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Gemächlich hob und senkte sich die Motorjacht auf den ruhigen Wogen des Stillen Ozeans. Den meisten Passagieren war es offensichtlich noch zu früh am Morgen, denn nur ein paar vereinzelte Angelruten ragten in verschiedenen Neigungswinkeln über die Reling der Jacht hinaus. Im Osten hatte die Sonne gerade die Höhe des hinter der kalifornischen Küste aufsteigenden Gebirgszuges erreicht.
Bertha Cool hatte sich mit furchtgebietender Unnahbarkeit in einem Sessel niedergelassen, die Füße gegen die Reling gestützt, und hielt mit festem Griff eine lange Bambusrute in den Händen. Ihre grauen, eiskalten kleinen Augen richtete sie aufmerksam auf die Stelle des Wassers, wo ihre Angelleine unter der Oberfläche verschwand. Gespannt erwartete sie das erste noch so geringfügige Zucken an der Leine.
Nach einer Weile griff sie in die Tasche ihrer Wolljacke, zog eine Zigarette hervor, steckte sie in den Mundwinkel, und ohne den Blick von der Angel abzuwenden, fragte sie: »Hast du Feuer?«
Ich senkte meine Angelrute auf die Reling, klemmte sie zwischen die "Knie, um sie in ihrer Lage zu halten, zündete ein Streichholz an, beugte mich zu ihr hinüber und hielt es wortlos an das Ende ihrer Zigarette.
»Danke«, sagte sie und zog den Rauch mit einem tiefen Zug ein.
Durch ihre Krankheit hatte Bertha einen großen Teil ihres überschüssigen Gewichtes verloren. Damit sie schnell wieder zu Kräften käme, hatte ihr der Arzt dringend geraten, sich viel in frischer Luft aufzuhalten. Zu meiner Überraschung hatte sie am Angeln Geschmack gefunden und betrieb es mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Sonne und Meereswind hatten sie bereits gebräunt und gekräftigt. Noch immer kletterte der Zeiger auf der Skala der Waage auf hundertundsechzig Pfund, aber es waren nicht mehr die Fettmassen früherer Tage.
Rechts neben mir saß ein fülliger Mann. Beiläufig sagte er: »Nicht viel los heute morgen!«
Ich murmelte eine höfliche Zustimmung.
»Sie sind schon eine ganze Weile hier draußen?«
»Ja, schon länger.«
»Haben Sie schon was gefangen?«
»Nicht sehr viel.«
Schweigend beobachteten wir eine Zeitlang unsere Angeln, dann begann er wieder: »Mir ist es gleichgültig, ob ich etwas fange oder nicht. Ich genieße es, ruhig und ungestört im Freien zu sitzen und die Meeresluft zu atmen.
»Ganz meine Meinung«, bestätigte ich.
»Meine Nerven sind so weit herunter, daß das Läuten des Telefons mich ebenso aufschreckt wie das Krachen einer Bombe.« Er lachte, als wolle er sich entschuldigen, und fuhr fort: »Dabei kommt es mir häufig so vor, als hätte ich erst gestern mit meiner Praxis begonnen. Damals saß ich an meinem Schreibtisch und starrte erwartungsvoll auf das Telefon, als ob ich es dadurch zum Läuten bewegen könnte. Genau wie Ihre...entschuldigen Sie, die Dame ist doch nicht Ihre Gattin, oder doch?«
»Nein.« .
»Zuerst dachte ich, sie sei Ihre Mutter, aber dann kam mir der Gedanke, daß man heutzutage nie wissen kann...Nun, jedenfalls beobachtet sie ihre Angelleine genauso wie ich damals mein Telefon.«
»Sind Sie Rechtsanwalt?« fragte ich.
»Nein. Ich bin Arzt.«
Nach einer Pause fing er wieder an: »So geht es uns Ärzten. Wir sind so stark davon in Anspruch genommen, für die Gesundheit anderer Leute zu sorgen, daß wir ünsere eigene vernachlässigen. Am Morgen Operationen, anschließend Visite im Krankenhaus, jeden Nachmittag Sprechstunde, am Abend Besuche bei Privatpatienten, und genau in dem Augenblick, in dem man endlich zu Bett gegangen und eingeschlafen ist, ruft irgendein Patient an, der den ganzen Tag über schon Schmerzen gehabt hat, und verlangt, daß man ihn sofort besucht.«
»Sind Sie auf Urlaub hier?«
»Nein, ich suche nur eine kleine Entspannung. Die leiste ich mir jeden Mittwoch...« Er zögerte, ehe er hinzufügte: »Ich muß es. Mein Arzt hat es mir verordnet.«
Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er war etwas zu dick, und seine oberen Augenlider schienen geschwollen zu sein. Ich hatte den Eindruck, als falle es ihm schwer, die Augen zu öffnen. Seine Hautfarbe war bleich, ihre Tönung erinnerte an Kuchenteig.
