7
Es war schon weit nach Mitternacht, als ich in Santa Carlotta einrollte. Die Nacht war kalt geworden, und ich genehmigte mir in einer Raststätte eine Tasse heiße Schokolade. Von dort rief ich bei Dr. Alfmont an.
Das Telefon schlug mindestens ein halbes dutzendmal an, ehe sich eine verschlafene Frauenstimme meldete.
»Ich muß sofort Dr. Alfmont sprechen. Es ist dringend.«
»Haben Sie es schon in seiner Praxis versucht?«
»In seiner Praxis?« echote ich überrascht
»Ja. Dort werden Sie ihn wohl finden. Er wurde kurz vor Mitternacht dorthin gerufen und ist noch nicht wieder zurück.«
»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. In seiner Praxis hätte ich ihn jetzt bestimmt nicht mehr erwartet.«
Die Frau versuchte mühsam ihre Schlaftrunkenheit abzuschütteln. »Das macht gar nichts. Wollen Sie etwas hinterlassen, falls Sie ihn dort verfehlen?«
»Sagen Sie ihm bitte, daß ich in einer Viertelstunde noch einmal anrufe, falls ich ihn in seiner Praxis nicht erreiche. Und haben Sie vielen Dank.«
»Gern geschehen«, sagte sie freundlich.
Ich hängte auf, fuhr zu Dr. Alfmonts Praxis und dachte mir, diese Frauenstimme wäre es entschieden wert, daß man Stammpatient bei Dr. Alfmont wurde.
Im Haus brannte Licht. Ich fuhr mit dem Lift hoch. Auch hinter der Tür zu Dr. Alfmonts Wartezimmer drang ein Lichtschein hervor.
Ich drückte die Klinke herunter. Die Tür war abgeschlossen. Ich rüttelte weiter. Dann hörte ich drinnen Schritte. Dr. Alfmont stand vor mir und starrte mich an. Über sein Gesicht gingen nacheinander Überraschung, Verblüffung und nackte Angst. Die Tür zu seinem Sprechzimmer war fest geschlossen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Doktor. Aber es hat sich etwas sehr Schwerwiegendes ereignet.«
Er warf einen gehetzten Blick auf die geschlossene Tür.
»Wir können auch hier reden«, sagte ich, trat noch einen Schritt näher und fragte mit gedämpfter Stimme: »Wissen Sie, was heute nachmittag vorgefallen ist?«
Er zögerte einen Augenblick. Dann drehte er sich um. »Ich glaube doch, es ist besser, wenn Sie hereinkommen.« Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer.
In einem bequemen Sessel am Fenster saß Bertha Cool. Als ich hereinkam, machte sie ein ziemlich dummes Gesicht.
»Das ist ja eine bezaubernde Überraschung«, sagte ich.
Inzwischen war Dr. Alfmont ebenfalls eingetreten und hatte die Tür geschlossen.
»Du bist ganz schön reiselustig, Donald«, meinte Bertha.
»Wie lange bist du schon hier?« fragte ich.
»Etwa eine Stunde.«
Dr. Alfmont setzte sich an seinen Schreibtisch. »Es ist furchtbar. Einfach furchtbar.«
Ich hielt Bertha mit den Augen fest. »Wieviel hast du ihm erzählt?«
»Ich habe ihm die Lage erklärt.«
»Einen Moment bitte.« Ich stand auf, machte einen Rundgang durch das Sprechzimmer, sah hinter Bilder und Bücherborde und hob die gerahmten Fotos von der Wand.
»Na hören Sie mal...«, fing Dr. Alfmont an. Ich legte warnend einen Finger an die Lippen und zeigte auf die Wand.
Bertha hatte inzwischen kapiert. »Also da brat mir doch...« Mehr brachte sie nicht heraus.
Ich beendete meine Durchsuchung schweigend. Schließlich sagte ich: »Ich finde nichts. Was natürlich nicht bedeutet, daß die Luft rein ist. Sie müssen sich vorsehen, besonders mit dem da.« Ich zeigte auf das Telefon.
Dr. Alfmont stand halb auf und sank dann wieder in seinen Sessel zurück. Die neue Entwicklung hatte ihn offensichtlich völlig überrannt. »Bist du fertig?« fragte ich Bertha.
»Ja.« Sie fügte lächelnd hinzu: »Ein sehr befriedigender Abschluß, was uns betrifft, Donald.«
»Du hast alles gesagt, was du sagen wolltest?«
»Ja.«
»Um so besser. Gehen wir.«
»Ich verstehe leider kein Wort«, sagte Dr. Alfmont schwach.
