9
Ich ging zum Haus hinüber und erfuhr, daß Dr. Gelderfield gerade Mrs. Devarest verlassen hatte.
»Ich darf mich nicht unterkriegen lassen«, versicherte sie mir. »Ich muß alles mit Fassung tragen, es in Ruhe und mit Logik betrachten.«
»Sie haben völlig recht, Mrs. Devarest«, pflichtete ich ihr bei.
»Jeder Mensch muß einmal sterben, Donald«, philosophierte sie. »Ich werde Sie jetzt auch Donald nennen, schon weil alle anderen es tun.«
»Das freut mich sehr.«
»Und Sie dürfen mich Colette nennen.«
»Vielen Dank, Mrs. - Colette.«
»Besonders dann, wenn andere Personen dabei sind. Sie wissen ja, es soll den Eindruck machen, als ob Sie Nadines Freund sind...ihr ganz besonderer Freund.«
»Das habe ich verstanden.«
»Es stört Sie doch nicht?«
»Ganz im Gegenteil.«
»Dr. Gelderfield ist der Ansicht, es sei für meinen Gesundheitszustand unerläßlich, daß ich neues Interesse am Leben fände. Er sagt, der Tod sei unvermeidlich, aber die Zeit heile alle Wunden, wenn man selbst durch innere Stärke dabei mithelfe.«
»Das klingt sehr überzeugend.«
»Nicht wahr? Er sagte, daß manche Frauen sich in solchen Fällen von ihrer Umgebung absondern, um sich ganz ihrer Trauer hinzugeben. Sie wenden sich vom Leben ab, und deshalb dauert es Jahre über Jahre, bis sie ihren Schmerz überwinden. Sie erleiden in dieser Zeit ernste seelische Schäden, weil sie von der Gewohnheit nicht mehr loskommen, vor sich hin zu brüten und sich selbst zu bemitleiden. Er hat mir geraten, meine Lage realistisch zu betrachten und mein Leben in der gewohnten Weise weiterzuführen, damit mein unsagbarer Schmerz durch neue Erlebnisse gelindert wird.«
»Und sind Sie seiner Meinung?«
»Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, aber da es ja eine Verordnung meines Arztes ist, muß ich mich danach richten. Es ist nicht immer angenehm, eine Medizin zu schlucken, doch wenn man zu einem Arzt Vertrauen hat, muß man seine Anordnungen auch befolgen.«
»Das ist ein sehr vernünftiger Standpunkt.«
»Dennoch weiß ich nicht, was ich tun soll«, seufzte sie. »Alle Ärzte sagen mir, daß mein Leiden eine reine Nervensache ist, ich bin einfach zu empfindsam veranlagt, meine Reaktionen sind zu heftig, ich bin seelisch zu feinfühlend, zu leicht verletzbar. Aber glauben Sie ja nicht, daß ich zu den übernervösen oder gar hysterischen Frauen gehöre. Mein Leben war bisher voll ausgefüllt und durchaus normal. Ich habe wirklich gelebt. Aber das wird Sie kaum interessieren«, schloß sie und warf mir aus ihren etwas vorquellenden Augen einen koketten Blick zu. »Sie sind ein Mann, Sie haben einen scharfen Verstand. Ihr einziges Interesse ist, komplizierte Kriminalfälle zu lösen. Das hat Mrs. Cool jedenfalls gesagt. Aber sie sagte mir auch, daß die Frauen verrückt nach Ihnen sind. Hat sie das nur gesagt, um meine Neugier zu wecken?«
»Das kann man bei Bertha nie wissen. Es ist durchaus möglich, daß sie nur Ihre Neugier wecken wollte.«
»Aber Sie scheinen ständig nur an Ihre Arbeit zu denken.«
»In meinem Beruf kann man es sich nicht leisten, auch nur einen Augenblick den Fall, den man gerade bearbeitet, aus den Augen zu verlieren.«
»Nein, sicherlich nicht. Doch unter den Frauen, die bei Ihnen Hilfe suchten, gab es doch sicher auch solche, die einsam waren und die wünschten...«
