9
Ich drückte mich eine Viertelstunde vor dem Apartmenthaus herum, in dem Marian wohnte, bevor ich hineinging, um sicherzugehen, daß es nicht beobachtet wurde.
Marian öffnete; als sie mich sah, strahlte sie und fiel mir um den Hals. »Donald! Wie schön, dich zu sehen.«
Ich klopfte ihr leicht die Schulter, stieß die Tür mit dem Absatz zu und fragte: »Wie geht’s denn so?«
»Prima. Alle sind so nett zu mir. Manchmal ist es mir geradezu schrecklich, daß ich ihnen nicht sage — du weißt schon...«
»Darüber laß dir keine grauen Haare wachsen. Du willst doch, daß der Mörder seine gerechte Strafe erhält, nicht?«
»Ja.«
»Wenn du ihnen die Wahrheit sagst, nimmt dich ein gerissener Verteidiger ins Kreuzverhör und bringt dich so durcheinander, daß die Jury am Ende noch glaubt, daß du den Mord begangen hast.«
»Aber — aber das ist doch unmöglich. Ich hatte doch kein Motiv.«
»Das ist wahr. Vielleicht würde man dich nicht des Mordes überführen können, aber der Schuldige würde straflos ausgehen. Setz dich. Ich muß mit dir reden.«
»Wo hast du denn gesteckt?« fragte sie. »Ich hab’ dich schrecklich vermißt, und Mrs. Cool war auch schon ganz verzweifelt. Sie ist sehr von dir abhängig. Ohne dich wäre sie verloren, glaube ich.«
»Haben sie dir schon Fotos zur Identifizierung vorgelegt?« erkundigte ich mich.
»Nein. Sie haben erst festgestellt, wer ihre Freunde waren. Mr. Ellis, der Bezirksanwalt, glaubt, daß er in vierundzwanzig Stunden genug Beweise beisammen hat, um Anklage erheben zu können.«
»Wie schön für ihn. Wo genau hast du den Mann getroffen, Marian? Im Gang?«
»Nein — nicht im Gang. Er machte gerade die Tür des Apartments hinter sich zu.«
»Du meinst, die Tür eines Apartments auf dem Gang.«
»Ich meine Apartment 309, in dem die Leiche gefunden wurde. Das weiß ich genau. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht.«
»Hat der Bezirksanwalt schon deine schriftliche Aussage?«
»Sie arbeiten gerade das Protokoll aus. Ich soll es heute am späten Nachmittag unterschreiben.«
»Komm einmal her zu mir, Marian.« Ich klopfte einladend auf die Lehne des Sessels, und sie kam sofort zu mir herüber und setzte sich. Ich legte ihr einen Arm um die Taille und nahm ihre Hand. »Würdest du etwas für mich tun?«
»Für dich würde ich alles tun, Donald.«
»Es wird nicht ganz einfach sein.«
»Wenn es für dich ist, ist es einfach.«
»Du mußt es sehr geschickt anstellen, damit es klappt.«
»Was ist es?«
»Wenn du heute nachmittag zu deinem Bezirksanwalt gehst, sag ihm, daß dir noch etwas eingefallen ist.«
»Was denn?«
»Als du zum erstenmal zu dem Haus kamst, sahst du einen Mann herauskommen. Er war etwa einsachtzig groß, hatte breite Schultern und buschige dunkle Augenbrauen in einem breiten, fleischigen Gesicht mit einem Muttermal auf der rechten Wange. Er hatte lange Arme und große Hände, und er ging sehr schnell.«
»Aber das kann ich doch jetzt nicht mehr sagen, Donald, nachdem...«
»Doch, das kannst du. Du hast dir die Sache hin und her überlegt und versucht, dir alle Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dir ist dieser Mann aufgefallen, weil er es so eilig hatte. Wenn dicke Leute schnell gehen, fallen sie besonders auf. Die Entdeckung, daß Evaline Harris tot war, ist ein großer Schock für dich gewesen. Dadurch hast du einige Einzelheiten völlig vergessen. Erst jetzt, nachdem du Ruhe zum Nachdenken hast, fallen sie dir langsam wieder ein.«