»Ich bin in ungefähr zehn Minuten wieder zurück. Würden Sie auf mich warten?«
»J—ja, natürlich.«
Ich nickte Bertha zu. Sie musterte mich ziemlich nachdenklich, rappelte sich auf und streckte Dr. Alfmont die Hand hin. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das kriegen wir schon wieder hin«, sagte sie.
»Schön wär’s ja.«
»Es kann auch eine Viertelstunde dauern«, sagte ich noch zu Dr. Alfmont und ging mit Bertha. Im Lift fragte ich: »Wie bist du hergekommen?«
»Ich habe mir einen Wagen mit Fahrer gemietet.«
»Wir reden in unserer Firmenkutsche weiter. Sie steht unten.«
Wir gingen über den dunklen Bürgersteig. Der Wagen neigte sich gefährlich zur Seite, als Bertha sich in die Polster sinken ließ. Ich startete, fuhr ein paar Ecken weit und parkte dann vor einer Imbißstube. Dort fielen wir, das hoffte ich jedenfalls, nicht weiter auf. »Was hast du ihm gesagt?« wollte ich wissen.
»Genug, um ihm klarzumachen, daß er ohne uns auf keinen grünen Zweig kommt.«
»Wo steht dein Wagen?«
»Einen Block von der Praxis entfernt«, sagte sie. »Ich hab’ den Fahrer absichtlich nicht vor dem Haus warten lassen.«
Ich startete.
»Nun leg schon los, Donald.«
»Es hat nicht mehr viel Zweck«, sagte ich. »Die Sache ist jetzt schon restlos verkorkst.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe ihm erzählen wollen, daß es einen Zeugen gibt, der einen Mann aus Apartment 309 kommen sah. Daß wir kombiniert haben, wer dieser Mann war, gedachte ich ihm nicht zu verraten. Das hätte sein Gewissen ihm schon gesagt.«
»Wenn er es selbst weiß, schadet es doch nichts, wenn wir ihm zu verstehen geben, daß wir auch eingeweiht sind.«
»Der Unterschied ist rein juristischer Art«, sagte ich. »Als Detektei sind wir durchaus berechtigt, den Auftrag eines Klienten auszuführen — es sei denn, wir wüßten, daß er sich irgendwelcher kriminellen Delikte schuldig gemacht hat. In diesem Falle ist Schweigen Gold. Jetzt kennst du wahrscheinlich die ganze Geschichte.«
»Ja. Er hat sie besucht, weil er feststellen wollte, in wessen Auftrag sie handelte und was sie entdeckt hatte. Er hoffte wohl, ihr gewisse Informationen abkaufen zu können.«
»Und als er sie fand, war sie tot«, stellte ich fest.
»Das sagt er...«
»Hier ist dein Wagen«, sagte ich zu Bertha. »Am besten fährst du gleich zurück. Ich bin morgen früh um halb acht zum Frühstück verabredet. Ich bezweifle, ob ich das schaffe. Sie ist in meiner Pension, Zimmer 32. Hol du sie zum Frühstück ab. Beschäftige dich mit ihr. Sag ihr, sie soll das Zimmer aufgeben. Besorge ihr ein Apartment. Der Bezirksanwalt wird sie nach ihrer Adresse fragen. So, wie jetzt die Dinge liegen, macht es sich nicht besonders gut, wenn sie sich in meiner Pension aufhält.«
Jetzt war Bertha die Selbstsicherheit doch einmal gründlich vergangen. »Donald, du mußt mit zurückfahren«, flehte sie. »Ich werde mit diesem Mädchen doch nicht fertig. Für dich tut sie alles, denn sie ist ja in dich verknallt, während ich — große Güte, Donald, ich hatte ja keine Ahnung, in was ich da hineingerate.«
»Aber jetzt siehst du, was los ist, nicht?«
»Ja. Jetzt schon...«
»Ich habe hier zu tun.«
»Was hast du vor?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck, wenn ich dir was erkläre. Je mehr du weißt, desto mehr redest du, und je mehr du redest, desto größer wird die Gefahr für uns. Wir werden zu Mitschuldigen. Ich hätte dich von Anfang an raushalten sollen, aber du wolltest ja unbedingt mitmischen.«
»Er hat Geld, Donald. Ich habe einen Scheck über dreitausend Dollar von ihm bekommen.«
»Von mir aus kann er dir einen Scheck über zehntausend Dollar geben«, sagte ich. »Du steckst in der Tinte. Wenn im Sprechzimmer ein Tonband versteckt war, ist es aus. Sie brauchen nur deine Unterhaltung mit ihm vor Gericht abspielen zu lassen, und du kannst dir ausrechnen, wann du deine Lizenz loswirst. Und wann du ins Kittchen wanderst. Aber mich nimmst du auf diesen Ausflug nicht mit — falls dich das tröstet.«
Das ging ihr doch unter die Haut. »Bitte, Donald, komm mit zurück! Du kannst doch heute nacht hier nichts mehr tun. Laß den Firmenwagen hier stehen. Du kannst mit mir zurückfahren. Es ist ein sehr bequemer, geräumiger Wagen. Dann kannst du morgen früh Marian zum Frühstück ausführen und ihr ein nettes Apartment irgendwo besorgen.«
»Nein. Das Apartment besorgst du. Und außerdem ein Hotelzimmer. Sie soll einmal täglich im Hotel die Post abholen. Den Rest des Tages bleibt sie in ihrem Apartment.«
»Warum?« wollte Bertha wissen.
