18

Dr. Gelderfield öffnete persönlich die Tür seines Hauses auf mein Klingeln. Er erweckte den Eindruck eines beruflich stark in Anspruch genommenen Mannes, der in einer seiner kurzen Mußestunden gestört wird. Als er mich erkannte, hellte sich sein finsterer Gesichtsausdruck etwas auf.

»Sieh da, Donald Lam. Treten Sie ein, und seien Sie willkommen. Meine Sprechstundenhilfe hat heute ihren freien Abend, deshalb muß ich die Haustür selbst öffnen.«

Er führte mich durch einen Vorraum, in dem mehrere Sessel standen.

»Ich habe diesen Raum als Reservewartezimmer hauptsächlich für unangemeldete Patienten eingerichtet. Hier nebenan liegt ein kleiner Behandlungsraum. Aber wir gehen in meine Wohnräume, wo wir uns gemütlich hinsetzen und miteinander plaudern können. Sie werden es ja nicht so eilig haben.«

»Zur Zeit drängt es bei mir überhaupt nicht. Wir können uns in aller Ruhe unterhalten.«

»Das freut mich, denn ich möchte mich mit Ihnen mal ausführlich aussprechen. Ich bin nämlich wegen Mrs. Devarest beunruhigt.«

»Wieso nur? Gibt es etwas Neues bei Mrs. Devarest?«

Er runzelte die Stirn. »Ich bin wirklich in Sorge um sie. Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie etwas trinken? Ich kann allerdings nicht mittun, weil ich immer damit rechnen muß, daß ein dringender Anruf von einem Patienten kommt.«

»Ich hätte ganz gern einen Whisky-Soda.«

»Setzen Sie sich doch. Außer Eis habe ich alles hier im Zimmer, aber das werde ich schnell holen. Machen Sie’s sich inzwischen bequem. Es tut mir leid, daß ich anfänglich Ihnen gegenüber etwas schroff war, ich meine, als ich das erste Mal mit Ihnen sprach. Damals hatte ich noch nicht erkannt, was - nun, was für ein Mann Sie sind. Einen Augenblick bitte, ich hole nur das Eis.«

Ich ließ mich in einem tiefen Sessel nieder. Das Zimmer war recht behaglich eingerichtet. Ringsherum verdeckten Bücherregale die Wände, auf einem großen Tisch lagen Stapel von Zeitschriften und Drucksachen. Hinter den Sesseln befanden sich Leselampen. Dosen mit Zigaretten, Streichhölzer und Aschenbecher standen in Reichweite herum. Hier konnte man sich gut ausruhen und entspannen.

Durch die offene Tür war aus der Küche zu hören, wie Dr. Gelderfield Eiswürfel in ein Gefäß fallen ließ. Bald darauf kam er mit einem Tablett zurück, auf dem eine Flasche alter schottischer Whisky, eine Flasche Sodawasser und ein großes Glas mit Eiswürfeln standen.

»Bedienen Sie sich bitte, Lam«, sagte Dr. Gelderfield und stellte das Tablett neben mich auf einen kleinen Tisch. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht Gesellschaft dabei leisten kann.«

Ich goß mir Whisky in das Glas und gab etwas Sodawasser nach. »Sie wollten mir etwas über Mrs. Devarest berichten«, erinnerte ich ihn.

Er nickte, setzte zum Sprechen an, betrachtete mich aber dann nachdenklich. Schließlich sagte er: »In unserem Beruf gibt es gewisse ethische Prinzipien. Sie erlauben mir nicht, mit Ihnen über die Krankheitssymptome oder über meine Diagnose, was die Patienten angeht, zu sprechen, wenn ich nicht deren Zustimmung dazu habe.«

»Ist Mrs. Devarest unbedingt an das Bett oder den Rollstuhl gefesselt?« begann ich also.

»Das habe ich nur angeordnet, um möglichst jede Aufregung und körperliche Anstrengung von ihr fernzuhalten. Und auch, um ihre Gedanken auf sich selbst zu lenken. Es scheint mir aus bestimmten Gründen gegenwärtig richtig, daß sie sich möglichst nur mit sich selbst beschäftigt.« Den Worten bestimmten Gründen< verlieh er eine gewisse Betonung.

