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Es war genau neun Uhr fünf, als ich die Praxis von Dr. Charles Alfmont betrat. Ein furchteinflößender Drachen von Sprechstundenhilfe fragte mich nach Namen, Adresse und Beruf. Ich teilte ihr mit, ich wäre Reisender und hätte starke Beschwerden an den Augen. Die dunkle Brille, die ich mir zugelegt hatte, verlieh meiner Geschichte Glaubwürdigkeit. Ich gab ihr einen erfundenen Namen und eine ebenso aus der Luft gegriffene Adresse.
»Einen Moment bitte«, sagte sie und verschwand im Sprechzimmer. Kurz darauf steckte sie den Kopf wieder ins Wartezimmer. »Kommen Sie bitte.«
Ich folgte ihr durch einen Untersuchungs- und Bestrahlungsraum in ein Sprechzimmer, das Wohlhabenheit und guten Geschmack verriet.
Dr. Alfmont sah auf. Es war unser Klient, Mr. Smith.
Ohne die dunkle Brille paßten die Augen zu dem Gesicht: wach, hart, grau. »Guten Morgen«, sagte er. »Wo fehlt’s denn?«
Die Sprechstundenhilfe war im Zimmer geblieben. Ich sagte leise: »Ich habe seit einer Weile ziemliche Beschwerden an den Augen. Wahrscheinlich von den vielen Nachtfahrten.«
»Wo haben Sie denn die dunkle Brille erstanden?« fragte er.
»Es ist eine billige Sonnenbrille«, sagte ich. »Ich hab’ sie mir aus einem Drugstore mitgenommen. Ich kann einfach kein Tageslicht mehr vertragen.«
»Nachtfahrten sind in diesem Zustand das Schlimmste, was Sie tun können«, sagte er. »Sie sind noch jung. Aber es rächt sich später einmal. Das menschliche Auge ist solchen Belastungen einfach nicht gewachsen. Kommen Sie bitte mit ins Nebenzimmer.«
Ich gehorchte. Die Sprechstundenhilfe setzte mich in dem Untersuchungsstuhl zurecht. Dr. Alfmont nickte ihr zu, und sie verschwand.
»Nehmen Sie bitte die Brille ab«, sagte der Arzt. »Dann wollen wir uns doch die Sache mal näher betrachten.«
Er rollte ein Untersuchungsgerät heran. »Legen Sie bitte Ihr Kinn auf diese Stütze«, sagte er. »Schauen Sie direkt ins Licht. Halten Sie das Auge ruhig.«
Er stellte sich hinter das Gerät. Ich nahm die Brille ab. Er drehte an verschiedenen Knöpfen, knipste eine helle Lampe an und schwenkte sie langsam.
Dann sagte er: »Nun das andere Auge.« Das Lampenlicht wanderte zu meinem linken Auge, und das gleiche Spiel begann von vorn. Er machte sich ein paar Notizen. »Außer einer leichten Reizung kann ich nichts finden. Ich weiß nicht, woher diese Beschwerden kommen könnten. Vielleicht ist es nur eine vorübergehende Muskelermüdung. Über dem rechten Auge haben Sie einen Bluterguß, aber das Auge selbst ist nicht in Mitleidenschaft gezogen.«
Er schob den Apparat beiseite. »Jetzt werden wir uns einmal...«, begann er. Dann sah er zum erstenmal mein Gesicht ohne Brille. Sein Kinn klappte herunter.
»Ihre Frau war gestern in Oakview, Doktor«, teilte ich ihm mit.
Er starrte mich etwa zehn Sekunden lang sprachlos an. Dann sagte er mit seiner etwas farblosen Stimme: »Ich hätte Ihre kleine List eigentlich gleich durchschauen müssen, Mr. Lam. Sind Sie — aber kommen Sie doch bitte wieder mit ins Sprechzimmer.«
Ich stand auf und folgte ihm. Er zog sorgfältig die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel herum. »Das mußte ja kommen«, sagte er.
Ich setzte mich und wartete.
Er drehte unruhig ein paar Runden in seinem Zimmer. Schließlich fragte er: »Wieviel?«
»Wofür?« fragte ich dagegen.
»Tun Sie nicht so harmlos! Nennen Sie mir Ihren Preis.«
»Sie meinen — für unsere Ermittlungen?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen!« fauchte er gereizt. »Sagen Sie mir, wieviel Sie verlangen. Es wundert mich gar nicht. Man hat mir gesagt, daß keine Detektei einer kleinen Erpressung abgeneigt ist, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
»Dann hat man Ihnen etwas Falsches gesagt«, erklärte ich. »Wir stehen soweit wie möglich hinter unserem Klienten.«
»Unsinn! Weshalb haben Sie mir dann nachgespürt? Ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt, daß ich den Aufenthaltsort von Mrs. Lintig wissen wollte und daß Sie sich nicht mit Dr. Lintig befassen sollten.«
»Sie haben es etwas anders formuliert, Doktor!«
»Aber darauf lief es hinaus. Nun haben Sie mich also gefunden. Schleichen wir doch nicht weiter um den heißen Brei herum. Wieviel verlangen Sie?«
Jetzt setzte er sich mir gegenüber an den Schreibtisch und sah mich herausfordernd an.
»Sie hätten uns gegenüber offen sein sollen.«
»Ach was! Nennen Sie mir endlich Ihre Forderung.«
»Jetzt hören Sie mir mal genau zu«, sagte ich. »Sie haben uns den Auftrag gegeben, Mrs. Lintig aufzuspüren. Wir haben sie aufgespürt. Wir haben sie sehr unerwartet gefunden und wollten uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Da kam Ihr Kündigungsschreiben. Es ist Ihr gutes Recht, uns den Laufpaß zu geben, aber meiner Meinung nach gibt es da einiges, was Sie wissen sollten. Als unser Klient können Sie einen Bericht verlangen.«
»Ich habe mich von Ihnen getrennt«, sagte er mit einer Spur von Erregung, »weil Sie sich in meine Angelegenheiten eingemischt haben.«
»Meinen Sie unsere Ermittlungen bei der Ärztekammer?«
»Ja.«
»Das ist nun mal geschehen. Wir haben Sie gefunden. Wir sitzen uns gegenüber. Wollen wir nicht endlich Fraktur miteinander reden?«
»Das verlange ich ja schon die ganze Zeit von Ihnen. Aber eins sage ich Ihnen, junger Mann, ich lasse mich nicht an die Wand stellen. Ich...«
»Nun halten Sie zunächst mal die Luft an und lassen Sie mich erzählen. Es waren vor mir schon zwei freundliche Mitmenschen in Oakview, die versuchten, Ihrer Frau auf die Spur zu kommen. Der eine hieß Miller Cross. Über ihn habe ich nichts in Erfahrung bringen können. Dann kam etwa vor drei Wochen ein weibliches Wesen namens Evaline Harris. Sie gab sich in Oakview als Evaline Dell aus. Sie ist Animiermädchen in einem Nachtklub, in der Blauen Grotte in Los Angeles. Ich war noch nicht dort, aber es scheint mir eins jener Etablissements zu sein, in denen die Mädchen auf der Bühne reichlich nacktes Fleisch bieten, ein oder zwei Liedchen trällern, um der Sittenpolizei keine Handhabe zum Einschreiten zu bieten, und sich im übrigen nach Möglichkeit einer anderen einträglichen Nebenbeschäftigung widmen.