»Weil es nicht gut ist, wenn man sie ohne weiteres erreichen kann. Es ist doch so: In Santa Carlotta herrschen Korruption und Unterweltmethoden. Alfmont ließ sich nicht bestechen. Er hat sich als Bürgermeisterkandidat aufstellen lassen. Wenn er gewählt wird, fängt in der Stadt ein großes Saubermachen an. Das schmeckt natürlich vielen Bürgern nicht. Besonders die Herren von der Polizei dürften eine Veränderung der augenblicklichen Zustände sehr, sehr ungern sehen. Wenn sie den alten Skandal um Dr. Alfmont erfolgreich ausspielen können, wird er wahrscheinlich gar nicht gewählt, oder er zieht seine Kandidatur zurück. Sollte er doch gewählt werden, haben sie ein wunderbares Druckmittel gegen ihn. Sie sägen schon eine Weile an seinem Ast. Plötzlich gerät er nun auch noch in einen Mordfall hinein. Er konnte es sich nicht leisten, die Polizei zu benachrichtigen, weil die Presse fragen würde, was er in der Wohnung eines Animiermädchens zu suchen hatte. Unter Umständen würde auch ihre Reise nach Oakview herauskommen. Zufällig lief er auf dem Gang Marian über den Weg. Das war sein Pech. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß das Morddezernat nicht auf die Idee kommt, eine Querverbindung nach Santa Carlotta herzustellen. Und wir müssen verhindern, daß Marian Dunton je Dr. Alfmont zu Gesicht bekommt.«
»Das dürfte nicht so schwer sein«, sagte sie.
Ich lachte. »Du erinnerst dich an den Mann, der mich zusammengeschlagen und aus Oakview hinauskomplimentiert hat?«
»Ja...«
»Er heißt John Harbet und war ein Gönner von Evaline Harris. Er ist mit dem Geschäftsführer der Blauen Grotte bekannt. Außerdem ist er Leiter der Sittenpolizei in Santa Carlotta... Genügt das?«
Während sie diese Neuigkeit verdaute, öffnete ich die Tür der Firmenkutsche. »Da drüben steht dein Wagen. Gute Fahrt, und vergiß nicht, Marian zum Frühstück abzuholen. Und noch eins: Ich hab’ ihr eingeschärft, sie sollte die Unschuld vom Lande spielen. Das tut sie auch, weil sie einsieht, daß es sein muß. Aber sie tut nur so. Sie ist ein intelligentes Mädchen. Und nett.«
Bertha Cool griff nach meinem Arm. »Bitte, Kleiner, komm mit zurück! Ich brauche dich.«
»Jeden Augenblick kann eine Polizeistreife hier aufkreuzen und uns mit Taschenlampen ins Gesicht leuchten, um zu sehen, was für Unfug wir treiben. Möchtest du das?«
»Um Himmels willen«, wehrte Bertha entsetzt ab.
Sie kletterte aus dem Wagen wie von tausend Wilden gescheucht. Der Fahrer ihres Autos rutschte hinter dem Steuer hervor und hielt ihr den Schlag auf. Sie sah mich noch einmal bittend an, dann sank sie in die Polster. Ausnahmsweise wirkte sie nicht selbstsicher und rücksichtslos, sondern wie eine ganz normale, etwas zu füllige Frau in den Fünfzigern, die völlig erledigt ist.
Ich fuhr einmal tun den Block, stellte den Wagen vor Dr. Alfmonts Praxis ab und ging hinauf. Er wartete.
»Sie wissen zu viel, und wir wissen zu viel«, begann ich. »Bertha war zu gesprächig. Jetzt rede ich — aber nicht hier. Fahren Sie mich ein bißchen spazieren.«
Wortlos knipste er das Licht aus, schloß ab und fuhr mit mir nach unten. Sein Wagen stand vor dem Haupteingang. »Wohin?« fragte er mit seiner farblosen Stimme.