»Offensichtlich ist sie der Ansicht - und wohl nicht ganz ohne Grund -, daß zwischen ihrer Sekretärin Nollie Starr und Dr. Devarest ein besonders vertrauliches Verhältnis bestand. Könnte dadurch bei ihr eine übertriebene Verbitterung und Feindseligkeit gegenüber Miss Starr entstanden sein? Dabei wäre natürlich zu berücksichtigen, daß sie durch ihren gegenwärtigen Nervenzustand und den Schock, den sie durch den Tod ihres Mannes erfahren hat, in beträchtlichem Umfange aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht wurde.«

Seine Augen leuchteten auf. »Ich hatte gehofft, daß Sie diesen Punkt anschneiden würden. Das gibt mir die Möglichkeit, Ihnen etwas mitzuteilen, was ich für sehr wichtig halte. Ihr Haß gegen Miss Starr droht unverkennbar zu einer ernstlichen Gefährdung ihres seelischen Gleichgewichtes zu werden. Mrs. Devarest brütet ständig über ihre Sekretärin nach, und ich versuche alles, um ihre Gedanken von Miss Starr abzulenken, damit sie sich mehr auf sich selbst konzentriert.«

»Nun, eine freimütige Aussprache ist immer zum Vorteil, weil sie klärend wirken kann. Schließlich nehmen Sie eine besondere Stellung ein, und es ist vielleicht ebensogut, wenn ich zuerst Ihnen und dann meiner Klientin Bericht erstatte.«

»Ist etwas Besonderes geschehen?«

»Ja. Ich war bei Nollie Starr in der Wohnung. Mit einem Nachschlüssel hatte ich mir Zugang verschafft, weil ich mich dort näher umsehen wollte.«

»Was suchten Sie denn?«

»Ich will es Ihnen erklären. Ich habe den Chauffeur von Mrs. Devarest etwas unter Druck gesetzt, nachdem ich festgestellt hatte, daß er vorbestraft ist.«

»Davon habe ich gehört. Die Polizei hat eine Verlautbarung über Bayleys Aussagen herausgegeben, die mir völlig unsinnig erscheint. Es überrascht mich, daß anscheinend doch etwas Wahres daran ist.«

»Ich habe Bayley veranlaßt, mir den Schmuck zu beschaffen.«

»Was brachte Sie auf den Gedanken, daß er Ihnen die Juwelen besorgen könnte?«

»Ich hatte einigen Grund zu dieser Annahme.«

»Konnte er es denn?«

»Gewiß.«

»Wo ist der Schmuck jetzt?«

»Ich habe ihn in Besitz.«

»Weiß Mrs. Devarest das schon?«

»Nein, noch nicht.«

»Hat Miss Starr...« Er zögerte.

»Ja bitte, was wollten Sie sagen?«

»...irgend etwas mit dem Verschwinden des Schmuckes zu tun?«

»Mir scheint es jedenfalls.«

»Das habe ich befürchtet. Sie haben doch über die Juwelen noch nichts zu Mrs. Devarest gesagt?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.«

»Oder auch nur eine Andeutung gemacht, auf welche Weise oder woher Sie die Schmuckstücke bekommen haben, noch in welcher Weise Miss Starr an ihrem Verschwinden beteiligt gewesen sein könnte?«

»Noch nicht.«

»Unterlassen Sie es bitte. Wir müssen darüber nachdenken, auf welche Weise wir es Mrs. Devarest mitteilen. Ich befürchte das Schlimmste für ihre Gesundheit, wenn es unvorbereitet geschieht.«

»Vielleicht weiß sie es inzwischen schon.«

»Das glaube ich nicht. Sie hätte mir etwas davon gesagt.«

»Besteht nicht doch die Möglichkeit, daß sie Ihnen gegenüber darüber schweigen würde?«

»Doch, die Möglichkeit besteht natürlich«, räumte er ein und fügte dann nachdenklich hinzu. »Die Möglichkeit ist auf keinen Fall ausgeschlossen.«

»Nun gut, und jetzt komme ich zu einem Bekenntnis.«

»Ja, bitte, um was handelt es sich?«

»Ich betrat Miss Starrs Wohnung mit Hilfe eines Nachschlüssels, wie ich schon sagte. Zunächst nahm ich an, in der Wohnung allein zu sein. Zu der Zeit, als ich dort war, konnte ich damit rechnen, niemanden anzutreffen. Aber ich hatte mich geirrt. Es war jemand da.«

»Und wer?« fragte er gespannt.

