10
Ich drückte die Klinke herunter und trat in ein Vorzimmer. Mrs. Croy war bereits anwesend; sie saß auf einem Sessel und wartete offenbar schon auf mich. Eine mit viel Lippenstift und Wimperntusche dekorierte Sekretärin blickte von ihrer Schreibmaschine auf und fragte, womit sie dienen könne. Mrs. Croy hatte sich bei meinem Eintritt sofort erhoben. »Dies ist Mr. Lam«, erklärte sie. »Er ist mit mir verabredet. Timkan erwartet uns.« Dann begrüßte sie mich mit einem Lächeln.
Die Sekretärin begann zu lächeln und antwortete: »Ach so. Selbstverständlich, Mrs. Croy.« Sie erhob sich und verließ den Raum durch eine Tür mit der Aufschrift >Privat<. Ich ging zu Mrs. Croy hinüber und nahm neben ihr Platz.
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Tür, durch die das Mädchen verschwunden war, und sagte dann halblaut, als spräche sie zu sich selbst: »Ich kann nicht verstehen, wie Timkan diese Sekretärin erträgt.«
»Was haben Sie an ihr auszusetzen? Versteht sie nichts von ihrer Arbeit?«
»Ach, das meine ich nicht. Aber sie wirkt so ordinär. Ich habe mit Mr. Harmley verabredet, daß er mich hier abholt, und Mr. Timkan hat Walter und seinen Anwalt aufgefordert, zu einer Besprechung hierherzukommen. Mr. Harmley habe ich gebeten, um zehn Uhr hier zu sein, dann sei ich fertig. Wenn er kommt, werde ich ihm erklären, daß Mr. Timkan leider zu tun hatte und wir warten mußten.«
»Fürchten Sie nicht, daß es einen Zusammenstoß gibt, wenn Walter mit seinem Anwalt hierherkommt?«
»Vielleicht. Ich habe Walter seit sechs Monaten nicht mehr gesehen und bin neugierig, ob...« Sie beendete den Satz nicht.
»Nun, worauf sind Sie neugierig?«
»Ob er wieder zugenommen hat.«
Ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich zurück. »Neigt er denn dazu?«
»Er ißt gern gut und viel. Ich konnte ihn dazu bewegen, seine Mahlzeiten etwas einzuschränken, mit dem Erfolg, daß er zwanzig Pfund abnahm.«
Die Tür zu Mr. Timkans Privatbüro wurde geöffnet. »Da ist er ja«, sagte Mrs. Croy. »Guten Morgen, Forrest. Darf ich die Herren bekannt machen? Mr. Timkan - Mr. Lam.«
Timkan reichte erst Mrs. Croy und dann mir die Hand. Er war ein kleiner, nervöser Mann mit schnellen, fahrigen Bewegungen. Seine Augen waren von einem blassen Blau. Er war etwa fünfunddreißig, hatte eine vorspringende, gewölbte Stirn und trug eine Brille. »Guten Morgen, Mr. Lam«, sagte er. »Ich bin natürlich informiert, wer Sie sind, aber wir wollen unbedingt, wie verabredet, den Anschein wahren, als ob Sie und Mrs. Croy eng miteinander befreundet sind.« Er machte eine Pause, um die Wichtigkeit, die er seinem letzten Satz beimaß, zu unterstreichen, und fuhr dann fort: »Sehr eng befreundet sogar. Ich halte es für ratsam, das besonders deutlich werden zu lassen, wenn Mr. Croy kommt.«
»Wird es ihn nicht besonders reizen, wenn er sehen muß, daß Mrs. Croy mich zu dieser geschäftlichen Unterredung mitgebracht hat?« fragte ich.
Timkan nickte nachdrücklich mit dem Kopf. »Das hoffe ich.«
»Sie wollen ihn also absichtlich reizen?«
»Ich möchte ihm einen Anlaß geben, sich den Kopf zu zerbrechen. Es muß etwas sein, worüber er nachdenken muß. Wenn es Ihnen möglich ist, versuchen Sie, bei ihm den Eindruck zu erwecken, als seien Sie ein Mitgiftjäger. Ihr Interesse an Nadines irdischem Besitz ist so groß, daß Sie mit ihr zu ihrem Anwalt gegangen sind, um über ihr Geld zu wachen.«
»Ich verstehe Ihre Absicht, Mr. Timkan«, antwortete ich.
