13

 

Wir trugen uns als Mrs. Cool und Donald Cool ein. »Mein Neffe und ich hätten gern zwei Zimmer mit einer Verbindungstür«, verlangte Bertha. »Ich erwarte einige Anrufe. Bitte sorgen Sie dafür, daß sie sofort durchgestellt werden. Unser Gepäck kommt später.«

Die Brillanten sprühten, und das Hotelpersonal brach sich alle Verzierungen ab.

Ich wartete, bis der Page sich mit vielen Bücklingen zurückgezogen hatte, dann rief ich im Key West an. Frieda Tarbing meldete sich. »Rufen Sie bitte Bertha Cool im Westmount Hotel an, wenn Sie etwas zu melden haben«, sagte ich. »Wir sind in 621. Schreiben Sie sich am besten die Nummer auf.«

»In Ordnung. Im Augenblick tut sich noch nichts. Ich rufe dann zurück.«

»Sind Sie immer so liebenswürdig, wenn man Sie aus tiefem Schlaf reißt?«

»War ich liebenswürdig?«

»Ja. Mrs. Cool findet, Sie sind eine Superfrau, und sie hat mir den Rat gegeben, Ihnen einen Heiratsantrag zu machen, bevor ein anderer mir zuvorkommt.«

Sie lachte melodisch. »Die Idee ist nicht übel.«

»Eben«, meinte ich befriedigt.

Plötzlich wurde ihre Stimme nüchtern und geschäftlich. »Ja, ich habe verstanden. Ich werde es ausrichten. Vielen Dank.«

Ich legte auf. Bertha Cool hatte die Schuhe ausgezogen und die Füße hochgelegt. »Es ist eine Gabe«, sagte sie.

»Eine Gabe? Was?«

»Daß die Frauen auf dich fliegen.«

»Sie fliegen nicht auf mich«, protestierte ich. »Ich hab’ nur ein bißchen mit ihr gealbert und weiß nicht einmal, ob ihr so was Spaß macht.«

»Blödsinn«, sagte Bertha und steckte eine Zigarette in ihre Spitze.

Ich nahm mir die Zeitung, die sie aufs Bett gelegt hatte, und schlug sie auf. Die Nachricht sprang mir direkt ins Gesicht Die Kronzeugin im Mordfall Evaline Harris war verschwunden. Nach Meinung der Polizei deutete alles auf eine gewaltsame Entführung hin. Eine großangelegte Suchaktion war schon im Gange. Das übliche Zeitungsgewäsch fehlte nicht: Die Polizei folgte einer bestimmten Spur und erwartete noch vor Mitternacht wichtige Entdeckungen. Die Zeugin war gerade in dem Augenblick verschwunden, als Anklage erhoben werden sollte. Die Polizei hatte angedeutet, daß aufsehenerregende Entdeckungen zu erwarten seien.

Ich spielte den trauernden Hinterbliebenen. »Wenn ihr nun etwas passiert ist!« sagte ich verzweifelt. »Daß die Polizei aber auch so etwas nicht hat kommen sehen. Sie haben ihre Kronzeugin schutzlos einem zu allem entschlossenen Mörder preisgegeben. Das ist unerhört. Das ist ein Skandal. Ich...«

»Reg dich ab, Kleiner«, sagte Bertha. »Es wird ihr schon nichts passieren.«

»Das sagst du so...«

»Der einzige Mensch, der sie kannte, war unser Klient. Und du weißt genau, der hat sie nicht verschwinden lassen.«

Ich vertiefte mich in den Artikel. »In der Wohnung haben sie Blutspuren gefunden.«

»Mach dir bloß keine Sorgen, Donald Wenn man sie hätte umbringen wollen, wäre ihre Leiche in dem Apartment gefunden worden. Daß die Polizei die Wohnung leer angetroffen hat, bedeutet, daß sie lebt. Die Polizei wird sie schon finden. Die sind bekanntlich ziemlich gründlich, wenn sie sich mal in eine Sache verbissen haben.«

Ich rannte aufgeregt im Zimmer hin und her »Hoffentlich hast du recht.«

»Du brauchst deshalb nicht gleich durchzudrehen. Und außerdem kannst du gar nichts machen. Wir haben unseren eigenen Job am Hals. Du mußt dich konzentrieren.«

Ich rauchte ein paar Zigaretten und nahm mir wieder die Zeitung vor. Dann ging ich zum Fenster und starrte hinaus.