»Nollie Starr.«

»Was sagte sie, als Sie plötzlich vor ihr standen?«

»Nichts. Sie war tot.«

»Tot?«

»Ja.«

»Wie lange schon?«

»Nicht sehr lange. Sie war erwürgt worden. Um ihren Hals war eine rosa Korsettschnur doppelt geschlungen und dann mit dem Griff eines Fleischklopfers fest zusammengedreht worden. Ich weiß noch nicht, was die Leichenschau ergeben hat, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie zuerst niedergeschlagen wurde. Wahrscheinlich durch einen Schlag mit dem Klopfer von hinten auf den Kopf, durch den sie das Bewußtsein verlor.«

Dr. Gelderfields Gesichtsausdruck verriet bei dieser Eröffnung ungläubige Überraschung. Seine Lippen verzogen sich und zuckten. Offenbar wollte er etwas sagen, unterdrückte es aber.

»Die Tat kann nur wenige Minuten, ehe ich die Wohnung betrat, begangen worden sein. Ihr Körper war noch warm, aber der Puls war nicht mehr zu spüren. Ich lockerte sofort die Schnur an ihrem Hals und benachrichtigte telefonisch die Rettungswache. Dann verließ ich die Wohnung, denn ich konnte sonst doch nicht mehr helfen. Auf dem Gang sah mich eine Putzfrau, als ich die Wohnung verließ. Das und ein paar andere Dinge brachte die Polizei auf meine Spur.«

»Gütiger Himmel, Lam. Können Sie denn Ihre Unschuld nicht beweisen? Mörder rufen doch im allgemeinen nicht telefonisch um Hilfe für ihre Opfer.«

»Vielleicht doch, wenn sie sich davon überzeugt haben, daß ihre Opfer wirklich tot sind. Es wäre ein Argument, um ihre Unschuld zu beweisen. So würde die Polizei es jedenfalls ansehen. Und ganz abgesehen davon, wie es am Ende ausgehen würde, gegenwärtig kann ich es nicht gebrauchen, verhaftet und damit außer Aktion gesetzt zu werden.«

»Warum nicht?«

»Weil ich der Meinung bin, daß ich kurz vor der Lösung des gesamten Falles stehe. Die Entwicklung in den nächsten vierundzwanzig Stunden wird mir recht geben. Ich kann es mir nicht erlauben, diese Zeit in der Zelle eines Untersuchungsgefängnisses zu verbringen. Deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen.«

»Was soll ich für Sie tun?«

»Ich habe Sie als Arzt aufgesucht. Ich habe fast einen Nervenzusammenbruch erlitten. Mein Herz ist in einem bedenklichen Zustand und mein Blutdruck stark erhöht. Ich bin sehr nervös und erregt. Deshalb werden Sie mir ein Beruhigungsmittel geben und mich in ein Krankenhaus einliefern, damit ich mich erst einmal erholen kann. Sie hoffen, daß ich mich in den nächsten vierundzwanzig Stunden so weit erhole, daß mich die Polizei vernehmen kann, ohne daß meine Gesundheit dadurch ernstlich gefährdet wird. Wenn ich Sie hintergehe und das Beruhigungsmittel nicht einnehme, brauchen Sie ja nichts davon zu wissen, jedenfalls nicht offiziell.«

Er hatte begonnen, ablehnend den Kopf zu schütteln, noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte. »Nein, Lam, das kann ich nicht. Das verstößt gegen mein Berufsethos als Arzt.«

»Weshalb? Sie haben mich doch noch nicht einmal untersucht.«

»Sie lassen kein Anzeichen der von Ihnen angeführten Krankheitssymptome erkennen. Wenn ich behaupte, daß ich Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht habe, müßte ich angeben, welches, und das wäre in jedem Falle eine Injektion. Auf eine Spritze hin würden Sie aber tatsächlich für die nächsten vierundzwanzig Stunden schlafen. So lange wären Sie unfähig, irgend etwas zu unternehmen, und wenn Sie danach aufwachen, sind Sie völlig benommen und haben einen schweren Kopf. Ich kann unmöglich auf Ihren Vorschlag eingehen, Lam.«

»Wir wollen es noch einmal im einzelnen durchgehen. Der Gegenstand, mit dem Miss Starr niedergeschlagen wurde, war ein Fleischklopfer. Sie wurde mit einer Korsettschnur erwürgt. Das sind kaum Mordwerkzeuge, deren sich ein Mann bedienen würde.«

Er schien sofort zu begreifen, worauf ich hinauswollte, und widersprach. »Weshalb nicht? Ein Mann könnte vielleicht sogar so gerissen sein, diese Gegenstände zu verwenden, um den Verdacht auf eine Frau zu lenken.«

»Ja, er könnte schon, aber die Chancen, daß er es auf diese Weise täte, stehen eins zu zehn.«

»Aber selbst dann...« Er brach plötzlich ab.

