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43. Kapitel

Wie feiert eine Vogelsberger Burschenschaft unbelastet Kirmes, wenn ihr frisch gewählter Watz und Organisationschef seit Tagen vermisst wird?

Diese Frage stelle ich mir, als ich Melina und drei weitere extrem parfürmierte Jungdamen zu ebendieser Auftaktveranstaltung chauffiere. Vermutlich werden sie noch mehr saufen als ohnehin schon. Also die Burschen selbstverständlich, nicht die Mädchen.

«Ich hole euch dann um elf ab, ja?», rufe ich ihnen noch nach, während sie schön längst außer Hörweite sind.

Ich steige kurz aus, zünde mir eine Zigarette an und entdecke auf der Erde einen Programmflyer:

Gestern, Donnerstag, wurde die Kirmes um 19 Uhr mit dem «Traditionellen Antrinken» eröffnet. Heute findet die «Discoparty» mit DJ Mischi, den Spaßmädels und der neuen «4-Farb-Lasershow» statt. Außerdem gibt es neben «Weizenbier vom Fass» auch eine «Sektbar mit lecker Cocktails». Morgen dann der «Liveact», die Band «The Funny Sunshines» mit Überraschungsgästen, die «fetzigen Rock & Pop plus Fun & Party» versprechen, und am Sonntag dann «Frühschoppen» mit «Happy Hour», Mittagessen, Kuchen und dem «Feschen Günther» an der Orgel.

Ich beobachte, wie die jungen Vogelsberger Menschen nach und nach zu einem der kulturellen Highlights des Jahres herangeströmt kommen.

Den ganzen Tag über habe ich versucht, Markus zu erreichen, um zu erfahren, ob es etwas Neues gibt. Ich bat ihn per Mail und Mailboxnachricht, mich zurückzurufen. Er tat es nicht. Das ärgert mich. Mir wird klar, ich bin wirklich raus aus der Nummer. Dabei würde ich nur zu gerne wissen, was Faton Thaqi und Adrians Burschenschaftskumpel zu dem Sim-Karten-Fund gesagt haben. Verrät mir aber keiner. Ich steige wieder ins Auto und fahre nach Hause, um das Freitagsspiel der Fußball-Bundesliga zu schauen. Laurin übernachtet mal wieder bei Calvin-Manuel. Franziska ist nicht da. Sie ist mit der Schlampe bei einem Meditationsworkshop in Fulda. Das hat sie mir einfach so gesagt.

Um 21.48 Uhr surrt mein Handy. Ah, endlich Markus, denke ich. Doch stattdessen lese ich eine SMS von Melina:

«hilfe»


Es ist schwer bis unmöglich zu beschreiben, was in einem Vater vorgeht, wenn er seine Tochter regungslos auf dem Boden liegen sieht und sich gleichzeitig ein junger Mann über sie beugt. Daher versuche ich es auch erst gar nicht.

Der Reihe nach:

In dem Moment, als mich Melinas SMS erreicht, springe ich sofort vom Sofa auf, hetze zum Auto und rase zum Kirmesplatz. Dabei rufe ich immer und immer wieder auf ihrem Handy an, doch stets meldet sich nur die Mailbox.

Ich parke, renne ins Kirmeszelt und suche. Ich finde Melina nicht. Stattdessen donnern mir ohrenbetäubende Bass-Beats in den Ohren. Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich eine ihrer Lisa-Freundinnen an der Sektbar. Ich laufe hin, frage sie nach Melina, worauf sie mir ins Ohr brüllend antwortet, Melina sei aus dem Zelt hinausgegangen. Wohin genau, wüsste sie allerdings nicht. Ich drängle mich also wieder durch die betrunkenen Jugendlichen-Massen, höre dabei «Shalalalala» und «Olé Olé Olé» von sich in den Armen liegenden jungen Männern.

Draußen stoße ich auf wild herumknutschende Pärchen neben schwankend urinierenden «Männern».

Mein Herz beginnt immer schneller zu schlagen, während ich ziellos die Gegend um den Zeltplatz ablaufe und laut Melinas Namen rufe.

Dann entdecke ich ungefähr zweihundert Meter von mir entfernt zwei Männer im Dunkeln einen Weg jenseits des Baches in Richtung Zelt rennen.