Bertha Cool rauchte gelassen. Nach einer Weile rief sie im Büro an und sprach mit Elsie Brand. Sie berichtete: »Die Polizei hat im Büro nach dir gefragt, Kleiner. Die Leute in Santa Carlotta wollen tatsächlich deinen Kopf.«

Ich gab ihr zu verstehen, daß mir diese Mitteilung völlig schnuppe war.

Nach einer Weile sagte sie nachdenklich: »Klein, aber oho — das paßt wirklich genau auf dich!«

»Wie meinst du das?«

»Meine Detektei war ein bescheidener kleiner Laden. Viele Kollegen lehnen Scheidungssachen und politische Ermittlungen ab. Ich machte alles. Es war nicht immer allzu appetitlich, aber ich schob eine nette, ruhige runde Kugel. Viel warf das Geschäft nicht ab, aber es genügte für meine bescheidenen Ansprüche. Kaum kommst du zu mir, habe ich einen Mord nach dem anderen am Hals. Ich bin nicht mehr Detektivin, sondern Artistin — immer mit einem Fuß im Gefängnis. Das hätte ich mir nie träumen lassen.«

»Na und? Geschäft ist Geschäft — oder?«

Bertha Cool betrachtete ihre breiten, festen Schenkel. »Hoffentlich nehme ich durch den vielen Ärger nicht ab. Ich hab’ mich bis dahin sehr wohl in meiner Haut gefühlt. Ich bin nämlich ein Gewohnheitsmensch. Ist dir klar, mein Kleiner, daß wir morgen vielleicht schon im Gefängnis sitzen?«

»Es gibt viele Möglichkeiten, aus dem Gefängnis wieder herauszukommen«, sagte ich.

»Das würde ich mal schriftlich niederlegen und an die Zuchthausverwaltung von San Quentin schicken. Die interessiert das sicher.«

Eine Weile saßen wir schweigend beisammen und sahen abwechselnd auf die Uhr. Dann starrte ich aus dem Fenster, und Bertha zündete sich eine neue Zigarette an.

Die Straße vor dem Hotel bot die einzige Abwechslung. Ein Lieferwagen brachte Brot. Hausfrauen gingen einkaufen. Ein ältliches Ehepaar, offensichtlich Touristen, die sich ein paar Monate Urlaub in Südkalifornien leisteten, verließ gemächlich das Hotel, stieg in einen Wagen mit New Yorker Zulassungsnummer und rollte davon. Der Himmel war blau und wolkenlos. Die Sonne strahlte und warf tiefe schwarze Schatten, die allmählich immer kürzer wurden.

Ich ging zurück zum Bett, stopfte mir einen Haufen Kissen in den Rücken und widmete mich den übrigen Nachrichten in der Zeitung. Bertha Cool saß wie ein Buddha in ihrem Sessel, ein Bild vollkommener Seelenruhe.

Als ich zum zwanzigstenmal die Zeitung weglegte, aufstand und zum Fenster ging, sagte sie: »Hör doch um Himmels willen auf, so herumzuzappeln. Damit kommst du nicht weiter. Ruh dich aus, solange du es noch kannst. In dem Fall kann noch mehr Nachtarbeit auf uns zukommen. Nervosität zahlt sich nicht aus.«

Ich ging zurück zum Bett, schüttelte die Kissen auf und legte mich hin. »Ich werde mal versuchen, ein bißchen zu schlafen«, verkündete ich. »Ob ich es schaffe, weiß ich nicht, aber man muß die Gelegenheit nutzen.«

»Gute Idee«, sagte Bertha wohlwollend. »Gib mir mal die Wirtschaftsbeilage. Viel steht ja nicht drin, aber immerhin...Wenn man so liest, was die Herren Wirtschaftsredakteure verzapfen, denkt man, sie hätten die Weisheit gepachtet. Aber wenn man mal hinter die Kulissen sieht, merkt man, daß alles nur Gewäsch ist. Hör dir das an: >Falls die politische Lage in Europa stabil bleibt, wird allgemein mit einer gesunden Entwicklung des Effektenmarktes gerechnet, und die Aktien dürften langsam, aber stetig steigen. Die politische Situation hier im Lande ist zwar noch lange nicht beruhigend, läßt aber eine Wendung zum Besseren erhoffen. Zumindest ist der Trend nach links zum Stillstand gebracht worden. Trotzdem sollte man bedenken, daß die Wirtschaft alles andere als optimistisch in die Zukunft sieht, und der Versuch gewisser Kreise, politische Macht an sich zu reißen oder die bereits gewonnene Position weiter zu verstärken, wird zweifellos verzögernd auf eine eventuelle Erholung einwirken.<« Sie schnaubte verächtlich und warf das Blatt zu Boden.