»Sie werden sich daran erinnern, daß ich an dem Abend, als Dr. Devarest starb, zu Mrs. Devarest in ihr Schlafzimmer gerufen wurde. Auf einem Stuhl lag ein Korsett, das mit der gleichen rosa Schnur geschnürt wurde.«

»Junger Freund, ich kann Ihnen versichern, daß diese Schnüre durchaus nichts Ungewöhnliches oder Seltenes sind. Viele Frauen mittleren Alters bedienen sich eines Korsetts, um ihre Figur vorteilhafter erscheinen zu lassen. Und manche schwören auf gute altmodische Schnürung anstelle von Reißverschlüssen.«

Ich fixierte ihn unausgesetzt. »Der Fall wird von Inspektor Lisman bearbeitet. Er wird nicht lange zögern und auch Mrs. Devarest als mutmaßliche Täterin überprüfen. Nehmen wir doch einmal an, daß er feststellt, ihr Korsett, das sie ständig getragen hat, ist verschwunden, oder es fehlt die Schnur, die dazugehört. Lassen Sie uns weiter annehmen, daß er ihre Küche durchsucht und keinen Fleischklopfer findet.«

»Lam, das ist völlig unsinnig.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und rauchte schweigend, um ihm Zeit zu geben, über meine Worte nachzudenken.

»Selbst wenn beides fehlen sollte, so wäre es ein Arrangement, das jemand getroffen hat, um ihr eine Palle zu stellen.«

»Das mag durchaus sein, aber sie ist Ihre Patientin. Sie haben sie zu schützen.«

»Ich würde keine Mörderin schützen, nur weil sie meine Patientin ist. Aber ich kenne Mrs. Devarest, ich kenne sie sehr gut sogar. Ich weiß, daß sie unmöglich eine Tat begehen könnte, wie Sie sie beschrieben haben.«

»Sprechen Sie jetzt nur als Arzt von Ihrer Patientin?«

»Wie meinen Sie das?«

»Mir scheint, daß sich Ihre Empfindungen für Mrs. Devarest nicht lediglich auf die Anteilnahme eines Arztes an dem Wohlergehen seiner Patientin beschränken.«

Es trat wieder eine längere Pause in unserer Unterhaltung ein. Aber ich ließ ihm Zeit, nachzudenken, während ich meine Zigarette rauchte.

»Was können wir denn tun?« fragte er schließlich.

»So gefallen Sie mir bedeutend besser, Dr. Gelderfield. Hören Sie zu. Ich kann nicht zu Mrs. Devarest gehen. Erstens wird ihr Haus wahrscheinlich von Polizeibeamten beobachtet, und zweitens, selbst wenn ich den Polizisten entkommen würde, käme Inspektor Lisman doch dahinter, daß ich bei Mrs. Devarest gewesen bin. Wenn ich also in Mrs. Devarests Küche nach einem Fleischklopfer suchen und in ihrem Schlafzimmer ihr Korsett untersuchen würde, ob die Schnüre fehlen, so würde ich damit doch genau das unmöglich machen, was ich erreichen will. Sie können aber, ohne aufzufallen, Mrs. Devarest jederzeit aufsuchen. Im Gegenteil, es wäre ganz natürlich, daß ihr Arzt sich nach dem Befinden seiner Patientin erkundigt. Sie könnten auch ohne weiteres in die Küche gehen, um heißes Wasser zu holen. Dabei würde es niemandem auffallen, wenn Sie sich nach dem Fleischklopfer umsehen. Wahrscheinlich gibt es auch in Ihrer Küche einen Fleischklopfer. Sie könnten ihn in Ihre Instrumententasche stecken, und wenn Sie in Mrs. Devarests Küche keinen finden, könnten Sie dafür sorgen, daß wenigstens die Polizei dort einen findet.«