»Sie werden sich also Mühe geben, diese Rolle zu spielen?«
»Ich weiß nicht genau, wie Mitgiftjäger sich benehmen.«
»Nun, tun Sie nur so, als ob Mrs. Croy völlig unter Ihrem Einfluß stünde, als ob sie bereit sei, Sie sofort zu heiraten, und vergessen Sie nicht, daß Sie es vor allem auf ihr Geld abgesehen haben. Ich muß jetzt wieder an meine Arbeit. Rose wird mir ein Zeichen geben, wenn ich aus meinem Zimmer kommen soll, also unmittelbar, nachdem Mr. Croy mit seinem Anwalt hier eintrifft.«
Timkan verschwand wieder in seinem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Mrs. Croy nahm wieder in ihrem Sessel Platz, rückte ihn zurecht, damit sie die Eingangstür vor Augen hatte, und lächelte.
»Es tut mir so leid, Donald. Ich weiß, daß Sie das Gefühl haben müssen, daß ich Sie ausnutze, aber schließlich ist diese Begegnung für mich wichtig. Sehr wichtig sogar.«
»Sie wollen verhindern, daß Harmley auf den Verdacht kommt, ich sei Detektiv?«
»Nun ja, gewiß, und mir scheint es am besten...«
Die Eingangstür wurde geöffnet, und Harmley betrat das Büro. Er blieb einen Moment unschlüssig stehen und blickte sich um, als falle es ihm schwer, seine Umgebung zu erkennen. Dann sah er Mrs. Croy und lächelte. »Guten Morgen. Sind Sie mit Ihrer Besprechung schon fertig? Hoffentlich habe ich Sie nicht warten lassen.«
»Nein, leider bin ich noch nicht fertig, Mr. Harmley. Mr. Timkan wurde aufgehalten, und ich habe noch gar nicht mit ihm gesprochen. Er hat die ganze Zeit zu tun gehabt.«
Harmley zog die Augenbrauen hoch. »Es freut mich, daß ich nicht zu spät komme. Guten Morgen, Lam. Ich kann ja warten, bis Sie fertig sind.« Damit nahm er auf einem Stuhl auf der anderen Seite von Mrs. Croy Platz.
Die Tür zu Mr. Timkans Zimmer wurde geöffnet, und seine Sekretärin kam mit einem Stoß Akten unter dem Arm in das Vorzimmer. Sie verteilte die Akten auf verschiedene Stöße, die bereits auf ihrem Schreibtisch lagen, und fragte Harmley nach seinem Namen.
»Mr. Harmley wollte mich nur abholen«, erklärte Mrs. Croy.
Die Sekretärin lächelte und sagte: »Mr. Timkan bat mich, Ihnen auszurichten, wie leid es ihm täte, daß er Sie warten lassen muß. Es wird aber nur noch ein paar Minuten dauern.«
Sie ließ sich vor ihrer Schreibmaschine nieder, zog mit großer Hast Papier und Kohlebogen aus einer Schublade und spannte sie in die Maschine.
Wieder öffnete sich die Eingangstür, und zwei Männer traten ein. Ich warf einen schnellen, prüfenden Blick auf sie und beobachtete dann Harmley und Mrs. Croy.
Mrs. Croy senkte den Kopf und schlug verlegen die Augen nieder.
Harmley blickte auf, sah dann beiläufig auf Mrs. Croy und sagte: »Ihr Anwalt scheint sehr beschäftigt zu sein.«
Sie antwortete nicht, sondern hob die Augen und sagte mit gezwungener Liebenswürdigkeit: »Guten Morgen, Walter.«
Die beiden Männer waren herangetreten. Harmley sah sie prüfend an. Seine Miene verriet nicht mehr als das flüchtige Interesse wohlerzogener Höflichkeit;
»Donald, dies ist Walter Croy«, sagte Mrs. Croy.
Ich erhob mich und sah mich einem Paar feindseliger Augen gegenüber. Bei einem flüchtigen Seitenblick bemerkte ich, daß Harmley nicht etwa Walter Croy, sondern mich mit angespanntem, forschendem Ausdruck betrachtete.
Offensichtlich hatte Walter Croy die zwanzig Pfund wieder zugenommen. »Guten Morgen, Mr. Lam«, begrüßte er mich mit kühler Zurückhaltung. »Wie geht es, Nadine? Das ist mein Anwalt, Mr. Pinchley.«
Pinchley war ein großer, breitschultriger, recht gutaussehender Mann mit kräftigen Gesichtszügen, die allerdings keine besondere Intelligenz verrieten. Mrs. Croy stellte Harmley vor, und dann öffnete sich die Tür zu Timkans Privatbüro. Timkan kam heraus, verbeugte sich grüßend nach allen Seiten und entschuldigte sich gleichzeitig. Seine wortreichen und in verbindlichem Ton geäußerten Erklärungen waren einleuchtend, aber alles in allem sprach er zu viel und zu schnell.