Mit einem Seitenblick auf Bertha meinte er: »Sie sieht sehr gesund aus.«
»Das ist sie auch. Sie ist übrigens meine Chefin.«
Ein verblüfftes »Oh?« war seine ganze Antwort.
Vielleicht hatte Bertha unserer Unterhaltung zugehört, vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatte sie nicht eine Sekunde ihre Angelleine aus den Augen gelassen, die sie beobachtete wie eine Katze ein Mauseloch. Wenn Bertha sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie in ihrer Umgebung keinen Zweifel darüber aufkommen, wonach, ihr gerade der Sinn stand. Im Augenblick wollte sie angeln.
»Sie leitet eine Detektivagentur«, klärte ich ihn auf. »B. Cool. Vertrauliche Auskünfte und Nachforschungen.«
»Oh«, sagte er wieder.
Berthas Blick wurde härter. Sie spannte alle ihre Muskeln an und lehnte sich etwas vor. Dann verharrte sie regungslos und wartete.
Die Spitze ihrer Rute senkte sich etwas, und Bertha griff mit der rechten Hand nach der Kurbel für die Rolle mit der Leine. Ihre hart dreinblickenden Augen glitzerten in der Morgensonne. Wieder senkte sich die Spitze ihrer Angelrute. Plötzlich durchschnitt die Leine mit heftigen, unregelmäßigen Zuckungen das Wasser.
»Zieh deine Angel ein«, befahl Bertha mir. »Ich brauche jetzt Platz.«
Ich begann meine Leine einzurollen. Da ruckte auch meine Angel unversehens heftig, als wolle mir jemand die Rute aus den Händen reißen, und meine Leine zischte gleichfalls durch das Wasser.
»Das ist ja großartig«, sagte der Doktor. »Ich werde Ihnen aus dem Wege gehen.«
Er stand auf und wollte an der Reling entlanglaufen, um uns Platz zu machen, als auch seine Rute plötzlich hinuntergezogen wurde. Seine Augenlider flatterten, sein Gesichtsausdruck verriet einige Aufregung.
Ich hielt meine Angel krampfhaft fest, als ich Bertha neben mir sagen hörte: »Zieh endlich deine Leine ein. Hol den Fisch doch aus dem Wasser!«
Wir wurden alle drei von unseren Angeln stark in Anspruch genommen. Gelegentlich erkannte ich dicht unter der Oberfläche der grünen Fluten das silbrige Schimmern eines Fisches, der sich heftig gegen den Zug der Leine zur Wehr setzte.
Bertha suchte sich einen sicheren Stand. Dann sprang plötzlich ein großer Fisch aus dem Wasser, und diesen Augenblick benutzte sie, um ihn mit einem Schwung an Deck des Schiffes zu schleudern.
Wie ein Sack Mehl schlug ihre Beute auf die Planken und begann sofort, mit dem Schwanz zu schlagen und heftig hin und her zu zucken.
Auch der Doktor brachte seinen Fisch an Bord, meiner entkam.
Der Doktor lächelte Bertha anerkennend zu. »Sie haben einen größeren Fang gemacht als ich«, sagte er voller Hochachtung.
»Hm«, stimmte Bertha befriedigt zu.
»Schade, daß Ihrer entkommen ist«, wandte sich der Doktor tröstend an mich.
»Das stört Donald nicht«, antwortete Bertha für mich.
Er warf mir einen neugierigen Blick zu.
»Ich bin gern an der frischen Luft«, erklärte ich. »Ich genieße die Bewegung und das Gefühl, nichts tun zu müssen. Wenn ich an einem Fall arbeite, ist es natürlich anders. Aber zwischendurch schätze ich eine Erholungspause sehr.«
»Mir geht es genauso«, pflichtete er mir bei. Bertha warf ihm einen prüfenden Blick zu. Von der Kombüse des Schiffes drang der anregende Duft von frisch gebratenen Würstchen zu uns herüber. »Wie wäre es mit einem Paar Bratwürstchen?« schlug der Doktor Bertha vor.