»Ja, das hat der Bezirksanwalt auch gesagt.«
»Siehst du! Diese Juristen haben viel mit Zeugen zu tun, die unter Schockeinwirkung stehen, und sie haben Verständnis für ihren Zustand.«
»Ich weiß doch nicht so recht, Donald, ob ich das fertigbringe. Es ist irgendwie unfair. Alle waren so nett zu mir. Vor Gericht müßte ich ja dann doch anders aussagen. Du willst doch nicht, daß ich einen Meineid schwöre — oder?«
»Aber versteh doch, Marian. Durch diese Aussage gewinne ich Zeit. Der Bezirksanwalt legt Wert darauf, daß du das Protokoll erst unterschreibst, wenn es alle wichtigen Fakten enthält. Wenn sich hinterher ein neuer Gesichtspunkt ergibt, ist das für einen gerissenen Strafverteidiger ein großartiger Aufhänger. Er könnte dich fragen, ob du eine Aussage zu Protokoll gegeben hast und was darin stand. Er würde verlangen, daß dieses Protokoll dem Gericht vorgelegt wird. Deshalb möchte der Bezirksanwalt erst Anklage erheben, wenn er sich davon überzeugt hat, daß du dich an alle Einzelheiten erinnert hast.«
»Dann müßte ich ja auch unterschreiben, daß ich vor dem Haus diesen Mann getroffen habe...«
»Nein, das müßtest du nicht unterschreiben. Die Zeit, die sie brauchen, um ein neues Protokoll auszuarbeiten, ist für mich sehr wertvoll. Wenn du das fertige Protokoll heute nachmittag unterschreibst, erheben sie heute abend Anklage. Wenn du aber deiner Aussage jetzt noch etwas hinzufügst, diktieren sie einen Zusatz und bitten dich, morgen zur Unterschrift zu kommen.«
Sie zögerte.
Ich seufzte hörbar. »Wenn es dir schwerfällt, müssen wir es natürlich lassen. Ich sitze in der Klemme und hatte gehofft, daß du mir vielleicht helfen könntest. Daß die Sache für dich etwas anders aussieht, habe ich mir nicht überlegt. Laß nur — da muß ich mir eben was anderes einfallen lassen.«
Ich stand auf und steuerte auf die Tür zu. Nach zwei Schritten hörte ich Marian aufspringen. In der nächsten Sekunde hing sie an meinem Hals. »Bitte, bitte geh nicht fort. Sei doch nicht so! Natürlich tue ich es für dich. Ich hab’s dir doch versprochen.«
»Ich fürchte, du bist nicht der Typ, der so was durchhält. Du tappst bestimmt in eine Falle.«
»Unsinn! Du sollst mal sehen, wie gut ich so was kann. Mr. Ellis mag mich. Er mag mich, glaube ich, sehr...«
»Magst du ihn?«
»Er ist nett.«
»Es würde mir sehr weiterhelfen, Marian.«
»Wann soll ich es tun?«
»Sofort. Zieh dich an, schnapp dir ein Taxi und fahr zum Bezirksanwalt. Sag ihm, daß dir noch etwas eingefallen ist, und erzähl deine Geschichte. Sag ihm, das müßte noch in das Protokoll.«
»Einverstanden. Kommst du mit?«
»Nein. Ich möchte nach Möglichkeit nicht auf der Bildfläche erscheinen. Sag nichts über mich.«
Sie ging zum Spiegel, kämmte sich, legte Lippenstift auf und puderte die Nase. »Fertig. Wartest du auf mich?«
»Ja.«
»Da drüben liegen ein paar Illustrierte, und...«
»Die können mich im Augenblick nicht reizen. Ich lege mich ein wenig aufs Ohr.«
»Tu das! Donald — du hast ja Nasenbluten!«
Ich holte ein sauberes Taschentuch hervor. »Ich hab’ mich gestoßen. Seitdem blutet sie buchstäblich alle Nase lang.«
Sie lachte. »Du scheinst ein unverträglicher Bursche zu sein. Erst ein blaues Auge, jetzt eine geschwollene Nase...«
Sie setzte sich einen tollen Hut mit breiter Krempe auf und schlüpfte in den Mantel.