»Donald, sei so gut und warte hier auf mich«, sagte Nadine Croy, »und es wird Ihnen hoffentlich nichts ausmachen, auch noch ein paar Minuten auf mich zu warten, Mr. Harmley? Sie können sich ja so lange mit Donald unterhalten.«
Sie wandte sich an ihren früheren Mann. »Du siehst gut aus, Walter, geradezu glänzend!«
Er antwortete mit einem etwas gezwungenen Lächeln und betrachtete seine frühere Frau mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der ein zwar geschwätziges und interessantes, aber in gefährlichem Grade bösartiges Kind vor sich hat.
»Wollen Sie bitte zu mir hereinkommen«, unterbrach Timkan diese private Abschweifung. Hintereinander folgten Nadine, Walter Croy und dessen Anwalt ihm in sein Zimmer und ließen mich mit Harmley allein zurück.
Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, beugte sich Harmley zu mir herüber und fragte so leise, daß Timkans Sekretärin es nicht hören konnte: »Was ist eigentlich ihr früherer Mann?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Harmley musterte mich wieder mit einem rätselhaft forschenden Ausdruck.
»Mrs. Croy spricht nur sehr selten über ihn. Interessiert es Sie aus einem besonderen Grund?«
»Ja. Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, daß ich glaube, Mrs. Croy schon einmal begegnet zu sein. Bei ihrem früheren Mann habe ich das gleiche Gefühl.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Zuerst war ich mir dessen gar nicht so bewußt. Aber als ich ihn durch die Tür in Mr. Timkans Privatbüro gehen sah, kam mir an seinem Gang etwas vertraut vor, an der Art, wie er seine Schultern hält. Ich habe ein miserables Personengedächtnis und erinnere mich nur selten an Gesichter. Das heißt, ich erinnere mich nur ungenau an sie, aber die Umstände, unter denen ich Menschen begegnet bin, bleiben bei mir haften.«
»So geht es vielen Menschen.«
»Ihnen auch?«
»Nein, mir nicht.«
»Ich wünschte, ich hätte ein besseres Personengedächtnis. Wie oft habe ich mir schon den Kopf zerbrochen, um mich an die Namen und Gesichter bestimmter Menschen zu erinnern.«
»Vielleicht haben Sie die Croys einmal gesehen, als sie noch verheiratet waren.«
»Wahrscheinlich, aber ich habe ein unangenehmes Gefühl dabei, als wolle mich mein Gedächtnis vor einer unerfreulichen Erfahrung warnen, die damit gleichzeitig wachgerufen wird.« Er sah mich an und fügte schnell hinzu: »Natürlich nicht, was Mrs. Croy betrifft. Bei ihr habe ich nur die Empfindung, daß ich ihr schon einmal begegnet bin. Aber was ihren Gatten angeht, so ist mir dunkel in Erinnerung, als ob ich damals - nun, als wäre ich gerade noch an einem fragwürdigen Geschäft vorbeigekommen.«
»Sie können sich aber nicht daran erinnern, was es war?«
»Nein, das ist ja das Dumme.«
»Sie können sich auch an nichts erinnern, das irgendeinen Hinweis gibt?«
»Nein. Leider kann ich mich auch an nichts in meinen letzten Gesprächen mit Dr. Devarest erinnern, was irgendwie von Bedeutung sein könnte.«
Wir schwiegen ein paar Minuten und hörten nur das Geräusch der Stimmen in Mr. Timkans Zimmer, ohne aber die Worte zu verstehen, die gesprochen wurden. Vier oder fünf Minuten später kam Mrs. Croy aus dem Zimmer. Sie schwebte geradezu, als sei sie von einer unsichtbaren Aura umgeben, und strahlte selbstgefällig und triumphierend.
Sie lächelte Harmley zu, als sie um seinen Stuhl herumging und sich zu mir hinunterneigte. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich flüstere. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber es könnte sein, daß sie sich als sehr, sehr wichtig erweist.«
»Selbstverständlich. Ich werde Sie verlassen, wenn Sie etwas Vertrauliches zu besprechen haben«, sagte Harmley.