»Nicht jetzt«, lehnte sie ab. »Jetzt beißen die Fische gerade.« Fachmännisch löste sie den Haken ihrer Angel aus dem Maul des großen Fisches, den sie in ihr Netz gleiten ließ, befestigte einen neuen Köder an dem Haken und warf ihre Leine wieder aus.
Ich verzichtete darauf, meine Angel noch einmal auszuwerfen, sondern sah zu, wie Bertha fischte.
Innerhalb von dreißig Sekunden hatte sie erneut einen Fisch an der Leine. Auch bei dem Doktor biß wieder einer an, aber er kam von der Angel frei, während Bertha ihren zweiten Fang an Deck brachte. Danach machte der Doktor noch einen stattlichen Fang. Bertha mußte sich diesmal mit einem kleineren begnügen. Dann war die Fangsträhne vorbei.
»Wie wäre es jetzt mit einem Würstchen?« fragte der Doktor.
Bertha nickte zustimmend.
»Sie auch?« wandte er sich an mich.
»Gern.«
»Ich gehe sie holen«, sagte der Doktor. »Diesen Erfolg müssen wir feiern. Wollen Sie inzwischen bitte auf meine Angel achten?«
Das versprach ich ihm.
Die Sonne war inzwischen über den Bergen hochgestiegen, und die Morgennebel hatten sich aufgelöst. Auf der Straße, die am Ufer des Meeres entlangführte, konnte man Autos erkennen.
»Wer ist das?« fragte Bertha, ohne ihre Angelschnur aus den Augen zu lassen.
»Ein Arzt, der zuviel gearbeitet hat. Sein Doktor hat ihm geraten auszuspannen. Ich glaube, er will etwas von uns.«
»Ich habe doch gehört, wie du ihm sagtest, wer ich bin.«
»Stimmt. Ich dachte, es könne ihn interessieren.«
»Das ist gut. Man kann nie wissen, wie und wo man zu einem Auftrag kommt«, meinte Bertha. »Ich glaube, daß er etwas für uns hat.«
Mit sechs Würstchen, frischen Brötchen und Senf beladen, kam der Doktor zurück.
»Ich würde ihn niemals für einen Detektiv gehalten haben«, wandte er sich an Bertha. »Ich war immer der Meinung, Detektive wären große, kräftige Burschen.«
»Sie würden sich wundern, wenn Sie ihn kennenlernten«, antwortete Bertha mit einem Seitenblick auf mich. »Er funktioniert vollautomatisch. In unserem Beruf kommt es sehr aufs Köpfchen an.«
Es entging mir nicht, wie er unter den geschwollenen Lidern seine Augen nachdenklich auf mich richtete. Dann senkte er seine Lider, und es schien ihn Mühe zu kosten, die Augen wieder zu öffnen.
»Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, dann heraus mit der Sprache«, ermunterte ihn Bertha.
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Wie bitte? Nun, ich hatte nicht...« Unvermittelt brach er in Lachen aus. »Nun gut«, räumte er schließlich ein. »Sie haben völlig recht. Ich hatte auch immer den Ehrgeiz, die Leiden meiner Patienten zu diagnostizieren, sobald sie mein Sprechzimmer betraten. Ich bin allerdings nie auf den Gedanken gekommen, daß es mir einmal genauso gehen würde. Aber woran haben Sie gemerkt, daß ich Sie um Ihre Hilfe bitten wollte?«
»Es war ganz offensichtlich«, antwortete Bertha. »Seit Donald Ihnen sagte, wer ich bin, haben Sie versucht, sich ein Urteil über uns zu bilden. Worum handelt es sich denn?«
Der Doktor hielt in der linken Hand sein zweites Würstchen. Mit der Rechten griff er in die Tasche, zog seine Brieftasche hervor, öffnete sie mit einem Schlenkern und entnahm ihr zwei Karten. Die eine reichte er Bertha, die andere mir.
Ich warf einen Blick auf die Karte und schob sie in die Tasche. Der Aufdruck besagte, daß er Dr. Hilton Devarest hieß, Sprechstunde nur nach Vereinbarung hielt, in einem mondänen Vorort wohnte und seine Praxis im Medical Mutual Building lag.
