36. Kapitel
Es kommt eher selten vor, dass bei einer Pressekonferenz der Polizeidirektion Alsfeld über 60 Journalisten anwesend sind. Ein paar weniger hätten es auch getan, denke ich mir, als ich von einem langen Tisch aus, an dem neben mir noch Markus und Onkel Ludwig Körber Platz genommen haben, in die Runde schaue und auf die Fragen der Presse- und Radiomenschen warte.
«Hatten Sie Ludger Munker schon länger im Verdacht?», fragt ein junger Mann, der mit einem albernen großen gelben Mikrophon vor mir rumfuchtelt.
«Ja», antworte ich, ohne rot zu werden. «Ich hatte diesen Verdacht schon sehr lange, konnte ihm aber nichts nachweisen. Daher habe ich mich dann als verdeckter Ermittler auf seine Hausparty einschleusen lassen.»
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Markus Meirich neben mir das Gesicht verzieht.
«Das ist die große Schwierigkeit», fasele ich weiter, «der diffizile Balanceakt der Polizeiarbeit: zielstrebig und schnell zu arbeiten, dabei stets den Überblick zu bewahren, die nötige Geduld aufzubringen, sein Pulver also nicht zu früh zu verschießen und dann im richtigen Moment entschlossen zuzugreifen.»
Ich amüsiere mich sehr über mich selbst. Ich werfe mit Sätzen um mich, die mein Vater in seiner Glanzzeit nicht besser hätte formulieren können.
«Wie geht es Manni Kreutzer?», fragt ein weiterer Journalist. Vermutlich ein früherer Kollege von Kreutzer.
«Auf dem Weg der Besserung», antworte ich und drehe gewichtig mit dem Kugelschreiber in der Luft herum. «Er kommt morgen wieder aus dem Krankenhaus.»
«Laut seiner Aussage», wirft eine junge rothaarige Frau von hinten ein, «hat er Ihnen das Leben gerettet, in dem er sich vor die Heckenschere schmiss, nachdem Ludger Munker auf Sie losgegangen ist. Haben Sie sich schon bei ihm bedankt?»
Ich denke daran, wie er in Wahrheit feige aus der Gartenhütte fliehen wollte und von Munker mit der Heckenschere aufgehalten wurde. «Selbstverständlich», sage ich.
«Können Sie bitte noch einmal etwas zum Motiv sagen?»
Ich berichte davon, wie Ellen Murnau Ludger Munker mehrmals dazu aufrief, etwas gegen seine Alkoholsucht zu unternehmen. Dass sie ihm einen Aufenthalt in einer Suchtklinik zur Auflage machte und bei Verweigerung nicht davor zurückgeschreckt hätte, eine Kündigung auszusprechen. Am Tag ihres Todes habe er ihr drohen wollen, um sie von ihren Plänen abzubringen. Da sie sich aber ganz unnachgiebig zeigte, spürte Munker, dass sie es ernst meinte. Da stach er zu. Ob mit Vorsatz oder nicht.
Zwischen meinen Ausführungen nippe ich immer wieder bedeutungsschwanger an meinem Glas.
«Hat er auch etwas mit den Anschlägen an Frau Murnau zuvor zu tun?», wird dann gefragt.
«Das prüfen wir noch», antworte ich, setze wieder einen wichtigen Gesichtsausdruck auf und blicke hinüber zu meinem Kollegen Markus Meirich, der von meiner Show genervt so neutral wie möglich zurücknickt.
Als wenig später Onkel Ludwig Körber die Pressekonferenz für beendet erklärt, sehe ich am Türausgang meinen Vater stehen.
Es kam bisher äußerst selten vor, dass ich mich über ein überraschendes Erscheinen meines Vaters auf meiner Arbeitsstelle gefreut habe. Diesmal ist es so.
Entschlossen gehe ich auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Er blickt knapp an mir vorbei und sagt: «Bescheidenheit ist eine Zier, Junge! Man muss nicht hergehen und sich mit einem Ermittlungserfolg vor der Presseschar auf diese Art brüsten, wie du es getan hast.»
Danach schreitet er auf Markus Meirich zu, reicht ihm freundlich die Hand und verwickelt ihn in ein längeres Gespräch.
Wir überlassen es Teichner, seinen geliebten Faton Thaqi aus der vorübergehenden Haft zu entlassen. Es gibt keinen Grund mehr, ihn festzuhalten, auch wenn noch immer offen ist, wer, wie und warum von seinem Handy aus Lasse eine SMS geschrieben hat. Doch der Mord ist aufgeklärt, zugegebenermaßen mit mehr Glück als Verstand. Aber wie sagen die Fußballbundesligatrainer immer völlig zu Recht? Man muss sich das Glück auch erarbeiten. Man muss eben auch einmal bereit sein, sich selbst zu erniedrigen und sich auf Grillfeiern dieser Art zu wagen.