»Nein, nein, bitte nicht. Ich wollte nur, daß Sie mich nicht mißverstehen.«
Vertraulich legte sie die Hand auf meine Schulter, beugte sich zu mir, daß ihr Mund dicht neben meinem Ohr war, und flüsterte: »Donald, es geht alles großartig. Ich bin so glücklich. Walter ist Ihretwegen wütend. Bleiben Sie bestimmt hier und warten Sie auf mich. Gehen Sie nicht fort, was auch passiert. Ich glaube, diesmal kommen wir tatsächlich zu einem endgültigen Ergebnis, Donald. Diesmal haben wir ihn an der Nase herumgeführt, und das ist bei ihm gar nicht so einfach.«
»Na, ausgezeichnet«, sagte ich.
Sie flüsterte womöglich noch unhörbarer weiter, und ihre Lippen berührten jetzt fast mein Ohr: »Er hat einen Vorschlag geäußert, und ich habe gesagt, ich wolle es mir überlegen, und ging dann hier zu Ihnen hinaus. Mehr als alles andere reizt es ihn, daß Sie hier draußen sitzen und in Wirklichkeit das letzte Wort über das Resultat der Verhandlung haben.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«
Sie lachte und nahm ihre Hand von meiner Schulter. »Warten Sie bitte beide noch auf mich. Es kann nicht mehr lange dauern.«
Harmley sagte zweifelnd: »Nach meinen Erfahrungen ziehen sich Besprechungen zwischen zwei Parteien in Anwesenheit ihrer Anwälte meist viel länger hin, als vorher angenommen wird.«
»Ich bin überzeugt, daß es nur noch ein paar Minuten dauern wird.« Sie zögerte. »Ich möchte Sie aber keinesfalls über Gebühr aufhalten, Mr. Harmley.«
»Aber keineswegs.«
»Ich bin anschließend mit einem Freund von Dr. Devarest verabredet und wollte gern, daß Sie ihn kennenlernen. Er ist sehr interessiert daran, Ihnen zu begegnen.«
»Es würde auch mich sehr freuen, ihn kennenzulernen.«
»Darf ich es wagen, Sie zu bitten, noch länger zu warten? Es ist zu ärgerlich, daß Mr. Timkan so beschäftigt war und unsere Verabredung nicht einhalten konnte.«
Harmley zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, warf dann einen Blick auf seine Uhr und stand unvermittelt auf. »Es tut mir aufrichtig leid, Mrs. Croy. Aber ich fürchte, es wird hier doch länger dauern, als Sie annehmen. Ich habe in einer halben Stunde eine Verabredung, die ich unbedingt einhalten muß. Selbst wenn Sie tatsächlich in ein paar Minuten mit Ihrer Besprechung zu Ende sind und Sie mich noch mit dem Freund von Dr. Devarest zusammenbringen wollen -nun, Sie kennen das doch. Ich hasse es, jemandem die Hand zu schütteln und dann sofort wieder aufzubrechen.«
»Ja, das wäre wenig erfreulich.«
»Könnten wir diese Begegnung nicht auf morgen oder einen anderen Tag verschieben?«
»Sie haben recht, Mr. Harmley. Das ist wohl das Beste.« Mrs. Croy reichte ihm impulsiv die Hand, trat dicht vor ihn und blickte ihm ins Gesicht. »Sie sind sehr aufmerksam, Mr. Harmley. Ich kann gut verstehen, daß mein Onkel Sie sehr geschätzt hat. Und ich schäme mich direkt, wenn ich daran denke, wie lästig ich Ihnen fallen muß. Aber es war wirklich nicht meine Schuld. Sie haben ja selbst gesehen, wie alles kam.«
»Aber selbstverständlich, Mrs. Croy, Sie konnten es natürlich nicht ändern. Das verstehe ich vollkommen.«
»Dann nochmals herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit und auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«
Er verließ das Büro. Nadine kam noch einmal zu mir und beugte sich wieder zu mir herunter. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, als sie flüsterte: »Sie waren großartig, Donald. Hat er irgendein Zeichen des Wiedererkennens verraten?«
»Nein. Aber später ließ er eine interessante Bemerkung fallen. Ich muß mit Ihnen sprechen, sobald Sie Zeit haben.«
Sie schenkte mir ein vielversprechendes Lächeln, ehe sie wieder hinter der Tür zu Timkans Privatbüro verschwand.
Die Sekretärin betrachtete mich mit nachdenklicher Aufmerksamkeit.
Nach weiteren zehn Minuten wurde Timkans Tür aufgestoßen, und Walter Croy kam mit seinem Anwalt heraus. Timkan folgte ihnen in das Vorzimmer. »Sie müssen meinen Standpunkt verstehen«, sagte er. »Aber deswegen keine Feindschaft.«
»Wir geben Ihnen morgen Nachricht«, sagte Walter Croys Anwalt und geleitete seinen Klienten zur Tür. Im Vorbeigehen warf Croy mir einen finsteren, prüfenden Blick zu, dann schloß sich die Eingangstür hinter den beiden. Timkan winkte mir zu, in sein Büro zu kommen.