»Irgendwohin, wo man in Ruhe reden kann und wo man uns nicht sieht.«
Er war nervös. »Die Polizeistreifen interessieren sich besonders für geparkte Autos.«
»Dann parken Sie eben nicht.«
»Beim Fahren kann ich nicht reden.«
»Und bei Ihnen zu Hause?«
»Ja, reden kann man dort schon...«
»Na also! Nichts wie hin — das heißt, wenn es Ihre Frau nicht stört.«
»Nein, nein. Durchaus nicht.« Er war hörbar erleichtert.
»Weiß Ihre Frau, in was für einer scheußlichen Situation Sie stecken?« fragte ich.
»Sie weiß alles.«
»Ich will ja nicht indiskret sein — aber heißt Ihre Frau mit Vornamen Vivian?«
»Ja.«
Danach schwiegen wir beide. Er fuhr über die Hauptstraße und bog nach links ab. Wir kamen zu einem eleganten Villenviertel mit modernen Häusern im maurischen Stil: weiße Stuckwände, malerisch rote Ziegeldächer, viele Hecken und Bäume, die fast schwarz wirkten, soweit das Licht der Straßenlampen sie nicht erreichte.
Wir bogen in die Einfahrt ein und rollten vor einer Garage in aufwendigem Stuckstil aus. Dr. Alfmont schaltete den Motor und die Scheinwerfer ab. »Da sind wir.«
Ich stieg aus. Alfmont ging mir voran zum Haus. Wir betraten die Diele. Die mir schon bekannte Frauenstimme fragte: »Charles?«
»Ja. Ich habe einen Besucher mitgebracht.«
»Es hat jemand angerufen, ein Mann, und...«
»Ich weiß. Das ist unser Besucher«, sagte Dr. Alfmont. »Bitte hier herein, Mr. Lam.«
Er führte mich in ein offensichtlich teuer, aber geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer mit farblich harmonisch abgestimmten Vorhängen, Teppichen und Polstermöbeln.
»Charles, kann ich dich einen Augenblick sprechen?« fragte die Frauenstimme.
Dr. Alfmont entschuldigte sich und verließ das Zimmer. Ich hörte Sie etwa vier oder fünf Minuten miteinander sprechen. Dann stellte sie eine Frage. Es war eine Bitte, auf die er ablehnend, wenn auch freundlich antwortete.
Dann traten sie beide ein. Ich stand auf. Dr. Alfmont sagte: »Darf ich dir Mr. Lam vorstellen, Liebling. Mr. Lam, das ist Mrs. Alfmont.«
Die Betonung der letzten Worte war unüberhörbar.
Sie hatte noch immer eine fabelhafte Figur, mochte um die Vierzig sein, bewegte sich aber mit der Leichtigkeit und Grazie eines jungen Mädchens. Die braunen Augen blickten ruhig und offen. Ich verbeugte mich und murmelte ein paar passende Worte.
Sie gab mir die Hand. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das gut zu ihrer Haarfarbe paßte und ihre Figur voll zur Geltung brachte. Offensichtlich hatte sie sich auf Grund meines Telefonanrufes entschlossen, aufzustehen und sich anzuziehen. Ich hätte wetten mögen, daß sie schon im Bett gelegen hatte, als ich anrief.
»Bitte setzen Sie sich doch, Mr. Lam«, sagte sie.
Wir alle setzten uns. Alfmont machte einen nervösen Eindruck.
»Sie sind Detektiv, wie ich höre«, begann Mrs. Alfmont.
»Ganz recht.«
Ihre Stimme war dunkel und melodisch und ohne eine Spur von Erregung. Bei Dr. Alfmont hatte man immer den Eindruck, daß er jedes Wort auf die Goldwaage legte, um sich nur ja nicht in einem unbedachten Augenblick zu verraten. Sie strahlte die Gelassenheit eines Menschen aus, der nie versucht hat, sich etwas vorzumachen.
»Gib mir eine Zigarette, Charles«, sagte sie zu ihrem Mann, und zu mir gewandt: »Sie brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Mr. Lam. Ich weiß Bescheid.«
»Gut. Dann können wir ja offen reden.«
Dr. Alfmont gab ihr eine Zigarette und bot mir auch eine an, die ich dankend annahm. Dann wandte er sich an seine Frau:
»Mrs. Cool war bei mir in der Praxis, Liebling. Mr. Lam kam nicht mit ihr zusammen. Er kam...«
»Ich kam auf eigene Faust«, unterbrach ich.