»Wie ist es mit dem Taxi? Hast du Telefon?«
»Ja — aber ich schnappe mir an der Ecke eins.«
»Bestell es dir doch lieber«, sagte ich, »dann steht es unten, wenn du aus der Tür kommst.«
Während sie nach dem Taxi telefonierte, zog ich mir einen Stuhl als Fußstütze heran und machte es mir in dem tiefen Klubsessel gemütlich.
»Machen wir eine kleine Generalprobe«, sagte ich. »Was wirst du tun?«
»Genau das, was du mir gesagt hast.«
»Und du wirst nicht mittendrin den Faden verlieren und verraten, daß du eine eingelernte Lektion hersagst, die ich dir eingetrichtert habe?«
»Natürlich nicht.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Weil ich lügen kann, wenn es sein muß.«
»Schon Erfahrungen damit?«
»Massenhaft.«
»Das waren kleine Schwindeleien«, sagte ich. »Diesmal hast du es mit einem erfahrenen Anwalt zu tun.«
»Mr. Ellis wird mir glauben. Dadurch wird es ja gerade so schwierig. Er glaubt mir jedes Wort. Er ist schrecklich nett, Donald.«
»Möglich. Aber Anwalt bleibt Anwalt. Wenn ein Zeuge erstmal seinen Verdacht erregt hat, stürzt er sich auf ihn wie ein Terrier auf eine Ratte. Was also sagst du ihm?«
»Daß ich bei meinem ersten Besuch in dem Apartmenthaus diesen Mann herauskommen sah. Ich hatte ihn total vergessen, aber nachdem ich in Ruhe noch einmal über alles nachgedacht habe, ist mir eingefallen, daß er mir gleich irgendwie verdächtig vorkam.«
»Wie sah er aus?«
»Groß, breitschultrig, mit dicken, buschigen schwarzen Augenbrauen. Auf einer Backe hatte er ein Muttermal. Rechts, glaube ich...«
»Wodurch hat er sich verdächtig gemacht?«
»Es war kein konkreter Verdacht. Er fiel mir nur auf. Als ich dann die Leiche fand, war ich so geschockt, daß ich eine Weile an nichts anderes denken konnte.«
»Sie hatten keine Ahnung, daß ein Mord begangen worden war?« imitierte ich den Bezirksanwalt.
»Nein, natürlich nicht.«
»Woran ist er Ihnen denn aufgefallen?«
»An seinem Gang. Er war ein großer, schwerer Mann, und er ging sehr schnell, er rannte geradezu. Und vielleicht hat er sich auch noch einmal umgesehen. Jedenfalls wirkte er irgendwie verstört. Und er sah mich ganz komisch an. Direkt unheimlich.«
»Warum haben Sie mir das nicht schon eher erzählt?«
Sie sah mich aus großen, unschuldigen Augen an. »Ich sagte ja schon, Mr. Ellis — dieses schreckliche Erlebnis — alles andere war wie ausgelöscht...«
»Du könntest hinzusetzen, daß die Verhöre dich sehr belasten.«
Sie lächelte. »Das wäre zu plump geschwindelt. Er weiß genau, daß sie keine Belastung sind.«
»Flirtest du mit ihm?«
Sie betrachtete ihre sorgfältig lackierten Fingernägel. »Er bietet mir seinen männlichen Schutz«, erklärte sie, »und ich gebe ihm zu verstehen, daß ich seine Ritterlichkeit zu schätzen weiß. Er mag mich, und ich finde ihn auch nett.«
»Dann ist ja alles in Butter«, sagte ich. »Dein Taxi dürfte inzwischen unten sein. Wecke mich bitte, sobald du kommst, und komm sofort hierher zurück. Laß dich keinesfalls aufhalten. Und mach’s so kurz wie möglich.«
»Wird gemacht«, versprach sie.