Ich folgte ihm, und Timkan fragte neugierig: »Hat Harmley irgendeine Andeutung gemacht, daß er Walter Croy wiedererkannt habe?«
»Als die beiden ankamen, nicht. Aber dann sagte er mir, er hätte Walter Croy beobachtet, als er in Ihr Zimmer ging, und glaubte, daß er ihn früher schon einmal gesehen habe. Er hätte das Empfinden, als habe er mit Croy in einer unangenehmen Geschichte zu tun gehabt und sei damals gerade noch an einem fragwürdigen Geschäft vorbeigekommen. Können Sie damit etwas anfangen?«
Timkan sah zu Mrs. Croy hinüber, ging dann mit gerunzelter Stirn zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Dann wandte er sich mir wieder zu. »Es paßt alles zusammen. Wenn wir nur Harmleys Gedächtnis irgendwie auffrischen könnten. Wahrscheinlich würde er uns den Schlüssel zu unserem Problem geben können. Allerdings leuchtet mir nicht ein-, wie er Dr. Devarest Informationen geben konnte, durch die Walter Croy unter Druck gehalten wurde.«
»Ich hatte übrigens nicht den Eindruck, daß Walter Croy Harmley wiedererkannt hat«, warf ich ein.
»Nein«, bestätigte Nadine. »Ich bin überzeugt, daß er ihn nicht erkannte.«
»Wenn ich recht verstanden habe, hat Croy aber nicht soviel Schwierigkeiten bereitet, wie Sie erwartet hatten«, sagte ich.
»Ja, das stimmt«, bestätigte Timkan.
»Halten, Sie es nicht für möglich, daß Croy sich besser verstellen kann, als wir erwarten?« fragte ich.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nehmen wir einmal an, Walter Croy hat Harmley im ersten Moment wiedererkannt, bemerkte aber, daß Harmley sich seiner nicht erinnerte. Er war sich darüber klar, daß Harmley sich früher oder später an ihn erinnern würde. Darum nahm er kurz entschlossen das, was er kriegen konnte, solange ihm überhaupt noch etwas geboten wurde, um dann zu verschwinden.«
Timkan dachte über diese Möglichkeit nach. »Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen - aber dafür war er wieder nicht zugänglich genug.«
»Dann habe ich Sie wohl mißverstanden. Ich dachte, Ihre Verhandlung hätte Sie zu einem befriedigenden Ergebnis geführt.«
»Nicht, was die finanzielle Seite betrifft«, sagte Mrs. Croy. Timkan warf ihr einen ungehaltenen Blick zu, und sie zog plötzlich die Luft zwischen den Lippen ein, als ob sie damit ihre Bemerkung zurücknehmen könne.
»Ich habe nicht die Absicht, mich ungebeten in Ihre Angelegenheiten einzumischen, ich wollte Ihnen nur helfen«, erklärte ich knapp. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Mrs. Croy blickte Timkan an, und ich konnte ihr ansehen, welche Erleichterung sie empfand, mich schnell zu verabschieden, ohne daß sie erst eine Ausrede erfinden mußte.
Mit ihrem bezauberndsten Lächeln wandte sie sich mir zu. »Nein danke, Donald. Sie waren einfach prachtvoll. Wenn Sie etwas Vorhaben, dann lassen Sie sich bitte nicht aufhalten.«
Faraday Foster war das Musterbeispiel für einen modernen, wissenschaftlich arbeitenden Detektiv. Er wirkte wie ein Professor.
Ich übergab ihm meine Karte und sagte: »Ich möchte etwas über diese Haare wissen.«
Er nahm die Haare aus dem Umschlag, den ich ihm reichte, und antwortete: »Gut. Kommen Sie bitte mit mir.«
Sein Labor war imponierend ausgestattet. Neben einer ganzen Reihe von verschiedenen Mikroskopen stand eine Vorrichtung, um Schriftstücke mit Dämpfen zu behandeln und dadurch Geheimtinten sichtbar zu machen. Ferner verfügte er über Ausrüstungen für Infrafotografie, Mikrofotografie und vieles andere.
»Wollen Sie Platz nehmen und eine Zigarette rauchen, oder soll ich Ihnen gleich zeigen, was ich finde?« fragte er.