»Sie haben unsere gesamte Firma vor sich, jedenfalls soweit sie von Wichtigkeit ist. Ich heiße Bertha Cool, das ist Donald Lam, mein Mitarbeiter. Und nun lassen Sie uns hören, was Ihnen Sorgen macht.«
»Mein Problem ist recht einfach«, begann Dr. Devarest. »Ich bin das Opfer eines Diebstahls geworden und möchte die gestohlenen Gegenstände gern zurückhaben. Ich, werde Ihnen knapp die Tatsachen aufzählen. Neben meinem Schlafzimmer liegt ein Raum, in dem ich allerlei veraltete Apparaturen untergebracht habe. Ein altes Röntgengerät, verschiedene elektrische Behandlungsapparate, ein Mikroskop unter einem Glassturz und ähnliches. Der Raum sieht dadurch sehr eindrucksvoll aus.«
»Arbeiten Sie dort etwa?« warf Bertha dazwischen.
Diese Vorstellung mußte für Dr. Devarest sehr erheiternd sein, denn in einem lautlosen Lachen bebte sein Bauch vor Vergnügen. Er ließ seine schweren, dicken Augenlider sinken, hob sie aber sofort wieder.
»Arbeiten? Aber nein! Das ganze altmodische Zeug steht nur da, um eventuellen Besuchern Respekt einzuflößen. Wenn ich mich in einer Gesellschaft langweile, gebe ich vor, mich meiner Forschungstätigkeit widmen zu müssen, und ziehe mich in diesen Raum zurück. Alle meine Gäste kennen ihn, und er hat allen gehörig imponiert. Ich kann Ihnen versichern, daß jeder Laie die Augen aufreißt, wenn er in das Zimmer tritt.«
»Und was tun Sie, wenn Sie sich dort aufhalten?« fragte Bertha.
»In einer Ecke dieses Zimmers stehen der bequemste Sessel, der für gutes Geld zu haben war, und eine Leselampe. Wenn ich es mir erlauben kann, setze ich mich dort hin und lese Kriminalromane.«
Dieses Bekenntnis nahm Bertha mit einem anerkennenden Kopfnicken zur Kenntnis.
»Montag abend«, fuhr Dr. Devarest in seinem Bericht fort, »hatten wir ein paar besonders langweilige Gäste, ich zog mich bald in mein Arbeitszimmer zurück. Nachdem die Gäste unser Haus verlassen hatten, kam meine Frau zu mir...«
»Und was sagt Ihre Frau dazu, wenn Sie ihr die Unterhaltung der langweiligen Besucher allein überlassen?« unterbrach Bertha ihn.
Das Lächeln verschwand von Dr. Devarests Zügen. »Niemand kann meine Frau langweilen. Sie interessiert sich für Menschen. Und außerdem - nun, sie glaubt, ich arbeite dort oben wirklich.«
»Sie weiß also gar nicht, daß die Einrichtung Ihres Zimmers nur eine Tarnung ist?« forschte Bertha..
Er zögerte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
»Verstehst du denn nicht? Er hat es doch in erster Linie eingerichtet, um sie zu täuschen«, warf ich ein.
»Warum glauben Sie das?« fragte Dr. Devarest überrascht und sah mich forschend an.
»Weil Sie so auffällig zufrieden mit diesem Zimmer sind. Wenn Sie nur daran denken, fangen Sie schon an zu schmunzeln«, erklärte ich. »Aber das ist ja gleichgültig. Fahren Sie bitte in Ihrem Bericht fort.«
»Ihr junger Mann scheint wirklich sehr scharfsinnig zu sein«, bemerkte der Doktor zu Bertha.
»Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt«, erwiderte sie trocken. »Was geschah am Montag abend?«
»Meine Frau trug an diesem Abend einen Teil ihres Schmuckes, und ich habe in diesem Raum einen kleinen Panzerschrank einbauen lassen, der in die Wand eingelassen ist.«
»Ist er auch so veraltet wie das übrige Zeug?« wollte Bertha wissen.