Ich schloß die Augen und entspannte mich. Ich hörte noch, wie sie leise hin- und herging, um mich nicht zu stören, dann klappte die Tür hinter ihr zu.
Ich wachte ein paarmal auf, rückte mich in meinem Sessel zurecht und döste wieder ein. Nach einer Weile taten mir alle Glieder weh, aber ich war zu verschlafen, um mich daran zu stören.
Ich hörte nicht, als sie wiederkam, und wachte erst auf, als sie auf der Sessellehne saß. »Du Ärmster«, sagte sie.
Ich öffnete die Augen, kniff sie geblendet wieder zu und nahm meine Füße vom Stuhl. Ich spürte ihre kühlen, sanften Fingerspitzen auf meiner Stirn. Langsam kam ich wieder zu mir. »Geschafft?« fragte ich noch etwas benommen.
»Ja.«
Ich nahm ihre Hand. »Hat alles geklappt?«
»Wie meinst du das?«
»Hat er dir deine Geschichte abgenommen?«
»Natürlich. Ich habe ihm genau das gesagt, was du mir aufgetragen hast. Du hast es mir nicht zugetraut, was? Da siehst du, was du an mir hast.«
»Hast du noch mehr über die Querverbindung nach Santa Carlotta erfahren?« fragte ich.
»Ja. Mr. Ellis hat sofort mit Santa Carlotta telefoniert. Er sagt, sie warteten auf mein Protokoll. Deshalb wollte er ihnen sofort diese neue Entwicklung mitteilen.«
»Was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde, weißt du wohl nicht?«
»Mr. Ellis hat nur berichtet. Näheres hatten sie anscheinend schon vorher besprochen.«
»Sag mal — was hat eigentlich Mr. Ellis zu deinem Schutz unternommen?«
»Zu meinem Schutz? Wieso?«
»Begreifst du nicht? Evaline Harris ist einem Mord zum Opfer gefallen. Einem grausamen, kaltblütig geplanten Mord, Die Polizei hat außer deiner Aussage praktisch keine Hinweise. Wenn der Mörder merkt, daß sich das Netz um ihn enger zusammenzieht, liegt es nahe, daß er...« Ich machte eine wirkungsvolle Pause. »Deshalb frage ich, was Mr. Ellis unternommen hat.«
In ihren Augen stand jetzt Angst. »Ich glaube, daran hat er überhaupt noch nicht gedacht.«
Ich sah auf die Uhr. »Schlimm genug. Aber das wird sich ändern. Ich setze mich mit ihm in Verbindung. Du bleibst hier.«
»Ich könnte ihn ja auch anrufen.«
»Das wirst du schön bleibenlassen. Ich fahre zu Mr. Ellis und unterhalte mich mit ihm. Von mir aus kann er so nett sein, wie er will — daß er sich keine Gedanken um deine Sicherheit macht, finde ich, gelinde gesagt, unverfroren.«
»Ich kann einfach nicht glauben, daß ich in Gefahr bin. Aber...«
»Versprich mir, daß du die Wohnung nicht verläßt, bis ich wieder da bin.«
»Ich verspreche es.«
Ich fuhr vor dem Spiegel einmal mit dem Kamm durch die Haare und griff mir meinen Hut. »Also — keinen Schritt vor die Tür!«
Ich ging bis zur Ecke, verschwand in einem Drugstore und rief das Polizeipräsidium an. Dort ließ ich mich mit dem Morddezernat verbinden. Nach einer Weile meldete sich eine gelangweilte Stimme. »Hier Morddezernat.«
»Ich habe einen Tip für Sie«, sagte ich hastig. »Es darf aber niemand wissen, daß ich angerufen habe. Fragen Sie nicht nach meinem Namen, und versuchen Sie nicht, den Anruf zurückzuverfolgen.«
»Moment«, näselte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich hole mir nur was zum Schreiben.«
»Das könnte Ihnen so passen! Damit Sie jemanden auf mich ansetzen können, was? Wenn Sie’s nicht interessiert, können Sie ja gleich auflegen. Als Ihre Bullen in der Blauen Grotte ermittelten, haben sie allerlei herausgekriegt. Aber von dem Kleiderschrank von Kerl mit dem Muttermal auf der rechten Wange, der sich verdächtig oft in diesem Etablissement herumgetrieben hat, haben sie nichts erfahren. Das wurde einfach totgeschwiegen. Wenn Sie weiterkommen wollen, sollten Sie sich die Mädchen in der Blauen Grotte noch mal richtig vorknöpfen. Stellen Sie ein paar gezielte Fragen. Vermutlich wird sich herausstellen, daß sie Anweisung hatten, den Kerl der Polizei gegenüber nicht zu erwähnen.«
Ich legte auf und ging hinaus. Eine halbe Stunde schlug ich ziemlich ziellos die Zeit tot, rauchte und dachte nach. Inzwischen wurde es dunkel, die Straßenbeleuchtung flammte auf.
