene, auf die Engländer einzudringen, einer der Leute hinter ihm griff nach einem Bootshaken, um ihn als gefährliche Waffe zu benutzen. Hornblower riß eine seiner Pistolen aus dem Koppel und zielte auf den Kapitän. Als er die Mündung der Waffe aus vier Fuß Entfernung auf sich gerichtet sah, hielt er inne und sank auf seine Ducht zurück. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog Hornblower mit der Linken seine zweite Pistole.
»Da, nehmen Sie, Matthews«, sagte er.
»Aye, aye, Sir«, sagte Matthews gehorsam und setzte dann nach einer respektvollen Pause hinzu: »Verzeihung Sir, ich möchte nur bemerken, daß Sie noch nicht gespannt haben.«
»Wahrhaftig«, sagte Hornblower ganz entsetzt über seine Vergeßlichkeit. Er zog sofort den Hahn zurück, und bei dem schnappenden Geräusch kam dem französischen Kapitän erst recht deutlich zum Bewußtsein, in welcher Gefahr er schwebte.
Es war wirklich kein Spaß, in dem auf- und niedertanzenden Boot eine geladene, gespannte Waffe auf sich gerichtet zu sehen. Er hob verzweifelt die Arme.
»Bitte zielen Sie doch woanders hin!«
Dabei zog er sich immer weiter zurück und drängte sich zwischen die Leute, die hinter ihm saßen.
»Stopp dort, sofort belegen!« brüllte Matthews plötzlich - ein französischer Matrose versuchte soeben, heimlich das Fall loszuwerfen.
»Schießen Sie jeden über den Haufen, der eine Hand gegen uns rührt«, sagte Hornblower zu ihm.
Er war so darauf versessen, seinen Willen gegen diese Leute durchzusetzen, so eisern entschlossen, seine Freiheit zu verteidigen, daß sich sein Gesicht förmlich zusammenzog und den Ausdruck einer knurrenden Bestie bekam. Wer ihn so sah, konnte keinen Augenblick daran zweifeln, daß er alles darangab, um sich durchzusetzen, und daß er keinem Menschen erlaubte, sich zwischen ihn und seine Entscheidung zu stellen. Er hatte noch eine dritte Pistole im Koppel stecken, die Franzosen konnten also damit rechnen, daß mindestens ein Drittel von ihnen daran glauben mußte, ehe es ihnen gelingen konnte, die Engländer zu überwältigen. Und ihr Kapitän wußte nur zu genau, daß er in diesem Fall als erster starb. Da er den Blick nicht von der drohenden Mündung lassen konnte, bedeutete er seinen Leuten nur mit hinter sich gerichteten Gesten seiner sprechenden Hände, daß sie ihren Widerstand aufgeben sollten.
Allmählich erstarb ihr zorniges Gemurre, und nun verlegte sich der Kapitän aufs Bitten.
»Im letzten Krieg«, begann er, »war ich schon volle fünf Jahre in englischen Gefängnissen und möchte jetzt nicht von neuem dort landen. Könnten wir nicht ein ehrliches Abkommen treffen? Sie bringen uns nach Frankreich, lassen uns, wo immer Sie wollen, an Land und setzen dann Ihre Reise fort. Oder - ein anderer Vorschlag - wir gehen alle zusammen an Land, und ich mache meinen ganzen Einfluß geltend, um zu erreichen, daß Sie und Ihre Leute unter Kartell, ohne Austausch oder Lösegeld, nach England zurückgelangen. Ich schwöre Ihnen hoch und heilig, daß ich das tun werde.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Hornblower kurz. England war von hier aus leichter zu erreichen, als von der französischen Biskaya-Küste. Und was den zweiten Vorschlag betraf, so hatte Hornblower von der neuen, durch die Revolution emporgeschwemmten Regierungsgewalt in Frankreich genug gehört, um zu wissen, daß diese Leute auf die Vorstellungen eines einfachen Handelsschiffskapitäns hin bestimmt keinen Gefangenen losließen. In Frankreich herrschte großer Mangel an ausgebildeten Seeleuten, daher war es überdies seine Pflicht, dieses Dutzend Leute auf keinen Fall zurückkehren zu lassen.
»Nein«, sagte Hornblower wieder, als ihn der Kapitän aufs neue beschwor.
»Soll ich ihm in die Schnauze schlagen, Sir?« fragte Hunter, der neben Hornblower saß.
»Nein«, sagte Hornblower; aber der Franzose hatte die Geste Hunters gesehen und schloß daraus, was ihm drohte. Daraufhin ließ er das Reden und brütete nur noch dumpf vor sich hin. Aber die schußbereite Pistole auf Hornblowers Knie ließ ihm keine Ruhe. Ein Fingerdruck im Halbschlaf, und der Schuß ging los.
»Monsieur«, begann er wieder, »ich bitte Sie, tun Sie die Pistole weg. Sie ist gefährlich.«
Hornblower maß ihn mit einem kalten, mitleidlosen Blick.
»Bitte tun Sie das Ding weg. Ich verspreche Ihnen, daß ich nichts mehr tun oder sagen werde, was Ihren Absichten als Führer dieses Bootes zuwiderläuft.«
»Schwören Sie mir das?«
»Ja, ich schwöre es.«
»Und Ihre Leute?«
Der Kapitän wandte sich um und redete so lange auf seine Männer ein, bis sie sich widerstrebend seinem Willen fügten.
»Sie schwören es ebenfalls.«
»Gut, ich will Ihnen glauben.«
Daraufhin steckte Hornblower die Pistole wieder in sein Koppel, wobei ihm grade noch rechtzeitig einfiel, den Hahn auf halbe Ruhe zu stellen, damit er sich nicht womöglich noch selbst in den Leib schoß.