Ich habe mich mit dieser Evaline Harris in Verbindung gesetzt. Falls es Sie interessiert, kann ich Ihnen die Adresse geben. Ich habe mich bei ihr als Angestellter der Bahn ausgegeben. Ihr Koffer ist nämlich auf der Fahrt nach Oakview beschädigt worden. Ich fragte, was sie in Oakview wollte und warum sie dort einen falschen Namen angegeben hat. Sie habe Erkundigungen über eine gewisse Dame eingezogen, sagte sie, und zwar im Auftrag des Ehemannes. Warum haben Sie uns nicht reinen Wein eingeschenkt?«
Das Erstaunen in seinem Gesicht schien mir echt zu sein.
»Im Auftrag des Ehemannes?« wiederholte er.
Ich nickte.
»Dann ist Amelia verheiratet?«
»Ja. Mit Ihnen.«
»Ich meine — wiederverheiratet.«
»Bestimmt nicht. Mrs. Lintig ist nach Oakview gekommen, hat einen Rechtsanwalt angeheuert und Auftrag gegeben, die Scheidungsklage zurückzuziehen Ich habe mit ihr gesprochen...«
»Sie haben mit ihr gesprochen?« fiel er mir ins Wort.
Ich nickte.
»Wie sieht sie aus?« fragte er. »Wie geht es ihr?«
»Direkt taufrisch ist sie nicht mehr«, meinte ich. »Sie ist wohl in Ihrem Alter...«
»Drei Jahre älter.«
»Das sieht man ihr auch an. Ziemlich füllig. Haar silbergrau. Ansonsten habe ich den Eindruck, daß sie weiß, wozu sie ihre Ellenbogen hat...«
Er preßte die Lippen zusammen. »Wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Aus Oakview ist sie abgereist.«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Warum sind Sie ihr nicht gefolgt?«
Darauf war ich vorbereitet. »Weil Bertha Cool mir telefonisch erklärt hatte, daß Sie auf unsere weitere Mitarbeit verzichten.«
»Aber ich bitte Sie! Wir standen kurz vor dem Ziel! Ich wollte wissen, wo sie ist. Ich wollte Näheres über sie erfahren, was sie treibt, wie sie lebt, ob sie wieder verheiratet ist — einfach alles. Und Sie lassen diese Frau einfach wieder entwischen.«
»Sie hatten den Auftrag zurückgezogen«, erklärte ich geduldig. »Ich hatte gleich den Eindruck, daß dieser Entschluß übereilt war. Deshalb bin ich ja nach Santa Carlotta gekommen, um Ihnen den Tatbestand vorzulegen.«
Er schob den Stuhl zurück und fing wieder seine Wanderung durchs Zimmer an. Dann drehte er sich plötzlich zu mir herum. »Ich muß sie finden.«
»Durch unsere Detektei werden Sie das noch am ehesten erreichen können.«
»Ja, das glaube ich gern. Also legen Sie los! Sie dürfen keine Zeit verlieren, keine Minute!«
»Einverstanden, Doktor. Und wenn wir wieder eine heiße Spur haben, pfeifen Sie uns bitte nicht zurück. Diese Pleite haben Sie sich selber zuzuschreiben. Wenn Sie von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätten, wäre der Fall binnen achtundvierzig Stunden und ohne weitere Kosten erledigt gewesen. Jetzt müssen wir wieder von vorn anfangen.«
»Kann ich mich auf Sie verlassen?« fragte er.
»Weshalb eigentlich nicht?«
»Sie werden meine Notlage nicht ausnutzen?«
Ich zuckte die Schultern. »Eigentlich müßte Ihnen die Tatsache, daß ich vor Ihnen sitze, ohne Sie auszunehmen, Antwort genug sein.«
»Sie haben recht. Entschuldigen Sie. Darf ich Sie bitten, Mrs. Cool von unserem Gespräch zu unterrichten?«
»Ich kann ihr also sagen, daß wir die Arbeit wiederaufnehmen sollen?«
»Jawohl — und zwar so schnell wie möglich. Ach richtig, geben Sie mir doch bitte noch die Adresse der jungen Dame, die vorgibt, in meinem Auftrag zu handeln. Das ist einfach lächerlich.«
Ich gab ihm die Adresse von Evaline Harris.
»So — und nun will ich Sie nicht länger aufhalten...«
»Wir legen gleich los«, versicherte ich. »Sollen wir unsere Berichte hierhergeben?«
»Auf keinen Fall. Die Verabredung, die ich mit Mrs. Cool getroffen habe, bleibt bestehen. Richten Sie Ihre Mitteilungen an Mr. Smith. Die Adresse hat Mrs. Cool. Auf keinen Fall darf jemand erfahren, wo oder wer ich bin. Das wäre — das wäre einfach katastrophal.«
»Das ist mir klar.«
»Sie sollten sich nicht länger in Santa Carlotta aufhalten und mit niemandem hier sprechen. Man darf Sie auch nicht in der Nähe meiner Praxis sehen.«
»Wir werden schon dichthalten. Aber Sie sollten auch vorsichtig sein. Lassen Sie zum Beispiel unsere Berichte nicht in falsche Hände fallen.«
»Dafür ist gesorgt«, versicherte er.
»Diese Evaline Harris kennen Sie also nicht?«
»Natürlich nicht.«
»Einfach wird es nicht werden«, meinte ich. »Die Spur ist inzwischen wieder kalt.«
»Das ist mir klar. Es ist meine Schuld. Die Furcht, daß jemand versuchen könnte, mich über meine Zulassung bei der Ärztekammer aufzuspüren, begleitet mich seit zwanzig Jahren. Sie haben es geschickt angefangen. Fast ein bißchen zu geschickt für meinen Geschmack...«
»Noch eins«, sagte ich. »Wer wäre daran interessiert, mir wegen meines Auftrages zu einem blauen Auge zu verhelfen?«
»Was meinen Sie?«
»Ich meine einen Mann, der etwa einsachtzig groß ist und ungefähr zwei Zentner wiegt. Ein Kerl wie ein Kleiderschrank, dunkle Haare, graue Augen, Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, Muttermal auf der Wange und eine Faust wie ein Schmiedehammer.«
Dr. Alfmont schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht.« Aber er sah mich nicht dabei an.