Dr. Alfmont nickte.
Seine Frau hatte mich ruhig und ernsthaft gemustert. Jetzt sagte sie: »Erzählen Sie, Mr. Lam.«
»Ich nehme an«, fuhr ich fort, »daß Bertha Cool die Unterhaltung im wesentlichen allein bestritten hat.«
Er nickte.
Ich sagte:, »Bertha hat Ihnen die Lage in den schwärzesten Farben gemalt, damit Sie noch ein bißchen mehr Geld herausrücken, ja?«
Er überlegte. »Darauf lief es ungefähr hinaus«, räumte er schließlich ein.
»Nun, das ist ihre Sache. Wenn sie gute Bedingungen ausgehandelt hat, um so besser. Meine Sache ist es, Sie aus Ihrer unangenehmen Lage zu befreien. Das kann ich nur, wenn Sie jetzt offen mit mir reden.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Was Sie im schlimmsten Fall zu erwarten haben. Und was ich im schlimmsten Fall zu erwarten habe.«
Er streifte mit einem raschen Seitenblick seine Frau.
»Ich bin Vivian Carter«, sagte sie. »Kinder haben wir nicht. Wir sind nicht rechtmäßig verheiratet, obgleich vor etwa zehn Jahren in Mexiko eine Trauungszeremonie vollzogen worden ist.«
»Erzählen Sie mir doch mal Genaueres über den Scheidungsprozeß«, sagte ich zu Alfmont.
»Was wollen Sie da wissen?«
»Alles.«
Er legte die Fingerspitzen zusammen. »Es begann damit, daß meine erste Frau sich in der Nachkriegszeit von dem hektischen Wirbel mitreißen ließ, der weite Kreise der Gesellschaft erfaßte. Die freigesetzten Emotionen schwemmten alle Konventionen hinweg. Es...«
Ich stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Ich glaube«, sagte ich zu seiner Frau, »das sollten Sie lieber übernehmen.«
Sie nahm den Faden der Erzählung ganz unbefangen auf. »Ich war Dr. Lintigs Sprechstundenhilfe und verliebte mich in ihn. Er wußte es zunächst noch nicht, und ich war fest entschlossen, daß er es nie erfahren sollte. Ich wollte Amelia — das heißt Mrs. Lintig — die Stellung der Ehefrau und die Zuneigung ihres Mannes ja nicht stehlen. Ich wollte nur in seiner Nähe sein. Ich hielt mich sehr zurück.«
Dr. Alfmont nickte nachdrücklich.
»Ich wollte ihm dienen und helfen. Damals war ich sehr jung und sehr dumm. Heute weiß ich natürlich, daß so etwas nie gutgeht. Aber damals, vor einundzwanzig Jahren, wußte ich es nicht. Oakview wuchs. Viel Geld war im Umlauf. Es war, wie Charles schon gesagt hat, eine Periode hektischer Umwälzungen, und die Stadt befand sich in einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Bevölkerung wuchs. Amelia stürzte sich mit Begeisterung in das hektische Leben. Sie fing an zu trinken und gehörte bald zu einer Clique, die man als Jet Set auf Provinzebene bezeichnen könnte. Die Moralbegriffe hatten sich völlig gewandelt. Es wurde getrunken, geliebt und krakeelt. Charles machte sich nichts aus diesem Betrieb. Für Amelia gab es gar nichts Schöneres.
Dann begann sie, sich mit anderen Männern einzulassen. Charles wußte das nicht. Aber seine Geduld war ohnehin am Ende. Er wollte eine Scheidung. Sie erklärte sich damit einverstanden und schlug als Scheidungsgrand seelische Grausamkeit vor. Er reichte die Scheidung ein. Aber dann schoß Amelia quer. Fairneß war nie ihre starke Seite. Sie wartete, bis ich nach San Franzisko gefahren war, um etwas für den Doktor zu erledigen, und reichte dann eine Gegenklage ein, in der sie mich als Mitschuldige benannte. Dadurch, daß sie ihm zuvorkam, hoffte sie wohl, ihres Mannes Vermögen zu bekommen, um dann den Mann heiraten zu können, in den sie damals gerade verliebt war.«
»Wer war das?« fragte ich.
Sie sah Dr. Alfmont fragend an.