Ich ging zurück zu Marians Apartment und klopfte energisch.
Sie begrüßte mich erleichtert. »Gut, daß du wieder da bist. Es war ein ganz komisches Gefühl, hier so allein zu sitzen.«
»Das komische Gefühl hattest du durchaus zu Recht. Der Bezirksanwalt hat einen Schnitzer gemacht.«
»Was hat er denn angestellt?«
»Er hat die Geschichte von dem Mann verraten, den du vor dem Haus getroffen hast. Der ist mit einem Schlag zur Schlüsselfigur des Falls geworden. Sie haben seine Spuren bis zur Blauen Grotte zurückverfolgt. Er war mit der Ermordeten befreundet.«
»Aber — aber ich habe ihn gar nicht gesehen. Das hast du doch nur erfunden...«
»Vielleicht hast du ihn wirklich gesehen und hast nur nicht auf ihn geachtet!«
»Unsinn. Jedenfalls kann ich mich an nichts erinnern.«
»Natürlich konzentriert sich jetzt das ganze Interesse auf ihn. Wenn du mich fragst, hatte der andere Mann gar nichts mit der Sache zu tun. Er sah nicht aus wie ein Mörder — oder?«
»Nein, bestimmt nicht. Das habe ich Mr. Ellis auch gesagt. Er sah ernst aus und würdig, aber irgendwie — irgendwie verstört.«
»Wahrscheinlich hast du selber auch einen verstörten Eindruck gemacht. Wenn man nun dich hätte aus dem Apartment kommen sehen...«
»Eben — daran habe ich auch schon oft gedacht.«
»Ich war bei Ellis«, sagte ich, »und habe die Karten auf den Tisch gelegt. Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und was ich tue und inwieweit ich in den Fall verwickelt bin und daß ich mich für dich interessiere. Er hat mir aufgetragen, dich in Sicherheit zu bringen.«
»In Sicherheit?«
»Ja. Die Polizei zweifelt daran, daß du hier sicher genug bist. Dein Aufenthaltsort ist zu bekannt. Eine Leibwache wollen sie nicht für dich abstellen, weil das nur unnötig auffällt. Es wäre ihnen lieber, wenn du irgendwo unter falschem Namen untertauchen würdest. Ich habe versprochen, die Sache in die Hand zu nehmen.«
»Wann?« fragte sie.
»Sofort.«
»Ich werde schnell packen, und...«
»Kommt nicht in Frage. Die Sachen kann ich dir später bringen. Es brennt jetzt. Wir haben keine Minute zu verlieren.«
»Aber, Donald, wenn du hier bist, kann mir doch kaum was passieren, und...«
»Das ist nur eine schöne Illusion. Jede weitere Minute hier bedeutet Gefahr für dich. Weshalb hab’ ich eine Strafe wegen Geschwindigkeitsüberschreitung riskiert, um schneller herzukommen?«
»So laß mich doch wenigstens ein paar Kleinigkeiten mitnehmen!«
»Sei jetzt bitte nicht schwierig, Marian. Du mußt mir vertrauen. Es hängt sehr viel für mich davon ab.«
Vor der Hintertür wartete die Firmenkutsche. Ich hatte wieder mal Schwierigkeiten mit dem Starter, aber schließlich rollte sie doch los, und wir fuhren auf dem schnellsten Wege zu meiner Pension.