In empörtem Ton antwortete er: »Sie sind völlig verrückt, Lam. Das ist doch mit meiner Stellung als angesehener Arzt unvereinbar.«

»Mrs. Devarest ist Ihre Patientin, Dr. Gelderfield, mehr als das, sie steht Ihnen auch persönlich nahe. Sie ist außerdem meine Klientin. Ich will ihr vierzigtausend Dollar verschaffen und daran meinen Anteil verdienen. Wir haben beide ein großes persönliches Interesse an der Weiterentwicklung der Aufklärung des Falles. Sie wollen nicht, daß Mrs. Devarest verhaftet wird, und ich will es auch nicht. Ich kann hier auf Sie warten, bis Sie mir berichten, was Sie festgestellt haben, und mich anschließend in ein Krankenhaus einweisen. Dort habe ich dann die Zeit und die Ruhe, noch einmal alles zu durchdenken.«

»Mein Beruf erlaubt mir nicht, auf Ihren Vorschlag einzugehen«, antwortete er abweisend.

Offenbar hatte sich Dr. Gelderfield entschlossen, doch etwas zu trinken, denn ich wurde gewahr, wie er die Whiskyflasche öffnete und sich eingoß. Als ich mich umwandte, sah ich gerade noch, wie er das Glas abstellte, ehe er in die Küche hinausging. Ich vernahm, wie er draußen Schubladen öffnete und wieder schloß. Dann ging er die Treppe hinauf und rumorte in einem der oberen Zimmer. Er kam wieder herunter und ging noch einmal in die Küche. Schließlich betrat er das Zimmer wieder und griff nach seiner Instrumententasche.

»Haben Sie ihn gefunden?« fragte ich.

»Es ist wohl besser, wenn ich darauf keine Antwort gebe, Lam. Nach allem, was Sie mir gesagt haben, scheint mir eine gewisse Vorsicht ratsam zu sein. Sie sind also der Meinung, daß die Polizei Mrs. Devarests Küche durchsuchen wird?«

»Davon bin ich fest überzeugt.«

»Lieber Gott, wenn doch wenigstens die Geschäfte noch offen wären, dann könnte man ein ganzes Dutzend Fleischklopfer beschaffen.«

»Auf den Gedanken wird die Polizei auch kommen.«

Er nahm seine Instrumententasche auf und ging damit in die Küche hinaus. Als er zurückkam, war sein Mund zu einer schmalen Linie zusammengepreßt. »Nun gut, Lam. Ich will es versuchen. Aber Ihnen ist gelungen, was bisher noch kein Mensch fertiggebracht hat: Ich verstoße bewußt gegen den Ehrenkodex meines Standes.«

»Schon gut, Dr. Gelderfield. Aber gehen Sie jetzt. Soll ich das Telefon bedienen, wenn jemand anruft?«

»Ja, tun Sie das bitte.«

»Es wäre vielleicht doch nicht ratsam«, wandte ich ein.

»Aber wenn ich Sie anrufen will?«

»In diesem Falle rufen Sie zweimal kurz hintereinander an. Das erste Mal warten Sie, bis Sie das Rufzeichen hören, und hängen sofort wieder ein. Genau sechzig Sekunden später rufen Sie noch einmal an. Das ist für mich das Signal. Das erste Mal klingelt das Telefon ein- oder zweimal. Eine Minute später kommt der nächste Anruf. Dann weiß ich, daß Sie am Apparat sind.«

»Ja, das ist eine gute Idee«, stimmte er mir zu.

»Und werden Sie mich in ein Krankenhaus schicken, wenn Sie zurück sind?« fragte ich noch einmal.

»Dann muß ich Ihnen vorher eine Spritze geben.«

»Wenn Sie einen nervösen und erregten Patienten haben, spritzen Sie dann nicht gelegentlich destilliertes Wasser oder Kochsalzlösung, sagen dem Patienten aber, es sei Morphium?«

Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Ja, selbstverständlich tue ich das manchmal.«

»Sie könnten meine Symptome doch als Hysterie diagnostizieren. Ich könnte von Ihnen hartnäckig ein Beruhigungsmittel verlangen, Sie halten es aber nicht für ratsam und machen statt dessen eine Injektion mit destilliertem Wasser. In der Meinung, Morphium bekommen zu haben, beruhige ich mich dann schnell und werde schläfrig. Dann . ..«