Am späten Nachmittag im Verhörzimmer unserer Polizeidirektion scheint es, als säße Markus Meirich und mir ein komplett anderer Mensch gegenüber als der Ludger Munker, der vorgestern volltrunken in seinem Gartenhaus wütete. Stattdessen hockt ein gebrochener, stiller, in sich gekehrter Fünfzigjähriger mit grauem, dünnem Haar und traurigen, erschöpften, rot unterlaufenen Augen vor uns.
«Was würde ich alles dafür tun, das ungeschehen zu machen», flüstert er brüchig. «Scheiß Suff!»
Er nippt an seinem Wasserglas und starrt an uns vorbei auf irgendeinen Punkt an der Wand.
«Also noch mal», setzt Markus an, um das Geständnis, diesmal in nüchternem Zustand, abzuschließen. «Sie klingelten bei Ellen Murnau. Die ließ sie hinein, und was dann?»
«Ich wollte mit ihr reden. Doch ich Idiot war hackedicht. Ich wollte sie einfach dazu bringen, ihre Drohung fallenzulassen.»
«Die Drohung, dass sie Sie kündigt, sollten Sie sich nicht umgehend bei einem Entzug anmelden?», frage ich nach.
Munker nickt. «Wissen Sie, ich denke immer, ich kann jeden Moment aufhören. Oder dass man mir die Trinkerei nicht anmerkt. Und ich sage Ihnen was … die letzten Jahre habe ich die Schüler nur im Suff ertragen.»
«Wieso hatten Sie ein Messer dabei?», fragt Markus.
«Ach, ich war verzweifelt. Ich hatte einfach Schiss, dass ich den Job verliere. Obwohl ich ihn hasse. Mein Gott, nur noch acht Jahre, dann wäre ich in Frühpension gegangen. Das hätte ich doch auch noch irgendwie rumgekriegt. Ich wollte ihr wirklich nur drohen. Aus purer Verzweiflung. Ach, was weiß ich, was ich damit bezwecken wollte. Ich war voll. Ich habe komplett die Kontrolle verloren. Plötzlich steckte das Messer in ihrem Bauch. Wie es genau dazu kam, weiß ich nicht mehr, Filmriss!»
Munker bricht ab und verbirgt sein Gesicht hinter seinen Händen, ehe er mit etwas lauterer Stimme fortfährt:
«Die Schüler, die haben mich da reingetrieben, in die Sauferei. Ich wollte früher wirklich mal ein guter Lehrer sein, das können Sie mir glauben. Doch irgendwann habe ich festgestellt, selbst wenn ich mich noch so anstrenge, wenn ich mal mit einer wirklich guten Idee in den Unterricht kam, dann war denen das auch scheißegal. Da kannste machen, was du willst. Da stehst du Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr immer wieder vor dieser grausamen Meute, und die fressen dich. Mit allem, was du hast. Die ziehen dir deine ganze Kraft und Energie raus. Das sind Vampire. Zeigst du nur eine Sekunde Schwäche, lässt du nur einen Moment locker, dann hast du verloren. Tja, und mit ein, zwei Schnäpschen zwischendurch ging das alles leichter. Es war dann mehr Gleichgültigkeit da.»
Traurig das alles, denke ich, doch ein Mitgefühl mit Ludger Munker wird sich bei mir nur schwerlich einstellen.
«Zurück zur Tat», schaltet sich Markus wieder ein. «Was haben Sie gemacht, nachdem Sie zugestochen haben?»
«Wie gesagt, meine Erinnerungen sind da nur bruchstückhaft. Vieles habe ich mir im Nachhinein zusammengereimt. Ich muss das Messer aus ihr rausgezogen haben und gleich wieder zurück nach Hause gefahren sein. Und ich weiß noch, dass ich die Türklinke mit meinem Taschentuch abgewischt habe.»
«Sie wissen schon, dass Ellen Murnau noch leben könnte, wenn Sie, statt zu fliehen, sofort einen Rettungsdienst gerufen hätten?», fragt Markus.
Munker nickt. «Ich wollte nur weg, Spuren verwischen und weg. Das alles ist nicht geschehen, habe ich mir immer und immer wieder einreden wollen. Ich bildete mir ein, ich lebe jetzt einfach so weiter, als hätte es diese Tat nicht gegeben. Anders kann ich das nicht erklären.»
Muss er auch nicht, denke ich. Der Tathergang ist klar, über das Strafmaß mögen zum Glück andere entscheiden.