Nach der aufgeregten Szene von eben versank jetzt alles in stumpfe Müdigkeit. Das Boot ritt in schwingendem Gleichmaß über die Seen, was nach dem ewigen Reißen am Treibanker eine wahre Wohltat war. Hornblower stellte zu seiner Freude fest, daß sich seine überreizten Magennerven zusehends beruhigten.
Er hatte nun schon zwei Nächte keinen Schlaf gefunden, jetzt sank ihm der Kopf auf die Brust, er lehnte sich seitwärts an Hunter und entschlummerte friedlich, während das Boot mit etwa halbem Wind in stetiger Fahrt der Küste Englands zustrebte.
Er wachte erst spät am Tage wieder auf, als Matthews müde und verkrampft die Pinne an Carson abgab, weil er am Ende seiner Kräfte war. Von da an gingen sie Wache um Wache, einer an der Schot und einer am Ruder, die beiden anderen ruhten sich aus, so gut es gehen wollte. Hornblower ging seinen Törn an der Schot, die Pinne getraute er sich, besonders bei Nacht, nicht zu führen, weil er wußte, daß er den Kniff noch nicht herausgefunden hatte, ein Boot nur nach dem Wind zu steuern, den man auf der Wange fühlte.
Sie hatten am folgenden Tag das Frühstück längst hinter sich, ja, es ging schon stark auf Mittag zu, als das Segel in Sicht kam.
Einer der Franzosen sah es zuerst, und sein erregter Schrei riß alle hoch. Voraus in Luv waren drei rechteckige Marssegel über der Kimm aufgetaucht und näherten sich auf konvergierendem Kurs so rasch, daß die Fläche der Leinwand jedesmal ein Stück größer erschien, wenn das Boot wieder den Kamm einer See erreichte.
»Was halten Sie davon, Matthews?« fragte Hornblower, während die Franzosen wie ein aufgeregter Bienenschwarm durcheinanderschwatzten.
»Ich kann noch nichts Bestimmtes sagen, Sir«, meinte Matthews unsicher, »was man bis jetzt sehen kann, will mir allerdings nicht gefallen. Bei dieser Brise müßte das Schiff auf jeden Fall seine Bramsegel führen und die Untersegel natürlich auch. Warum, frage ich, tut es das nicht? Und der Schnitt des Klüvers kommt mir auch verdächtig vor, Sir. Hm, ich möchte fast sagen, es könnte ein Franzmann sein, Sir.«
Jedes Schiff auf friedlicher Reise führte natürlich alle Segel, die es tragen konnte. Jenes Schiff dort tat das offenbar nicht.
Also konnte man schließen, daß es in Kriegsdiensten stand.
Aber auch in diesem Fall durfte man sogar hier in der Biskaya eher damit rechnen, einem Briten zu begegnen als einem Franzosen. Hornblower sah sich das Fahrzeug lange und gründlich an. Es war nicht besonders groß und doch als Vollschiff getakelt. Jetzt kam schon ab und zu der Rumpf über der Kimm zum Vorschein - ein Glattdecker mit einer Reihe Geschützpforten -, man sah ihm seine Schnelligkeit schon von weitem an.
»Der Schlitten sieht mir von vorn bis hinten nach einem Franzosen aus, Sir«, bemerkte Hunter, »wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Kaperschiff.«
»Klar zum Halsen!« befahl Hornblower.
Sie brachten das Boot vor den Wind und kehrten dem Schiff jetzt das Heck zu. Aber im Krieg gilt das gleiche Gesetz wie im Dschungel, wer flieht, fordert damit zu Verfolgung und Angriff heraus. Das Schiff setzte seine Untersegel und Bramsegel und fegte hinter ihnen her. Es passierte sie in einer Kabellänge Abstand und drehte dann vor ihnen bei, so daß es kein Entkommen mehr gab. An der Reling drängte sich ein seltsames Volk, die Besatzung schien für ein Schiff dieser Größe ungewöhnlich zahlreich zu sein. Jetzt drang von drüben ein Anruf über das Wasser. Die Worte waren französisch. Die englischen Matrosen ergingen sich in wilden Flüchen, als der französische Kapitän begeistert Antwort gab und seine Besatzung das Boot längsseit brachte.
Ein gutaussehender junger Mann in pflaumenblauem Rock mit Spitzenkragen begrüßte Hornblower, als er das Deck betrat.
»Willkommen auf der Pique, Monsieur«, sagte er auf französisch. »Ich bin Kapitän Neuville, Kommandant dieses Kaperschiffs. Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Fähnrich Hornblower von Seiner Britischen Majestät Schiff Indefatigable«, knurrte ihn Hornblower an.
»Monsieur scheinen schlechter Laune zu sein«, sagte Neuville. »Ich bitte Sie, regen Sie sich nicht über die Wechselfälle des Krieges auf. Sie werden bis zu unserem Einlaufen an Bord dieses Schiffes jede Bequemlichkeit genießen, die wir Ihnen auf See irgend bieten können. Fühlen Sie sich also ganz zu Hause. Die Pistolen in Ihrem Koppel sind Ihnen zum Beispiel sicher recht lästig, erlauben Sie mir daher, daß ich Sie von ihrem Gewicht befreie.«
Während er das sagte, zog er Hornblower die Pistolen mit spitzen Fingern aus dem Koppel, musterte ihn mit einem scharfen Blick von oben bis unten und fuhr dann fort:
»Dann wäre noch über den Dolch an Ihrer Seite zu reden, Monsieur. Würden Sie vielleicht die Güte haben, ihn mir leihweise zu überlassen? Ich versichere Ihnen, daß ich ihn zurückgeben werde, wenn wir uns trennen. Solange Sie hier an Bord sind, muß ich leider besorgt sein, daß Sie sich im Sturm und Drang Ihrer Jugend zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen, wenn Sie eine Waffe tragen, die Ihr jugendliches Gemüt für tödlich halten könnte. Tausend Dank dafür! Und jetzt darf ich Ihnen wohl die Kammer zeigen, die eben für Sie klargemacht wird.«
Mit einer höflichen Verbeugung nahm er den Vortritt und führte Hornblower nach unten. Zwei Decks tiefer, wahrscheinlich schon ein paar Fuß unter der Wasserlinie, gelangten sie in ein geräumiges, völlig kahles Zwischendeck, das nur durch die Niedergänge ein wenig Licht und Luft empfing. »Unser Sklavendeck«, bemerkte Neuville obenhin.