»Ich würde mir gern gleich ansehen, was Sie feststellen.«
Er nahm die Haare einzeln aus dem Umschlag, legte sie nebeneinander auf ein Glasplättchen und versah jedes an seinen Enden mit einem Tröpfchen Mastix, um sie auf dem Glas festzuhalten. Dann schob er das Plättchen unter ein Mikroskop, blickte durch das Okular und begann mit seinen Erläuterungen: »Diese Haare wurden nicht abgeschnitten, sondern ausgerissen. Das zeigt sich an der Wurzel. Das Haar, das ich jetzt untersuche, stammt von einer Frau im Alter von vierzig bis fünfundvierzig Jahren, sagen wir, um ganz sicher zu gehen, zwischen fünfunddreißig und fünfzig. Wahrscheinlich wurde es mit einem geringen Zug ausgerissen, stammt also vermutlich von einem Kamm oder einer Bürste.«
»Sind die Haare alle gleich?«
Er schob das Glasplättchen unter dem Mikroskop hin und her. »Nein«, antwortete er dann.
»Was können Sie mir über die anderen Haare sagen?«
»Sie sind gefärbt.«
»Dann stammen diese Haare von mindestens zwei verschiedenen Personen?«
»Es sind mehr als zwei. Sie haben mir fünf Haare gebracht, die meiner Ansicht nach von mindestens drei verschiedenen Frauen stammen.«
»Können Sie mir sonst etwas über die Personen sagen, von denen diese Haare stammen?«
»Nichts Zuverlässiges, und so schnell geht es auch nicht. Im Augenblick kann ich nur eine flüchtige Prüfung vornehmen. Wenn Sie einen ausführlichen Bericht wünschen, werde ich genauere Untersuchungen vornehmen und Ihnen mehr darüber sagen.«
»Wie lange wird das in Anspruch nehmen?«
»Für eine vollständige Analyse brauche ich achtundvierzig Stunden.«
»Das ist zu lange.«
»Ist Ihnen denn mit meinen bisherigen Angaben schon gedient?«
»Ja, eine ganze Menge.«
»Soll ich die Untersuchungen also ausführen?«
»Nein. Tun Sie folgendes: Fertigen Sie von jedem Haar ein Präparat an, von dem Sie bestätigen können, daß es Haare sind, die ich zu Ihnen gebracht habe, und bewahren Sie sie auf. Vielleicht benötige ich sie später noch einmal. Ich gebe Ihnen dann rechtzeitig Nachricht.
Von Foster fuhr ich zum Polizeipräsidium. Inspektor Lisman freute sich, mich zu sehen. Er schüttelte mir lange und nachhaltig die Hand, schlug mir auf den Rücken und sagte: »Es macht wirklich Vergnügen, einmal mit einem cleveren Privatdetektiv zusammenzuarbeiten. In Ihrem Beruf tummeln sich so verdammt viele Burschen herum, die nicht wissen, auf welcher Seite das Brot mit Butter bestrichen wird. Man kann sich auf keinen verlassen, und wenn man einmal etwas von ihnen bekommt, ist es meistens eine hohle Nuß.«
»Hat Ihnen mein Tip etwas genützt?«
»Und ob!«
»Sie haben ihr doch nicht gesagt, von wem Sie Ihre Informationen hatten?«
»Natürlich nicht. Wir geben nie unsere Informationsquellen preis. Passen Sie auf, Lam. Sie und ich, wir werden uns ausgezeichnet vertragen. Einen Privatdetektiv, der mit uns zusammenarbeiten will, unterstützen auch wir gern.«
»Das ist nett von Ihnen, Inspektor. Was hatte denn Miss Starr zu sagen?«
»Nicht besonders viel. Interessant ist eigentlich nur ihre Behauptung, sie habe das Haus deswegen so plötzlich verlassen, weil Dr. Devarest versucht habe, seine Stellung als Arbeitgeber auszunutzen, indem er ihr zu nahe getreten ist.«
»Oh!«
»Und dabei bleibt sie auch noch hartnäckig.«
»Schilderte sie Einzelheiten?«