»In diesem Fall würde ich eine Nachtschwester kommen lassen und Sie bei mir im Haus in einem Gastzimmer unterbringen. Sie stünden dann natürlich unter der Aufsicht der Schwester, aber wenn sich die Schwester einmal davon überzeugt hätte, daß Sie schlafen, bliebe sie nicht die ganze Zeit bei Ihnen im Zimmer.«

»Hätte ich eine Möglichkeit, das Zimmer zu verlassen?«

»Sie müßten aus dem Fenster steigen und könnten dann über das Dach der Küchenveranda in den Garten gelangen. Sie wären doch in spätestens einer Stunde wieder zurück? Oder nicht?«

»Dessen bin ich nicht unbedingt sicher.«

»Aber mehr kann ich wirklich nicht für Sie tun.«

»Sie würden die Schwester doch nicht über meinen Fall informieren?«

»Natürlich nicht. Sie würde Sie für einen Privatpatienten halten, den ich durch eine Morphiumspritze zum Schlafen gebracht habe.«

»Wie lange dauert es, bis die Schwester hier ist?«

»Sie kann in zwanzig Minuten hier im Haus sein.«

»Ist sie zuverlässig?«

»Unbedingt.«

Ich deutete zur Tür. »Dann gehen Sie jetzt und statten Ihrer Patientin einen Besuch ab.«

Er ergriff seine Tasche und verließ schnell das Zimmer. Einige Augenblickte später hörte ich, wie er in seinem Wagen über die Auffahrt zur Straße hinunterfuhr und Gas gab.

Ich lehnte mich tief in dem bequemen Sessel zurück, goß mir Whisky in mein Glas nach, mischte Sodawasser und Eis dazu und trank einen, großen Schluck. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und genehmigte mir mit großem Behagen noch einen Whisky. Das Haus war ungewöhnlich still. Nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen.

Ich streckte mich aus und gähnte herzhaft. Eine wohltuende Wärme durchlief meinen Körper. Ich konnte gut nachempfinden, daß ein vielbeschäftigter Arzt wie Dr. Gelderfield die Ruhe dieses Zimmers genoß, in dem er sich ausruhen und die Verantwortung, die sein Beruf ihm abverlangte, für kurze Stunden vergessen durfte.

Die Minuten dehnten sich. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es fiel mir schwer, die Zeiger auf dem Zifferblatt zu erkennen. Mein Blick schien getrübt, und ich sah alles leicht verschwommen.

Irgend etwas sehr Wichtiges begann sich in meinem Unterbewußtsein zu regen, bedrängte mich, verlangte wahrgenommen und beachtet zu werden. Ich wollte mich aber nicht damit befassen, ich wollte mich entspannen, ausruhen und versuchte, diesen Gedanken zu unterdrücken. Vergeblich. Unwiderstehlich setzte er sich durch, drang in mein Bewußtsein, und als er endlich klare Formen angenommen hatte, riß mich die Erkenntnis fast gegen meinen Willen von meinem Platz auf.

Ich stolperte über den Hocker, auf den ich meine Füße gelegt hatte, taumelte, aber es gelang mir, das Gleichgewicht wiederzufinden. So schnell ich konnte, wankte ich in die Küche. Dahinter lag ein Korridor, von dem eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Mühsam zog ich mich am Geländer Stufe für Stufe die Treppe hinauf, bis ich den oberen Korridor erreichte.

Ich öffnete die erste Tür rechter Hand. Offensichtlich befand ich mich in Dr. Gelderfields Schlafzimmer. Durch ein danebenliegendes Bad kam ich in ein weiteres Schlafzimmer, das augenscheinlich für Gäste bestimmt war. Befand sich hier das, was ich suchte? Nein, anscheinend nicht. Ich tastete mich zurück auf den Korridor und taumelte hart gegen den Türrahmen, als ich Dr. Gelderfields Schlafzimmer verließ, stolperte quer über den Gang und stieß die vor mir liegende Tür auf.

In einem Bett lag regungslos und mit geschlossenen Augen ein hochbetagter Mann. Soweit ich beim Lampenschein erkennen konnte, mußte er weit über siebzig Jahre alt sein. Seine Haut hatte einen wachsartigen Schimmer, sein Mund stand halb offen. Ich beugte mich über sein Bett und lauschte auf seinen Atem.

