29. Kapitel
Die ganz spezielle Atmosphäre von Autowerkstätten finde ich schwierig. Da macht auch die direkt an der Hauptstraße in Gedern ansässige Autowerkstatt Scholz keine Ausnahme. Die Aura von unzähligen Autos, Werkzeugen und Hebebühnen und der Charme dieser stämmigen, schroffen Männer in grauen Blaumännern und mit verölten Händen bewirken, dass Autowerkstätten für mich nicht zu Wohlfühloasen werden. Müssen sie auch nicht. Genauso wenig wie Baumärkte.
Ich habe schon öfters Franziska dazu zu überreden versucht, unser Auto in die Werkstatt zu bringen, da ich nicht in der Lage war, von innen die Motorhaube zu öffnen. Ich fand den Knopf einfach nicht. Für so etwas erntet man nicht bei jedem Kfz-Meister Verständnis. Vielmehr wurde ich angeguckt, als wäre ich gerade dabei, Kinderleichen aus dem Autofenster werfen. Solch eklatante Unkenntnisse bezüglich des Themenspektrums Auto wird in diesen Kreisen einer Frau natürlich eher verziehen als einem Mann. Ich fühle mich dort also schlicht und ergreifend wie ein Depp und versuche daher, derartigen Situationen, so weit irgend möglich, aus dem Weg zu gehen. Auch Dialoge wie diese möchte ich ein für alle Mal nicht mehr führen:
Meister (blickt in die Motorhaube): «Ei ei ei, Kerle Kerle, puuuhhh.»
Ich: «Was ist denn?»
Meister: «Tja … net mehr viel, würd ich sage …»
Ich: «Wie bitte?»
Meister: «Na ja, mit dem Zahnrieme ist net mehr allzu viel los, was?»
Ich: «Keine Ahnung …»
Meister: «Das glaube ich Ihne.» (grinst)
Ich: «?»
Meister: «Habbe Sie den schon mal wechseln lasse?»
Ich: «Puh, weiß ich jetzt nicht …?»
Meister: (überhebliches Auflachen)
Ich: «Was bedeutet das denn jetzt mit dem Zahhn… aä Dings? Kann man damit noch fahren?»
Meister: «Könne schon … (wieder Pause) Die Frage ist nur, wie lang?»
Ich: «Also das heißt, ich muss den auswechseln lassen?»
Meister: «Müsse? Nu ja, müsse müsse Se gar nix. Müsse müsse Sie nur sterbe.»
Heute aber ist das anders. Heute bin ich beruflich hier und habe anderes im Sinn. Die beiden Kriminalkommissare Markus Meirich und Henning Bröhmann betreten die Autowerkstatt Scholz ausschließlich mit dem Ziel, Faton Thaqi festzunehmen.
«Guten Tag», sage ich zu der blassen Dame mit der 80er-Jahre-Dauerwelle. Sie sieht aus wie eine Mischung aus Kim Wilde und Joy Fleming, denke ich mir so, während Markus uns beide mit Dienstgrad vorstellt.
«Wir suchen Faton Thaqi. Wo finden wir den?»
«Faaaaaton», schreit die wilde Fleming ohne Vorwarnung in die Werkstatt, sodass mir vor Schreck mein alberner Dienstausweis aus der Hand fällt.
«Was gibt’s?»
Faton Thaqi, ein kleingewachsener, dunkelhaariger, muskulöser Mann Mitte zwanzig blickt uns gleichermaßen skeptisch wie unsicher an.
In dem Moment, in dem wir uns auch bei ihm als Polizisten vorstellen, geht mir ein wüstes Verfolgungsszenario durch den Kopf. Faton flüchtet sofort und hetzt durch die Werkstatt. Markus und ich hinterher. Er springt in das nächstliegende, nur halb reparierte Auto und fährt los. Im letzten Moment werfe ich mich dann aber noch auf die Windschutzscheibe, schlängle mich durch das Schiebedach und lege ihm kopfüber die Handschellen an.
Stattdessen aber werden wir nur verwundert angeguckt.
«Sie werden sich denken können, warum wir hier sind, nicht wahr», sagt Markus.
Faton Thaqi schüttelt stumm mit dem Kopf.
«Können wir irgendwo ungestört reden?», frage ich die Anmeldedame, die vor Neugier fast zu platzen droht.
Wir werden darauf in ein kleines Zimmer geführt, in dem ein kleiner Tisch mit vier Stühlen steht. An den Wänden hängen ein Poster von Michael Schuhmacher, ein Wimpel vom Nürburgring und ein Jahreskalender mit Sportwagen und Schiebereglern.
«Herr Thaqi, Sie wissen wirklich nicht, warum wir hier sind?» Markus Meirich versucht es erneut, doch Faton schüttelt wieder den Kopf.