»Bleib sitzen. Ich bin gleich wieder da.«
Ich machte mich auf die Suche nach Mrs. Eldridge.
»Wir brauchen das Zimmer noch einmal, Mrs. Eldridge«, sagte ich. »Der Verlobte meiner Cousine ist noch nicht da. Sein Kahn hat Verspätung. Es dauert noch zwei oder drei Tage.«
»Und die Mutter des jungen Mannes?«
»Meine Cousine hat die letzten beiden Tage bei ihr gewohnt, aber heute sind schon wieder andere Bekannte gekommen, und so viel Platz ist dort nicht.«
»Meinetwegen — sie kann dasselbe Zimmer haben. Wie lange wird es gebraucht?«
»Vier oder fünf Tage.«
»Dann muß ich aber um eine Anzahlung bitten.«
Ich drückte ihr das Geld in die Hand und ließ mir eine Quittung geben. Dann holte ich Marian. »Ich glaube, hier bist du vorerst gut aufgehoben, Marian.«
»Ta, hier fühle ich mich sicher. Es kann ziemlich einsam in der Großstadt sein, wenn man niemanden kennt.«
»Ich weiß.«
»Ich hab’ gehofft, daß wir jetzt öfter zusammensein könnten. Ich habe dich schrecklich vermißt.«
»Ich muß noch etwas erledigen. Aber dann können wir uns endlich mal wieder einen netten Abend machen. Hast du Hunger?«
»Ja.«
»In einer Stunde bin ich zurück. Dann gehen wir aus.«
»Und meine Sachen?«
»Ich fahre hin und packe sie dir in einen Koffer.«
»Nein, das mache ich später. Aber meinen Pyjama, und den Morgenrock, die Zahnbürste und einen kleinen Kosmetikkoffer mit Hautcreme und solchem Zeug — das brauche ich. Das andere hat Zeit, Donald.«
»Okay. Gib mir den Schlüssel.«
»Ich möchte mitkommen!«
»Das können wir nicht riskieren, Marian. Versteh doch! Ich habe Mr. Ellis versprochen, auf dich aufzupassen. Ich trage die Verantwortung. Wenn etwas passiert, reißt er mir den Kopf ab.«
»Meinetwegen.« Sie gab mir die Wohnungsschlüssel.
»Also in einer Stunde«, sagte ich. »Übrigens — schau doch mal nach, ob dein Zimmer in Ordnung ist. Sind auch genug Handtücher da?«
»Das wird schon in Ordnung sein. Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt und wäre auch nicht ausgezogen, wenn nicht Mrs. Cool...«
»Ich würde trotzdem noch einmal nachsehen.«
Sie wandte sich zum Waschbecken, und ich schob mir schnell ihre Handtasche unter die Jacke.
»Also — bis gleich«, verabschiedete ich mich.
Ich fuhr zu Marians Apartment, schloß auf, machte Licht und nahm mir den Inhalt ihrer Handtasche vor. Puderdose, Lippenstift, siebenunddreißig Dollar in bar, ein paar Besuchskarten in blasser blauer Frakturschrift: Miss Marian Jean Dunton. Ein Kugelschreiber, ein Notizbuch, ein Taschentuch, ein Schlüsselring, wahrscheinlich mit Wohnungsschlüsseln aus Oakview.
Ich machte die Handtasche weit auf und warf sie auf den Fußboden. Ich kippte einen der Stühle um, knüllte einen Vorleger zusammen und warf ihn in eine Ecke. An der Tür stieß ich mir mit einer Hand kräftig an meine wunde Nase.
Den ganzen Nachmittag hatte ich Nasenbluten gehabt, aber jetzt, wo’s drauf ankam, war die einzige Wirkung, daß mir vor Schmerz die Tränen in die Augen traten. Von Blut keine Spur.