»Keineswegs. Er ist das Modernste, was es auf diesem Gebiet gibt.«
»Und was passierte?«
»Meine Frau gab mir den Schmuck, den sie an diesem Abend getragen hatte, und bat mich, ihn in den Safe zu legen.«
»Tut sie das immer?«
»Nein. Aber am Montag behauptete sie, ein dunkles Gefühl zu haben, daß irgend etwas Unrechtes damit passieren könnte.«
»Und ist wirklich etwas geschehen?«
»Überraschenderweise ja. Die Juwelen wurden gestohlen.«
»Ehe Sie den Schmuck in den Safe legten?«
»Nein, danach. Ich schloß den Schmuck ein und legte mich schlafen. Gestern wurde ich schon um sechs Uhr morgens zu einem Patienten gerufen. Es handelte sich um einen durchgebrochenen Blinddarm. Ich fuhr in allergrößter Eile ins Krankenhaus, um zu operieren. Anschließend mußte ich die üblichen Vormittagsoperationen ausführen.«
»Wo bewahrt Ihre Frau ihren Schmuck gewöhnlich auf?«
»Meistens in einem Safe bei ihrer Bank. Gegen Mittag rief sie in meiner Praxis an und ließ mir ausrichten, ich möge zu Hause vorbeikommen, um ihr den Schmuck herauszugeben.«
»Kann Ihre Frau den Safe nicht öffnen?«
Nachdrücklich erklärte Dr. Devarest: »Ich bin der einzige, der die Nummernkombination kennt, um das Schloß zu öffnen.«
»Was taten Sie also?«
»Meine Sprechstundenhilfe rief mich im Krankenhaus an und übermittelte mir die Nachricht meiner Frau. Ich beauftragte sie, meiner Frau mitzuteilen, daß ich kurz vor zwei Uhr zu Hause sein würde, schaffte es allerdings schon gegen eins. Da ich weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte, war ich in großer Eile. Zwischendurch hatte ich nur ein paar Tassen Kaffee getrunken. Darum ging ich sofort in mein Zimmer hinauf, als ich nach Hause kam.«
»Wo befand sich Ihre Frau, als Sie in Ihr Zimmer gingen?«
»Sie war bei mir.«
»Sie öffneten also den Tresor?« forschte Bertha.
»Ja, und der Schmuck war daraus verschwunden.«
»Vermißten Sie außerdem noch etwas?«
Dr. Devarest sah Bertha mit dem gleichen gespannten Gesichtsausdruck an, mit dem sie ihre Angelleine beobachtete. Knapp erwiderte er. »Nein. Nur die Etuis mit dem Schmuck. Es war sonst nicht viel im Safe. Nur ein paar Hefte mit Reiseschecks, die ich für dringende Fälle immer bereit habe, und ein paar Notizen meiner Forschungsergebnisse über Nierenentzündung.«
»Wo befand sich Ihre Frau genau, als Sie den Safe öffneten?«
»Sie stand in der Tür des Zimmers.«
»Hatten Sie vielleicht vergessen, den Safe abzuschließen, nachdem Sie die Juwelen hineingelegt hatten?« fragte Bertha.
»Nein, das ist ganz ausgeschlossen«, entgegnete er.
»Ich nehme an, daß niemand versucht hat, den Safe gewaltsam aufzubrechen?«
»Nein, derjenige, der ihn geöffnet hat, kannte die Nummernkombination.«
»Woher?«
»Das möchte ich auch gern wissen.«
»Könnte irgend jemand...«, begann Bertha.
»Wir wissen, wer es war«, unterbrach er sie. »Das heißt, wir kennen jemanden, der weiß, wer es war.«
»Und wer ist das?«
»Nollie Starr. Sie ist die Sekretärin meiner Frau.«
»Hat sie Ihnen den Täter denn nicht genannt?«
»Meine Frau rief nach Miss Starr und beauftragte sie, die Polizei zu benachrichtigen.«
»A so. Und was geschah dann?«
»Als die Polizei nach einer Stunde noch nicht eingetroffen war, forschte meine Frau der Verzögerung nach. Sie läutete nach ihrer Sekretärin, aber Miss Starr war verschwunden, und es stellte sich heraus, daß die Polizei nicht benachrichtigt worden war. Miss Starr hatte für ihre Flucht somit mindestens eine Stunde Zeit gewonnen.«
Bertha pfiff durch die Zähne.