»Sklavendeck?« fragte Hornblower.
»Ja, hier waren während der Reise die Sklaven eingesperrt.«
Mit einem Male wurde Hornblower vieles klar. Ein Sklaventransporter war besonders leicht in ein Kaperschiff zu verwandeln. Diese Schiffe waren ja an und für sich schon reichlich mit Geschützen bestückt, damit sie sich gegen heimtückische Überfälle zur Wehr setzen konnten, wenn sie auf den Strömen Afrikas ihre »Ware« einhandelten. Sie waren schneller, als Handelsschiffe im allgemeinen zu sein pflegten, weil sie keinen bauchigen Laderaum brauchten und weil man eine so leicht verderbliche »Ware« wie Sklaven am vorteilhaftesten mit schnellen Schiffen verfrachtete. Sie waren überdies von vornherein darauf eingerichtet, eine Menge Menschen und dazu gewaltige Bestände an Proviant und Wasser mit sich zu führen, so daß sie auch dann keinen Mangel litten, wenn sie die Jagd auf Prisen einmal länger als gewöhnlich vom Hafen fernhielt.
»Der Markt in San Domingo ist uns neuerdings leider verlorengegangen«, erzählte Neuville in leichtem Plauderton, »ich nehme an, Monsieur, daß Sie von den traurigen Ereignissen gehört haben, denen dieser Ausfall zuzuschreiben ist. Ich habe daher meine Pique in ein Kaperschiff verwandelt, damit sie mir weiter gute Revenuen abwirft. Da ich außerdem feststellen mußte, daß gegenwärtig unter dem Regime des Komitees für öffentliche Sicherheit in unserem Paris ein weniger zuträgliches Klima herrscht als selbst an der Westküste Afrikas, habe ich mich entschlossen, persönlich die Führung meines Schiffes zu übernehmen. Daß ein wenig Entschlußkraft und Draufgängertum dazu gehören, ein Kaperschiff zu einer guten Kapitalsanlage zu machen, sei nur am Rande vermerkt.«
Bei diesen Worten verhärtete sich Neuvilles Miene zu einem Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit, aber das ging rasch vorüber, und schon war er wieder ganz Kavalier mit glatten, verbindlichen Formen. »Die Tür in diesem Schott«, plauderte er weiter, »führt zu den Quartieren, die ich für gefangene Offiziere vorgesehen habe. Und hier, sehen Sie, ist Ihre Koje. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich darin recht wohl fühlten. Sollte das Schiff ins Gefecht gehen - und ich bin überzeugt, daß das nicht selten der Fall sein wird -, dann werden die Niedergänge geschalkt. Einstweilen haben Sie aber das Recht, sich vollkommen frei auf meinem Schiff zu bewegen. Vielleicht darf ich noch hinzufügen, daß es meine Besatzung bitter übelnehmen würde, wenn sich Gefangene anheischig machten, der Schiffsführung in den Arm zu fallen oder die Sicherheit des Schiffes zu gefährden. Die Leute fahren auf Anteil an der Beute und setzen dabei Leben und Freiheit aufs Spiel. Ich würde mich nicht wundern, wenn ein unbesonnener Mensch, der den Versuch machte, sie um Erfolg und Freiheit zu bringen, kurzerhand über Bord geworfen würde.«
Hornblower zwang sich mit Gewalt zu einer höflichen Antwort, er wollte sich nicht anmerken lassen, daß ihn die eiskalte Roheit dieser letzten Worte fast der Sprache beraubte.
»Ich habe Sie verstanden«, sagte er.
»Ausgezeichnet. Haben Sie sonst noch irgendwelche Wünsche, Monsieur?«
Hornblower sah sich in dem kahlen Geviert um, in dem er nun beim trüben Schimmer einer schwingenden Tranfunzel als Gefangener hausen sollte.
»Könnte ich etwas zu lesen bekommen?«
Neuville überlegte einen Augenblick.
»Leider haben wir nur Fachliteratur an Bord«, sagte er, »da wären Grandjeans Grundlagen der Navigation und Lebruns Handbuch der Seemannschaft oder andere Bücher ähnlichen Inhalts, sofern Sie glauben, des Französischen genügend mächtig zu sein, um sie lesen zu können.«
»Ich will es versuchen«, sagte Hornblower.
Es war sicher von Vorteil, daß sich Hornblower Material für anstrengende geistige Arbeit verschaffte. Die doppelte Aufgabe, französisch zu lesen und zugleich seine Berufskenntnisse zu erweitern, verkürzte ihm die langen, trostlosen Tage, die die Pique auf ihrer Jagd nach Prisen kreuzend auf See verbrachte.
Die Franzosen nahmen meist überhaupt keine Notiz von ihm.
Einmal drang er selbst zu Neuville vor, um sich darüber zu beklagen, daß seine vier britischen Seeleute zu der unwürdigen Arbeit des Lenzpumpens herangezogen wurden. Aber er mußte sich geschlagen geben, ehe es überhaupt zu einer Auseinandersetzung kam, da Neuville von vornherein eiskalt ablehnte, sich dazu zu äußern. Hornblower zog sich mit brennenden Wangen und heißen Ohren in seine Kammer zurück, wo ihn, wie immer in solchen Stunden wühlenden Zorns, die Erinnerung an sein eigenes Verschulden mit neuer Gewalt überfiel.
