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16. Kapitel

Zugegebenermaßen war es ein etwas bemühter Versuch, den Franziska auch sogleich durchschaute, als ich ihr zu ihrem Geburtstag im Februar Karten für ein Klavierkonzert schenkte.

Doch es war gut gemeint, und das honorierte sie. Natürlich war es ein Wink mit dem Zaunpfahl, eine flehende Bitte, sich von diesem Geschenk und diesem Abend dazu inspirieren zu lassen, sich wieder selbst ans Klavier zu setzen. Doch das war ihr egal, sie freute sich spürbar über das Geschenk. Ich wusste, dass Graziella Toccati zu ihren Lieblingspianistinnen gehört und sehr selten in Deutschland auf Tournee ist. Und als ich dann kurz vor Franziskas Geburtstag in der Zeitung las, dass Toccati auf dem Gießener Schiffenberg im Mai ein Konzert geben wird, musste ich die Karten einfach kaufen.

Mir ist danach, mich zu overdressen, und ich binde mir zu Franziskas Vergnügen seit langer Zeit einmal wieder eine Krawatte um den Hals. Franziska verzichtet auf Abendgarderobe, da sie ohnehin «nichts anzuziehen» habe. Sie trägt eine schwarze schmal geschnittene Hose und einen roten Rollkragenpullover.


Auf der halbstündigen Fahrt nach Gießen reden wir nicht viel, und wenn, dann schon gar nicht über etwas, das auch nur im weitesten Sinne mit Klavierspielen zu tun haben könnte.

Der Schiffenberg ist so etwas wie das Schmuckstück der eher unscheinbaren Universitätsstadt Gießen. Von einigen Gießenern weiß ich, dass sie ihre Gäste gerne zum Hausberg zerren, um sich die Peinlichkeit zu ersparen, den weitgereisten Besuchern die Innenstadt zeigen zu müssen.

Die alte Klosterruine Schiffenberg macht was her. Ein hübscher Ausflugspunkt, stadtnah und doch abgelegen mit Wald, Wiesen, Würstchen, Kaffee und Kuchen garniert. Im Innenhof des Klosters finden im Sommer Kulturveranstaltungen statt, angefangen mit der Feuerwehrkapelle aus Wettenberg, über heimische Rock-Cover-Bands, deren Musiker inzwischen noch mehr in die Jahre gekommen sind als die Musik, die sie noch immer spielen, bis hin zu Großveranstaltungen mit BAP oder ähnlichen Kalibern.

Heute Abend aber soll es deutlich schöngeistiger zur Sache gehen. In der überdachten Basilika wird zum Klavierabend geladen. Dementsprechend dünn sind die Plätze besetzt, bemerke ich, kurz nachdem Franziska und ich Platz genommen haben. Obwohl Graziella Toccati eine Musikerin von internationalem Rang ist, verirren sich gerade einmal sechzig Zuschauer mit uns in diese Veranstaltung.

Ein untersetzter Mann mit Strickweste, gestreiftem Hemd, gepflegtem Vollbart und violetter Krawatte begrüßt das Publikum, entpuppt sich als Konzertveranstalter, redet zu lange zu langweiliges Zeug und bittet dann endlich Signora Toccati auf die Bühne. Gießens angespanntes Bildungsbürgertum klatscht gehemmt, und die Meisterin, die dreißig Jahre älter ist, als sie auf den Plakatfotos aussieht, verbeugt sich scheu, ehe sie am Konzertflügel Platz nimmt, ihre Hände auf die Tasten legt, kurz innehält, den Oberkörper vorbeugt und zu spielen beginnt.

Schubert.

Routiniert absolviert sie ihr Pensum, und ein kühler Wind weht in die Basilika.

Ich versuche mich aufs Hören zu konzentrieren, was mir nicht immer gelingt. Zu oft fliegen meine Gedanken weg, zu DNA-Tests, zu Laurins Zeltlager oder zu Freds Bock. Dann höre ich eine Passage, die mir bekannt vorkommt. Die mich wie ein Donnerschlag berührt. Ich spüre, wie ein Schauer über meinen Rücken jagt und in einer furiosen Gänsehaut auf meinen Unterarmen endet. Franziska hatte das gespielt, früher. Sie war schwanger mit Melina, saß dickbäuchig und breitbeinig auf das Platzen der Fruchtblase wartend auf der schmalen Klavierbank und spielte genau das.

Ich greife nach ihrer Hand. Sie nach meiner, ihre Hand ist warm, meine kalt, und ich weiß, ohne dass ich sie anschauen muss, dass sie leise weint.

Der zweite Teil des Konzerts mit sperrigen Rachmaninow-Stücken langweilt mich eher, und ich sehne mich ein klein wenig dem Ende und der Bratwurst entgegen, die ich für die Heimfahrt fest ins Auge gefasst habe.

Irgendwann ist es dann so weit, die gesetzten grauhaarigen Damen und Herren applaudieren mit freundlichen Gesichtern, und Graziella Toccati verlässt die Bühne.

«Henning, das war toll, vielen Dank», flüstert Franziska und küsst mir auf die Wange. Ich freue mich, lockere meine ungemein lässige Krawatte und sehe plötzlich in das Gesicht von Stefanie Assmann.

«Hallooo», ruft sie strahlend, winkt dabei einen Mann um die vierzig und einen pubertierenden Knaben zu sich und schreitet zielstrebig auf uns zu.

«Hallooo», schmettere ich etwas zu laut zurück und begrüße sie mit Handschlag.