»Schließlich erschien dann die Polizei. Die Beamten untersuchten den Safe auf Fingerabdrücke, mußten aber feststellen, daß er mit einem öligen Lappen sorgfältig abgewischt worden war. Der Lappen wurde später in Miss Starrs Zimmer, in einer leeren Hautcremedose versteckt, aufgefunden.«
»War es wirklich der gleiche Lappen?« warf ich ein.
»Ja, das konnte einwandfrei nachgewiesen werden. Der Lappen war mit Waffenöl von einem bestimmten Fabrikat getränkt. Es war das gleiche Öl, mit dem der Safe abgerieben worden war. Außerdem wurde in Miss Starrs Zimmer eine halbvolle Flasche von diesem öl gefunden. Es wies auch alles auf eine hastige Flucht hin, denn Miss Starr hat nichts von ihren Sachen mitgenommen. Sie hat sogar ihre Toilettenartikel und ihre Zahnbürste zurückgelassen. Sie ist einfach davongelaufen.«
»Und die Polizei hat sie nicht gefunden?«
»Noch nicht.«
»Was sollen wir denn nun für Sie tun?«
Dr. Devarest blickte auf den Ozean hinaus. »Ehe ich Ihnen begegnet bin, war ich mir noch gar nicht darüber klar, ob ich etwas unternehmen sollte oder nicht, aber...Nun, wenn Sie Miss Starr vor der Polizei aufspüren können und ihr mitteilen, daß ich unter der Bedingung, die entwendeten Gegenstände zurückzuerhalten, bereit sei, das Vergangene vergangen sein zu lassen, will ich Ihnen ein anständiges Honorar zahlen.«
»Soll das heißen, daß Sie keinen Strafantrag stellen wollen?« fragte Bertha.
»In diesem Fall werde ich keinen Strafantrag stellen und Miss Starr überdies eine Belohnung in bar auszahlen«, erklärte Dr. Devarest.
»Wieviel wollen Sie ihr geben?«
»Tausend Dollar.«
Dr. Devarest nahm mich zum Abendessen mit in seine Wohnung. Als er mich den Mitgliedern seiner Familie vorstellte, zeigte er keinerlei falsche Scheu. Ich war Privatdetektiv, und er hatte mich damit beauftragt, die Nachforschungen der Polizei zu ergänzen.
Der Anblick des Hauses bestätigte meinen Eindruck, den ich von ihm gewonnen hatte. Es hatte Geld gekostet, dieses Haus zu bauen, und es kostete weitere Summen, es zu unterhalten. Es war im spanischen Stil gehalten, mit weißem Stuck und roten Ziegeln auf dem Dach, handgeschmiedeten Gittern um die Veranda, einem gepflegten Vorgarten und einem besonderen Flügel für das Personal. Es war mit Orientteppichen, mehreren Badezimmern, großen Fenstern und schweren Portieren ausgestattet und hatte einen großen Patio mit Springbrunnen und Goldfischteich. Alles atmete eine Atmosphäre gesicherten Wohlstandes.
Mrs. Devarest hatte Speckfalten unter dem Kinn und vorstehende Augen. Sie liebte Essen und Trinken sehr. Bei Tisch führte sie eine alberne Konversation. Mit Vornamen hieß sie Colette.
Im Hause lebten noch zwei Angehörige ihrer Familie. Der eine war Jim Timley, ein bronzebraun gebrannter junger Mann. Sein dünnes Haar, nur noch spärlich vorhanden, war dunkel und kurz geschnitten. Es wirkte, als wäre es von zu viel Sonne völlig verdorrt. Aber seine klaren, haselnußbraunen Augen hatten einen festen Blick, sein Mund war gut geformt, und wenn er lächelte, zeigte er ebenmäßige, weiße Zähne. An der Art, wie er meine Hand ergriff, erkannte ich, daß er sich viel im Freien aufhielt und Sport trieb. Er war ein Neffe von Mrs. Devarest, ein Sohn ihres verstorbenen Bruders.
Bei dem anderen Familienmitglied handelte es sich um eine Nichte von Mrs. Devarest, eine Mrs. Nadine Croy. Sie hatte eine etwa dreijährige Tochter namens Selma. Selma hatte bereits in ihrem Kinderzimmer zu Abend gegessen und war zu Bett gebracht worden. An diesem Abend lernte ich sie daher nicht mehr kennen. Von Mrs. Croy, Tochter einer Schwester von Mrs. Devarest, gewann ich den Eindruck, daß sie Geld besaß. Sie mochte etwa neunundzwanzig sein. Aus Rücksicht auf ihre Figur hielt sie sich offensichtlich im Essen zurück. Der Ausdruck ihrer großen, dunklen Augen ließ darauf schließen, daß sie Kummer oder Sorgen hatte. Da niemand Mr. Croy erwähnte, unterließ ich es, nach ihm zu fragen.