»Ausführlich. Sie berichtete von einer ganzen Reihe von Annäherungsversuchen, die Dr. Devarest unternommen haben soll, bis er schließlich sogar zudringlich wurde und versuchte, sie zu nötigen.«
»Vor einem Geschworenengericht hätte sie mit der Geschichte sogar Aussicht auf Erfolg.«
»Ja. Geschworene fallen auf derartige Erzählungen immer herein«, stimmte er mir zu. »Natürlich will Dr. Devarests Witwe nicht, daß die Sache publik wird.«
»Halten Sie das für Zufall?«
»Was meinen Sie damit?«
»Daß Miss Starr mit so einer, heute nicht mehr nachzuweisenden Geschichte aufgewartet hat, als Sie ihr auf die Spur kamen?«
»Nun«, meinte er nachdenklich, »was soll man dazu sagen?«
»Sie haben es also auch schon in Betracht gezogen?«
»Was?«
»Daß sich ein gerissener Anwalt diese Geschichte für Miss Starr ausgedacht hat?«
Er schob seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen, ehe er mir antwortete. »Ihre Geschichte ist wirklich wie auf Maß gearbeitet. Sie paßt auf sie und ihre Lage wie ein gutsitzender Handschuh. Aber ich glaube ihr trotzdem nicht. Ich konnte zwar keine schwache Stelle, keinen Widerspruch darin entdecken, obwohl ich davon überzeugt bin, daß sie vorhanden sind. Verdammt, Lam, Sie haben natürlich recht. Das Ganze hat sich ein Rechtsanwalt ausgedacht.«
»Werden Sie Miss Starr in Haft behalten?«
»Nur so lange, bis die Staatsanwaltschaft ihre Aussage zu Protokoll genommen hat. Ich habe keinen Anklagepunkt gegen sie. Wir haben ja nur nach ihr gesucht, weil sie so plötzlich verschwunden ist.«
»Hat sie denn zu Mrs. Devarest nie etwas über das Verhalten ihres Mannes gesagt?«
»Nein. Angeblich wollte sie das nicht. Sie behauptet, sie hätte die Annäherungsversuche von Dr. Devarest stillschweigend so lange ertragen, wie sie konnte, und als es ihr zuviel wurde, sei sie auf und davon gegangen.«
»Und ist nicht einmal zurückgekommen, um ihre Zahnbürste zu holen?«
Lisman zog mißmutig die Augenbrauen zusammen. »Die ganze Geschichte stinkt, Lam. Was meinen Sie?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Je länger ich darüber nachdenke, um so fragwürdiger erscheint sie mir. Stellen Sie sich vor, der alte Herr stellt fest, daß der Schmuck verschwunden ist, und hat dann nichts Besseres zu tun, als seiner Sekretärin gegenüber zudringlich zu werden. Das ist höchst unwahrscheinlich.«
»Ich nehme an, daß sie ausgesagt hat, dieses Mal sei er besonders aufdringlich geworden?«
»Ganz richtig.«
»Dann war er anscheinend nicht in besonders großer Sorge wegen des verschwundenen Schmuckes?«
»Miss Starrs Behauptung zufolge nicht. Aber können Sie sich vorstellen, daß Dr. Devarest sich die Zeit genommen hat, der Sekretärin nachzustellen, statt sofort die Polizei zu alarmieren, als er den Diebstahl bemerkte? Das kann doch wohl nicht sein.«
Ich nickte zustimmend.
»Warum hat er überhaupt Miss Starr damit beauftragt, anstatt es selbst zu tun?«
»Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Sie liegen beide sehr tief.«
»Wie tief?«
»Zwei Meter unter der Erde.«
Er dachte einen Augenblick nach, dann nickte er sehr langsam und gedankenvoll mit dem Kopf. Anscheinend schien er meine Anwesenheit völlig vergessen zu haben und war in Gedanken versunken. Erst als ich leise hustete, erinnerte er sich wieder meiner Gegenwart.
»Ich wollte Sie um eine Gefälligkeit bitten«, sagte ich.