Ich legte mich so bequem wie möglich hin, aber ich wußte genau, daß Schlafen unmöglich war. Meine Gedanken rasten im Kreis. Ich nahm mir eine Möglichkeit zur Lösung des Falles vor, spielte sie bis zu Ende durch, verwarf sie, wandte mich einer neuen zu und drehte mich unruhig hin und her. »Lieg doch still«, knurrte Bertha. »Wenn ich mich ständig herumwälze, kann ich auch nicht schlafen!«

Ich sah auf die Uhr. Es war fast elf.

»Vielleicht sollten wir doch mal im Key West anrufen«, meinte Bertha Cool.

»Nein, das halte ich nicht für richtig. Der Empfangschef darf keinen Verdacht schöpfen. Er ist doch in Frieda Tarbing verliebt und neigt somit zur Eifersucht. Wahrscheinlich sind Privatgespräche während der Dienstzeit dort sowieso verboten.«

»Dann halt den Mund, und schlaf jetzt«, fauchte Bertha.

Ich lag still und führte meine Gedanken spazieren. Ich hatte Harbet in die Enge getrieben. Harbet hatte sich revanchiert. Das Klima war ausgesprochen ungemütlich. Inzwischen saß Dr. Alfmont in Santa Carlotta, das Damoklesschwert über sich. Ich dachte an die Frau an seiner Seite, die die Welt als Mrs. Alfmont kannte — jedenfalls ihre Welt, die Welt einer reichen Stadt mit Snob-Appeal. Und ich fragte mich, wie ihr wohl zumute war, während sie, eine ungewisse Zukunft vor sich, auf die weiteren Ereignisse wartete.

Diese beiden Menschen waren zumindest ruhiger, weil sie Vertrauen zu mir hatten. Selbst Bertha Cool konnte einen Teil ihrer Verantwortung auf meine Schultern laden. Nur ich stand allein. Ich dachte an Marian Dunton und fragte mich, wie es ihr wohl ging. Solange Bertha Cool im Zimmer war, wagte ich nicht, sie anzurufen. Und so wie ich Bertha kannte, würde ich mich auch nicht unter einem Vorwand hinausstehlen können, um schnell mal zu telefonieren. Ich dachte daran, wie anständig es doch von Marian war, zu mir zu halten, obwohl sie gemerkt hatte, daß ich sie manchmal angeschwindelt hatte. Ich dachte, wie nett sie doch aussah, mit ihren lachenden braunen Augen, den geschwungenen Lippen, dem strahlenden Lächeln...

Das Telefon riß mich aus einem handfesten Tiefschlaf. Ich fiel vor Schreck fast aus dem Bett und schwankte wie ein Betrunkener. Meine verschlafenen Augen funktionierten noch nicht so richtig. Ein Telefon klingelte. Telefon — das war doch — das bedeutete doch... Wer rief denn da an? Wie spät war es eigentlich? Wo war ich denn?

Ich hörte Bertha Cools gelassene Stimme sagen: »Alle Wetten gestrichen? In Ordnung. Wir kommen hin.«

Sie legte auf und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Es war Frieda Tarbing«, berichtete sie. »Sie hat in einer Stunde Dienstschluß. Daran wollte sie mich erinnern. Es hat sich nichts getan.«

Daß es endlich wieder etwas Konkretes zu tun gab, brachte mich einigermaßen zur Besinnung. Ich spritzte mir ein bißchen kaltes Wasser ins Gesicht und in die Augen und sagte zu Bertha: »Frag Elsie Brand, ob sich einer von unseren Leuten gemeldet hat. Sie muß ihnen irgendwie entwischt sein.«

Bertha rief im Büro an. »Hallo, Elsie — was gibt’s Neues?« Sie horchte einen Augenblick. Dann wiederholte sie: »Du hast keinen Bericht bekommen. Na schön, vorerst vielen Dank. Ich melde mich dann wieder.«

»Die Polizei hat schon wieder nach dir gefragt, Kleiner«, meinte Bertha. »Aber von unseren Leuten hat sie nichts gehört.«

Ich fuhr mir mit meinem Taschenkamm durch die Haare und betrachtete betrübt meinen schwärzlichen Hemdkragen. »Ich kann mich einfach nicht verrechnet haben, Bertha! Nach unserem freundschaftlichen Besuch muß sie sich doch mit Harbet in Verbindung gesetzt haben.«

»Hat sie aber nicht«, sagte Bertha.