Wäre es ihm doch eher eingefallen, dieses Schußloch zu dichten! Jeder Offizier mit einem Funken Verstand hätte das als erstes getan. Er aber hatte durch seine Gedankenlosigkeit sein Schiff eingebüßt und die Indefatigable um eine wertvolle Prise gebracht, das lag ihm wie eine Zentnerlast auf der Seele.
Zuweilen zwang er sich dazu, die Zusammenhänge in Ruhe zu überdenken. In beruflicher Hinsicht erwuchs ihm aus seiner Unterlassungssünde voraussichtlich - ja sogar höchst wahrscheinlich - kein Nachteil. Einem Fähnrich, der mit nur vier Mann Prisenkommando eine von einer Fregatte zusammengeschossene Zweihundert-Tonnen-Brigg übernehmen mußte, konnte man keinen ernstlichen Vorwurf machen, wenn ihm das Schiff unter den Füßen wegsank. Dennoch konnte sich Hornblower nicht verhehlen, daß er sich zum mindesten einen Teil der Schuld an diesem Verlust zuschreiben mußte. Gut, er hatte nicht Bescheid gewußt - aber war denn Unwissenheit eine Entschuldigung? Wenn er über der Fülle seiner anderen Sorgen und Pflichten vergessen hatte, das Schußloch zu dichten, dann war er einfach nicht fähig gewesen, ein Schiff zu führen.
Unfähigkeit sprach ihn jedoch ebensowenig los. Wenn er solchen Gedanken nachhing, dann versank er jedesmal in einen Abgrund der Verzweiflung und der Selbstverachtung. Dabei gab es keine Menschenseele weit und breit, die ihn in seinem Elend hätte trösten können.
Die Pique lauerte in den befahrensten Gewässern der Welt auf ihre Beute, sie kreuzte vor der Einfahrt in den Englischen Kanal.
Wenn dennoch ein Tag um den anderen verstrich, ohne daß sie ein Segel in Sicht bekam, so gab das einen lebendigen Begriff von der unermeßlichen Weite des Ozeans. Sie lief bei ihrem Unternehmen immer das gleiche Dreieck ab, mit halbem Wind nach Nordwesten, in Kreuzschlägen nach Süden und dann vor dem Wind unter gekürzten Segeln wieder nach Nordosten. In jedem ihrer Toppen saß ein Ausguckposten, aber die Männer starrten vergebens hinaus, sie sahen weit und breit nichts als die leere, wogende Wasserwüste - bis eines Morgens von der Vorbramsaling der Ruf einer hellen Stimme an Deck herunterdrang und alles aufhorchen ließ, auch Hornblower, der gerade einsam und verlassen an der Reling stand. Neuville schrie vom Achterdeck aus sofort eine Frage zurück, und Hornblower konnte dank seines jüngsten Selbstunterrichts ganz gut verstehen, was der Mann darauf antwortete. In Luv sei ein Segel in Sicht, meldete der Ausguck und fügte im nächsten Augenblick hinzu, das Schiff hätte Kurs geändert und hielte jetzt vor dem Wind auf die Pique zu.
Das war höchst bedeutsam. Im Krieg war jedes Handelsschiff voll Argwohn und Mißtrauen und ging darum allen anderen Schiffen möglichst weit aus dem Wege, besonders wenn es in Luv und damit ohnehin so gut wie in Sicherheit war. Nur wer den Kampf suchte oder an krankhafter Neugier litt, gab die Luvstellung freiwillig auf. In Hornblowers Brust wurde eine wilde und doch ganz und gar törichte Hoffnung wach. Ein Kriegsschiff hier draußen auf der See konnte eigentlich nur ein Engländer oder Franzose sein, denn England beherrschte unbestritten die Meere. Und vor allem noch eins: in diesen Gewässern kreuzte ja die Indefatigable, sein eigenes Schiff, in Erfüllung der doppelten Aufgabe, sowohl nach französischen Kaperschiffen zu fahnden als auch französische Blockadebrecher abzufangen. Hundert Meilen von hier hatte sie ihn und seine Prisenbesatzung auf die Marie Galante übergesetzt. Und doch, so sagte er sich mit der Resignation des Verzweifelten vor, standen die Aussichten tausend zu eins dagegen, daß ein hier aufkommendes Schiff wirklich die Indefatigable war. Dann aber regte sich trotz allem wieder die Hoffnung. Jenes Schiff kam ja offenbar vor dem Wind heran, um festzustellen, wen es hier vor sich hatte, dadurch verbesserten sich die Chancen sicherlich auf zehn, wenn nicht noch weniger als zehn zu eins.
Er faßte von weitem Neuville ins Auge und versuchte seine Gedanken nachzudenken. Die Pique war ein schnelles und handiges Schiff, es stand ihm also frei, einfach abzudrehen und nach Lee zu entkommen. Die Tatsache, daß das fremde Schiff auf die Pique abhielt, mußte auf jeden Fall seinen Argwohn wecken. Allerdings wußte man von den Indienfahrern, jenen wertvollsten aller Prisen, daß sie sich zuweilen ihre Ähnlichkeit mit einem schweren Linienschiff zunutze machten, um einen gefährlichen Gegner zu verscheuchen, indem sie wie zum Angriff herangebraust kamen. Für einen Mann, der darauf brannte, eine gute Prise zu machen, lag darin bestimmt eine Versuchung. Auf Neuvilles Befehl wurden alle Segel gesetzt, damit er in der Lage war, im gegebenen Augenblick, sei es zu fliehen, sei es die Verfolgung aufzunehmen. Dann steuerte die Pique mit dicht geholten Schoten dem anderen Schiff entgegen.