»Er hat mich in meinem Hotelzimmer in Oakview in Empfang genommen«, fuhr ich fort, »und war genauestens über mich im Bilde.«
»Was wollte er?«
»Daß ich die Stadt verlasse.«
»Und wie haben Sie reagiert?«
»Leider damit, daß ich nach der Polizei rief. Als ich wieder zu mir kam, war ich nicht mehr in Oakview.«
Seine Lippen zuckten. Und erst beim zweiten Anlauf brachte er heraus: »Da muß sich jemand geirrt haben...«
»Sehr richtig. Ich!«
»Sie dürfen niemandem verraten, was Sie ermitteln oder für wen Sie arbeiten«, beschwor er mich. »Das ist wesentlich.«
»Hm«, meinte ich. »Dann weiß ich jedenfalls Bescheid.«
In seinen Augen stand jetzt Angst. Die Sprechstundenhilfe starrte mich neugierig an, als ich ging. Ich hätte zehn zu eins gewettet, daß sie nicht Vivian Carter hieß und nie als Mitschuldige in einem Ehescheidungsprozeß benannt worden war.
Mein Frühstück war lange überfällig. Santa Carlotta lag auf dem Weg zur Küste. Es war eine Stadt für reiche Touristen und besaß drei elegante Hotels, ein halbes Dutzend mittlerer Hotelpensionen und einen Haufen Motels. Die Restaurants waren gut. Ich suchte mir aufs Geratewohl eins heraus.
Im Fenster hing ein Plakat, und von dem Plakat starrte mich ein um zehn Jahre verjüngter Dr. Alfmont an. Ich las die Aufschrift:
»Wählt Dr. Charles L. Alfmont zum Bürgermeister.
Macht Santa Carlotta zu einer sauberen Stadt.
Jagt die Gauner zum Tempel heraus. Säuberungsliga Santa Carlotta.«
Ich ging hinein, suchte mir einen Tisch und führte mir mit Genuß frisch ausgepreßten Orangensaft, eine Grapefruit und pochierte Eier auf knusprigem Toast zu Gemüte.
Als ich beim Kaffee und einer Zigarette angelangt war, fragte mich die Kellnerin, ob ich die Zeitungen sehen wollte. Ich nickte. Sie kam etwas verlegen zurück. »Leider sind die Zeitungen aus Los Angeles alle unterwegs. Aber wenn Sie mögen, können Sie einmal in die Lokalzeitung sehen.«
Ich nickte dankend.
Die Lokalzeitung, die Tagespost, machte einen ordentlichen Eindruck. Gutes Layout, guter Druck, Meldungen aus aller Welt.
Ich wandte mich mit Interesse dem Leitartikel auf der zweiten Seite zu und las:
»Die Art und Weise, wie der Kurier die Kandidatur von Dr. Charles Alfmont in den Schmutz zu ziehen sucht, ist wohl für den unvoreingenommenen Wähler das beste Zeichen dafür, welche Unruhe die Aufstellung dieses aufrechten Mannes in gewissen Kreisen hervorgerufen hat.
Seit langem ist es jedem neutralen Beobachter klar, daß die Gauner und Unterweltler in Santa Carlotta ohne politischen Rückhalt nie so mächtig hätten werden können. Wir hüten uns, zum jetzigen Zeitpunkt direkte Anschuldigungen zu erheben, aber der intelligente Wähler wird gut daran tun, die Taktik der Gegenseite genau zu beobachten. Wir sehen eine üble Verleumdungskampagne voraus. Man wird immer wieder versuchen, Dr. Alfmont etwas am Zeug zu flicken, statt sich den Vorwürfen zu stellen, die er vorgebracht hat. Sollte die Stadt doch keinen neuen Polizeichef brauchen? Nun, dann sollte sich die augenblickliche Stadtverwaltung zumindest bereit finden, fair und unparteiisch die unhaltbaren Zustände zu erörtern, die Santa Carlotta zu einem Dorado für Verbrechen und Korruption gemacht haben. Stattdessen begnügt sich unser verleumderischer Mitbürger mit versteckten Andeutungen. Wenn der Kurier nicht umgehend seinen gestrigen Leitartikel widerruft, dürfte ihm eine Verleumdungsklage sicher sein. Und der Kurier sollte daran denken, daß zwar auf der einen Seite rückgratlose Redakteure mit reichen Anzeigenaufträgen belohnt werden, daß aber andererseits die von einer Zeitung zu leistenden Zahlungen nach einem Verleumdungsprozeß meist schmerzlich zu Buche schlagen.
Die Tagespost weiß, daß die Bürger, die hinter Dr. Alfmont stehen und die sich ein sauberes Santa Carlotta wünschen, derartige Anwürfe nicht tatenlos hinnehmen werden. Die gestrige Verunglimpfung ist eine unverantwortliche Rufschädigung. Es ist natürlich sehr einfach, Gerüchte über diesen Kandidaten in Umlauf zu setzen, um zu verhindern, daß er selber peinliche Fragen stellt. Die Vorwürfe politischer Korruption, die er im Namen aller redlichen Bürger erhebt, schafft ein solcher Schachzug jedoch nicht aus der Welt. Es ist ein Armutszeugnis für die Gegenseite, daß ihr zehn Tage vor der Wahl keine andere Waffe als die der üblen Nachrede bleibt.«
Die Kellnerin brachte mir meine zweite Tasse Kaffee, und ich rauchte sehr nachdenklich zwei Zigaretten. Als ich zahlte, fragte ich: »Wo ist das Rathaus?«
»Vier Blocks geradeaus, dann eine Ecke rechts. Sie sehen es gleich. Ein Neubau.«
Das war es allerdings. Hier mußte die Korruption wahre Triumphe gefeiert haben. Das Rathaus sah aus wie auf Zuwachs gebaut, und die paar Beamten mußten sich darin einigermaßen verloren vorkommen.
Ich suchte und fand die Tür mit der Aufschrift: »Polizeipräsident.« In einem Vorzimmer mißhandelte eine Stenotypistin die Schreibmaschine. Zwei Polizisten saßen wartend herum.
Ich ging zu der Frau. »Wer könnte mir Auskunft über das Personal dieser Abteilung geben?«
»Was möchten Sie denn wissen?«
»Ich möchte mich über einen Beamten beschweren«, sagte ich. »Seine Nummer habe ich mir nicht aufgeschrieben, aber ich könnte ihn beschreiben.«
»Den Chef kann ich mit solchen Lappalien nicht belästigen«, sagte sie.
»Eben! Deshalb wende ich mich ja an seine Sekretärin.«
Das mußte erst langsam rutschen. Dann sagte sie: »Captain Wilbur hat Dienst. Er kann Ihnen sagen, an wen Sie sich wenden müssen. Er sitzt nebenan.«
Ich bedankte mich bei ihr und wandte mich zum Gehen. In diesem Augenblick sah ich ein gerahmtes Foto an der Wand neben der Tür. Es zeigte die Polizeibeamten in einer langen Reihe vor dem neuen Rathaus. Ich warf einen schnellen Blick darauf und ging.
