23. Kapitel
Stockbrot. Wer in Gottes Namen hat das eigentlich erfunden? Eine geschmacksneutrale klebrige Masse, die labbelig an einem Stöckchen bappt und stundenlang ins Feuer gehalten werden muss, ehe sie durch Karzinogene genießbar wird. Vielleicht dient dieser Akt auch nur dazu, die Kinder mal für eine Weile zur Ruhe zu bringen. Dann hat das natürlich seinen Sinn. Immerhin habe ich meinen Stock mit bloßen Händen eigens im Wald erlegt. Schlampe, der sein zertrümmertes Unterbein vermutlich per Meditation wundersam zur schnellen Heilung bewogen hat, kann es nicht sein lassen, die Kinder- und Elternschar mit der Wandergitarre zu unterhalten. Ich grüble lange, ob ich ihn nicht vielleicht doch darauf hinweisen soll, dass diese Drehknöpfe am oberen Ende der Gitarre dazu dienen, die Saiten zu stimmen. Ich lasse es, und über uns ergießen sich «Country Roads», «Let it be», «Der Hase Augustin» und eine Eigenkomposition, zu der Molli mit geschlossenen Augen verträumt den Kopf bewegt. Jutta, die als gebürtige Breungeshainerin eine «Afrikanische Trommelgruppe» leitet, verteilt zwischendurch Trommeln. So trommeln wir alle. Und zwar zu «We shall overcome», im sehr freien Rhythmus und gegen jede Regel des guten Geschmacks.
Wolle wirkt ein wenig schlecht gelaunt. Schlampe scheint ihm wohl doch zu sehr die Show zu stehlen. Schade eigentlich, dass ich in den nächsten Jahren die Hahnenkämpfe dieser zwei Herren nicht mehr miterleben werde.
Mitten in «Morning has broken» springt Wolle und ruft: «Ich geh in den Bach baden. Wer kommt mit?»
«Jaaaa», schreien alle Kinder, und Schlampe muss Cat Stevens Cat Stevens sein lassen, obwohl er «Lady D’Arbanville» schon angedroht hatte. Punktsieg für Wolle.
Geschlossen schreitet die Gruppe in der milden Abenddämmerung zum Bach und sucht sich eine Stelle aus, in der man gut ans Wasser kommt, Wolle immer voran. Er reißt sich alle Klamotten vom Leib und geht mit haarigem Arsch ohne zu zögern in das bestimmt sehr kühle Nass. «Boaarr,» schreit er.
«Der spinnt doch», flüstere ich zu Franziska, während andere johlen und klatschen.
«Wieso?», fragt sie.
«Ich find das nicht gut, so nackt vor den Kindern …»
«Warum? Das ist doch ganz natürlich.»
«Trotzdem. Da ist eine Grenze. Außerdem weiß ich nicht, ob die Kinder bei dem Anblick von Wolles nacktem Körper nicht total traumatisiert werden», ziehe ich meine eigentlich ernst gemeinte Bemerkung selber ins Lächerliche.
Als ich dann aber sehe, dass Molli es ihrem Mann gleichtut, weiß ich, dass es nun eh zu spät ist für Gedanken über frühkindliche Ursachen späterer Sexualstörungen.
Die ersten Kinder planschen nun im Wasser, und Laurin quengelt, wir sollten auch mit rein. Nun zieht sich tatsächlich auch Franziska komplett aus. Mir gefällt das alles nicht. Ich sehe, wie Schlampe, der inzwischen zum Bach nachgekommen ist, seine Augen nicht von ihr wenden kann. Kurz nachdem meine nackte Ehefrau unter lautem Gejohle in den Bach gestiegen ist, kann es auch die Schlampe nicht lassen. Sein Körper, stellt sich leider heraus, ist überraschend athletisch und wohlgeformt. Er hüpft mit einem albernen Sprung und einem riesigen Gemächt direkt neben Franziska ins Wasser. Sie lacht. Ich nicht.