»Tja, dann gibt’s nur noch eins: Wir müssen sie uns zum zweitenmal vornehmen. Uns bleibt nur noch die Flucht nach vorn. Moment — ich muß nur schnell noch einmal telefonieren.«

Ich rief in meiner Pension an und verlangte Mrs. Eldridge.

Mrs. Eldridge meldete sich nach einer Weile. Die zynische Stimme hätte ich überall erkannt. »Hier ist Donald. Könnten Sie wohl meine Cousine bitten, kurz ans Telefon zu kommen? Ich hätte Sie nicht gestört — aber es ist dringend.«

»Ihre Cousine, Donald«, sagte Mrs. Eldridge beißend, »hat sich als eine gewisse Marian Dunton entpuppt, die von der Polizei im Zusammenhang mit einem ungeklärten Mord als Zeugin gesucht wird. Sie ist vor drei Stunden abgeholt worden. Soviel ich weiß, fahndet die Polizei jetzt nach Ihnen. Wenn Sie glauben, Sie können meine achtbare Pension als...«

Ich legte auf.

Bertha Cool sah mich an und erkundigte sich mit verdächtig liebenswürdiger Stimme: »Ach, du hast eine Cousine, mein kleiner Donny?«

»Es ist eine Freundin«, erklärte ich beiläufig. »Ich habe sie als meine Cousine eingeschmuggelt«

»Du hast doch eben in deiner Pension angerufen...«

»Sehr richtig.«

Bertha Cool starrte mich an und kniff die Augen zusammen, als sei sie plötzlich sehr kurzsichtig geworden. Dann schnaubte sie kurz. Schließlich, nach einer längeren Pause, meinte sie: »Und da sagst du, daß die Frauen nicht auf dich fliegen! Los, mein Freund, auf ins Key West. Es ist vielleicht kein besonders kluger Schachzug, aber irgendwas muß man ja tun, sonst wird man verrückt. An eins hast du übrigens nicht gedacht.«

»Nämlich?«

»Nehmen wir an, Harbet hatte sich für heute nachmittag mit Flo Danzer im Key West verabredet, hat sie in einen Wagen geladen und ist mit ihr nach Santa Carlotta gefahren?«

»Dann hätte unser Mann sie gesehen.«

»Aber wenn sie wußte, daß Harbet sie abholen wollte, hätte es keinen Sinn für sie gehabt, vorher noch mit ihm zu telefonieren.«

»Taxi?« fragte ich.

»Vor dem Hotel ist ein Taxistand«, gab Bertha zurück.

In der Halle sagte der Empfangschef: »Ihr Gepäck ist noch nicht gekommen, Mrs. Cool. Soll ich etwas unternehmen? Ich könnte bei der Bahn anrufen und...«

»Nein, nicht nötig. Vielen Dank«, bemerkte Bertha Cool und segelte hoheitsvoll an ihm vorbei

Wir schnappten uns ein Taxi und ließen uns zum Key West fahren. Eine Weile schwiegen wir uns an. Dann sagte Bertha: »Weshalb du unbedingt eine Entführung vortäuschen mußtest, ist mir ein Rätsel. So wie die Sache jetzt steht, marschierst du auf dem geradesten Wege ins Kittchen, und dabei ist es ganz egal, wie sich dieser Mord aufklärt. Du...«

»Sei still«, fuhr ich sie an. »Ich denke nach.«

»Immerhin bist du mein Partner. Denk an unseren Fall. Denk an den Ärger, den du dir persönlich einhandelst.«

»Meinen persönlichen Ärger laß gefälligst aus dem Spiel!«

»Woran denkst du?«

»Sei still!«

Wir waren nur noch ein paar Ecken vom Key West entfernt, als ich zu dem Schluß kam: »Wir sind alle blöd.«

»Was ist denn jetzt los, Donald?«

»Diese Zigarettenstummel in Evaline Harris’ Wohnung. Der eine trug Lippenstiftspuren, der andere nicht. Die Polizei hatte nichts Eiligeres zu tun als festzustellen, daß deshalb ihr Besucher ein Mann gewesen sein mußte. Aber das ist Unsinn.«