In Captain Wilburs Vorzimmer hing das gleiche Foto. Ich fragte einen wartenden Polizisten: »Wissen Sie, wer die Aufnahme gemacht hat?«
»Ein Fotograf hier aus der Stadt. Clover heißt er.«
»Gutes Bild.«
»Hm...«
Ich trat näher. Dann tippte ich auf den fünften Mann von links. »Holla! Ich wußte gar nicht, daß Bill Crane jetzt bei der Polizei ist.«
»Wer?«
»Bill Crane. Ich kenne ihn aus Denver.«
Er trat zu mir. »Der heißt nicht Bill Crane«, sagte er. »Das ist John Harbet von der Sitte.«
»Komisch«, sagte ich. »Er sieht genau aus wie einer meiner alten Freunde.« Als der Polizist zu Captain Wilbur hineinging, verdrückte ich mich, klemmte mich ans Steuer der Firmenkutsche und brauste davon.
Bertha Cool wollte gerade zum Essen gehen. Sie strahlte auf wie eine Tausendwattleuchte, als sie mich sah. »Wie nett, Donald. Da können wir ja zusammen gehen!«
»Vielen Dank. Ich hab’ erst vor zwei Stunden gefrühstückt.«
»Na, eine Einladung wirst du doch nicht abschlagen, was?«
»Es tut mir in der Seele weh, aber...«
»Komm wenigstens mit, dann können wir uns unterhalten. Du mußt diesen Smith ausfindig machen. Ich habe versucht, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, nachdem ich seinen Brief bekommen hatte. Die Anschrift, die er mir gegeben hat, ist natürlich nur eine Deckadresse. Dort kennt man ihn gar nicht — oder will ihn nicht kennen. «
»Schöne Bescherung«, meinte ich.
Sie zog ein grimmiges Gesicht. »Kann man wohl sagen. Der Mann hatte Schwierigkeiten. Und Angst. Für uns kam er gerade recht. Wie ein Weihnachtsmann. Nur daß er jetzt mit seinem Schlitten steckengeblieben ist, und unser Gabentisch ist leer.«
»Wenn du unbedingt willst, kann ich ja mit zum Essen kommen.«
»Na also. Wir gehen in den Goldenen Schwan. Da stört uns wenigstens keiner.«
Als wir durchs Vorzimmer gingen, nickte ich Elsie zu. Sie nickte zurück, ohne sich in ihrer Klappersymphonie stören zu lassen.
Im Goldenen Schwan erkundigte sich Bertha, ob ich nein zu einem Cocktail sagen würde. Ich versicherte ihr, daß ich so ein Angebot erstens prinzipiell und in diesem ganz besonderen Fall sowieso nicht ausschlagen würde, denn ich gedachte, mich nach dem Essen aufs Ohr zu legen und den Nachmittag zu verschlafen. Erstens, erklärte ich, war ich die ganze Nacht durchgefahren, und zweitens wollte ich abends noch die Blaue Grotte erkunden.
»Das läßt du lieber bleiben, Donald«, meinte Bertha. »Da wirst du doch bloß Geld los, und so dicke haben wir’s auch wieder nicht. Wir lassen jetzt schön die Finger von dem Fall, es sei denn, daß dieser Smith sich die Sache anders überlegt. Das Vorschußhonorar haben wir wenigstens weg, aber du gehst für meinen Geschmack mal wieder reichlich großzügig mit den Spesen um.«
Ich wartete, bis die Martinis vor uns standen. »Du kannst dich beruhigen, Bertha. Smith hat uns wieder grünes Licht gegeben.«
Bertha Cool blinzelte. »Wie bitte?«
»Er hat uns grünes Licht gegeben«, wiederholte ich.
»Du Schlitzohr! Warst du bei ihm?«
Ich nickte.
»Wie hast du ihn denn gefunden?«
»Smith ist Dr. Alfmont«, sagte ich. »Und Dr. Alfmont ist Dr. Lintig.«
Bertha Cool stellte ihr Glas aus der Hand. »Da brat’ mir doch einer ‘nen Storch. Hat man so was schon erlebt?«
Ich hatte keine Lust, Bertha sämtliche Einzelheiten vorzubeten. Nachtfahrten bekommen mir nicht.
»Dr. Alfmont hat sich als Bürgermeister in Santa Carlotta aufstellen lassen«, bemerkte ich.
»Politik?« fragte Bertha. Ihre Augen begannen zu glänzen.
»Ja, die vielgeliebte schmutzige Politik«, bestätigte ich. »Der Kerl, der mich zusammengeschlagen und aus Oakview herausbefördert hat, heißt John Harbet. Er ist Polizist in Santa Carlotta und leitet die Sittenpolizei.«
»Da schau her«, meinte Bertha hochbefriedigt.
»Eine der Zeitungen hat Dr. Alfmont schlechtgemacht. Die andere deutet an, daß Dr. Alfmont sie wegen übler Nachrede verklagen wird. So was wirkt sonst immer, aber ich glaube, daß die Verleumder ihrer Sache ziemlich sicher sind. Sie werden fleißig weiter schmutzige Wäsche waschen und es auf die Klage ankommen lassen. Wenn er nicht klagt, blamiert er sich. Wenn er es tut, muß er die Rufschädigung nachweisen, und dann wird der Kurier auspacken. Nein, einen Prozeß kann Alfmont sich nicht leisten, und das weiß er auch. Er will in Erfahrung bringen, ob seine Frau wieder geheiratet oder die Scheidung durchgesetzt hat.«
Bertha Cool sah aus wie eine dicke Katze, die sich eben die letzten Kanarienfedern von der Schnauze wischt. »Das könnte ja gar nicht schöner sein. Wir gehen goldenen Zeiten entgegen, mein Kleiner!«
»Ich bin im Augenblick nicht sehr fürs Gehen«, meinte ich und lehnte mich gemütlich zurück.
»Los, Donald — du bist doch so ein schlaues Kind. Laß mal deine Denkmaschine ein bißchen ticken.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin hundemüde und habe keine Lust zum Nachdenken. Und ich habe auch keine Lust zum Reden.«
»Wenn du was im Magen hast, wirst du schon wieder zu dir kommen«, meinte Bertha, die gern von sich auf andere schloß.