Fast eine Minute lang schien er überhaupt nicht zu atmen, ehe er langsam und schwer tief Luft in seine Lungen sog. Dann lag er wieder so still und regungslos wie vorher. Die Pause bis zu seinem nächsten Atemzug dauerte so lang, daß ich schon befürchtete, er würde überhaupt nicht mehr atmen.

Ich streckte die Hand aus, um ihn an seiner, knochigen Schulter zu fassen. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und sank zu ihm auf das Bett.

Der alte Mann regte sich nicht unter meiner Last, aber als ich mich mühsam in eine sitzende Stellung aufrichtete, atmete er wieder schwer und unregelmäßig. Es gelang mir, ihn an der Schulter zu schütteln. Langsam und widerwillig bewegte er sich. Ich schüttelte ihn noch einmal. Darauf hob er einen Arm und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich klopfte ihm sanft auf die Wange, um ihn zum Bewußtsein zu bringen. Schwerfällig und zögernd schlug er die Augen auf.

»Sind Sie Dr. Gelderfields Vater?« fragte ich. Meine Stimme klang nur schwach und wie aus weiter Ferne in meinen Ohren.

Es dauerte fast eine Minute, bis er meine Frage verstand. Er blickte mich unverwandt, aber mit abwesenden Blicken an, ohne zu antworten. Dann begannen seine. Lider zu flattern und drohten wieder zuzufallen.

»Sind Sie Dr. Gelderfields Vater?« rief ich, so laut ich vermochte.

Er öffnete seine Augen weit und antwortete mit tonloser und schwacher Stimme: »Ja.«

Nur unter Anspannung aller Energie und mit dem Einsatz meiner ganzen Willenskraft gelang es mir, mich selbst wach und bei Bewußtsein zu halten. »Dr. Devarest hat Sie doch behandelt?«

»Ja«, antwortete er ebenso schwach wie vorher.

»Kommt er nicht mehr zu Ihnen?«

»Nein. Mein Sohn hielt es für besser, eine Weile zu warten. Wer sind Sie?« Das Sprechen machte ihm sichtlich große Mühe.

»Dr. Devarest ist tot«, gab ich ihm zur Antwort.

Augenscheinlich verstand er den Sinn meiner Worte nicht.

»Wußten Sie nicht, daß Dr. Devarest tot ist?«

Seine Augenlider begannen wieder zu zittern. »Er war seit einer Woche nicht mehr hier«, erwiderte er schleppend.

Ich schüttelte ihn wieder. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen? Am Mittwoch, nachdem er zum Fischen gefahren war?«

Er blickte mir mit Augen entgegen, die nichts wahrzunehmen schienen. »War es, als er vom Fischen zurückkam?« wiederholte ich.

Ich schüttelte ihn so lange, bis er wieder langsam die Augen öffnete. »Ja, er war fischen gewesen. Er hatte einen Streit mit meinem Sohn«, sagte er schwach.

»Worüber?«

»Seine Medizin half mir nicht.«

»Hat Ihr Sohn es Ihnen nachher erzählt?«

»Ja, aber ich habe den Streit auch gehört.«

»Hat Ihr Sohn Ihnen gesagt, worüber sie gestritten haben?«

Er setzte zu einer Antwort an, schloß aber dann die Augen. Unten klingelte das Telefon zweimal kurz hintereinander. Dann verstummte es wieder.

Das war das Signal, das ich mit Dr. Gelderfield verabredet hatte. Mechanisch sah ich nach dem Sekundenzeiger auf meiner Uhr, konnte ihn aber nicht erkennen. Mühsam erhob ich mich. Das Gehen fiel mir unsagbar schwer. Ich konnte mich nur taumelnd vorwärts bewegen. Beim Verlassen des Zimmers stieß ich mit der Schulter wieder gegen den Türrahmen. Als ich die Treppe hinunterging, versuchte ich mich zu beeilen, ohne dabei zu fallen, aber ich stolperte über meine eigenen Beine und fiel die letzten Stufen hinunter. Dabei schlug ich mit dem Schienbein gegen eine Stufe. Der Schmerz half mir, wach zu bleiben. Ich taumelte so schnell, wie es mir möglich war, auf das Telefon zu. Es klingelte wieder, als ich es erreichte. Das mußte Dr. Gelderfield sein.