»Wieso?«

»Sie schlief noch, als jemand unten an der Haustür klingelte.«

»Wie kommst du darauf?«

»Durch die Zeitung, die sie noch nicht hereingeholt hatte.«

»Verstehe. Mal weiter.«

»Den Lippenstift wischt man sich doch vor dem Schlafengehen ab — oder?«

»Natürlich.«

»Das wird wohl auch Evaline Harris so gehalten haben. Sie entfernte sorgfältig ihr Make-up und legte sich schlafen. Ihr Besucher kam, bevor sie Gelegenheit hatte, sich irgendwie kosmetisch zu verschönen. Sie saßen auf ihrem Bett und unterhielten sich. Ihr Besucher war eine Frau. Es war der Stummel der Besucherin, der die Lippenstiftspuren trug.«

Der Fahrer hielt vor dem Key West. »Soll ich warten?«

Ich lehnte dankend ab und drückte ihm einen Schein in die Hand.

Bertha Cool starrte mich fasziniert an.

»Den Rest kannst du dir ausrechnen.«

Bertha Cool nickte.

»Also — auf in den Kampf.«

Sie kletterte aus dem Taxi. Mit einem Seitenblick überzeugte ich mich davon, daß einer unserer Leute in der Firmenkutsche saß und das Hotel beobachtete. Bertha hatte ihn auch gesehen, machte ihm aber nicht mal ein Zeichen.

Ich hielt Bertha die Tür auf und sagte: »Lenk mal den Mann am Empfang einen Augenblick ab.«

Bertha nickte und ging zum Empfang. Ich marschierte zu Frieda Tarbing hinüber und fragte leise: »Hat sie nicht telefoniert?«

»Nein. Soll ich so tun, als ob ich sie anrufe?«

Ich sah, daß der Empfangschef interessiert zu uns hinüberhorchte, und sagte laut: »Bitte rufen Sie nicht extra hinauf. Tante Amelia erwartet uns.«

Sie hob ebenfalls die Stimme. »Es ist aber Vorschrift, die Besucher telefonisch anzumelden.«

»Lassen Sie nur, Miss Tarbing. Die Herrschaften können hinaufgehen. Das geht in Ordnung.« Er lächelte Bertha honigsüß zu.

Bertha schenkte ihm ihr holdseligstes Lächeln, und ich trat höflich einen Schritt zurück, während sie ihre anderthalb Zentner Lebendgewicht dem protestierenden Lift anvertraute. Wir gondelten nach oben.

»Hast du schon einen Plan?« fragte Bertha.

»Wir müssen sie diesmal wirklich hart anfassen«, meinte ich.

»Dann hältst du dich besser raus«, sagte Bertha. »Ich kenne da Methoden, auf die ein Mann niemals kommen würde. Du kannst Flo Danzer ruhig mir überlassen.«

Wir klopften und warteten. Nichts. Wir sahen uns an, horchten, klopften wieder. Totenstille.

»Unser Mann hat ein Nickerchen gemacht, und inzwischen ist sie abgezwitschert«, vermutete Bertha.

Ich versuchte, nicht zu zeigen, wie mir zumute war.

»Komm mit«, sagte Bertha Cool grimmig. »Diese Schlafmütze kann was erleben.«

Ich trottete mit hängenden Ohren hinter ihr drein.

Nach ein paar Schritten blieb Bertha plötzlich stehen und schnüffelte. Sie drehte sich um und sah mich an.

»Was ist?« fragte ich. Aber in diesem Augenblick merkte ich es auch: Es roch nach Gas.

Ich rannte zurück, ließ mich auf die Knie nieder und versuchte, unter der Tür durchzusehen. Aber irgend etwas Schwarzes versperrte die Sicht.

Ich sprang auf, klopfte mir den Staub von Handflächen und Hosenbeinen und hetzte mit Bertha hinunter in die Halle. »Ich fürchte, meiner Tante Amelia ist etwas zugestoßen«, sagte ich zu dem Empfangschef. »Wir waren verabredet — aber sie macht nicht auf.«

»Vermutlich ist sie ausgegangen«, meinte er unbesorgt. »Sie kommt sicher bald wieder. Warten Sie doch in der Halle.«

»Sie hat aber versprochen, sich in dieser Zeit im Hotel aufzuhalten!«

»Ich bin ganz sicher, daß sie nicht weggegangen ist«, ergänzte Frieda Tarbing.