Sie bestellte eine doppelte Tomatencremesuppe, geschmorte Nierchen mit gemischtem Salat, Kaffee mit einer Portion Sahne extra, Brötchen und Butter. »Und für ihn dasselbe«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu mir hinüber. »Wir werden dich schon wieder aufbauen.«
Ich raffte mich zu einem Protest auf. »Ein Kännchen schwarzen Kaffee«, sagte ich, »und einen Schinkentoast.«
»Aber das ist doch zuwenig, Kleiner«, sagte Bertha besorgt. »Du mußt was essen, damit du groß und stark wirst.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Etwas Süßes«, fuhr Bertha fort. »Das steigert den Blutzuckerspiegel. Ein Omelett mit Erdbeerkonfitüre, Donald, und mit viel Sahne. Oder Schwarzwälder Kirschtorte, oder...«
Ich schüttelte wieder den Kopf. Bertha gab seufzend auf. »Kein Wunder, daß du so spillrig bist«, meinte sie. »Also schön — wer nicht will, der hat schon...«
Als der Kellner fort war, sagte ich zu Bertha: »In Zukunft verbitte ich mir das!«
»Was denn?«
»Diese Bevormundung. Du tust gerade so, als wäre ich ein Schuljunge, den die gute Tante zum Essen ausführt. Ich weiß schon, was ich will.«
»Aber du ißt wirklich nicht genug, Donald. Du bist doch nur Haut und Knochen.«
Ein Streit mit ihr war mir zu anstrengend. Ich schwieg und rauchte vor mich hin.
Bertha sah mich verstohlen von der Seite an, während sie herzhaft Zugriff. »Du siehst aus wie durch Seifenlauge gezogen«, meinte sie. »Du wirst mir doch nicht krank werden?«
Ich sagte nichts. Beim Essen legte sich das flaue Gefühl etwas, das ich im Magen hatte. Der schwarze Kaffee war gut, aber das Schinkenbrot schaffte ich nicht ganz.
»Ich weiß, woran es liegt«, sagte Bertha. »Du hast dir in diesen gammligen Restaurants in Oakview den Magen verrenkt. Meine Güte, Donald, stell dir vor, das ist unsere Chance! Dr. Alfmont mischt in einem Wahlkampf mit, in dem er die eine Hälfte der Bevölkerung blamiert, wenn er einen Rückzieher macht, und in dem die andere Hälfte ihn abschießen will. Wir können fordern, was wir wollen.«
»Das hat er auch schon gesagt«, meinte ich.
»Jetzt müssen wir schnell arbeiten. Das bedeutet Dienst rund um die Uhr.«
Ich machte den Mund auf und machte ihn wieder zu. Es lohnte sich nicht.
»Sei doch nicht so stur, Donald. Spuck’s schon aus!«
Ich goß mir den letzten Schluck Kaffee ein und kippte ihn herunter. »Also ganz kurz. Dr. Lintig brennt mit seiner Sprechstundenhilfe durch. Sie nennt sich wahrscheinlich jetzt Mrs. Alfmont, aber geheiratet haben sie wohl nicht; denn das wäre Bigamie gewesen. Vielleicht haben sie es doch getan. Die Konsequenzen kannst du dir selber ausmalen. Wenn Mrs. Lintig tot ist oder die Scheidung durchgesetzt hat, ist Dr. Alfmont aus dem Schneider. Er hat keine Bigamie begangen, und seine Sprechstundenhilfe ist die rechtmäßige Mrs. Alfmont. Vielleicht sind auch Kinder da.
Wenn aber Mrs. Lintig die Scheidung nicht durchgesetzt hat, und das hat sie nach ihrer eigenen Aussage nicht; wenn sie lebt und wohlauf ist, braucht sie nur am Vorabend der Wahl in Santa Carlotta aufzukreuzen. Sie identifiziert Dr. Alfmont als Dr. Lintig, ihren ihr nach wie vor Angetrauten. Die Frau, die die Bevölkerung von Santa Carlotta als Mrs. Alfmont kennt, wird wieder zu Vivian Carter, der Mitschuldigen in einem Ehescheidungsprozeß. Sie haben offen zusammen als Mann und Frau gelebt. Ein schöner Skandal, was?«
»Dazu müssen sie erst mal Mrs. Lintig haben.«
»Wahrscheinlich haben sie sie schon«, sagte ich. »Leider sieht es ganz so aus. Es ist doch sonderbar, daß sie gerade jetzt in Oakview auftaucht und die Scheidungsklage zurückziehen läßt.«
»Erzähl mal genauer!« verlangte Bertha.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Ich bin fix und fertig. Ich gehe erst mal nach Hause und schlafe mich aus.«
Bertha langte mit ihren beringten Fingern über den Tisch und packte meine Hand in einem überraschend kräftigen Griff. »Du bist ja ganz kalt, Donald. Du mußt ein bißchen auf dich achtgeben.«
»Ganz meiner Meinung. Die Rechnung kannst du zahlen. Ich gehe.«
»Du Ärmster«, sagte Bertha mütterlich. »Fahr nicht mit dem Wagen nach Hause, Donald. Nimm dir ein Taxi — nein, warte mal. Hat Alfmont was davon gesagt, daß er mir eine weitere Zahlung überweist?«
»Gesagt hat er es.«
»Sagen kann er viel. Du kannst auch mit dem Bus fahren. Hauptsache, du setzt dich nicht ans Steuer.«
»Nun übertreibe bloß nicht. Ich bin schließlich noch kein Invalide. Außerdem brauche ich den Wagen heute abend.«
Ich kam mit der Firmenkutsche recht und schlecht nach Hause, kletterte ins Bett, nahm einen großen Schluck Whisky und fing nach einer Weile an, angenehm zu dösen.
Als ich gerade so richtig fest eingeschlafen war, wurde mein süßer Schlummer durch ein aufdringliches Phänomen gestört, das sich eine kleine Ewigkeit lang in den verschiedensten Abarten bemerkbar machte. Erst waren es nackte Wilde, die um ein Feuer tanzten und die Kriegstrommel schlugen. Als die sich verflüchtigt hatten und ich gerade wieder eindöste, fingen Zimmerleute an, einen Galgen zusammenzuhämmern, an dem ich aufgeknüpft werden sollte. Es waren alles Frauen in Bikinis. Sie hämmerten in einem seltsamen Rhythmus: Bumm, bumm, bumm, bumm — bumm, bumm, bumm, bumm — bumm, bumm, bumm, bumm. Und dazwischen riefen sie: »Donald! Bitte, Donald...«
Schließlich kam ich so weit zu mir, daß ich merkte, daß das Hämmern sich an meiner Tür abspielte und daß eine durchaus wirkliche weibliche Stimme rief: »Donald! Bitte, Donald!«
Ich knurrte verschlafen vor mich hin.
Die Stimme sagte: »Donald, mach doch auf!«
Jemand rüttelte an der Klinke.
Ich rollte aus dem Bett und tappte schlaftrunken zum Kleiderschrank, um mir meinen Morgenrock zu greifen.
»Donald, mach auf. Ich bin’s — Marian.«
Die Worte hörte ich, aber sie gaben keinen Sinn. Ich ging zur Tür und schloß auf.