Bei Tisch bedienten ein Butler und zwei recht unscheinbare Serviermädchen. Im Hause war dann noch ein Mädchen namens Jeannette mit einer reizvollen Figur. Ich erfuhr ferner, daß Mrs. Devarest auch einen Chauffeur beschäftigte, den ich aber nicht zu sehen bekam, da er seinen freien Abend hatte. Mrs. Devarest legte großen Wert auf eine umfangreiche Dienerschaft und angemessenes gesellschaftliches Auftreten. Hingegen ließ sich Dr. Devarest ungern bedienen. Er schätzte seine Ruhe, wenn es ihm schon einmal gelang, seiner Praxis zu entfliehen, was offenbar recht selten der Fall war.
Nach dem Essen übergab Mrs. Devarest ihrem Mann eine Liste mit den Anrufen von Patienten, die seine Sprechstundenhilfe durchgegeben hatte. Er forderte mich auf, ihn in sein Arbeitszimmer zu begleiten. Dort wollte er diese Anrufe beantworten.
Das Arbeitszimmer war genauso eingerichtet, wie er es beschrieben hatte. Ich setzte mich in einen Sessel, der gerade noch zwischen einer Sammlung Respekt einflößender medizinischer Apparate Platz gefunden hatte. Er ließ sich in seinem Sessel nieder, zog ein kleines Tischchen mit dem Telefon zu sich heran und sagte: »öffnen Sie bitte diesen Elektrokardiographen, Lam.«
»Welches ist der Elektrokardiograph?« fragte ich ratlos.
»Der Apparat gleich rechts neben Ihnen.«
Ich entdeckte eine kleine Klappe an dem bezeichneten Apparat. Als ich sie öffnete, fand ich im Innern weder Drähte noch Spulen, sondern eine Flasche Scotch, eine Flasche Bourbon, ein paar Gläser und einen Siphon mit Sodawasser.
»Bedienen Sie sich bitte«, forderte mich Dr. Devarest auf.
»Nehmen Sie auch einen?«
»Nein danke, ich muß noch einmal fort.«
Ich goß mir einen Scotch ein. Er war von der teuersten Marke. Dr. Devarest begann mit seinen Telefongesprächen. Er hatte eine freundliche, vertrauenerweckende Art im Umgang mit seinen Patienten. Seine Stimme klang sehr beruhigend. Seinen Fragen und Ratschlägen entnahm ich, daß es sich bei seinen Patienten um wohlhabende Leute handeln mußte, die ihn bei den geringsten Beschwerden um Hilfe riefen. Bei den meisten konnte er am Telefon feststellen, was ihnen fehlte, und ihnen versprechen, daß er eine Apotheke anrufen und ihnen die nötigen Medikamente schicken lassen werde. Zwei Patienten versprach er, sie noch aufzusuchen, die anderen konnte er am Telefon abfertigen.
»So geht es fast jeden Tag«, seufzte er, als er mit seinen Anrufen fertig war und den Hörer auf die Gabel zurücklegte. »Aber diese beiden muß ich leider noch aufsuchen. Es wird etwa eine Stunde dauern. Wollen Sie hier warten, oder wollen Sie mit mir kommen?«
»Ich werde hier auf Sie warten.«
»Sehen Sie sich inzwischen im Hause um. Meine Frau wird Ihnen jede Auskunft geben.«
»Sind die beiden Besuche wirklich so dringend?«
Ein mißmutiger Schatten flog über sein Gesicht. »Natürlich nicht, aber es sind alte Patienten von mir, die meine Hilfe verlangen. Sie gehören zu jener Sorte Neurotiker, die jeden Abend bis tief in die Nacht Bridge spielen, sich den Magen mit schwerem Essen überladen, mehr Alkohol trinken, als ihnen guttut, und sich keine körperliche Bewegung verschaffen und zuviel Fett angesetzt haben. Ein Mensch, bei dem das alles zusammenkommt, kann nicht gesund bleiben.«
»Dann fehlt ihnen eigentlich nichts Ernstes?«
Seine Stimme klang plötzlich sehr kühl. »Beschränken Sie bitte Ihre Neugierde darauf, Miss Starr zu finden. Um meine Praxis kann ich mich schon allein kümmern.«
Als er seine Hand auf die Türklinke legte, sagte ich: »Ich weiß übrigens schon, wer Ihre Juwelen hat. Es ist nicht Miss Starr.«
»Wer denn?«
»Sie selbst.«
Vergeblich versuchte er, seine Augen weit zu öffnen, als er mich verblüfft ansah. Aber seine Lider waren so angeschwollen, daß es ihm trotz seines angestrengten Bemühens nicht gelang. »Ich?« platzte er heraus.