»Rufen Sie sie einmal an«, meinte der Empfangschef.

Nach einem schnellen Seitenblick auf mich gehorchte Frieda Tarbing. Einige Minuten vergingen. »Es antwortet niemand.«

»Ja, da kann ich leider auch nichts tun«, sagte der Empfangschef bedauernd.

»Ich habe auf dem Gang einen schwachen Gasgeruch bemerkt«, meinte ich.

Der Empfangschef riß die Augen auf und wechselte die Farbe. Wortlos griff er sich sein Nachschlüsselbund und fuhr mit uns zusammen nach oben.

Aber trotz des Nachschlüssels rückte und rührte die Tür sich nicht. »Sie ist von innen zugeriegelt«, stellte er fest.

»Donald, du bist doch nur eine halbe Portion«, sagte Bertha. »Du könntest die Oberlichtscheibe einschlagen, dich durchzwängen und von innen öffnen.«

»Helfen Sie mir rauf«, sagte ich zu dem Empfangschef.

»Ich weiß nicht«, stammelte der Unglückliche, »ob ich berechtigt bin, äußerste Maßnahmen...«

»Hier, Kleiner, ich heb’ dich hoch«, sagte Bertha Cool. Sie stemmte mich mühelos hoch. Ich zog ein Taschentuch hervor, wickelte es mir um die Hand und schlug die Scheibe ein. Ein Gasschwall kam mir entgegen.

»Zieh deinen Schuh aus und reich ihn mir hoch«, sagte ich zu Bertha. »Ich halte mich solange da oben fest.«

Ich klammerte mich mit einer Hand an die Türkante und mit den Schuhspitzen an die Klinke. Bertha Cool drückte mir ihren Schuh in die Hand. Ich klopfte mit dem Absatz den Rest der Scheibe heraus und quetschte mich durch.

Der Gasgestank war fürchterlich. Ich spürte ein unerträgliches Brennen in den Augen und ein Würgen im Hals. Der Raum war dunkel, alle Jalousien waren vorgezogen. Ich warf einen Blick auf die regungslose Gestalt einer Frau, die über dem Schreibtisch zusammengesunken war, den Kopf auf die linke Hand gestützt, die Rechte über die Schreibtischplatte gestreckt.

Mit angehaltenem Atem rannte ich zum nächsten Fenster, schob die Jalousie zur Seite, riß das Fenster auf und sog ein paar Atemzüge frische Luft ein. Dann rannte ich zum zweiten Fenster und wiederholte die Übung. In der kleinen Kochnische entwich das Gas zischend aus dem Herd. Ich stellte alle Hähne ab und öffnete das Küchenfenster.

Von der Tür her hörte ich den Empfangschef rufen: »Machen Sie doch auf!«, und Bertha Cools Stimme: »Wahrscheinlich hat er schlappgemacht. Laufen Sie nach unten und holen Sie die Polizei.«

Schritte entfernten sich, und dann hörte ich Bertha Cools beruhigend nüchterne Stimme: »Laß dir Zeit, Kleiner! Mach’s gründlich!«

Ich ging hinüber zum Schreibtisch. Ein Brief, an Bertha Cool gerichtet, war fertiggeschrieben und kuvertiert. Ich ging zum Fenster und nahm ihn aus dem Umschlag. Es war ein langer, wirrer Bericht über ihren Auftritt als Amelia Lintig. Ich sah die Namen John Harbet, Evaline Harris und dann zu meiner Bestürzung Dr. Alfmont und Santa Carlotta.

Ich schob den Bogen wieder in den Umschlag, zögerte einen Augenblick und klebte ihn zu. Dann zog ich einen der schon mit unserer Büroadresse versehenen und frankierten Eilbotenumschläge heraus, die ich immer bei mir habe, schob Flo Danzers Geschreibsel hinein und warf die Sendung Bertha durch die Oberlichtöffnung zu. »Was soll jetzt damit geschehen, Kleiner?« fragte sie.

»In den Briefkasten damit, und dann vergiß die ganze Angelegenheit.«

Ich hörte Bertha auf dem Gang auf und ab gehen. Mir war schwindlig und übel. Ich rannte zum Fenster, tankte wieder ein paar Atemzüge frische Luft, und ging dann zurück zum Schreibtisch. Unter Flo Danzers Kopf lag ein halbbeschriebener Bogen. Das Gas hatte sie offensichtlich beim Schreiben übermannt. Die Schrift war krakelig und unsicher.