Nicht lange danach entdeckte Hornblower vom Oberdeck aus an der Kimm einen winzigen weißen Fleck, nicht größer als ein Reiskorn, als sich die Pique wieder einmal über eine See hinweghob. Jetzt kam Matthews ganz rot vor Aufregung achteraus gerannt und trat an Hornblowers Seite.
»Das ist die alte Indefatigable, Sir«, sagte er, »ich möchte es beschwören!« Er sprang auf die Reling, hielt sich an den Wanten fest und starrte unter der schützenden Hand hervor nach der Kimm.
»Ja, sie ist's, Sir! Jetzt machen sie die Royals los, Sir! Wir kommen gerade noch recht zur Schnapsausgabe!«
Ein französischer Maat langte in die Höhe, zerrte Matthews am Hosenboden von seinem Ausguck herunter und jagte ihn mit Hieben und Stößen nach vorn. Einen Augenblick später gab Neuville den Befehl aufzubrassen und hieß den Rudergänger so weit abfallen, daß das Schiff der Indefatigable das Heck zeigte.
Dann winkte er Hornblower heran.
»Wie ich höre, ist das Ihr früheres Schiff?«
»Ja, es ist die Indefatigable.«
»Mit welchem Wind läuft sie am besten?« Hornblower maß Neuville mit einem stummen Blick. »Schauen Sie mich nicht so hochnäsig an«, sagte Neuville und verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. »Ich könnte Sie ohne weiteres dazu bringen, mir zu sagen, was ich wissen will, dazu gibt es ein probates Mittel. Ihr Glück, daß ich es nicht anzuwenden brauche, denn auf der ganzen Welt gibt es kein Schiff - vor allem keine der schwerfälligen Fregatten Seiner Britischen Majestät -, das meine Pique vor dem Wind aussegeln könnte.
Sie werden sich bald selbst davon überzeugen können.«
Er schlenderte an die Heckreling und blickte lange und mit gespannter Miene durch seinen Kieker achteraus. Hornblower tat es ihm mit bloßem Auge nach und sah dabei womöglich noch gespannter drein. »Nun, habe ich recht oder nicht?« sagte Neuville und reichte ihm das Glas. Hornblower nahm es, aber nicht so sehr, um seine Beobachtung bestätigt zu sehen, als um einen Blick auf sein altes Schiff zu erhaschen. Dabei überkam ihn wieder einmal bitteres, verzweifeltes Heimweh nach seiner Indefatigable, die nun offensichtlich immer weiter zurücksackte.
Ihre Bramsegel waren schon hinter der Kimm verschwunden, nur die Royals waren noch zu sehen.
»In zwei Stunden ist sie ganz aus Sicht«, sagte Neuville, nahm das Glas zurück und schob es mit einem lauten Klick zusammen.
Dann ließ er den verzweifelten Hornblower kurzerhand stehen und eilte zum Rudergänger, um ihn heftig anzulassen, weil er nicht genau genug Kurs hielt. Hornblower hörte zwar sein tobendes Geschimpfe, aber die Worte drangen ihm nicht ins Bewußtsein. Der Wind blies ihm ins Gesicht und wehte ihm die Haare um die Ohren, unter ihm kochte und brodelte das Kielwasser, das die Pique bei ihrer rauschenden Fahrt hinter sich ließ. Mit ähnlichen Gefühlen mochte schon Adam nach dem verlorenen Paradies zurückgeblickt haben. Hornblower dachte an die luft- und lichtlose Fähnrichsmesse, an all die seltsamen Gerüche und die knarrenden Verbände, an so manche bitterkalte Nacht, in die er hinaus mußte, wenn ihn der Ruf »Alle Mann!« aus seiner warmen Hängematte schreckte. Er dachte an das madige Hartbrot und das knochendürre Salzfleisch - und sehnte sich doch so brennend nach jenem Leben zurück, daß sich sein Herz zusammenkrampfte. Mußte er sich doch zugleich sagen, daß es für diese Sehnsucht keine Erfüllung mehr gab. Die Freiheit verschwand für immer hinter dem Horizont.
Und doch waren es nicht diese persönlichen Gefühle, die ihn jetzt unter Deck gehen ließen, um dort irgend etwas zu unternehmen. Sie beflügelten vielleicht seinen Verstand, was ihn jedoch zum Handeln aufrief, war einzig und allein sein Pflichtbewußtsein.
Das Sklavendeck war, wie immer bei Allemannmanövern, verlassen und menschenleer. Hinter dem Schott stand seine Koje mit den Büchern und der schwingenden Tranlampe, die ihm Licht gab. Was sollte man hier schon unternehmen? Es fiel ihm beim besten Willen nichts ein. Weiter achteraus war ein zweites Schott mit einer verschlossenen Tür, die in eine Art Bootsmannshellegatt führte. Zweimal hatte er schon gesehen, wie man Farben und Ähnliches von dort holte. Farbe! Halt, das war es - und schon in der nächsten Sekunde war sein Plan fix und fertig. Sein Blick wanderte von der Tür zur Tranlampe und wieder zurück, dann zog er sein Bordmesser und begann damit die Tür zu bearbeiten. Aber er gab es bald wieder auf und mußte über seine eigene Torheit lächeln. Die Tür hatte nämlich keine Füllung, sie bestand vielmehr aus zwei festen Bohlen, die durch Querriegel an der Innenseite zusammengehalten wurden. Auch am Schlüsselloch ließ sich das Messer nicht ansetzen. Er hätte Stunden und Stunden gebraucht, um ein Loch in diese Tür zu schneiden, jetzt aber war jede Minute kostbar. Sein Herz pochte wie im Fieber, noch fieberhafter arbeiteten seine Gedanken. Er sah sich noch einmal suchend um. Ein kurzer Griff an die Lampe: sie war fast voll. Eine Sekunde lang rang er noch mit dem Entschluß, dann riß er sich zusammen und machte sich in rasender Eile ans Werk.