»Jawohl, Sie!« entgegnete ich unbeirrt.
»Sie sind verrückt.«
»Es gibt gar keine andere Möglichkeit. Der Juwelendiebstahl kann nur so vor sich gegangen sein, wie Sie ihn mir schilderten. Sie haben der Kriminalpolizei eine genaue Beschreibung der Schmuckstücke übergeben. Wenn also jemand versuchen sollte, den Schmuck zu versetzen, wird er sofort verhaftet werden. Außerdem ist Ihre Belohnung von tausend Dollar viel zu hoch, und mir fiel auf, wie schnell Sie bereit waren, diesen Betrag auszusetzen. Ich vermute, daß Sie in dem Safe etwas aufbewahrten, dem Sie sehr hohen Wert beimessen. Das ist verschwunden, und Sie wollen wissen, wer es an sich gebracht hat. Aber Sie wollten der Kriminalpolizei nicht mitteilen, worum es sich dabei handelt. Darum veranlaßten Sie Ihre Frau, den Schmuck in dem Safe zu deponieren. Natürlich haben Sie den Schmuck dort eingeschlossen, aber dann haben Sie ihn wieder herausgenommen und später die Polizei benachrichtigt. Damit wollten Sie die Person, die das besitzt, was Sie zurückhaben wollen, unter Druck setzen. Diesem Druck fühlte sich Nollie Starr nicht gewachsen. Als ihr klar wurde, daß Sie den Juwelendiebstahl vorgetäuscht hatten, wußte sie, daß sie verloren war, und floh. Das sagte Ihnen alles, was Sie wissen wollten. Und jetzt wollen Sie mit Miss Starr verhandeln.«
Er schloß die.Tür wieder und kam langsam drohend, als wolle er mich angreifen, auf mich zu. Als er zwei Schritte vor mir stand, hielt er inne. »Das ist völliger Unsinn, Lam.«
»Was erwarten Sie eigentlich von mir? Ich soll Ihnen doch helfen? Sie können auch keinen Patienten behandeln, wenn er Sie über seine Krankheitssymptome täuscht. Ich kann Ihnen nur nützen, wenn Sie mir die reine Wahrheit sagen. Sie wollen von Miss Starr doch gar nicht die Juwelen, sondern etwas anderes.«
»Ihre Schlüsse sind alle ganz falsch«, erwiderte er. »Finden Sie Miss Starr, und bringen Sie den Schmuck meiner Frau zurück. Mehr wünsche ich nicht von Ihnen. Beschränken Sie sich nur darauf, und lassen Sie sich nicht zu abwegigen Schlußfolgerungen verleiten.«
Er blickte auf seine Uhr. »Ich muß zu meinen Patienten. Bleiben Sie ruhig hier sitzen. Dort in dem Diathermieapparat werden Sie etwas Interessantes zu lesen finden. Wenn ich zurück bin, werde ich Ihnen den ganzen Fall schildern.«
»Welches ist der Diathermieapparat?«
»Der dort links neben dem Sessel. Setzen Sie sich dort hin, schalten Sie die Lampe ein und lesen Sie.«
»Wann werden Sie wieder zurück sein?«
Er sah noch einmal auf seine Uhr. »Gegen neun Uhr, spätestens um halb zehn. Und enthalten Sie sich jeglicher Schlußfolgerungen. Sprechen Sie auch mit niemandem. Bleiben Sie hier sitzen und lesen Sie.« Er wandte sich um und ging schnell aus dem Zimmer. Ich hatte den Eindruck, daß er froh war, von mir fortzukommen.