Es kam jetzt wenigstens etwas Luft ins Zimmer, aber der Gasgeruch war immer noch sehr stark. Meine Augen brannten, und ich kam mir irgendwie beschwipst vor. Auf dem Gang sagte eine männliche Stimme: »Das riecht ja schauderhaft nach Gas hier.« Eine Frauenstimme antwortete. Dann sagte der Empfangschef: »Die Polizei und ein Krankenwagen sind unterwegs. Brechen Sie die Tür auf. Es ist jemand drin. Offenbar ist er umgekippt.«

Mein Stichwort war gefallen. Ich legte mich in der Nähe des Fensters auf den Fußboden, hörte einen lauten Tumult an der Tür, dann ein Bersten und Splittern und viele eilige Schritte, jemand packte mich bei den Schultern, ein anderer bei den Füßen. So schleppten sie mich auf den Gang hinaus.

Ich spürte frische Luft auf meinem Gesicht. Bertha Cool sagte: »Hier, setzen Sie ihn aufs Fensterbrett. Vorsichtig, halten Sie ihn fest, sonst fällt er noch raus.«

Ich atmete dankbar die frische Luft ein und öffnete die Augen. Ein Schwarm von Menschen stand um mich herum. Ich hörte den Empfangschef sagen: »Der Ärmste, es war seine Tante « Dann sackte ich in einen benebelten Dämmerzustand ab. Schließlich heulte ein Streifenwagen heran, und die Polizei übernahm das Kommando.

Ich sah Bertha Cool an. »Vergiß nicht ihnen den Namen zu nennen. Sie heißt Amelia Lintig und ist aus Oakview.«

»Sie hat sich ja hier eingetragen, Kleiner«, beruhigte Bertha mich.

»Schon. Aber achte trotzdem darauf, daß sie es richtig aufschreiben«, beharrte ich.

Endlich versuchte ich, mit wackligen Beinen aufzustehen. Ein Mann in weißem Kittel half mir dabei. »Geht’s? Meinen Sie, Sie schaffen es aus eigener Kraft nach unten zum Krankenwagen?«

»Ich will hierbleiben«, sagte ich. »Bei meiner Tante.«

»Es ist nicht das Gas«, erläuterte Bertha Cool. »Er hat Schreckliches mit seiner Tante durchgemacht. Sie leidet schon lange unter Depressionen.«

Der Mann im weißen Kittel horchte mich mit einem Stethoskop ab. »Wir müssen ihn an die frische Luft bringen«, meinte er.

Ich schob ihn fort. »Ich will wissen, was geschehen ist.«

»Sie können da nicht rein«, sagte der Sanitäter.

»Ich muß aber...«

»Der arme Junge«, meinte Bertha Cool mitleidig. »Es war seine Lieblingstante.«

Ich ging hinein. Die Besatzung des Streifenwagens war sehr beschäftigt. Einer von ihnen sagte: »Hier ist nichts mehr zu machen. Die Leiche darf bis zur amtlichen Leichenschau nicht berührt werden. Wer hat das Gas abgestellt?«

Ich meldete mich.

»Die Scheibe ist auf meine Anweisung hin eingeschlagen worden«, ergänzte der Empfangschef. »Es war die einzige Möglichkeit.«

Bertha warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Du solltest jetzt hinunter zum Krankenwagen gehen, Kleiner«, sagte sie.

»Ich kann nicht«, widersprach ich. »Da ist noch ein wichtiger Brief...«

»Ich weiß, Kleiner. Das kannst du getrost alles mir überlassen.«

Der Sanitäter legte mir einen Arm um die Schulter. »Kommen Sie nur. So was geht aufs Herz. Sie haben eine schöne Portion Gas intus. Sie riechen wie ein Gaswerk!«

Ich gehorchte. In der Halle betrachteten mich Menschen mit blassen, erschrockenen Gesichtem, als sei ich ein Mensch von einem anderen Stern. Ich streckte mich auf der Trage im Krankenwagen aus und bekam eine Spritze. Die Sirene heulte auf.

Langsam wurde mir besser, und ich fand mich mit meinem Schicksal ab. Im Unfallkrankenhaus war ich jetzt entschieden am besten aufgehoben, solange die Polizei anderswo so eifrig nach mir fahndete.