»Wenn ich kann, helfe ich Ihnen gern.«
»Ich möchte wissen, nach welchem System die Polizei Verbrecher identifiziert.«
»Meinen Sie die Klassifizierung von Fingerabdrücken? Im allgemeinen finden wir immer nur kleine Ausschnitte, die wir . ..«
»Nein, ich meine, welche anderen Methoden Sie anwenden.«
»Wir registrieren die Art des Vorgehens bei der Tat und andere charakteristische Zeichen, wie etwa körperliche Merkmale.«
»Haben Sie eine Kartei, in der Verbrecher nach körperlichen Merkmalen registriert sind?«
»In gewisser Weise, ja. Nehmen wir an, wir kennen einen Verbrecher, dem ein Daumen fehlt. Dann ist er in einer Kartei erfaßt, die alle Verbrecher mit fehlendem Daumen enthält. Es ist eine 'Heidenarbeit, diese Karteien ständig auf dem laufenden zu halten und zu ergänzen, und ich frage mich mitunter, ob sich der Aufwand lohnt. Aber manchmal haben sie sich schon als wahre Goldgruben erwiesen.«
»Nehmen wir einmal an, Sie suchen einen Mann mit einer Narbe am Kinn, eine Narbe, die vielleicht von einem Messerstich herrühren könnte. Ist auch diese Kategorie von Merkmalen bei Ihnen registriert?«
»Bestimmt.«
»Ich würde sehr gern mal einen Blick in diese Kartei werfen und mich darin umsehen. Ist das möglich?«
»Suchen Sie einen bestimmten?«
»Nein. Ich möchte mir nur eine Vorstellung davon verschaffen, nach welchen Methoden die Polizei bei der Identifizierung von Verbrechern vorgeht. Sind Personen mit den gleichen äußeren Merkmalen in der Kartei zusammengefaßt? Also etwa Einbrecher, Straßenräuber und Erpresser in der gleichen Abteilung zu finden?«
»Selbstverständlich.«
»Wäre es eine große Mühe für Sie, mir diese Kartei einmal vorzuführen?«
»Wofür interessieren Sie sich insbesondere?«
»Für Männer mit tiefen Narben in der Mitte des Kinns.«
»Das können Sie haben. Kommen Sie bitte mit.«
Er führte mich den Korridor entlang, durch eine Stahltür in einen Raum, der mit Karteikästen, die in Regalen standen, angefüllt war. »Mit dieser Kartei haben wir vor den anderen Polizeipräsichen im Lande einen großen Vorsprung. Aber das wird kaum anerkannt. Und es ist sehr schwer, die nötigen Mittel für den Unterhalt und die Weiterführung aufzubringen.«
»Es muß eine irrsinnige Arbeit darin stecken.«
»Und ob.«
Er blieb vor einem stählernen Regal mit Schubkästen stehen, das die Aufschrift >Narben am Kopf< trug und zog ein Fach heraus. Darin gab es folgende Unterteilungen: Narben links, Narben rechts, Narben an der Nase, Narben am Kinn, Narben an der Stirn. Er zog einen Packen Karten heraus und reichte sie mir. »Bringen Sie die Reihenfolge nicht durcheinander«, sagte er.
»Nein, bestimmt nicht«, versicherte ich ihm.
Er blickte auf seine Uhr. »Ich muß an meine Arbeit, Lam. Wenn irgend jemand Sie fragt, wie Sie hier hereingekommen sind, dann sagen Sie nur, daß ich Sie hergebracht habe.«
»Das werde ich tun. Vielen Dank, Inspektor.«
Nachdem Lisman gegangen war, schob ich die Karteikarten an ihren Platz zurück und nahm den Packen heraus, der mich interessierte. Ich notierte mir vier Namen und die entsprechenden Nummern der Personalkarten.
Mit Hilfe der Empfehlung von Inspektor Lisman und den von mir notierten Nummern erhielt ich dann die Informationen, die ich suchte. Die ersten beiden Personalkarten besagten mir gar nichts, aber von der dritten blickte mir das Konterfei von Rufus Bayley entgegen.
>Paul Rufus, alias Rufus Bayley, alias Rufus Cutting< lautete die Namensangabe. >Arbeitet ausschließlich mit Juwelen und an Panzerschränken. War an einer Erpressung beteiligt. Arbeitet mit Vorliebe allein, hat deswegen kaum Komplicen, Helfer und Mitwisser. Versteht es, mit Frauen umzugehen, und benutzt diese Fähigkeit häufig, um durch ein Verhältnis mit Dienstmädchen in den Besitz der von ihm gewünschten Informationen über Möglichkeiten zum Einbruch zu kommen. Strafregisterauszug weist eine einjährige Freiheitsstrafe für Einbruchsdiebstahl aus, die er in Sing-Sing verbüßte. Er wurde bei Ausführung der Tat, als er einen Panzerschrank aufbrach, überrascht und verhaftet. In diesem Fall hatte er seine Bekanntschaft mit einer Zofe benutzt, um die Gelegenheit zu dem Verbrechen auszukundschaften. Die Zofe war aufgebracht darüber, daß er sie mit anderen Frauen hinterging, und gab der Polizei einen Tip. R. vermutet, daß er verraten wurde, obwohl ihm der Verdacht von der Polizei nicht bestätigt wurde.
R. wurde bereits sechsmal wegen Einbruchsverdachtes festgenommen, aber da er sich in seinen spärlichen Aussagen nicht in Widersprüche verwickelte und er niemanden in seine Absichten eingeweiht hatte, der ihn belastete, konnte ihm die Polizei keines der zur Last gelegten Verbrechen nachweisen.<