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Nachdenklich saß ich in Dr. Devarests Arbeitszimmer. Die Luft schien so stickig zu sein, als ob die Fenster fest geschlossen wären, obwohl sie weit offenstanden. Um mich etwas zu erfrischen, trat ich auf den Balkon hinaus, der vor dem Zimmer lag.

Bei dem ersten Blick auf den glitzernden Sternenhimmel erkannte ich, daß ein Sturm zu erwarten war. Die Luft war im Freien genauso stickig wie im Haus - warm, trocken und ohne Bewegung, sie zerrte an den Nerven.

Ich ging in das Zimmer zurück. Der Apparat, den mir Dr. Devarest bezeichnet hatte, war mit vielen Skalen, Schaltern und Kontrollampen versehen. Nach einer kurzen Prüfung entdeckte ich auf der einen Seite Scharniere und an der anderen einen kleinen Griff. Ich öffnete eine kleine Tür. Im Innern standen unter Spulen und Drähten Bücher. Ich nahm drei oder vier heraus, schaltete die Leselampe ein, setzte mich bequem zurück und begann zu lesen.

Als ich das dritte Kapitel beendet hatte, ging das Unwetter los. Der erste Windstoß schlug mit einer Gewalt zu, als treibe er feste Materie und nicht Luft vor sich her. Unter seiner Wucht schien das Haus zu schwanken. Von überallher war das Schlagen von Türen, das Umherlaufen von Menschen und das Schließen von Fenstern zu hören. Dr. Devarests Arbeitszimmer lag nach Süden und Westen, so daß der Sturm nicht direkt durch die Fenster hereingelangen konnte, dennoch mußte ich sie bald schließen, um mich vor dem alles durchdringenden Staub zu schützen.

Ich nahm wieder das Buch zur Hand, weil es mich fesselte.

Hinter mir knarrte eine Diele.

Während der Stürme sind meine Nerven immer bis zum Zerreißen gespannt. Ich ließ das Buch fallen, sprang auf und drehte mich schnell um.

Vor mir stand Nadine Croy und betrachtete mich überrascht mit ihren dunklen, sorgenvollen Augen, lächelte aber, weil ich so erschrocken war. »Warten Sie hier auf Dr. Devarest?« fragte sie verlegen.

»Ja, er bat mich darum.«

Ihre Unschlüssigkeit schien mir in einem auffälligen Widerspruch zu ihrer gesellschaftlichen Stellung zu stehen. Ich blickte auf meine Uhr, es war zwanzig vor elf. »Dr. Devarest wollte spätestens gegen halb zehn wieder zurück sein«, sagte ich.

»Ich weiß«, antwortete sie. »Aber manchmal verspätet er sich sehr -Wenn er abends noch Patienten besucht und einen dringenden Fall vorfindet. Mrs. Devarest meinte, es sei vielleicht besser, wenn Sie morgen vormittag wiederkommen.«

»Ist es ihr ungelegen, wenn ich noch länger warte?«

»Sie können natürlich hier oben bleiben, wenn Sie überzeugt sind, daß Dr. Devarest noch mit Ihnen sprechen will.«

»Was er wünscht, ist mir noch nicht bekannt. Dafür weiß ich um so besser, was ich will. Ich will seinen Auftrag erledigen, dazu brauche ich allerdings noch einige Auskünfte von ihm. Ich werde also warten, bis er zurückkommt. Dann kann ich mit meiner Arbeit beginnen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie.

Das schien mir etwas zweifelhaft. Sie betrachtete mich einen Augenblick prüfend und schloß dann die Tür hinter sich und trat näher. »Nehmen Sie doch wieder Platz, Mr. Lam. Vielleicht kann ich Sie doch in einigen Punkten aufklären. Vielleicht interessieren Sie sich auch für meine Ansichten.«

Ich folgte ihrer Aufforderung. In noch höherem Maß als zuvor schien mir der Ausdruck ihrer Augen eine private Tragödie zu verbergen. Es wirkte beinahe so, als scheine sie sich vor etwas zu fürchten. Vielleicht war es aber auch nur darauf zurückzuführen, daß ihre Augen für ihr Gesicht zu groß waren. »Ich bedaure, daß Dr. Devarest Sie zu Hilfe gerufen hat«, begann sie.

Dazu hatte ich zunächst nichts zu sagen.