Intuitiv entscheide ich mich, wie Indiana Jones den mindestens einen Meter vierzig breiten Bach zu durchqueren und weiter dorfauswärts zu rennen. Mit nassen Füßen und komplett außer Atem stehe ich vor einer Wiese, und auf der Wiese liegt ein Körper.

«MELINA», schreie ich. Der Mann, der vor ihr hockt, dreht sich zu mir um. Ohne hinzuschauen, stürme ich, so schnell ich kann, auf den Mann zu und stürze mich auf ihn.

«Nein, stopp», ruft er. «Ich hab ihr …» Doch bevor er seinen Satz zu Ende bringen kann, habe ich ihm schon ins Gesicht geschlagen.

Ein Volltreffer. Er fällt benommen zur Seite, und erst da erkenne ich, dass es Faton Thaqi ist.

Melinas Gesicht ist blutverschmiert. Doch sie lebt. Sie ist bei Bewusstsein.

«Papa», murmelt sie schwach.

Ich stütze sie, während sie ihren Oberkörper aufrichtet.

«Melina, was ist passiert? Was hat er mit dir gemacht?», frage ich sie atemlos mit Blick auf den noch immer wehrlos am Boden liegenden Faton Thaqi.

«Nichts», flüstert sie. «Der hat mir geholfen …»

Mit einen Taschentuch versuche ich, ihr Nasenbluten zu stillen.

«Was ist passiert?», frage ich erneut und entdecke erst jetzt, dass ihre Bluse zerrissen ist. Ich gebe mir alle Mühe, beruhigend auf sie einzuwirken, doch inzwischen hat es fast den Eindruck, dass Melina deutlich ruhiger ist als ihr Vater.

«Diese Wichser», flucht sie, «Sebi und Müllo waren das. Die haben mich dumm besoffen von der Seite angemacht, dass ich wissen würde, wo der AA ist und so. Und außerdem darf man einen AA nicht so behandeln, wie ich das getan hab, und so’n Scheiß ham die gelabert. Da habe ich denen irgendwann gesagt, dass ich vielmehr wüsste, was sie mit Lasse gemacht haben.»

Oje, denke ich. Das war entschieden nicht sehr klug.

«Und dann?», frage ich nervös, während sich Faton Thaqi langsam aufrichtet und sich die Nase hält. Ich nicke ihm mit entschuldigendem Blick zu.

«Die haben mich gepackt, einfach so in die Zange genommen», fährt Melina fort. «Und mich vom Zeltplatz weggezerrt. Dann wollt ich schreien. Doch die Penner haben mich dann mit ’nem Messer bedroht.»

«Was haben die dann mit dir gemacht?», frage ich noch etwas ungeduldiger.

«Mich hierher gezerrt. Die waren hackedicht und ham mich dann so rumgeschubst. Dann hat Müllo in seiner Tasche nach ’nem Joint gesucht. Ich hab dir dann schnell diese SMS geschrieben. Das hat dann der Müllo gemerkt und mir dann doch tatsächlich mit der Hand auf die Fresse gehauen. Volles Rohr …»

Ich atme tief durch.

«Ich habe die drei vom Zeltplatz weggehen sehen», schaltet sich nun überraschend Faton ein. «Das sah irgendwie komisch aus. Ich hatte diese Typen schon den ganzen Abend im Visier. Wollte sehen, wie diese Kumpels von dem Typ so drauf sind, der mein Handy geklaut hat und mich fertigmachen wollte.»

Melina rotzt sich Blut aus der Nase wie Wladimir Klitschko in der zwölften Runde.

«Ich bin dann hinterher», redet Faton weiter, «und als ich dann gesehen habe, dass der eine dem Mädel das Hemd zerreißt, bin ich hingerannt und hab denen Bescheid gegeben.»

«Danke», sage ich, atme noch mal tief durch und schaue wieder zu meiner Tochter.

«Die Drecksäue», flucht sie.

«Woher wissen Sie eigentlich das mit dem Handy?», frage ich Faton.

«Na, von euch, Ihre Kollegen waren doch gestern bei mir. Dieser Albrecht geht ins gleiche Fitnessstudio wie ich. Da muss er mir das geklaut haben, der Penner. Und die anderen beiden Schwachmaten kenne ich auch von dort, vom Sehen.»