Er nickte. »Steve Dunton«, sagte sie, »ein junger Journalist, damals Chefredakteur der Stimme in Oakview.«
Ich machte ein möglichst ausdrucksloses Gesicht. »Ist er das immer noch?«
»Ich glaube schon. Allerdings sind wir über die Ereignisse in Oakview nicht mehr so recht auf dem laufenden. Seine Nichte soll jetzt bei ihm in der Redaktion arbeiten.«
»Das ist das Mädchen, dem ich auf dem Gang in dem Apartmenthaus über den Weg gelaufen bin«, ergänzte Dr. Alfmont.
Ich streifte die Asche von meiner Zigarette. »Weiter, bitte.«
»Damals war wirklich nicht das geringste zwischen uns vorgefallen«, fuhr Mrs. Alfmont ein wenig bitter fort. »Charles hatte keine Ahnung von meinen Gefühlen. Bei Amelia war es, glaube ich, eine Kurzschlußreaktion. Durch die wilden Partys und Trinkereien war sie wirklich unberechenbar geworden.
Nachdem sie die Gegenklage eingereicht hatte, reiste Charles auf dem schnellsten Wege nach San Franzisko, um alles zu klären. Ich begriff sofort, daß er in einer scheußlichen Lage war. In Oakview würden die Gerüchte nur so blühen. Der Mann, der das größte Interesse an Mrs. Lintigs Scheidung haben mußte, hatte die Lokalzeitung in der Hand. Daß er alles, was Charles in der Beweisführung belasten konnte, herausstellen würde, war klar. Natürlich war es das Dümmste, was Charles hatte tun können, sofort nach San Franzisko zu fahren. Trotzdem hätten wir uns zu diesem Zeitpunkt immer noch in Oakview den Angriffen stellen können, wenn nicht...« Sie unterbrach sich.
»Wenn ich nicht eine Entdeckung gemacht hätte«, nahm Dr. Alfmont den Faden auf. »Als Amelias Lebenswandel immer wilder wurde, war meine Zuneigung zu ihr erloschen. Kaum merklich hatte ich mich in Vivian verliebt. Das wurde mir klar, als ich ihr in San Franzisko gegenüberstand. Danach brachte ich es einfach nicht fertig, nach Oakview zurückzukehren, wo man ihren Namen durch den Schmutz ziehen würde. Wir wußten jetzt, daß wir uns liebten und daß wir zusammenbleiben wollten. Alles andere war nicht mehr wichtig. Wir waren jung, konnten noch einmal von vorn anfangen. Wahrscheinlich war es dumm von mir — aber letzten Endes war es doch wohl so das Beste.
Ich rief Amelia an und fragte nach ihren Forderungen. Ihre Antwort war sehr einfach. Sie verlangte alles, was ich besaß, war bereit, mir dafür meine Freiheit zu schenken. Alles, was mir blieb, waren einige tausend Dollar in Reiseschecks, von denen sie nichts wußte, weil ich dieses Geld nicht auf der Bank hatte. Der plötzliche Boom in Oakview war mir unheimlich gewesen.«
»Und dann?« fragte ich.
»Das ist praktisch alles. Ich nahm sie beim Wort. Sie sagte, sie würde die Scheidung betreiben, und ich könnte meinen Namen ändern und mir anderswo eine Praxis einrichten. Wenn dann die Scheidung durch war, könnte ich Vivian heiraten. Ich erklärte mich mit ihren Bedingungen einverstanden.«
»Aber dann kam es anders...«, meinte ich.
»Ja. Näheres weiß ich auch nicht. Amelia und Steve Dunton sollen sich zerstritten haben. Amelia verließ Oakview und verschwand spurlos.«
»Warum haben Sie sich nicht anderswo um die Scheidung bemüht?« fragte ich.
»Weil sie mich aufgespürt hat«, sagte er. »Sie schrieb, daß sie nie zulassen würde, daß ich Vivian zu einer ehrlichen Frau machte. Sie drohte mit ihrem Erscheinen für den Fall, daß ich es wagen sollte, Vivian doch zu heiraten. Dann würde sie alles aufdecken. Inzwischen lebten Vivian und ich als Mann und Frau zusammen. Es hätte natürlich einen unerhörten Skandal gegeben.«
»Kannte Mrs. Lintig Ihren Aufenthaltsort?«
»Ja.«
»Warum haben Sie es nicht darauf ankommen lassen?«
»Das war unmöglich. Inzwischen lebten wir schon ein Jahr als Ehepaar hier. Ich hatte mir eine recht gute Praxis aufgebaut, meine Patienten waren achtbare, konservative Bürger. Die Feststellung, daß wir nicht verheiratet waren, hätte meinen Ruin bedeutet.«
»Und dann?« fragte ich.