Mit roher Hand fetzte er die Seiten aus Grandjeans Grundlagen der 'Navigation, ballte sie einzeln zu losen Knäueln und häufte sie an der Schwelle der Tür. Er zog seine Uniformjacke aus und zerrte sich seinen blauen Jumper über den Kopf. Den riß er mit seinen schlanken kräftigen Händen kurzerhand der Länge nach auf und begann in aller Hast ihn auseinanderzurupfen. Als er ein paar Fäden herausgezogen hatte, verlor er jedoch die Geduld und warf das Ding, so wie es war, auf den Papierhaufen. Noch ein suchender Blick. Richtig, die Kojenmatratze! Sie war mit Stroh gestopft, ein Schnitt mit dem Messer schlitzte sie auf, so daß er den Inhalt bündelweise herauszerren konnte. Der dauernde Druck seines Körpergewichts hatte das Stroh fest zusammengepreßt, aber es ließ sich leicht so weit auflockern, daß ihm der Haufen bis zu den Hüften reichte. Das gab ein kräftiges Feuer, so wie er es brauchte. Er hielt einen Augenblick inne und zwang sich, klar und logisch zu denken; weil er in seinem Ungestüm immer das Denken vergaß, war ihm die Marie Galante untergegangen, und jetzt hatte er aus dem gleichen Grund schon wieder kostbare Zeit mit seinem Jumper vergeudet. Darum war es vor allem wichtig, genau zu überlegen, was der Reihe nach zu geschehen hatte. Er riß eine Seite aus dem Manuel de Matelotage, faltete sie zu einem langen Fidibus und entzündete diesen an der Lampe. Dann goß er Tran - er war in der heißen Lampe schön flüssig - auf die Papierknäuel, über das Deck' und über die Schwelle der Tür. Eine kurze Berührung mit dem Fidibus setzte eines der Knäuel in Brand, und das Feuer fraß sich augenblicklich weiter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er warf das Stroh in die Flammen, riß mit der Kraft eines Wahnsinnigen seine ganze Koje von der Wand, so daß sie dabei in Trümmer ging, und häufte auch ihre Bretter und Pfosten auf das Stroh.
Zuletzt nahm er die Lampe vom Haken und feuerte sie oben auf den Haufen. Dann griff er rasch nach seinem Rock und ging. Als er schon im Begriff war, die Tür hinter sich zuzuziehen, fiel ihm ein, daß sie besser offenblieb - je mehr Luft das Feuer bekam, desto besser brannte es. Er fuhr in seinen Rock und eilte den Niedergang hinauf.
An Deck gab er sich alle Mühe, den lässigen Müßiggänger zu spielen. Er lehnte sich gelangweilt an die Reling und verbarg seine zitternden Hände in den Hosentaschen. Die Aufregung raubte ihm alle Kraft und wurde während dieses qualvollen Wartens eher größer als geringer. Jede Minute, die der Brand unentdeckt blieb, war kostbar.
Ein französischer Offizier sprach ihn mit stolzem Triumph in den Augen an und deutete dabei über das Heck nach achtern, wahrscheinlich ließ er sich darüber aus, wie rasch die Indefatigable zurückblieb. Hornblower reagierte darauf nur mit einem müden Lächeln, weil ihm zunächst nichts anderes einfiel, dann aber überlegte er, daß Lächeln in diesem Fall durchaus nicht am Platz war, und versuchte, recht düster und verdrossen dreinzuschauen. Der Wind hatte so stark aufgefrischt, daß die Pique kaum noch alle ihre Segel tragen konnte, und Hornblower fühlte, wie er um seine brennenden Wangen strich. An Deck herrschte ein ganz ungewohntes Getriebe, jeder Mann der Besatzung schien vollauf beschäftigt zu sein. Neuville überwachte den Rudergänger und warf dabei ab und zu einen Blick nach oben, um sicherzugehen, daß jedes Segel richtig zog, die Männer machten die Geschütze los, ein Maat und zwei Matrosen holten eben die Logleine ein. Mein Gott, wie lange ging das noch so weiter!
Da endlich! Das Süll des achteren Niedergangs schien plötzlich kleine Wellen zu schlagen, es flimmerte sichtbar im hellen Sonnenschein. Das konnte nur daher kommen, daß heiße Luft aus der Öffnung aufstieg. Wie? Zeigte sich nicht sogar eine Spur von Rauch? Ja, es stimmte! Im gleichen Augenblick kam auch schon der Alarm. Ein erster lauter Ruf, Getrappel eiliger Füße, allgemeines Durcheinander, ratternde Trommelschläge und dazwischen helle Schreie: »Au feu! Au feu!«
Alle vier Elemente des Aristoteles - so schoß es Hornblower ausgerechnet in dieser Sekunde durch den Kopf -, die Erde, die Luft, das Wasser und das Feuer, waren dem Seemann feindlich gesinnt, aber keines davon, ob die Leeküste, den Sturm oder die tobende See hatte er auf seinen hölzernen Schiffen mehr zu fürchten als das Feuer. Was hätte sich auch so leicht entzündet und so lichterloh gebrannt wie diese alten Hölzer unter ihrem dicken Kleid von Ölfarbe? Und gar die Segel und das geteerte Tauwerk der Riggen! Das flammte doch alles auf wie ein Feuerwerk! Dazu lagerten im Rumpf des Schiffes Tonnen und aber Tonnen an Schießpulver und lauerten darauf, Schiff und Mannschaft in die Luft zu jagen.