»Sie wünschten von mir vor allem, daß ich einen genau festgelegten Auftrag erfüllte, und das so schnell wie möglich.«
»Sie dürfen natürlich nicht erwarten, daß eine Frau aus ihrer Reserve heraustritt und sich Ihnen offenbart, Donald. Sie müssen mit einem gewissen Maß Scheu und Zurückhaltung rechnen und selbst angemessenes Taktgefühl zeigen.«
»Wahrscheinlich fehlt mir das angemessene Taktgefühl. Was ist aus Dr. Devarests Notizbuch geworden?«
»Das habe ich in Besitz genommen.«
»Ich möchte feststellen, welche Patienten Dr. Devarest an jenem Mittwochabend noch aufgesucht hat. Wenn ich mich richtig erinnere, war er der Meinung, daß er unbedingt zu zwei Patienten fahren müsse. Mit einigen anderen sprach er nur telefonisch. Sie hatten Ihrem Mann eine Liste mit den Namen der Patienten gegeben, die im Laufe des Tages angerufen hatten. Besteht die Möglichkeit, festzustellen, welche Patienten er besuchte und welche er nur anrief?«
»Hat das irgendeinen Einfluß auf die Versicherung?«
»Das kann ich noch nicht wissen. Es kann sein, daß er den vermißten Schmuck im Handschuhfach seines Wagens hatte und Ihnen die Juwelen zurückgeben wollte. Jemand muß sie dort herausgenommen haben, nachdem er tot war.«
»Glauben Sie - ich meine, haben Sie einen Hinweis dafür, daß mein Mann den Schmuck erhalten hat, als er am Mittwoch abend seine Patienten aufsuchte?«
»Eigentlich nicht. Aber etwas anderes ist mir aufgefallen.«
»Was denn?«
»Der Ring, der sich noch in dem einen Etui befand, läßt darauf schließen, daß jemand sehr hastig oder sehr oberflächlich die Etuis durchsucht hat.«
»Es ist doch kaum anzunehmen, daß jemand so flüchtig ist, wenn er es mit wertvollem Schmuck zu tun hat.«
»Das könnte beispielsweise der Fall sein, wenn der Betreffende den Schmuck nur zum Schein gestohlen hat, etwa in der Absicht, ihn später wieder zurückzugeben. Das wäre vielleicht eine Erklärung für eine derartige Unachtsamkeit.«
»Das zielt genau in die Richtung, die Sie nicht verfolgen sollen, Donald. Ich habe Ihnen aufgetragen, zu beweisen, daß Hilton den Schmuck nicht selbst aus dem Safe herausgenommen haben kann.«
»Das habe ich gut verstanden. Sie hatten mich jedoch eben gefragt, aus welchem Grunde jemand mit den Juwelen unachtsam umgehen könnte. Es besteht indessen noch die andere Möglichkeit.«
»Welche andere Möglichkeit?«
»Daß Dr. Devarest den Schmuck an dem Abend tatsächlich von dem Dieb zurückerhalten hat. Er kam hierher, fuhr in die Garage und hatte die Absicht, Ihnen sofort den Schmuck zu übergeben. Aber erst wollte er in der Garage etwas an seinem Wagen in Ordnung bringen, setzte sich dabei dem Kohlenoxydgas aus und wurde ohnmächtig. Als er bewußtlos dort lag, betrat eine andere Person die Garage und hat die günstige Gelegenheit benutzt, um den Schmuck hastig aus dem Handschuhfach zu entwenden.«
»Das gefällt mir schon bedeutend besser, Donald.«
»Ich werde diese Möglichkeit weiterverfolgen.«
»Ja, tun Sie das unbedingt.«
»Ganz, wie Sie wünschen.«
»Dann muß die betreffende Person doch gewußt haben, daß der Schmuck im Auto meines Mannes war?«
»Das ist wohl anzunehmen.«
»Wer könnte es gewesen sein?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Aber Sie gehen dieser Mutmaßung weiter nach?«
»Selbstverständlich.«