«Sie haben gestern Lasse Assmann eine SMS geschickt, in der sie ihm mit dem Tode drohen, falls er aussagt.»
«Was ist los? Was hab ich? Spinnt ihr? Was ist mit Lasse?»
Ich lese ihm den Wortlaut der SMS vor: «Ein Wort an die Bullen, du kleine Sau, und du bist tot.»
«Vergiss es Alter. Was soll das? Wieso soll ich das … Wie, was, wieso soll ich so was. Warum ich?»
«Es ist eindeutig Ihre Handynummer.»
«Ey Leute, nein, stopp. Ich hab mein Handy verloren, ehrlich. Vor drei Tagen, ey, das gibt’s nicht.»
«So so, verloren …», sagt Markus.
«Ja, Mann!»
Dann springt Faton von seinem Stuhl auf und gerät vollkommen außer sich. «Ey, Leute, das geht net, hört auf. Scheiße, ihr wollt mich fertigmachen. Vergiss es.»
Er tritt mit dem Fuß nach seinem Stuhl und brüllt: «Geht die Scheiße wieder von vorne los?»
Markus und ich stehen auch auf und versuchen ihn zu beruhigen. Was uns nicht gelingt.
«Was, was, was», schreit er weiter. «Was wollt ihr mir anhängen?»
Mannhaft stelle ich mich vor ihn.
«Lasse Assmann wird vorgeworfen, diverse Anschläge auf seine Schulleiterin Ellen Murnau verübt zu haben. Diese Anschläge gipfelten darin, dass Frau Murnau erstochen wurde. Nun bekommt dieser Lasse Assmann eine SMS von Ihrem Handy, in dem Sie ihm drohen, falls er aussagt. Was also würden Sie sich denn da anhängen, an unserer Stelle? Herr Thaqi, wir müssen Sie vorläufig festnehmen.»
«Scheiße, Alter, da will mich einer fertigmachen. Ey … ich will mit Pfarrer Assmann reden.»
«Da bin ich mir aber nicht so sicher, ob der das noch will», gibt Markus zu bedenken. Dann führen wir ihn ab.
Noch für den gleichen Nachmittag verabrede ich mich mit Stefanie zu einem Spaziergang auf dem Hoherodskopf, der touristischen Topadresse des Vogelsbergs. Berlusconi, der den Rücktritt seines Namensvetters im Autoradio gelassen zur Kenntnis nimmt, sabbert und haart souverän auf den Autorücksitz, während ich den Parkplatz ansteuere und dabei fast ein paar rüstige Rentner in enger Jan-Ullrich-Telekom-Gedächtnisausrüstung über den Haufen fahre. Von weitem sehe ich die trotz allem immer noch schöne und reizvolle Stefanie auf mich warten. Wir begrüßen uns mit einer flüchtigen Umarmung und schreiten in Richtung Taufsteinhütte. Ich erzähle ihr kurz und sachlich von Faton Thaqis Festnahme.
«Wie bitte?», fragt sie entgeistert. «Ihr habt Faton festgenommen?»
«Ja», antworte ich, «er hat Lasse bedroht und ihn vermutlich zu den Anschlägen gezwungen.»
Darauf lacht sie wirr. Warum, ist mir nicht klar.
«Es war definitiv Faton Thaqis Handy», sage ich trotzig.
«Tut mir leid, Henning, aber ihr seid mal wieder komplett auf dem Holzweg. Faton liebt Lasse. Er war und ist für ihn wie ein großer Bruder. Das ist so was von verdreht, was hier läuft. Das ist doch alles nicht auszuhalten.»
Ich versuche Stefanie mit unbeholfenen Handgriffen an ihrem Oberarm zu beruhigen, was mir nicht wirklich gelingt.
«Weißt du, was diese Jungs alles durchmachen mussten? Erst die Kriegserlebnisse in ihrer Heimat und die Flucht, dann der Verlust der Eltern, die wieder in den Kosovo zurückgingen. Weißt du, was das für Jungs im Teenageralter bedeutet?»
Ich nicke stumm, ohne es wirklich zu wissen.
«Die haben fünf Jahre bei uns gelebt, auch nach Ende des Asyls. Gregor hatte gute Kontakte zum Jugendamt, sodass sie bei uns wohnen bleiben konnten. Sie haben ihre Schulabschlüsse gemacht, ihr Bestes gegeben. Doch es sind auch ganz normale Jungs gewesen. Faton wurde einmal beim Kiffen erwischt und dann später noch einmal beim Klauen eines Schnapsfläschchens im Einkaufsmarkt. Weißt du, was danach hier los war? Wie die Leute am Rad gedreht haben? Anonyme Drohbriefe haben wir bekommen, die Zeitungen waren voll mit Leserbriefen. Die Jungs waren in Schotten nur so lange geduldet, wie sie sich wie Engel verhielten. Nun kamen sie alle aus ihren Löchern, all diese rechtschaffenen Bürger, die das Kirchenasyl von Beginn an kritisch beäugt hatten. Und ich sage dir, die Jungs haben das so toll weggesteckt. Mergim, der Ältere, hat sogar Abitur gemacht, und Faton hat direkt nach der Mittleren Reife eine Wohnung gefunden und einen Ausbildungsplatz bekommen. Er hat sich immer rührend um Lasse gekümmert. Bis heute halten die beiden Kontakt. Und ausgerechnet Faton soll das nun Lasse angetan haben? Vergiss es!»