Hornblower sah zu, wie sich die Löschgruppen ins Zeug legten, Pumpen über Deck heranschleppten und Schläuche auslegten. Ein Mann kam mit einer Meldung für Neuville achteraus gestürzt, wahrscheinlich erfuhr dieser jetzt, wo der Brandherd lag. Neuville hörte sich die Meldung an und warf einen durchbohrenden Blick auf Hornblower, der noch immer an der Reling lehnte, ehe er den Boten mit neuen, hastig hervorgesprudelten Befehlen zurückschickte. Der Rauch quoll jetzt in dicken Schwaden aus dem achteren Niedergang, auf Neuvilles Befehl stürzte sich die achtere Löschmannschaft dennoch mitten hinein und verschwand unter Deck. Aber die Männer richteten offenbar nichts gegen das Feuer aus, denn der Qualm aus dem Niedergang wurde zusehends dichter. Der achterliche Wind trieb die Schwaden über das ganze Schiff nach vorn, sogar aus den Nähten in der Wasserlinie schien es bereits zu qualmen.
Neuville wollte eben mit wutverzerrtem Gesicht auf Hornblower losstürzen, aber ein Schrei des Rudergängers ließ ihn innehalten. Da der Mann das Rad nicht loslassen konnte, deutete er mit dem Fuß auf das Skylight der Kajüte. Durch das Fenster konnte man sehen, daß es unten lichterloh brannte.
Während Neuville noch wie gebannt nach unten sah, zersprang eine Scheibe des Skylights und fiel klirrend in die Kajüte. Einen Augenblick später schoß eine mächtige Stichflamme durch die entstandene Öffnung. Das Farbenschapp, sagte sich Hornblower - er war jetzt viel ruhiger als vorher, so ruhig, daß er sich später in der Erinnerung selbst darüber wunderte - mußte unmittelbar unter der Kajüte liegen und stand jetzt offenbar in hellen Flammen. Neuville warf einen verzweifelten Blick in die Runde, nach der Kimm und zum Himmel hinauf und faßte sich mit rasender Gebärde an den Kopf. Bei dieser Gelegenheit sah Hornblower zum erstenmal im Leben, wie sich ein Mensch buchstäblich die Haare ausraufte. Aber Neuville behielt dabei doch die Nerven. Auf seinen Befehl erschien eine weitere tragbare Pumpe, vier Mann besetzten ihre Hebel, und bald vermischte sich ihr Klickklack, Klickklack mit dem Prasseln des Feuers. Ein dünner Wasserstrahl ergoß sich durch das klaffende Skylight auf den Brand. Viele Hände bildeten eine Eimerkette, der erste Mann schlug das Wasser pützenweise von außenbords auf, dann wanderten die Pützen von Hand zu Hand und wurden vom letzten in das Skylight entleert. Aber diese ganze Schöpfarbeit wirkte sogar noch weniger als der stetige Strom aus der Pumpe. Jetzt hörte man von unten den dumpfen Knall einer Explosion, und Hornblower hielt erschrocken den Atem an, weil er schon meinte, das Schiff flöge im nächsten Augenblick in die Luft. Aber dem ersten Knall folgte kein zweiter. Entweder hatte sich in der herrschenden Hitze ein Geschütz von selbst gelöst, oder es war unten in der Last ein Faß explodiert. Und dann löste sich die Eimerkette plötzlich auf, als unter einem der Männer eine Decksnaht weit und rot auseinanderklaffte und eine Flamme aus dem Riß in die Höhe züngelte. Hornblower war Zeuge, wie einer der Offiziere Neuville am Arm packte und so lange heftig auf ihn einredete, bis jener offenbar verzweifelt nachgab. Auf seinen Befehl eilten Leute die Wanten hoch, um das Vormarssegel und die Fock zu bergen, andere besetzten die Großbrasse. Schließlich wurde das Ruder gelegt, und die Pique drehte gehorsam in den Wind.
Der Wandel der Szene war geradezu dramatisch, obwohl sich die Lage zunächst mehr dem Anschein nach als in Wirklichkeit änderte. Da der Wind jetzt aus entgegengesetzter Richtung kam, schienen die Flammen nicht mehr so laut zu prasseln und zu brüllen, wenn man sich vor dem Brandherd aufhielt. Aber dennoch war mit dem Aufdrehen unschätzbar viel gewonnen.
Der Brand, der ganz achtern im Zwischendeck ausgebrochen war, konnte sich jetzt nicht mehr weiter nach vorn ausbreiten, da die Flammen nun nach achtern zurückgetrieben wurden, wo sie nur noch halbverbranntes Holz als Nahrung fanden. Dessen ungeachtet brannte nun schon das halbe Achterdeck lichterloh, der Rudergänger mußte sein Rad im Stich lassen, und im nächsten Augenblick hatte das Feuer auch den Besan erfaßt und verzehrte ihn mit unglaublicher Geschwindigkeit. Eben hatte das Segel noch gestanden, ein paar Sekunden später hingen nur noch ein paar verkohlte Fetzen an der Gaffel. Da das Schiff im Wind lag, blieben die anderen Segel verschont. In aller Eile wurde am Kreuzmast ein Trysegel gesetzt, das das Schiff auch weiterhin am Abfallen hinderte.