»Dann werden Sie doch auch den Schmuck wiederfinden?«
»Das wäre das wenigste.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Der einzige Schlüssel zu dem Handschuhfach ist der Zündschlüssel des Wagens, wenn der Schlüssel aber aus dem Zündschloß gezogen wird, bleibt der Motor stehen.«
»Und was folgern Sie daraus?«
»Die Person, die in die Garage kam, um sich den Schmuck aus dem Wagen anzueignen, mußte zuerst den Zündschlüssel herausziehen, um das Handschuhfach aufzuschließen. Damit stellte sie aber gleichzeitig den Motor ab.«
»Natürlich. Das haben Sie mir eben schon erklärt.«
»Aber als wir Dr. Devarest fanden, lief der Motor noch.«
»Sie meinen also, derjenige, der den Schmuck nahm, steckte den Schlüssel wieder in das Zündschloß zurück?«
»Jawohl. Und er setzte den Motor wieder in Gang und ließ ihn laufen, als er wegging.«
»Warum soll er das getan haben?«
»Um die Spuren seines Diebstahls zu verwischen; um zu verhindern, daß ihm der Besitz des Schmucks nachgewiesen werden konnte.«
»Aber ist deswegen der Schmuckdiebstahl nicht doch das wichtigste?«
»Nein.«
»Dann verstehe ich nicht, was Sie meinen.«
»Wenn Dr. Devarest den Wagen in die Garage brachte, bei laufendem Motor an dem Wagen handelte und sich dabei dem Kohlenoxyd in den Auspuffgasen aussetzte, ohne daß eine dritte Person oder ein äußerer Faktor mitwirkte, die seiner Kontrolle entzogen waren, ist sein Tod zwar auf einen Unfall zurückzuführen, aber er wurde nicht durch für ihn unkontrollierbare äußere Umstände verursacht, denn alle Faktoren, die zu seinem Tode führten, wurden von ihm selbst ausgelöst.«
»Das haben mir meine Anwälte bereits gesagt. Ich halte es für ungerecht. Ich bin der Meinung...«
»Aber«, unterbrach ich sie, »wenn jemand den Motor abgestellt hat, ehe Dr. Devarest tot war - selbst wenn er schon bewußtlos auf dem Boden gelegen haben sollte -, und ihn nachher wieder in Gang gesetzt hat, ist die juristische Lage völlig anders. Dann ist Ihr Mann an den Folgen für ihn nicht kontrollierbarer äußerer Umstände ums Leben gekommen.«
Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff, was ich meinte. »Donald«, rief sie aus, »wie klug von Ihnen. Das ist ein ausgezeichneter Gedanke.«
»Es freut mich, daß Sie mich jetzt verstehen.«
»Dann müßte die Versicherung meines Mannes doch die zweiten vierzigtausend Dollar zahlen?«
»Das ist meine Meinung.«
Sie überlegte angestrengt. »Wäre es nicht möglich, die Versicherung zur Zahlung zu überreden, wenn man ihr diese Theorie überzeugend vorträgt, ohne daß es nötig ist, sie auch zu beweisen?«
»Die Gesellschaft wird sich auf keinen Vergleich einlassen, sie kann es gar nicht. Entweder ist sie zur Zahlung verpflichtet oder nicht. Wenn der Fall klar liegt, zahlt die Versicherung die fällige Summe; wenn irgend etwas Unklar ist, darf sie es nicht. Man wird es zum Prozeß kommen lassen. Für die Versicherung gilt nur der Grundsatz: alles oder nichts.«
»Und warum meinen Sie, daß zwischen Hiltons Besuchen und den Ereignissen in der Garage ein Zusammenhang besteht?«
»Die Person, die die Schmuckstücke aus dem Wagen gestohlen hat, mußte wissen, daß sie sich dort befanden.«