Marian Duntons Augen waren vor Erregung weit aufgerissen. Jetzt zeigten sie ungeheure Erleichterung. »Ich hatte schon Angst, du wärst nicht zu Hause«, plapperte sie vertraulich. »Aber die Wirtin meinte, du müßtest dasein. Du wärst die ganze Nacht fort gewesen, meinte sie, und schliefst wohl nur.«
Es war etwas in ihrer Stimme, was mich nachdrücklicher aus meiner Verschlafenheit riß als ein ganzes Regiment von Weckern. »Komm herein, Marian. Was ist denn los?«
»Etwas Schreckliches ist passiert.«
Ich fuhr mir mit allen zehn Fingern durchs Haar. »Was denn nur, Marian?«
Sie kam dicht an mich heran. »Ich war bei Evaline Harris.«
»Den Tip habe ich dir ja selber gegeben«, sagte ich. »Meinen Segen hast du. Aber jetzt mußt du selbst sehen, wie du weiterkommst.«
»Donald — sie ist tot. Ermordet.«
Ich setzte mich aufs Bett. »Das mußt du mir schon genauer erklären.«
Marian setzte sich neben mich. Ihre Worte überstürzten sich. »Ich muß hier weg, Donald. Deine Wirtin ist eine mißtrauische alte Gewitterziege. Ich sollte die Zimmertür offenlassen, hat sie gesagt. Du mußt mir helfen.«
Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach fünf.
»Was ist passiert?«
»Ich fuhr zu ihr und klingelte unten an der Haustür. Nichts rührte sich.«
»Sie schläft vormittags lange«, sagte ich, »weil sie in einer Bar arbeitet.«
»Ich weiß. Nach einer Weile klingelte ich bei der Hauswartsfrau und fragte nach Miss Harris.«
»Weiter.«
»Die Frau sagte, sie wüßte nicht, ob Miss Harris da wäre. Sie könnte sich nicht um alle ihre Mieterinnen kümmern. Sie war ziemlich giftig. Ich fragte, ob ich mal zu ihr hinaufgehen könnte. Sie hatte nichts dagegen. Es war Apartment 309.
Ich fuhr mit dem Lift in den dritten Stock. Auf dem Gang traf ich einen Mann. Es kam aus einer Tür hinten im Gang. Und — und ich glaube, es war Apartment 309.«
»Deshalb hat sie wahrscheinlich nicht reagiert, als du geklingelt hast.«
»Donald — sie war tot.«
»Woher weißt du das?«
»Die Tür von 309 war nicht abgeschlossen. Ich klopfte zwei- oder dreimal. Aber niemand rührte sich. Da drückte ich die Klinke herunter. Ich öffnete und sah — ich sah ein Mädchen auf dem Bett liegen. Ich dachte, sie — du weißt schon...Ich entschuldigte mich und verschwand. Ich wollte später noch einmal wiederkommen. Du verstehst schon...«
»Ich verstehe. Und dann?«
»Dann ging ich hinaus. Nach einer halben Stunde kam ich zurück und klingelte wieder.«
»Du meinst unten an der Haustür.«
»Ja.«
»Und?«
»Es passierte nichts. Ich wußte aber genau, daß sie nicht weggegangen war, denn ich hatte die Haustür im Auge behalten. Als ich noch so stand und klingelte, kam eine Dame und schloß auf. Sie lächelte mir zu und fragte: >Kann ich Ihnen helfen?< und ich sagte: >Ja, sehr freundlich< und ging einfach hinter ihr her.«
»Hat sie gefragt, zu wem du wolltest?«
»Nein. Sie war sehr nett.«
»Und dann?«
»Dann fuhr ich wieder in den dritten Stock und klopfte. Es rührte sich nichts. Ich machte die Tür auf und sah hinein. Sie lag noch immer auf dem Bett, in der gleichen Stellung. Das kam mir irgendwie komisch vor. Ich ging näher heran. Sie war tot. Um ihren Hals lag eine Schnur, fest angezogen. Sie trug nur ein rosa Nachthemd. Ihr Gesicht — es sah schrecklich aus, Donald. Oh, Donald, es ist so furchtbar...«
»Was hast du daraufhin getan?«
»Ich war völlig kopflos«, sagte sie. »Denn ich war doch vor einer halben Stunde schon einmal oben gewesen. Die Hauswartsfrau wußte das. Ich hatte Angst, die würde denken, daß — daß ich es getan hätte.«
»Du Dummchen. Wie lange ist das her?«
»Nicht sehr lange. Ich hab’ bei dir im Büro angerufen und mich als alte Bekannte von dir ausgegeben. Das Mädchen am Telefon gab mir deine Adresse.«
»Und dann bist du hergekommen?«
»Ja, in einem Affentempo.«
»Steig wieder in deinen Wagen. Fahr mit dem gleichen Affentempo zur Polizei. Sag ihnen, du hättest eine Tote gefunden. Sag nichts von Mord. Und sag gleich dazu, daß du aus Oakview bist.«
»Warum?«
»Weil du die Unschuld vom Lande spielen mußt.«
»Aber sie werden herauskriegen, daß ich schon einmal oben war.«
»Das kriegen sie ohnehin heraus«, sagte ich. »Wenn man sich Schwierigkeiten einhandeln will, braucht man nur Ausflüchte zu erfinden. Begreifst du das nicht?«
»Schon«, meinte sie. Sehr überzeugt klang es nicht. »Donald — kannst du nicht mit zur Polizei kommen?«
»Das wäre das Dümmste, was wir tun könnten. Vergiß, daß du hier warst. Vergiß, daß du mich kennst. Sag nichts über die Detektei Cool & Lam. Tu genau das, was ich dir sage. Erzähle ihnen die Geschichte genauso, wie sie sich abgespielt hat. Als du merktest, daß die Frau tot war, bist du sofort zur Polizei gefahren. Okay? Daß du die Schlinge um ihren Hals gesehen hast, bindest du ihnen nicht auf die Nase. Kapiert?«
»Ja.«
»Du hast doch nichts angefaßt — oder?«
»Nein.«
»Wer war dieser Mann, den du auf dem Gang getroffen hast?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er aus ihrem Apartment kam. Vielleicht war es auch die Wohnung daneben.«
»Wie sah er aus?«
»Ziemlich schlank, aufrechte Haltung, distinguiert.«
»Wie alt?«
»Gutes Mittelalter. Er machte einen netten Eindruck.«
»Was hatte er an?«
»Einen grauen Anzug.«
»Wie groß?«
»Ziemlich groß und schlank. Sehr stattlich. Einen grauen Schnurrbart hatte er.«
»Würdest du ihn wiedererkennen?«
»Natürlich.«
Ich schob sie zur Tür. »Auf geht’s!«
»Wann sehe ich dich wieder, Donald?«
»Wenn sie bei der Polizei mit dir fertig sind, kannst du mich anrufen. Und daß du weder mich noch die Detektei erwähnst! Moment mal. Sie werden dich fragen, was du bei Evaline Harris wolltest.«