Ich nahm allen Mut zusammen und versuchte es noch einmal. Diesmal hatte ich mehr Erfolg. Das Blut tropfte, und ich wanderte im Zimmer umher und sorgte dafür, daß mein Leiden an den wirkungsvollsten Stellen Spuren hinterließ. Jetzt war es natürlich wieder gar nicht so einfach, den Hahn abzudrehen. Nach einer Weile gelang es, und ich wandte mich zur Tür.
Das Telefon schrillte in die Stille.
Ich zog die Tür hinter mir zu. Das aufdringliche Instrument klingelte noch eine ganze Weile hinter mir her.
Dann fuhr ich zu einem Drugstore, kaufte ein Dutzend saubere Taschentücher, hängte mich ans Telefon und meldete ein Gespräch nach Santa Carlotta an. Als ich das dortige Polizeipräsidium in der Leitung hatte, verlangte ich Sergeant Harbet.
»Wer spricht dort, bitte?«
»Detektiv Smith, Morddezernat Los Angeles.«
»Einen Augenblick bitte.«
Ich wartete ungefähr eine Minute. Dann sagte die Telefonistin: »Sergeant Harbet wollte zu Ihnen, Smith. Heute nachmittag hat ihn der Bezirksanwalt angerufen, und er ist daraufhin sofort nach Los Angeles gefahren.«
»Vielen Dank. Vielleicht hat er unterwegs eine Pause gemacht, um einen Happen zu essen. Na, hoffentlich kommt er bald.« Ich legte auf.
Die Sache lief wie geschmiert.
Dann rief ich Bertha Cool an. »Alles soweit in Ordnung. Laß dich nicht verrückt machen. Mich verleugnest du am besten.«
»Was treibst du denn gerade?« fragte sie.
»Ich rühre ein bißchen in der Tinte herum, in die wir uns gesetzt haben.«
»Sei vorsichtig, und riskier nicht zu viel. Immer kannst du dich nicht auf deinen Grips verlassen.«
»Wenigstens geht es auf meine eigene Kappe. Für dich gilt der schöne alte Spruch: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
»Na, mir ist so schon heiß genug«, bemerkte sie düster.
Ich fuhr zurück zu meiner Pension. Marian öffnete sofort. »Grüß dich«, sagte ich. »Ich hab’ Glück gehabt. Bertha ist damit einverstanden, daß wir uns einen netten Abend machen. Mal keine Arbeit! Mit deinen Sachen muß ich noch ein bißchen warten. Vor dem Haus drückten sich zwei verdächtig aussehende Männer herum. Ich muß einen Augenblick abpassen, in dem die Luft rein ist.«
»Donald, ich habe meine Handtasche verloren«, sagte sie.
Ich trat ein und stellte einen Stuhl zwischen die Tür. »Wie kommt denn das?«
»Jemand hat sie aus meinem Zimmer mitgehen lassen«, erklärte sie sehr bestimmt.
»Unsinn!«
»Doch!«
»Das ist eine achtbare Pension. Mrs. Eldridge würde nie dulden, daß...«
»Das ist mir egal. Ich hatte die Handtasche noch, als ich meine Wohnung verließ, und ich weiß ganz genau, daß ich sie mitgebracht habe.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist dumm. Vermutlich hast du sie im Wagen gelassen, und den habe ich inzwischen woanders abgestellt. Was war denn drin?«
»Mein ganzes Geld.«
»Wieviel?«
»Alles, was ich besaß.«
»Der Bezirksanwalt hat mich gebeten, für deine Unkosten aufzukommen. Ich kann dir einen Vorschuß geben.«
Sie ging mit kurzen, energischen Schritten zur Tür und klappte sie zu.