«Koooommmm Papa», ruft Laurin. Ich lächle etwas gequält und schüttele den Kopf. Wie ich dieses Nudisten-Schauspiel so betrachte, kommt mir der Gedanke, dass die 68er für mich wohl nichts gewesen wären. Verklemmt bin ich, denke ich, und zwar zu Recht.
Ich schleiche mich vom Ort des heiteren Wasserplanschens weg, gehe zurück zu unserem Zeltchen, packe ein paar Sachen in Laurins Kindergarten-Rucksäckchen mit den süßen Bob-der Baumeister-Aufkleberchen und laufe so weit in den Wald hinein, bis ich niemanden mehr sehe und höre. Dann setzte ich mich auf eine feucht-moosige Waldbank, nehme einen kräftigen Schluck aus meiner alkoholfreien Radler-, Alster- oder Was-auch-immer-Dose, gehe wenig später in die Bäume zum Pinkeln, bin eifersüchtig auf die Schlampe und fühle mich so männlich wie noch nie.
Dann atme ich tief durch und lese die Kurzmitteilungen:
SMS 1: «Ich glaube, ich will dich sehen. Man lebt nur einmal.»
SMS 2: «Nein, lieber doch nicht. Lass uns nicht weitergehen.»
SMS 3: «Alberner Midlife-Scheiß! Sorry, Stefanie»
Von weitem höre ich Franziska laut lachen und zwischendurch immer wieder Ilja Richters Stimme. Dann schreibe ich zurück:
«Ich habe nur SMS 1 gelesen. 2 und 3 habe ich ganz aus Versehen gelöscht. Wann sehen wir uns? Lieber Gruß, Henning»
Irgendwann nachts, kurz vor der einsetzenden Morgendämmerung wache ich auf, als sich die äußere Luftfeuchte nun auch souverän gegen die innere Zeltwand durchsetzt und mir ein Tropfen Wasser auf die Stirn platscht. Im Zelt sehe ich nur Laurin. Franziskas Schlafsack ist leer. Sieben Minuten lang versuche ich den Reißverschluss unseres Old-School-Zeltes zu öffnen, um nach Franziska zu schauen und Pinkeln zu gehen. Von weitem erkenne ich, dass sie Schulter an Schulter mit Schlampe am Lagerfeuer sitzt. Niemand anderes sehe ich sonst. Alle anderen scheinen zu schlafen. Scheiß drauf, denke ich schlaftrunken und bepinkle einen Busch. Während ich ins Zelt zurückkrabbele, beschließe ich, gleich am nächsten Morgen in der Frühe vorzeitig abzureisen. Die Arbeit ruft, werde ich behaupten.
Und die «Arbeit» an diesem Sonntagmorgen sieht so aus, dass ich um 10.01 Uhr an der Tür des Schottener Pfarrhauses klingele, exakt zu der Zeit, zu der ihr Mann den Gottesdienst in der Schottener Liebfrauenkirche eröffnet.
«Henning? Oh …»
Stefanie steht in einem hellblauen Pyjama an der Haustür und sieht schlicht und ergreifend bezaubernd aus.
«Darf ich reinkommen?», frage ich und stehe schon nervös im Hausflur.
«Ich bitte sogar fast darum.»
Stefanie huscht darauf schnell in ein Nebenzimmer und kehrt wenig später mit einem übergezogenen blauen Morgenmantel zurück.
«Was gibt’s?», fragt sie so beiläufig wie möglich und bittet mich in die geräumige Wohnküche, in der ein beendetes Frühstück auf dem Tisch sein abgekautes Dasein fristet.
«Na ja», stammele ich. «Ich meine, äh, was soll’s schon geben? Also, ja, du, du hast mir doch diese diversen SMS geschrieben …»
«Hmm.»
Stefanie nickt und lächelt, und ich meine sogar, dass sie ein wenig errötet. Was ich hinreißend finde.
Ich schaue auf ihren Mund und sehne mich nach nichts mehr, als genau diesen Mund jetzt küssen zu dürfen.