Ich nahm den Hörer auf, aber dann stand ich ratlos da, konnte mich nicht an die Worte erinnern, die man sagt, wenn man einen Telefonanruf beantwortet. Schließlich stammelte ich ein kraftloses »Ja«.

Dr. Gelderfields klare, sachliche Stimme tönte mir vom anderen Ende der Leitung ins Ohr: »Sind Sie da, Lam?«

»Ja.«

»Hier ist Gelderfield, Lam. Die Schnur, von der Sie sprachen, ist tatsächlich verschwunden. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Aber haben Sie keine Sorge. Ich habe das ganze Korsett an mich genommen. Der Klopfer ist auch an seinem Platz. Hallo, Lam? Hören Sie mich?«

»Ja.«

Plötzlich klang seine Stimme sehr besorgt. »Fehlt Ihnen etwas, Lam?« fragte er.

»Nein, nein, ich glaube nicht...« Die Zunge lag mir wie Blei im Mund, und ich konnte kaum einen Laut bilden.

»Sie haben doch nicht zuviel Whisky getrunken?«

»Nein ...ich weiß nicht...nein.«

»Sie sprechen, als ob Sie sehr müde wären.«

»Ich bin schrecklich müde.«

»Lam, lassen Sie mich jetzt nicht im Stich. Es steht zu viel auf dem Spiel. Sie wissen doch, welches Wagnis ich eingegangen bin«, vernahm ich Gelderfields drängende Stimme.

»Ja - nein -«

»Haben Sie noch mehr getrunken, Lam?«

»Nur noch ein Glas - nur eins -«

»War das bestimmt alles?«

»Ja.«

»War es viel?«

»Ich...ich glaube, ja.«

Gereizt sagte er: »Sie haben zuviel getrunken, Lam. Es ist unverantwortlich von Ihnen. Tun Sie mir einen Gefallen, gießen Sie den Rest der Flasche sofort in der Küche in das Spülbecken. Rühren Sie keinen Tropfen mehr an. Versprechen Sie mir das, Lam?«

»Ja...ja...«, antwortete ich mühsam und drückte die Gabel des Telefonapparates hinunter und unterbrach damit das Gespräch.

Ich wartete lange genug, bis die Leitung wieder frei war. In meinem Kopf fing es laut an zu dröhnen. Ich hatte das Gefühl, als sei im Innern meines Kopfes eine Kugel, die langsam begann, sich um ihre Achse zu drehen, und deren Umdrehungen immer schneller wurden. Mit aller Gewalt versuchte ich, dieses Drehen zu bremsen, aber es war vergebens.

Halt suchend, streckte ich die linke Hand aus und griff in die schwere Portiere am Fenster. Ich klammerte mich daran fest. Dann hob ich die rechte Hand zum Telefon, um zu wählen. Ich wußte nur das eine, daß ich sofort die Nummer des Polizeipräsidiums wählen mußte.

Mir schienen Stunden zu vergehen, ehe sich eine klare, weibliche Stimme meldete: »Polizeipräsidium.«

»Inspektor Lisman — Lisman — Mord...«, stammelte ich schwerfällig und versuchte, jeden Laut so klar wie möglich herauszubringen.

Ich konnte jetzt kaum noch etwas verstehen. Neben meinen Ohren schien ein mächtiger Wasserfall zu rauschen, dessen Getöse alles andere übertönte. Durch dieses Tosen klang schließlich eine männliche Stimme: »Hier Polizeipräsidium.«

»Inspektor Lisman - Lisman - Mord...«, stammelte ich wieder.

Aus dem Hörer schien das Echo meiner Worte in meine Ohren zu klingen. »Lisman - Lisman - hier spricht Lisman...hallo, hier Lisman. Wer ist dort? Was wollen Sie?«

Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung sammelte ich noch einmal alle Kraft, die mir übriggeblieben war. »Hier Donald Lam. - Ich bin im Haus von Dr. Gelderfield. - Ich habe Mrs. Devarest vergiftet. -Ich habe Dr. Gelderfields Vater vergiftet - ich habe - vergiftet - vergift ...« Das Dröhnen in meinem Kopf nahm an Lautstärke zu. Die Kugel in meinem Schädel rotierte unaufhaltsam immer schneller und schneller.

Noch ehe ich auf dem Boden aufschlug, verlor ich das Bewußtsein.