»Holla!« sagte ich. »So geht das nicht. Du wirst deinen Ruf ruinieren und von Mrs. Eldridge an die frische Luft gesetzt werden. Sie...«
Marian Dunton stellte sich vor mir in Positur. »Nun hör mal gut zu, mein lieber Donald. Ich bin zwar vom Lande — aber ein wenig gesunden Menschenverstand darfst du mir schon Zutrauen. Du bist ein netter Kerl, und ich mag dich gern und vertraue dir, aber wenn du meine Handtasche klaust, hört bei mir der Spaß auf.«
»Ich — deine Handtasche klauen?«
»Jawohl. Ich weiß, daß du Detektiv bist. Ich weiß, daß du manches tust, was ich nicht wissen soll. Ich weiß, daß du mich wie eine Schachfigur benutzt hast, daß der Fall so läuft, wie es dir in den Kram paßt. Damit habe ich mich abgefunden. Aber daß du mich den ganzen Nachmittag schamlos anschwindelst, geht mir denn doch über die Hutschnur.«
»Anschwindeln? «
»Jawohl. Soll ich dir mal was sagen? Du warst gar nicht beim Bezirksanwalt. Du hast nur eine halbe Stunde in der Gegend herumgestanden.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du hast erzählt, du hättest eine Strafe wegen Überschreitung der Geschwindigkeit riskiert. Aber als wir vorhin losgefahren sind, war der Motor eiskalt. Deshalb ist die Kutsche auch so schlecht gestartet. Du bist gar nicht bei Mr. Ellis gewesen. Rate mal, woher ich das weiß? Fünf Minuten bevor du wieder aufgetaucht bist, hat er angerufen und mich gebeten, heute um halb elf zu ihm ins Büro zu kommen. Er erwartet ein paar Kollegen aus Santa Carlotta, und ich soll mir ein Foto ansehen. Kein Wort von deinem Besuch...
Das soll mir gleich sein. Ich habe Vertrauen zu dir, und wenn du mich nicht einweihen willst, ist das deine Sache. Aber daß du meine Handtasche verschwinden läßt, ist einfach gemein. Ich hatte sie hier im Zimmer, als du hier warst. Dann bist du abgezogen, und da war sie weg.«
Ich ließ mich in einen Sessel fallen und fing an zu lachen.
Sie sah mich zornsprühend an.
»Das ist nicht lächerlich.«
»Marian — ich muß dich schon wieder um einen Gefallen bitten!«
»Ich hab’ schon genug für dich getan.«
»Das weiß ich. Und es ist wieder eine knifflige Sache. Aber es hegt mir sehr viel daran.«
»Worum geht’s denn?«
»Du mußt mir jedes Wort glauben.«
»Wir in der Provinz leben auch nicht ganz hinter dem Mond. Wenn ich dir alles glauben würde, müßte ich wirklich sehr dämlich sein.«
»Wenn es zum Krach kommt und du nachweisen kannst, daß du von nichts gewußt hast, trage ich die Verantwortung. Wenn du mit mir unter einer Decke steckst, machst du dich mitschuldig. Kapiert?«
Sie sah mich beunruhigt an. »Was willst du tun?«
»Wenn ich das wüßte...«
Sie dachte nach. Schließlich meinte sie: »Einverstanden. Aber ich komme mir wirklich sehr dumm vor so ganz ohne Geld...«.
Ich nahm meine Brieftasche und gab ihr ein paar Scheine von Bertha Cools Spesengeld.
»Und wie ist es mit Kleidern?« fragte sie.
»Kauf dir, was du so für die nächsten Tage brauchst. Und noch eins, Miss Dunton. Mr. Ellis und ich waren uns darüber einig, daß es für Sie besser ist, wenn Sie in den nächsten Tage nicht in die Zeitung schauen.«
»Warum?«
»Mr. Ellis meint, daß vermutlich etwas über diesen Fall drinsteht, und er möchte nicht, daß Sie irgendwie beeinflußt werden.«
Sie sah mich aus großen, unschuldigen Augen an. »Ich werde mich natürlich ganz nach dem richten, was Mr. Ellis für richtig hält.«
»Wunderbar. Dafür wird er sicher dankbar sein.«
»Hat Mr. Ellis mir sonst noch etwas ausrichten lassen?«
»Ich kann mich im Augenblick nicht erinnern. Ich...«
Ein lautes Klopfen unterbrach mich. Ich öffnete. Mrs. Eldridge warf mir einen vernichtenden Blick zu, spazierte ins Zimmer, griff sich einen Stuhl und stellte ihn vor die Tür, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte von dannen.
Marian Dunton sah mich an und lachte schallend.