Als das eben geschah, entdeckte Hornblower, der ständig nach vorn Ausschau hielt, daß die Indefatigable rasch aufkam und unter allen Segeln heranbrauste. Wenn sich die Pique im Seegang hob, konnte er sogar schon die schäumende Bugwelle sehen, die sie vor sich herschob. Damit war das Spiel für die Pique verloren, da es selbst für ein völlig intaktes Schiff ihrer Größe und Kampfkraft aussichtslos gewesen wäre, sich gegen die drohenden Geschützreihen einer Fregatte zur Wehr zu setzen. Eine Kabellänge zu Luward drehte die Indefatigable bei, und ehe sie noch ganz herum war, kamen bereits ihre Boote zu Wasser. Pellow hatte natürlich längst den Qualm gesehen, der dem Achterschiff der Pique entquoll, und konnte daher leicht erraten, warum sie beigedreht hatte. So hatte er denn alle Vorkehrungen schon treffen können, während er aufkam.
Barkaß und Kutter trugen beide im Bug eine Feuerlöschpumpe, dort wo sie sonst zuweilen eine Karronade fuhren. Beide Boote liefen unter das Heck der Pique und gingen ohne langes Hin und Her dem Brand mit kräftigen Wasserstrahlen zu Leibe. Zwei Gigs brachten eine Menge Leute herüber, die sofort achteraus gerannt kamen, um sich an dem Kampf gegen das Feuer zu beteiligen. Nur Bolton, der dritte Leutnant, verhielt einen Augenblick, als er Hornblowers ansichtig wurde.
»Mein Gott, Sie!« rief er. »Was machen Sie denn hier?«
Aber er wartete die Antwort nicht mehr ab, weil er in Neuville den Kapitän des Schiffes herausgefunden hatte. Ohne Verzug ging er zu ihm achteraus und nahm die förmliche Übergabe entgegen, dann leitete er die planmäßige Bekämpfung des Brandes ein. Die Flammen fielen allmählich in sich zusammen, und zwar in erster Linie wohl deshalb, weil sie alles Brennbare verzehrt hatten, das sich in ihrer Reichweite befand. Die Pique war von der Heckreling an auf ein beträchtliches Stück nach vorn buchstäblich bis zur Wasserlinie niedergebrannt und bot vom Deck der Indefatigable aus einen seltsamen Anblick. Aber darum schwebte sie noch keineswegs in unmittelbarer Gefahr, nur ein klein wenig Wetterglück und dazu harte Arbeit, dann gelangte sie wohlbehalten nach England in die Werft und war bald wieder klar zu neuen Fahrten.
Dabei war es nicht einmal so wichtig, daß das Schiff vor dem Untergang bewahrt blieb, als daß es nicht mehr in französischer Hand war und die britische Schiffahrt bedrohen konnte. Zu dieser Auffassung bekannte sich Sir Edward Pellow auch Hornblower gegenüber, als dieser an Bord gekommen war, um sich bei ihm zu melden. Auf Pellows Wunsch hatte Hornblower von Anfang an berichten müssen, was sich ereignet hatte, seit er als Prisenkommandant an Bord der Marie Galante gekommen war. Wie Hornblower voraussah - oder vielleicht sogar befürchtete -, machte Pellow von dem Verlust der Brigg überhaupt kein Wesens. Sie war durch Geschützfeuer arg in Mitleidenschaft gezogen, als sie sich ergab, und niemand konnte auf Anhieb sagen, ob ihre Schäden harmlos oder gefährlich waren. Pellow ließ also den Fall auf sich beruhen, ohne noch ein Wort darüber zu verlieren. Hornblower hatte in seinen Augen alles Erdenkliche getan, um das Schiff zu retten; wenn ihm der Erfolg versagt blieb, dann lag das in der Hauptsache an seiner allzu schwachen Besatzung - aber die Indefatigable hatte eben damals leider nicht mehr Leute für ihn übrig. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, Hornblower eine Schuld an diesem Mißerfolg zuzuschreiben. Auch in diesem Fall war es nach Pellows Meinung wichtiger, daß Frankreich auf die Ladung der Marie Galante verzichten mußte, als daß sie England zugute kam. Insofern lagen also die Dinge damals ganz ähnlich wie heute bei der Bergung der gekaperten Pique.
»Es war ein Riesenglück für uns, daß dieser Brand ausbrach«, bemerkte Pellow und warf dabei einen Blick zur Pique hinüber, die noch immer beigedreht zwischen den Booten der Indefatigable lag. Aus dem ausgebrannten Heck trieb eine hauchdünne Rauchfahne wie ein Schleier achteraus. »Der Kerl lief uns glatt davon. Noch eine Stunde, und er war verschwunden. Haben Sie keine Ahnung, wie das Feuer entstehen konnte?«
Hornblower hatte diese Frage natürlich erwartet und war darum mit der Antwort sofort bereit. Eigentlich wäre es nun an der Zeit gewesen, der Wahrheit gemäß und bescheiden zu berichten, das Lob zu ernten, das er verdient hatte, und dazu eine Erwähnung in der Gazette, vielleicht sogar die Beförderung zum diensttuenden Leutnant zu erreichen. Aber Pellow wußte eben nicht genau Bescheid, wie es zum Verlust der Brigg gekommen war, und hätte sein Verhalten wahrscheinlich auch dann noch falsch beurteilt.
»Nein, Sir«, sagte Hornblower, »wahrscheinlich durch Selbstentzündung im Farbenschapp. Eine andere Erklärung habe ich nicht dafür.«
Er allein wußte um seine Pflichtversäumnis beim Dichten jenes Schußlochs, er allein konnte daher beurteilen, welche Strafe ihm dafür gebührte. Darum hatte er sich dies als Sühne auferlegt, wußte er doch, daß er nur so jene Achtung vor sich selbst zurückgewinnen konnte, ohne die er nicht hätte leben können. Er fühlte sich wie von einer schweren Last befreit, als die Worte heraus waren, und dachte keinen Augenblick daran, sie etwa zu bereuen.
»Nun, uns kam dieser Brand jedenfalls sehr gelegen«, meinte Pellow nachdenklich.