Ich nicke und wende mich wieder Melina zu.

«Haben die dir irgendwas, haben die dich … angefasst, oder so?»

«Nee, zum Glück kam er dann ja und hat die vertrieben.»

Was habe ich nur für ein tapferes, toughes, starkes Mädchen, denke ich, im klaren Bewusstsein, dass sie das mit Sicherheit nicht von mir hat. Langsam macht sich trotz der blutenden Nase meiner Tochter ein ungeheures Gefühl der Erleichterung breit.

Faton, der inzwischen aufgestanden ist, richtet sich noch einmal die Nase, knackst kurz mit den Fingern und sagt: «So, da wollen wir mal gucken, wo die beiden Vollpfosten sich jetzt so rumtreiben …»

«Stopp», rufe ich. «Lassen Sie das bitte. Ich rufe jetzt meine Kollegen an, die werden die beiden suchen und finden.»

«O.k., o.k.», murmelt Faton Thaqi und nimmt Gott sei Dank von seinem Vorhaben Abstand. «Gibt’s was Feigeres? Zwei Männer gegen ein Mädel. Was würde ich denen so gerne …»

Ja, würde ich auch. Doch es ist an der Zeit, Vernunft walten zu lassen, und ich rufe im selben Moment bei meinen Kollegen an.


Mir geht diese Sauferei in scheinbar allen Lebenslagen vor allem bei meinen Mitmännern gehörig auf die Nerven. Bei Geselligkeit geht’s scheinbar nicht ohne, bei Verbrechen auch nicht.

Man müsste bei der Polizei Osthessen mal eine Untersuchung in Auftrag geben, wie viel Gewalttaten unter Alkoholeinfluss geschehen. Vermutlich gibt es die schon längst, nur haben mich bisher Verbrechensstatistiken recht wenig interessiert. Munker ist Alkoholiker. Nüchtern hätte er Ellen Murnau niemals erstochen. Nüchtern hätte er auch gar keinen Grund dazu gehabt. Müllo und Sebi sind sturzbetrunken über die Tochter eines Hauptkommissars hergefallen. Nüchtern würde ich selbst diesen beiden Deppen so eine Dummheit nicht zutrauen. Das Positive an diesen Saufereien ist, dass sich die Kerle nach ihren jeweiligen Verbrechen so dämlich verhalten haben, dass es selbst für mich leichtes Spiel war, sie zu überführen. Auch wenn ich zugebe, dass nüchterner Zufall ebenfalls mit im Spiel war.

Wenn das, was in den letzten Wochen hier in unseren beschaulichen Vogelsberger Breiten geschehen ist, in einem Roman zu lesen oder im Fernsehen zu sehen wäre, würde dies kaum einer für glaubhaft halten. Doch es ist nun einmal so, dass die Fiktion oft von der Realität eingeholt wird. Nicht zu fassen, wie eng all diese Geschehnisse mit meinem eigenen Leben und den dazugehörigen Personen verknüpft sind. Melina war die Freundin von Adrian, der verschwunden ist und vorher den Sohn meiner Affäre unter Druck gesetzt hat. Das glaubt einem doch kein Mensch. Zum Glück ist Munker nicht mein Schwager.

Müllo und Sebi konnten von Kollegen aus Lauterbach problemlos in der Nähe des Festzeltes festgenommen werden. Nun nüchtern sie aus und werden morgen von Markus Meirich vernommen werden. Markus versprach mir erneut, mich auf dem Laufenden zu halten. Noch immer fehlt von Adrian Albrecht jede Spur. Und mein Gefühl sagt mir leider eher, dass etwas Furchtbares passiert ist, als dass er auf der Flucht ist.

Vielleicht mag mir keiner glauben, wenn ich an dieser Stelle behaupte, dass ich ahne, nein mehr noch, dass ich fast sicher bin, zu wissen, was mit Adrian passiert ist. Ich bin weit davon entfernt, für meinen Verdacht Beweise zu haben, trotzdem. Doch nichts überstürzen, Herr Bröhmann, nur ruhig mit den jungen Pferden, abwarten und Tee trinken und vor allem vorher noch einmal in die Kirche gehen.

Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder
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