«Weißt du Henning, ich mache so was sonst nicht. Ich bin nicht so. Und irgendwie will ich das auch nicht. Ich finde das albern und würdelos und doch … ich mein, wir kennen uns doch gar nicht …»
«Stimmt», antworte ich und wundere mich, wie ich mich trotzdem zu einer Frau so hingezogen fühlen kann. Ich sehe ihr in die Augen und habe das Gefühl, sie seit Jahren zu kennen. Das ist einerseits aufregend, andererseits macht es mir Angst. Wo soll das enden?
«Ich versteh das auch nicht, was da ist, mit uns», stottere ich, «ich bin da auch kein Fachmann in diesen Dingen und … scheiße, ich mein, wir sind verheiratet und alles …»
Sie sieht mir in die Seele, denke ich, als ich in ihre Augen blicke. Verdammt, was macht diese Frau mit mir? Vor Aufregung beginnt mein Körper leicht zu zittern.
«Zitterst du?», fragt sie mich.
«Nein», antworte ich. «Also, Stefanie», rede ich weiter, um meine innerliche Erregung zu stoppen, «vielleicht liegt es daran, also, äh, ich mein, ich bin ja jetzt auch nicht gerade glücklich so … in meiner Dings, also Ehe, und da kann es ja durchaus vorkommen, dass ich …»
«Henning?»
«Ja?»
«Wollen wir nicht aufhören, etwas zu zerreden und zu zerdenken, das noch gar nicht angefangen hat?»
Das ist eine gute Idee.
Wir bewegen langsam unsere Köpfe aufeinander zu, und unsere Lippen berühren sich. Langsam, ruhig und zart küssen wir uns. Ich behalte die Augen auf und genieße die Unwirklichkeit dieses Momentes. Kurz danach denke ich an den Gottesdienst im Nebengebäude und frage mich, ob Gregor Assmann wohl schon beim Vaterunser angelangt ist. Wenn es nun tatsächlich eine Hölle gäbe, könnte es für mich verdammt eng werden.
Doch das ist mir so was von egal, als Stefanie mit ihrem reizenden Pyjama auf meinem Schoß Platz nimmt und beginnt, meinen Hals zu küssen. Ich umfasse ihre Hüften und genieße jede Sekunde.
«Lass uns aufhören», flüstert Stefanie, kurz bevor ich die Idee entwickle, ihre Brust oder Ähnliches zu berühren.
«Du musst jetzt wirklich gehen. Gregor kommt gleich», sagt diese hinreißende Pfarrfrau mit Blick auf die Wanduhr und erhebt sich von meinen Schenkeln.
Ich umfasse noch einmal ihren Kopf mit beiden Händen, küsse ihre Augenlider, inhaliere noch einmal den Geruch ihrer Haut und lasse mich dann durch die Hintertür zurück in die Realität schicken.
Ich fahre auf direktem Weg von Schotten nach Hause. Immer wieder freue ich mich über die große Eintracht-Fahne, die tagein, tagaus an einer Kneipe an der Hauptstraße in Rainrod weht. Besonders schön fand ich dort einmal eine lebensgroße Patrick-Ochs-Pappfigur am Eingang. Die wird der Wirt nun vermutlich im Keller verbannt haben, nachdem der Spieler nach Wolfsburg gewechselt ist. Oder aber er hat in Wolfsburg eine Kneipen-Filiale eröffnet. Unwahrscheinlich, denke ich, dort versteht ihn ja keiner.
Zu Hause angekommen schmettere ich ein lautes Hallooo in den Wohnbereich, während Berlusconi mir in die Magengrube springt. Melina kommt angetrottet. «Warum bist’n schon da?», knattert sie mir zu.
«Ach, Arbeit», antworte ich kurz. Plötzlich kommt sie nahe an mich heran und umarmt mich. Ich bin überrascht und halte sie eine Weile. Mir kommt es vor, als habe sie geweint. «Ist alles klar bei dir?», frage ich. «Jaja», sagt sie, und es fällt schwer, ihr das zu glauben. Doch ich frage nicht weiter nach.