»Und?«
Ich dachte im Eilzugtempo nach. »Du hast sie bei ihrem Besuch in Oakview kennengelernt. Sie hat dir erzählt, daß sie in Los Angeles in einem Nachtklub arbeitet. Mrs. Lintig darfst du übrigens mit keinem Wort erwähnen. Sag nicht, daß Evaline auf Informationen aus war. Dir hat sie erzählt, daß sie bei euch Ferien machen wollte. Du bist ein Mädchen vom Lande. Und je überzeugender du das spielst, desto besser ist es für dich. Du kannst ruhig dick auftragen. Du wolltest fort aus Oakview. Jeder will fort aus Oakview. Für eine junge Frau, die aus ihrer Zukunft etwas machen will, ist das nicht die richtige Umgebung. Du wolltest in die Stadt. In einem Nachtklub wolltest du nicht arbeiten, aber du hofftest, Evaline Harris würde dir durch ihre Beziehungen zu irgendeinem Job verhelfen können. Weiß dein Onkel übrigens, was du hier tust?«
»Nein — ich bin auf eigene Faust hierhergekommen. Es gibt allerlei Neues, Donald. Verdächtige Umstände, die...«
»Spar dir das für später auf«, sagte ich. »Hier geht es um Sekunden. Wenn jemand die Leiche findet, bevor du deine Meldung gemacht hast, bist du verloren. Merk dir — du bist so schnell wie möglich und auf dem direktesten Wege zur Polizei gefahren. Hast du eine Armbanduhr?«
»Natürlich.«
»Zeig mal her.«
Sie nahm die Uhr ab. Ich stellte die Zeiger zurück auf elf Uhr fünfzehn und knallte das zierliche Ding einmal scharf gegen die Kante des Ankleidetisches. Prompt blieb es stehen. »So, jetzt kannst du sie wieder umnehmen. Deine Armbanduhr hat auf der Fahrt hierher ihren Geist aufgegeben. Du hast sie in einer Raststätte auf der Toilette fallen lassen. Traust du dir zu, diese Schau abzuziehen? Hast du alles kapiert?«
»Ta, natürlich. Du bist richtig süß, Donald. Ich wußte, auf dich kann man sich verlassen.«
»Vielen Dank für die Blumen. Und jetzt ab durch die Mitte. Ruf mich nicht hier an, sondern im Büro. Und melde dich nicht, solange du noch bei der Polizei bist oder unter Beobachtung stehst. Wenn es ganz schlimm kommt, kannst du sagen, daß du mich kennst und die Absicht hattest, später einmal bei mir vorbeizuschauen. Du hast doch Elsie Brand hoffentlich nicht deinen Namen genannt?«
»Wer ist Elsie Brand?«
»Unsere Sekretärin.«
»Nein. Ich habe nur gesagt, ich wäre eine alte Bekannte von dir.«
Ich schob sie auf den Gang hinaus, tätschelte ihr die Schulter und sagte: »Hals- und Beinbruch. Mach, daß du weiterkommst.«
Ich horchte ihren Schritten nach. Endlich klappte die Haustür hinter ihr zu, und ich atmete auf. Ich hatte schon gefürchtet, meine Wirtin hätte ihr aufgelauert, um ihr dumme Fragen zu stellen.
Dann ging ich zum Telefon, das auf dem Gang angebracht war, und rief im Büro an. Elsie Brand meldete sich.
»Ist Bertha schon gegangen?« fragte ich.
»Nein. Aber sie ist gerade dabei.«
»Sag ihr, sie möchte warten. Ich komme herüber. Es ist wichtig.«
»Gut. Hat sich eine junge Dame bei dir gemeldet?«
»Eine junge Dame?«
»Ja. Eine alte Bekannte vor dir, wie sie sagte. Ihren Namen hat sie nicht genannt. Es hörte sich echt an, deshalb habe ich ihr deine Adresse gegeben.«
»Na gut. Vielleicht höre ich noch von ihr. Vielen Dank, Elsie. Sag Bertha, daß ich gleich da bin.«
Ich legte auf, ging zurück in mein Zimmer und zog mich an. Dann stürzte ich mich mit Todesverachtung in den dichten Nachmittagsverkehr. Es war zehn vor sechs geworden, als ich im Büro eintrudelte.
Elsie Brand war inzwischen gegangen. Bertha Cool erwartete mich. »Schöne Sitten, Donald. Du verschläfst den ganzen Nachmittag, und mich bringst du um meinen Feierabend. Wo brennt’s denn?«
»Gibt’s was Neues von unserem Freund Smith?«
Sie strahlte auf. »Allerdings, mein Kleiner. Er war hier. Und hat mir einen hübschen Batzen Geld dagelassen?«
»Wann war das?«
»Vor einer knappen halben Stunde. Er war sehr nett. Aber ziemlich nervös.«
»Was wollte er denn?« fragte ich.
»Über den politischen Aspekt hat er sich nicht ausgelassen«, sagte sie. »Aber ich hab’s zwischen den Zeilen gelesen. Er sagte, wir sollten weiter nach Mrs. Lintig suchen. Er selbst steckte noch in einigen anderen Schwierigkeiten und würde unsere Dienste brauchen. Wir sollten hart am Ball bleiben. Du hast einen sehr guten Eindruck auf ihn gemacht, Donald. Er legte besonderen Wert darauf, daß du den Fall weiter bearbeitest. Du hättest einen guten Kopf, meint er.«
»Was hat er denn ausgespuckt?« wollte ich wissen.
»Eine nette runde Summe«, antwortete Bertha vorsichtig.
»Wieviel?«
»Na hör mal!« empörte sich Bertha. »Die Finanzen sind mein Ressort.«
»Wieviel?« wiederholte ich ungerührt.
Sie sah mich feindselig an und preßte die Lippen zusammen.
»Raus damit, Bertha«, sagte ich. »Ich frage aus einem ganz bestimmten Grund. Er will, daß ich den Fall weiter bearbeite. Wenn ich dich jetzt sitzenlasse, bist du aufgebrummt.«
»Das wirst du nicht tun, Kleiner.«
»Wer sagt das?«
Sie dachte eine Weile nach. Schließlich brachte sie es heraus. »Tausend Dollar.«
»Hab’ ich mir’s doch gedacht. So, und jetzt machen wir zwei beide eine kleine Spazierfahrt.«
»Wohin?«
»Zu Evaline Harris.«
»Ach, zu der...«
»Jawohl — zu der.«
»Bei der erreichst du doch allein mehr, Donald.«
»Das glaube ich nicht. Es wird Zeit für ein Gespräch von Frau zu Frau.«
»Wie du weißt, kann ich mit sehr viel fraulicher Sanftheit nicht aufwarten.«
»Na wenn schon. Also — was ist?«
»Was ist eigentlich in dich gefahren, Donald? Weshalb die Eile? Du bist ja ganz zappelig.«
»Ich habe nachgedacht«, meinte ich.