Darauf schweigen wir eine Weile. Berlusconi zieht wie immer an der Leine, bis ich Verspannungsschmerzen an der linken Schulter spüre. Am Waldrand nehmen wir auf einer klammen und morschen Holzbank Platz und blicken eine Weile schweigend in die Vogelsberger Weite.
«Ich möchte gerne gleich mit Lasse darüber reden», sage ich. «Vielleicht beendet er ja sein Schweigegelübde, um Faton zu schützen, falls der es wirklich nicht war.»
«Henning, er war es nicht. Definitiv.»
Es ist nicht der richtige Augenblick, diese Affäre weiter zu befeuern, denke ich. Nein, das ist es nicht.
Als ich eine halbe Stunde später wieder im Auto sitze und die Mailbox abhöre, macht sich in mir eine weitere Unbegeisterung breit:
Faton Thaqi hat Teichner im Polizeirevier zwischen die Beine getreten und ist nun auf der Flucht. Du liebe Güte. Jegliche Energie sackt ins Bodenlose ab und macht Platz für fröhliche psychosomatische Störungen. Mir wird schwindelig, und dumpf drückt die Memme in mir schmerzhaft gegen meine Brust. Ich halte in einer kleinen Parkbucht, versuche mich neu zu sortieren, was mir nicht gelingt. Ich steige aus, rauche konstruktiv zwei Zigaretten hintereinander und raffe mich dann doch auf, zu Assmanns zu fahren, um mit Lasse über Faton zu sprechen.
Lasse blickt mich mit aufgerissenen Augen an, schüttelt wild seinen Kopf und schreit: «Nein, nein, nein, das stimmt nicht. Nicht Faton, nicht Faton …» Dann fängt er heftig zu weinen an. Stefanie nimmt ihn in den Arm und redet beruhigend auf ihn ein, während ich ratlos danebenstehe. Stefanie bringt ihn in sein Zimmer, ich lehne mich erschöpft an die Wohnzimmerwand. Nach ein paar Minuten kehrt sie zurück, blickt mich mit ernster Miene an und sagt mit leiser, aber fester Stimme:
«Das geht so nicht mehr weiter. Lasse muss sich nun dringend stabilisieren. Er muss raus aus der Schusslinie. Ich bringe ihn morgen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Marburg.»
Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun?
Hi Mara,
sorry, aber ich muss mal abkotzen! AA geht mir im moment aber mal so was von auf die Nerven! Ich werd aus dem bald nicht mehr schlau. Mal isser so, dann isser wieder genau anders. Verstehst wahrscheinlich kein Wort von dem Müll, den ich hier schreibe, aber egal. Mal isser voll lieb und geht total auf mich ein und so, und mal habe ich das Gefühl, dass ich ihn nur nerve. Und in letzter Zeit fängt er immer wieder mit diesem scheiss Thema an, du weißt schon, Pille …
Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen Bock habe, da ständig drüber zu reden, dass ich noch nicht will und so. Aber dann guckt er immer so komisch, so anders und ich denk immer, jetzt macht er Schluss.
Und neulich hatten wir totalen Zoff. Erst hat er wieder rumgeschmollt, weil ich nicht mit ihm rummachen wollte. Dann haben wir uns über Lasse unterhalten und über die ganze Murnau-Geschichte. Da hat der blöde Sprüche gerissen. So wie manchmal bei seinen Kumpels, weisste … das Weichei aus dem Pfarrhaus und so … Fand ich voll fies. Und weisste, was ich danach gemacht hab: ich habe dem Lasse eine Nachricht geschickt. Dass er mir leid tut und so, und dass ich das nicht glaube, dass er das war. Er hat natürlich nicht geantwortet, aber egal, ich wollte ihm das irgendwie sagen.
Und eben ruft mich AA an und will plötzlich wieder voll einen auf family machen. Der will, dass wir uns mit unseren Eltern treffen … schrei!!!! Ja, du hast richtig verstanden, meine Eltern sollen seine besuchen, und wir essen dann alle zusammen. Ich sterbe … Ich hab mich nicht getraut, nein zu sagen … dann wäre ich wieder nur das keine blöde Pubertätsmädel …
Du fehlst mir mehr denn je, Mara.
Love u
Deine Mel