»Sie glauben also, Hilton holte den Schmuck, und die Person, von der er ihn erhalten hat, ist ihm dann in die Garage gefolgt.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Ich kann Ihnen genau sagen, wer die beiden Patienten waren, die mein Mann noch aufgesucht hat, aber es wird Ihnen wenig nützen.«
»Woher wissen Sie das?«
Sie öffnete die kleine Schublade ihres Nachttisches und nahm ein in Leder gebundenes Notizbuch heraus. »Hilton wußte, daß er sich auf sein schlechtes Gedächtnis nicht verlassen konnte. Außerdem hatte er eine Schwäche für sein System. Wenn er einen Patienten besuchte, trug er diesen Besuch in sein Notizbuch ein. Am nächsten Tag gab er die Seite mit den Eintragungen des Vortages seiner Sekretärin. Auf diese Weise vergaß er nie, einen Besuch auch in Rechnung zu stellen.«
»Und hatte er die Besuche am Abend seines Todestages auch notiert?«
»Ja. Es waren zwei. Ich kann mich für diese beiden Patienten verbürgen. Es sind zwei Damen, die mir gut bekannt sind. Die eine ist verheiratet, bei der anderen handelt es sich um eine Witwe. Sie führen ein aufreibendes Leben, sind ständig auf Gesellschaften, die viel zu anstrengend für ihre Gesundheit sind. Jedenfalls hat Hilton das immer gesagt. Aber beide Damen sind über jeden Verdacht weit erhaben. Sie sind beide vermögend und wirklich krank. Hilton sagte, sie litten an Hypertension. Was das ist, weiß ich allerdings nicht.«
Ich nahm das Notizbuch in die Hand und blätterte es durch. Die Ausführlichkeit der Aufzeichnungen verriet, daß es einem Mann gehörte, der seinem Gedächtnis in hohem Maße mißtraute und der eine ordentliche und klare Methode in seinen Notizen entwickelt hatte. Unter anderem hatte er sich die Zeiten von Ebbe und Flut für jeden Mittwoch der nächsten sechs Monate im voraus notiert. Jeder Tag hatte ein Blatt für sich, das herausgerissen werden konnte. Auf diesem Blatt hatte er seine Patientenbesuche notiert. Ferner war eine Anzahl von Telefonnummern und Anschriften aufgeführt, hauptsächlich von Ärzten. Vermutlich handelte es sich dabei um die Namen der Kollegen, die Dr. Devarest in dringenden Fällen zu Konsultationen oder als Assistenten bei Operationen zu seiner Unterstützung rief. Auf einer der letzten Seiten des Büchleins war eine Reihe von Ziffern eingetragen.
»Was bedeuten diese Ziffern?«
»Sie gaben uns die Lösung für die Kombination des Schlosses zum Safe.«
Ich prüfte die Ziffern etwas näher. »War es schwierig, die richtige Reihenfolge zu finden?«
»Nun, es fiel uns nicht ganz leicht.«
Ich hielt mir Dr. Devarest und die methodischen Eintragungen in seinem Notizbuch vor Augen. »Ich glaube nicht, daß es mir besonders schwergefallen wäre.«
Sie sah mich überrascht und gespannt an. »Warum nicht?«
»Er hatte eine Vorliebe für Systematik. Er war ein Mann, der seinem Gedächtnis nicht traute. Von ihm war also zu erwarten, daß er die Ziffern einfach in umgekehrter Reihenfolge aufgeschrieben hat. Hier steht zum Beispiel als letztes eine vierundachtzig. Ich würde also sagen, daß die erste Zahl der Kombination eine achtundvierzig ist.«
Sie brauchte mir nicht erst zu bestätigen, daß ich recht hatte. An ihrem Gesichtsausdruck war es eindeutig zu erkennen. »Donald, ich bewundere Sie«, sagte sie. Die Überraschung in ihrer Stimme war unverkennbar. Aber in ihren Augen war noch eine andere Empfindung zu lesen. Es dauerte eine Minute, bis ich erkannte, was es war. Es war Angst.