«Das ist ja ’ne Überraschung. Kaum gibt’s mal echte Kultur in Gießen, schon trifft sich der halbe Vogelsberg hier», scherzt sie.

«Jaha», mache ich.

«Hallo, ich bin Franziska Bröhmann», sagt meine Frau, nicht darauf wartend, bis ich sie vielleicht irgendwann vorstelle.

«Stefanie Assmann.»

Kurz erläutere ich etwas umständlich, woher Stefanie und ich uns kennen.

Inzwischen ist auch ihr Gefolge eingetroffen.

Pfarrer Gregor Assmann ist mir auf den ersten Blick sympathisch. Ein jungenhaft wirkender Mann, mit spitzbübischem Gesichtsausdruck, kleiner runder Brille, sportlicher Figur und einer angenehmen, warmen Stimme.

«Ich habe schon viel von Ihnen gehört», floskele ich.

«Ich kenne meinen schlechten Ruf», kontert er.

«Das ist unser Sohn Lasse», stellt Stefanie einen etwas abseits stehenden blonden Jungen vor, der eindeutig noch mehr Kind als Mann ist. Er reicht uns höflich die Hand.

«Lasse spielt selbst Klavier. Deswegen sind wir heute hauptsächlich hier», bemerkt Stefanie und legt ihre Hand um Lasses Schulter, was diesem altersgemäß unangenehm ist. Er entwindet sich sacht ihrem Arm und stellt sich schnell einen Sicherheitsmeter neben seine Mutter.

«Ach ja?», sagt Franziska, und ihr Gesichtsausdruck erhellt sich.

«Und das Verrückte ist», mischt sich Gregor Assmann ein, «er spielt sogar freiwillig. Weiß auch nicht, was wir falsch gemacht haben.» Er grinst kokett.

«Das ist ja toll», sagt Franziska. «Bei wem hast du denn Unterricht?»

Lasse, der auf den Boden schauend unsicher herumdruckst und mit den Schuhen kleine Steinchen sortiert, nuschelt: «Bei Olga Demerova, in Laubach.»

«Oh, wow!», macht Franziska. «Dann musst du ja richtig gut sein. Olga unterrichtet nicht jeden.»

Etwas stolz berichten die Assmanns, dass Lasse, seit er fünf Jahre alt ist, gerne Klavier spiele und ganz freiwillig jeden Tag übe. Seit einiger Zeit spiele er auch auf der Kirchenorgel Bach.

So plänkeln wir noch ein wenig heiter weiter, bis wir uns verabschieden, in unsere Autos steigen und ich endlich zu meiner Bratwurst komme.




Mannmannmann Maaaaara, ich flipp aus. Du und der Robert Pattinson, sorry, jaaa ich weiß, Dan heißt er … Wie geil ist das denn??? Ich freu mich voll für dich und ihr seht so total süß aus. Ich glaub’s ja nicht. Wie haste den bitte rumgekriegt, du German Luder? Ich brauch mehr Infos!!! Und alle Einzelheiten bitte, Miss Mara!!
Heute kriegste auch mal ein paar Pics. Auf dem dritten gucke ich voll blöd, ich weiß, aber ich finds so süß, wie AA da seinen Arm um mich legt.
Ach scheiße Mara, ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich dir das jetzt schreiben soll, denn es ist voll peinlich. Ich war voll arschig. Und wenn ich dir jetzt maile, darfste nichts Superschlimmes von mir denken. Bitte bitte!! Und natürlich ist es top secret, aber das brauch ich ja dir nicht extra zu sagen.
Oh mann, ich schäm mich so …
Also …
Ich hab geschnüffelt. Ich war bei AA, wir ham da abgehangen. Da kam der Müllo vorbei und wollte mit ihm was belabern, wegen der Burschenschaft-Kirmes oder so. Müllo und AA sind dann raus und ich bin im Zimmer geblieben. Und ich hab gar nicht so richtig nachgedacht, und mir war langweilig, da hab ich dann halt gesehen, dass sein Handy da noch rumlag. Und ich habs einfach genommen.
Ich weiß, das geht gar nicht und du findest das bestimmt voll scheiße, ich ja auch, ich weiß auch nicht, warum ich das gemacht hab. Ich schäm mich auch so. Ich hab ja gar nix bestimmtes gesucht und so.
Und dann war ich total geschockt … Da waren so Videos. Total krank … da wurde eine Katze an nen Baum gehängt und mit Dartpfeilen auf sie geschmissen. Ich hätt fast gekotzt. Ich erspar dir weitere Einzelheiten. Jedenfalls konnt ich das gar nicht weiter angucken.Ich habs dann sofort weggelegt und war total durch. Das Schlimmste ist: ich kann nicht mal ausschließen, ob AA das nicht sogar selber gefilmt hat. Oh Mann, ich will das gar nicht wissen …
Mara, echt, der Adrian ist nicht so. Ich kapier das überhaupt net. Oder ist das normal bei Jungs? Wie siehstn du das? Der hat so Videos doch nur wegen seiner Kumpels auf seinem Handy, glaub ich … weil es alle haben. Du kriegst jetzt bestimmt ein voll falsches Bild von AA. Weil ich dir das schreibe. Ich hätt das nie tun dürfen, ich blöde Kuh, in seinem Handy stalken! Ich bin so schlecht … Ich fühl mich so scheiße!!!!
Sorry, dass ich dir das geschrieben habe, jetzt wo du so happy bist mit deinem sweet Ami-Boy …
Lass dir von mir nicht die Laune verderben …
Love U
Mel
Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder
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