Nach einer Pause, die sie offensichtlich eingelegt hatte, um mich zu einer Äußerung zu veranlassen, fuhr sie fort: »Weil ich weiß, was Sie suchen sollen.«

»Sie meinen den Schmuck?«

»Den Schmuck?« antwortete sie in einem fast verächtlichen Ton. »Sie sind hinter den Dingen her, die Dr. Devarest in dem Safe aufbewahrte.«

»Anscheinend wissen Sie mehr darüber als ich.«

Sie senkte ihre Augenlider ein wenig, während sie diese Möglichkeit erwog. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Dr. Devarest hat Sie bestimmt ins Vertrauen gezogen. Sie sollen Dinge wiederbeschaffen, die er in dem Safe aufbewahrte und deren Existenz er vor mir verbergen wollte.«

Ich schwieg abwartend.

»Sie sind nicht sehr gesprächig, Mr. Lam.«

»Bisher hat sich noch kein Anlaß für mich ergeben, etwas zu sagen.«

»Sie könnten mir wenigstens sagen, ob mein Onkel sich Ihnen gegenüber ausgesprochen hat.«

»Darüber reden Sie doch wohl besser mit Ihrem Onkel selbst.«

»Hat er Sie über Miss Starr informiert?«

»Nein, darum warte ich hier noch auf ihn.«

»Was wünschen Sie denn zu wissen?«

»Ich möchte mir ihr Zimmer ansehen. Mich interessiert, was sie zurückgelassen hat.«

»Die Kriminalpolizei hat das Zimmer doch schon durchsucht.«

»Das weiß ich. Ich möchte das Zimmer aber trotzdem sehen.«

»Wäre es Ihnen recht, wenn ich es Ihnen zeige?«

»Warum nicht?«

»Ja, aber Sie sind so zurückhaltend, als ob man Sie davor gewarnt hätte, mit mir zu sprechen...oder als ob Sie mich verdächtigten.«

Ich lächelte freundlich. »Ich verdächtige niemals jemanden, solange ich nicht einen Anlaß dazu habe. Bis jetzt konnte ich noch nicht einmal anfangen, nach Hinweisen zu suchen.«

»Dann kommen Sie mit mir«, sagte sie.

Ich legte das Buch aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben auf den Rauchtisch, der neben dem Sessel stand, und folgte ihr. Sie führte mich durch Dr. Devarests Schlafzimmer, einen langen Gang entlang und über eine Treppe in den hinteren Flügel des Hauses hinunter. Dort öffnete sie eine Tür. »Dies ist Miss Starrs Zimmer.«

Der Raum war bescheiden tapeziert und eingerichtet, im übrigen aber ordentlich, sauber und bequem. Er enthielt ein weißlackiertes Eisenbett, einen einfachen Frisiertisch aus Fichtenholz mit einem großen Spiegel, einen breiten Schreibtisch, eine Kommode mit Schubladen, einen Schrank, ein Waschbecken mit einem kleinen weißen Medizinschränkchen darüber, einen ziemlich abgenutzten, mit Leder bezogenen Sessel, einen kleinen Tisch mit einer Stehlampe und drei einfache Stühle. Neben dem Bett stand ein Nachttisch und darauf ein billiger Wecker, der laut vernehmlich tickte und mir auf die Nerven ging.

»Wer hat den Wecker aufgezogen?« fragte ich.

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Miss Starr ist doch seit gestern verschwunden.«

»Ja, seit gestern nachmittag.«

»Wenn der Wecker aufgezogen ist, geht er doch für vierundzwanzig Stunden?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ja.«

»Selbst wenn Miss Starr ihn gestern morgen also erst aufgezogen hat, müßte er inzwischen abgelaufen sein.«

Unsicher antwortete sie: »Ich weiß es wirklich nicht. Die Kriminalpolizei hat inzwischen dieses Zimmer durchsucht. Vielleicht hat einer der Beamten das Werk aufgezogen.«

Ich nahm die Uhr in die Hand und begann sie aufzuziehen. Sie war nahezu abgelaufen. Die Weckvorrichtung war abgestellt. Sie stand auf sechs Uhr fünfzehn.

»Wollen Sie sich hier noch weiter umsehen?« fragte sie.

»Ja, das möchte ich.«

Mrs. Croy schien einen Moment zu überlegen, ob sie mich allein lassen solle, dann zog sie sich einen Stuhl heran, setzte sich und beobachtete, wie ich den Schrank und die verschiedenen Schubladen durchsuchte.

»Dort haben die Polizeibeamten schon überall nachgesehen«, sagte sie.

»Sicher, aber ich suche etwas anderes.«

»Was denn?« fragte sie.