»Viele Jahre vergingen. Wir hörten nichts mehr von ihr, und es gelang mir auch nicht, sie aufzuspüren. Langsam kam ich zu der Überzeugung, daß sie entweder nicht mehr am Leben war oder die Scheidung vollzogen und wieder geheiratet hatte. Vor zehn Jahren machten Vivian und ich eine kurze Reise über die Grenze nach Mexiko und ließen uns dort trauen. Es war — dachte ich — besser als gar nichts.«
»So weit, so gut. Nun aber spielt die Politik hinein.«
»Die Stadt schadet sich selbst ungeheuer, wenn alles so weiterläuft wie bisher«, sagte Dr. Alfmont. »Polizei und Verwaltung sind korrupt. Wir sind eine reiche Stadt mit florierender Wirtschaft und einer lebhaften Fremdenverkehrsindustrie. Die Touristen stoßen auf Schritt und Tritt auf Gaunerei, Betrug und Bestechung. Von diesen Zuständen hatten die Einwohner langsam genug. Sie wollten eine Säuberungsaktion. Ich war maßgeblich an der Organisation eines Bürgerforums beteiligt gewesen, und dessen Mitglieder stellten mich als Kandidaten für die Bürgermeisterwahl auf. Ich dachte kaum mehr an diese alte Geschichte. Deshalb erklärte ich mich einverstanden.«
»Aber?«
»Aus heiterem Himmel kam ein Brief von ihr. Wenn ich nicht gewisse Bedingungen erfüllte, sagte sie, würde sie meine Wahl torpedieren. Dann würde sie im letzten Augenblick, wie sie sich ausdrückte, die Bombe platzen lassen. Sie warf mir vor, ich hätte sie ins Nichts gestoßen, durch meine Schuld sei sie gesellschaftlich und finanziell ruiniert. Aber das stimmt ja gar nicht. Ich hatte mich von meinem Vermögen getrennt, ich hatte...«
»Beruhige dich, Charles«, unterbrach ihn Mrs. Alfmont. »Mr. Lam geht es um die Fakten.«
»Die Fakten waren, daß sie diesen Brief geschrieben hat.«
»Und ihre Bedingungen?«
»Die hat sie nicht genannt.«
Ich rauchte schweigend den Rest meiner Zigarette, drückte den Stummel aus und fragte: »Hat sie eine Adresse angegeben, unter der Sie sich mit ihr in Verbindung setzen konnten?«
»Nein.«
»Was wollte sie?«
»Daß ich mich aus dem Wahlkampf zurückziehe.«
»Und das haben Sie nicht getan?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es war zu spät. Kurz bevor ich den Brief bekam, hatte die Zeitung der Gegenseite eine Verleumdungskampagne gestartet mit dunklen Andeutungen über meine Vergangenheit. Meine Freunde verlangten, ich sollte die Zeitung verklagen. Ich war in einer sehr unangenehmen Lage.«
»Sind Sie sicher, daß der Brief, den Sie erhielten, von Ihrer Frau stammte?«
»Ja. Natürlich hat sich die Handschrift etwas geändert. Das ist ja verständlich nach einundzwanzig Jahren. Aber es besteht kein Zweifel. Ich habe die Schriften sehr gründlich verglichen.«
»Wo sind die Briefe?« fragte ich.
»Ich habe sie.«
»Ich will sie sehen.«
Er sah seine Frau an. Sie nickte. Er stand auf. »Es dauert ein paar Minuten.«
Ich hörte, wie er langsam die Treppe hinaufging, und wandte mich an Mrs. Alfmont. Sie sah mich ruhig an.
»Können Sie uns helfen?« fragte sie.
»Das weiß ich noch nicht. Wir tun, was wir können.«
»Das ist unter Umständen nicht genug.«
»Ich weiß.«
»Hätte es Sinn, wenn ich jetzt von der Bildfläche verschwinden würde?«
Ich überlegte. »Nein«, sagte ich schließlich. »Das hätte keinen Sinn.«
»Sie meinen also, ich sollte bleiben und mich stellen?«
»Ja.«
»Was aus mir wird, ist gleichgültig. Aber für Charles ist es so wichtig.«
»Ich weiß.«
»Wenn bekannt wird, was wirklich geschehen ist«, sagte sie, »würde die öffentliche Meinung...«
»Es geht jetzt nicht mehr um die öffentliche Meinung«, sagte ich, »nicht um einen Skandal oder ein Skandälchen. Es geht nicht um ein außereheliches Verhältnis. Es geht um einen Mord.«
»Ich verstehe«, sagte sie unbewegt.