»Das kannst du wenigstens!« Sie ging zum Spiegel, puderte sich die Nase und malte sich die Lippen an. Ich tigerte ungeduldig auf und ab und sah von Zeit zu Zeit sehr betont auf die Uhr. »Hat Dr. Alfmont gesagt, wann er angekommen ist oder wann er wieder zurückfährt?« erkundigte ich mich.
»Er hat noch einmal darum gebeten, daß wir von ihm nicht als Dr. Alfmont sprechen, Donald. Wir sollen ihn hier im Büro in unseren Gesprächen ebenso wie in unseren Berichten immer als Dr. Smith bezeichnen.«
»Kann er haben. Hat er gesagt, wann er angekommen ist oder wann er zurückfährt?«
»Nein.«
»Trägt er einen grauen Anzug?«
»Ja.«
»Hat er gesagt, was er in der Stadt zu tun hatte?«
»Dein Besuch hatte ihm zu denken gegeben. Er wollte sich wegen seines Kündigungsschreibens bei mir entschuldigen und mir eine weitere Rate dalassen.«
»Können wir jetzt gehen?«
»Weshalb hast du es bloß so eilig, Donald?«
»Weil ich glaube, daß Evaline Harris uns etwas zu sagen hat.«
»Du hattest doch den ganzen Nachmittag zur Verfügung. Warum jetzt plötzlich die Aufregung?«
»Ich war zu kaputt, um klar denken zu können. Die Sache ist mir eben erst eingefallen.«
»Also schön, Kleiner. Ich bin soweit.«
»Ich brauche noch ein paar Spesen.«
»Was? Schon wieder?«
»Ja.«
»Donald, ich kann doch nicht...«
»Das wird ein großer Fall, Bertha. Etwas anderes als die kleinen Fische, die du gewohnt bist. Die tausend Dollar sind erst der Anfang.«
»Ich wünschte, ich könnte deinen Optimismus teilen.«
»Nicht nötig — solange wir die Einnahmen teilen.«
»Du hast die vorige Zahlung noch nicht abgerechnet.«
»Kommt noch.«
Sie seufzte, kramte die Kasse hervor, nahm zwanzig Dollar heraus und drückte sie mir in die Hand. Ich hielt weiter die Hand auf und wartete. Schließlich rückte sie noch einmal zwanzig heraus. Ich rührte mich nicht. Sie seufzte erbärmlich, kam noch mit einem Zehner nach, schob die Kasse mit einem Knall wieder in den Schreibtisch und schloß ab. »Du wirst langsam größenwahnsinnig«, meinte sie.
Ich steckte das Geld in die Tasche und versuchte, Bertha zur Eile anzutreiben.
Doch das war einfach Kraftverschwendung. Als wir endlich beide im Wagen saßen, hatte ich genug Energie vergeudet, um bequem zu Evaline Harris und zurück fahren zu können, und wir hatten nicht eine halbe Sekunde Zeit gewonnen. Bertha Cool war auf ein bestimmtes Tempo programmiert, und das Genie, das sie hätte umprogrammieren können, war noch nicht geboren.
Ich klemmte mich total erschöpft hinter das Steuer. Bertha rückte sich auf den stöhnenden Polstern zurecht und lehnte sich zurück.
Ich ließ den Motor an, legte den Gang ein und rollte aus dem Parkplatz heraus. »Die Kutsche läuft noch recht ordentlich, findest du nicht?« meinte Bertha.
Ich hüllte mich in düsteres Schweigen.
Der Feierabendverkehr war abgeflaut, und ich brauchte nicht lange bis zu dem Apartmenthaus, in dem Evaline Harris wohnte. Vor der Tür parkte eine ganze Herde von Streifenwagen. Ich tat, als bemerkte ich sie gar nicht. Bertha Cool hatte sie gesehen. Sie sah mich ein paarmal von der Seite an, sagte aber nichts. »Vielleicht klingeln wir zunächst mal bei der Hauswartsfrau«, schlug ich vor. »Dann können wir unangemeldet zu der Harris hinauffahren.«
Ich klingelte in der Wohnung der Hauswartsfrau. Nidhts rührte sich. Ich probierte es noch zweimal.
Ein Pressewagen fuhr vor und hielt. Ein Fotograf mit einer schweren Kameraausrüstung sprang heraus und rannte zur Haustür, gefolgt von einem bulligen Individuum, dem man den Lokalreporter schon von weitem ansah. Sie rüttelten an der verschlossenen Haustür. Der Reporter sah mich an. »Wohnen Sie hier?«
»Nein.«
Der Fotograf sagte: »Klingel mal bei der Hauswartsfrau, Peter.«
Sie klingelten. Als nichts passierte, drückte der Reporter aufs Geratewohl ein paar Klingelknöpfe. Nach einer Weile hatten sie Glück, und die Haustür öffnete sich summend. Sie traten ein, und Bertha Cool und ich tappten hinter ihnen her.
»Welche Nummer hat das Apartment?« fragte der Fotograf.
»309«, sagte der Reporter.
Ich spürte Berthas Blick, stieß sie in die Rippen und flüsterte: »Hast du das gehört?«
»Hm«, knurrte sie.
Wir zwängten uns zu viert in den Lift. Den meisten Platz beanspruchte Bertha. Der Lift keuchte nach oben.
Im dritten Stock wimmelte es vor Menschen. Ein Polizist hielt die Zeitungsleute an. Die zückten ihre Presseausweise und durften passieren. Dann drängte sich der Hüter des Gesetzes zu uns durch. »Was wollen Sie?« fragte er.
Ich sah ihn verblüfft an. »Nichts.«
»Dann hauen Sie ab. Sie stören.«
»Ich suche die Hauswartsfrau. Ist sie hier oben?«
»Woher soll ich das wissen? Vermutlich.«
»Ich will nämlich ein Apartment mieten.«
»Dann kommen Sie am besten in zwei Stunden noch mal wieder.«
»Was ist denn hier passiert?« fragte ich.
»Mord«, blaffte er. »Eine Frau in 309. Kennen Sie sie?«
Ich sah Bertha an. »Kennst du hier jemanden, Bertha?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Also los, verziehen Sie sich«, sagte der Polizist.
»Aber können wir nicht die Hauswartsfrau...«
»Nein. Ich weiß nicht, wo sie steckt. Wahrscheinlich wird sie gerade vernommen. Los — ziehen Sie endlich Leine.«
Wir gingen zurück zum Lift. »Da ist uns also jemand zuvorgekommen«, bemerkte ich.
Bertha schwieg. Wir stiegen in die Firmenkutsche.
»Ich werde mich ins Büro verziehen und ein bißchen Denksport treiben«, meinte ich. »Soll ich dich in deiner Wohnung absetzen?«
»Nein, mein Kleiner. Ich komme mit und helfe dir beim Denksport.«