»Zum Beispiel das hier.« Ich hielt ein Paar schweinslederne Damenhandschuhe hoch.

»Was ist denn das?«

Ich trug die Handschuhe zu der Stehlampe auf dem kleinen Tisch hinüber. »Fällt Ihnen etwas an diesen Handschuhen auf, Mrs. Croy?«

»Nein«, antwortete sie, nachdem sie einen kurzen, prüfenden Blick auf die Handschuhe geworfen hatte.

Ich zog mein Taschentuch hervor, spannte es über den Zeigefinger und wischte damit über die Handschuhe. Auf meinem Taschentuch bildete sich ein dunkler Fettfleck, den ich ihr zeigte.

Sie runzelte die Stirn. »Was ist das?« fragte sie.

»Schmierfett mit Graphit. Es wird für bestimmte Zwecke verwendet, aber nicht allgemein als Schmiermittel. Sind das Miss Starrs Handschuhe?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube schon. Sie lagen doch auf dem Toilettentisch?«

»Ja.«

»Dann müssen sie Miss Starr gehören.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie das Graphitfett darangekommen sein kann?«

»Nein.«

»Wie Sie sehen, sind die Fettflecke noch frisch. Sie muß in den letzten Tagen an irgendeiner Maschine gearbeitet haben.«

»Wirklich?« erwiderte Mrs. Croy in einem Ton, der verriet, daß sie nicht verstanden hatte, was ich meinte. Vielleicht beabsichtigte sie auch, die Bedeutung meiner Entdeckung zu bagatellisieren.

»Besitzt Miss Starr ein Auto?«

»Nein. Wenn sie an ihren freien Tagen in die Stadt fährt, benutzt sie die Straßenbahn. Wenn sie für Tante Colette Besorgungen zu erledigen hat, fährt sie der Chauffeur.«

»In dem Schrank habe ich eine kurze weiße Hose und ein Paar Tennisschuhe gefunden.«

Lächelnd erklärte sie: »Miss Starr trieb gern Sport. Sie benutzte jede Gelegenheit, den Chauffeur dazu zu überreden, mit ihr Tennis zu spielen.«

»Hatte sie denn Zeit dazu?«

»Nur am frühen Morgen.«

»Wann begann ihr Dienst?«

»Um acht Uhr wurde gefrühstückt. Unmittelbar danach begann ihre Arbeit. Als erstes mußte sie Tante Colette die Post bringen. Tante Colette las ihre Briefe und diktierte dann gleich die Antworten. Dabei schlürfte sie ihren Kaffee.«

»Dann spielte Miss Starr also vor dem Frühstück Tennis. Darum ist der Wecker auch auf sechs Uhr fünfzehn gestellt.«

Mrs. Croys Gesichtsausdruck zeigte plötzlich Interesse. »Glauben Sie, daß Sie etwas entdeckt haben?«

Darauf gab ich keine Antwort.

Ich öffnete den Medizinschrank und betrachtete die darin befindlichen Flaschen, Cremedosen und Tuben. »Ist das hier Miss Starrs Zahnbürste?«

»Ich weiß wirklich nicht, ob das Miss Starrs Zahnbürste ist, Mr. Lam. Jedenfalls ist es eine Zahnbürste, und sie liegt in diesem Schränkchen. Was hat es schon zu bedeuten?«

»Wenn es Miss Starrs Zahnbürste ist, deutet es darauf hin, daß Miss Starr das Haus in größter Eile verlassen hat.«

»Das steht wirklich völlig außer Frage. Ich kann Ihnen bestätigen, daß Miss Starr das Haus tatsächlich in größter Eile verließ. Sie können doch selbst feststellen, daß sie nicht einmal in ihr Zimmer zurückgegangen ist, jedenfalls nicht lange genug, um irgend etwas mitzunehmen.«

Ich schob die Hände in die Taschen, lehnte mich gegen den Schreibtisch und starrte auf den Fußboden.