»Ich habe Grund zu der Annahme, daß Evaline Harris von einem Mann namens John Harbet nach Oakview geschickt worden ist.«
Ihre Augen waren jetzt wachsam. »Meinen Sie Sergeant Harbet von der Sittenpolizei?«
»Ja.«
»Weshalb glauben Sie das?«
»Er war in Oakview. Er hat mich zusammengeschlagen und aus der Stadt gefahren wie ein Bündel Lumpen.«
»Warum?«
»Das weiß ich eben nicht. Wenn ich herausbekomme, weshalb er es getan hat und weshalb er gerade diese Methode gewählt hat, besitze ich eine wertvolle Waffe.«
Sie runzelte die Stirn. »Für Charles ist es grausam. Er ist völlig verzweifelt. Seine Ruhe und Gelassenheit sind nur Maske. Ich habe Angst um ihn.«
»Sie sollten sich nicht allzu große Sorgen machen. Überlassen Sie alles mir.«
Schritte kamen die Treppe herunter. Dr. Alfmont betrat mit zwei Briefen das Zimmer. Der eine stammte aus dem Jahr 1951 und war auf einen Briefbogen des Bickmore Hotel in San Franzisko geschrieben. Der andere war erst zwei Wochen alt und in Los Angeles abgestempelt. Beide schienen von der gleichen Hand zu stammen.
»Haben Sie versucht, Ihre erste Frau im Bickmore Hotel zu erreichen, Doktor?« erkundigte ich mich.
»Ja — ich habe ihr sofort geschrieben. Der Brief kam zurück. Eine Mrs. Lintig sei dort unbekannt.«
Ich betrachtete den Brief eine Weile. Schließlich fragte ich: »Wie war ihr Mädchenname?«
»Sellar. Amelia Rosa Sellar.«
»Lebten ihre Eltern noch?«
»Nein. Sie hatte überhaupt keine Verwandten. Als Kind hatte sie bei einer Tante an der Ostküste gelebt, aber die war gestorben, als Amelia siebzehn war. Seitdem hatte sie sich allein durchschlagen müssen.«
»Sie haben vermutlich keine allzu großen Anstrengungen gemacht, sie aufzuspüren, als Sie jenen ersten Brief bekamen?«
»Ich habe mich jedenfalls nicht an eine Detektei gewandt. Als der Brief zurückkam, nahm ich an, sie hätte den Hotelbriefbogen nur benutzt, um mich irrezuführen.«
»Damals hat sie sich nicht versteckt gehalten, weil sie Sie in der Hand hatte«, bemerkte ich. »Es ging ihr nicht mehr um Geld, sondern nur noch darum, Mrs. Vivian Carter nicht zu Mrs. Alfmont werden zu lassen.«
»Warum hat sie dann aber keine Adresse angegeben?«
Ich überlegte. »Weil sie etwas vor Ihnen zu verbergen hatte — etwas, was Ihnen zu der stärkeren Position verholfen hätte. Und an diesem Punkt werden wir den Hebel ansetzen.«
»Charles — ich glaube, er hat recht«, sagte Mrs. Alfmont hoffnungsvoll.
»Dieser Frau traue ich alles zu«, sagte Alfmont. »Sie war in den letzten Jahren unserer Ehe von einer geradezu krankhaften Egozentrik. Alles mußte sich um sie drehen. Glücklich war sie nur, wenn irgendein männliches Wesen ihr zu Füßen lag. Ständig mußte man sie in Atem halten. Vor der Langeweile, dem Alltag, der Konvention hatte sie panische Angst.«
»Die wissenschaftlichen Vokabeln können Sie sich sparen. Ich kenne den Typ.«
»Sie ist egoistisch, verschlagen, unwahrhaftig und unberechenbar«, erklärte Alfmont. »Um zu ihrem Ziel zu kommen, ist ihr jedes Mittel recht.«
Ich stand auf. »Ich nehme diese Briefe mit. Gibt es einen durchgehenden Nachtzug von hier nach San Franzisko?«
»Jetzt nicht mehr«, sagte er.
»Einen Bus?«
»Ich glaube schon.«
»Von nächtlichen Autofahrten hab’ ich eine Weile genug«, sagte ich.
Mrs. Alfmont schüttelte mir herzlich die Hand. »Ihr Besuch hatte einen ernsten Anlaß«, sagte sie. »Trotzdem fühle ich mich irgendwie ruhiger. Mir geht es nur um Charles. Ich selber bedaure nichts. Ich liebe ihn — auch ohne Trauschein. Wenn es zu einem Skandal kommt, so haben wir immer noch einander. Für den Mord allerdings — ja, für den Mord sind Sie zuständig, Mr. Lam.«
»Ja, für den Mord bin ich zuständig«, wiederholte ich resigniert.