»Nun«, forschte sie, »was ist Ihnen so Bedeutendes eingefallen? Wirklich, Mr. Lam, wenn ich Ihnen auch gern bestätige, daß Sie ein sehr geschickter und erfahrener Detektiv sind, so müssen Sie doch zugeben, daß die Kriminalpolizei auch nicht gerade auf den Kopf gefallen ist. Die Beamten haben das Zimmer genau durchsucht. Ich glaube, Sie können sicher sein, daß sie jede, auch die geringste Spur entdeckt und geprüft haben.«

»Und was ist mit den Spuren, die hier nicht zu finden waren?«

»Wollen Sie mir Rätsel aufgeben?«

Ich antwortete nicht. Nach einer Pause trieb sie die Neugierde zu der Frage: »Ich habe Sie hoffentlich nicht gekränkt, Mr. Lam? Was meinten Sie eben?«

»Womit?«

»Als Sie nach den Spuren fragten, die hier nicht zu finden sind.«

»Ich meine nicht direkt Spuren, sondern Dinge, die Spuren sein könnten.«

»Was zum Beispiel?«

»Der Tennisschläger.«

»Was soll das bedeuten?«

Mit einer weiten Handbewegung wies ich auf das Zimmer. »Anscheinend ist Miss Starr fortgegangen, ohne ihr Zimmer vorher noch einmal zu betreten. Am Morgen hatte sie Tennis gespielt, das ist ganz offensichtlich. Tennis spielt man mit einem Schläger. In diesem Zimmer ist kein Tennisschläger zu entdecken.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ich habe das ganze Zimmer durchsucht und habe keinen Schläger gefunden.«

Sie sah mich überrascht an. »Aber sie hatte einen Tennisschläger. Das weiß ich ganz genau.«

»Nun, wo ist er denn?«

»Ich weiß es nicht. Es scheint...das ist wirklich merkwürdig.«

Fast eine Minute lang schwiegen wir. Ich hörte das Ticktack des Weckers auf dem Nachttisch, das Brausen des Windes, der um die Ecken des Hauses pfiff. Aber diese Geräusche begleitete ein gleichmäßiges Summen, das ich schon längst wahrgenommen hatte und auf das ich mich nun konzentrierte. Jetzt spitzte ich die Ohren und versuchte herauszuhören, was es wohl sein mochte und woher es kam. Es war ein gleichmäßiges, gedämpftes Brummen wie das Geräusch der Maschine eines Kühlschrankes.

»Liegt die Küche hier in der Nähe?« fragte ich.

»Ja, sie ist fast unmittelbar nebenan.«

»Ob wohl jemand die Tür zum Kühlschrank offenstehen gelassen hat?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Hören Sie nicht den Motor? Er läuft schon die ganze Zeit.«

Sie lauschte und meinte: »Wir können ja nachsehen.«

Ich folgte ihr aus dem Zimmer und den Korridor entlang. Sie öffnete eine Tür und führte mich durch die Anrichte in die Küche, in der verschiedene elektrische Geräte blitzten. Neben dem Spülbecken stand ein großer Kühlschrank. Seine Tür war geschlossen, der Motor lief nicht. Von der Küche aus war das Summen nicht zu hören.

»Gehen wir zurück und lauschen noch einmal«, schlug ich vor.

Als wir in den Gang traten, der durch den Flügel des Hauses führte, in dem die Zimmer des Personals lagen, war das Summen wieder zu hören. »Wo liegt die Garage?«

Sie deutete nach dem Ende des Ganges. »Dort. Die Zufahrt führt direkt hier unter den Fenstern vorbei.«

Ich lauschte angestrengt. »Wir wollen einmal nachsehen. Kommt man hier hinaus zur Garage?«

»Ja. Am Ende des Ganges ist eine Tür.«

Sie schaltete das Licht an, ging voran und stieß die Tür zu einem Raum auf, in dem sich Reifen, Wagenheber, Schraubenschlüssel und andere Werkzeuge befanden. Das Geräusch eines laufenden Motors war hier deutlich zu vernehmen, noch lauter als von Miss Starrs Zimmer aus. Sie öffnete wieder eine Tür, die zur Garage führte. Ein Strom heißer, von Auspuffgasen geschwängerter Luft schlug uns entgegen. Ich warf einen Blick in die Garage, zuckte zurück, holte tief Luft und stürzte nach dem Garagentor. Es war ein Schwingtor. Ich riß es in die Höhe.

Mit einem einzigen Stoß fegte der Sturmwind die giftigen Gase aus der Garage. Dann rannte ich zu dem Körper von Dr. Devarest zurück, packte ihn unter den Armen und zog ihn hinaus ins Freie. Nadine Croy kam mir dabei zu Hilfe.

Nach dem ersten Blick auf Dr. Devarest erkannte ich, daß es zu spät war. Sein Gesicht zeigte jene tödliche Verfärbung, die ich schon auf den Gesichtern anderer Menschen gesehen hatte, die einer Kohlenoxydvergiftung zum Opfer gefallen waren.

Dr. Devarest war tot.