19. Kapitel
Ach, nein, das jetzt bitte nicht auch noch. Was hat er denn bitte hier schon wieder zu suchen? Mein Vater hat an meinem Schreibtisch Platz genommen und klopft mit seinen Fingern auf der Tischkante herum. Direkt nach dem Spaziergang mit Stefanie Assmann bin ich nach Alsfeld gehetzt, um pünktlich zur Teambesprechung um 17.30 Uhr in der Direktion zu sein.
«Ich war gerade in der Nähe, da dachte ich mir, ich schau mal vorbei», teilt der Herr Vater mit. «Ein gannnnz ausgezeichneter Mann, der Herr Meirich. Das sieht dein alter Herr gerne, wenn solch ausgezeichnete Mitarbeiter bei der Kriminalpolizei arbeiten. Gannnnz ausgezeichnet, der Herr Meirich.»
«Ja, ich weiß», murmele ich und suche meine Unterlagen für die Besprechung in einem der Papierberge auf meinem Schreibtisch.
«Gannnz hervorragend, wie er eben gerade hergegangen ist und mich sachlich auf den Punkt formuliert über die aktuelle Sachlage informiert hat. Und glaub mir, Henning, da habe ich noch immer ein Gespür für. Der Herr Meirich ist ein gannnz ausgezeichneter Mann. Du kannst dich glücklich schätzen, dass er in deinem Team ist.»
«Papa …»
«Kompetenz, Ehrgeiz und Intelligenz bemerke ich da, bei dem jungen Herrn, nicht wahr?»
«Ja.»
«Kann man hier so durchblicken?» Mein Vater legt seine Stirn in Falten und deutet auf das Chaos, das meinen Schreibtisch ziert.
«Ja, tut man», blaffe ich zurück. «Hast du was dagegen, wenn ich nun meiner Arbeit nachgehe?» Ich deute mit meinem Blick an, dass mein Vater dazu seinen Hintern von meinem Schreibtischstuhl erheben müsste.
Günther Bröhmann bleibt sitzen. «Da kann man nur hoffen, dass du Herrn Meirich nach Kräften unterstützt, nicht wahr? Ein gannnz ausgezeichneter Kriminalist ist das. In vier, fünf klaren Sätzen ist er hergegangen und hat mir einen Überblick verschafft, über all diese Dinge, die sich gegen diese Frau Doktor zugetragen haben. Ich habe seine Einladung gerne angenommen, an eurer Sitzung gleich teilzuhaben.»
Ich verdrehe innerlich die Augen und bemerke, wie mir sekündlich jegliche Energie aus dem Körper zu fließen scheint. Ein Zustand, der mir zwar vertraut ist, den ich aber so heftig lange nicht mehr erleben musste.
Nun sitzen wir im Besprechungszimmer, mein Vater neben mir. Teichner spricht. «Die Murnau muss nur wenige Minuten nach den Messerstichen tot gewesen sein, sagt der Doc. Der Täter hat viermal zugestochen. Das Messerlein hat er brav wieder mitgenommen. Frau Murnau hat ihn wohl selber ins Haus gelassen. Jedenfalls gibt es keine Einbruchsspuren. So gehen wir mal locker flockig davon aus, dass sie ihren Mörder kannte.»
«Verdächtiger Nummer eins ist unser vermummter Jugendlicher», schaltet sich Markus ein. Mein Vater nickt und blickt wohlwollend zu ihm. «Übermorgen haben wir die Ergebnisse der DNA-Tests, dann wissen wir vielleicht mehr. Es sind sieben Jungs, die zu unserer Zielgruppe passen, die keinen Test abgegeben haben. Diese jungen Männer haben wir natürlich besonders im Blick.»
Ich räuspere mich. «Ich habe eine Liste mit Namen von Mitgliedern der Jugendfeuerwehr Schotten. Wir wissen ja, dass diese vom Lehrer Dohmknecht …»
«Wer soll das denn sein?», unterbricht mich brummend mein Vater.
«Das ist der Lehrer, der …»
«Herr Meirich», fällt mir mein Vater ins Wort. «Ich habe großes Vertrauen in Ihre Arbeit, bin guter Dinge, dass Sie bald Ermittlungserfolge aufzuweisen haben, nicht wahr.» Er erhebt sich von seinem Platz.
«So, ich verabschiede mich dann mal. Man sollte nicht hergehen und die Regierung zu Hause mit der zubereiteten Abendspeise warten lassen.» Dann verlässt er, ohne mich eines Blickes zu würdigen, den Raum. Ich dachte früher immer, mit fast vierzig wäre einem das Verhalten der eigenen Eltern komplett egal. Falsch gedacht.
Der Rest der Besprechung geht weitgehend an mir vorüber. Ich merke, wie ich in mein altes Loser-Lustlos-Muster zurückfalle, und schaffe es nicht, mich in diesem Sturz zu bremsen. Während Onkel Ludwig Körber mit seiner kehligen Stimme vom Druck der Staatsanwaltschaft redet, beobachte ich die Cowboystiefel von Manfred Kreutzer und finde sie fast so lächerlich wie mich selbst.
Noch ehe er aufgelegt und sich bei Kommissar Henrich Müller verabschiedet hatte, hatte Fred sich schon auf seinen Bock geschwungen und war auf dem Weg zu dieser Schule.
Enttäuscht blickten seine Freunde von der Schnitzelranch ihm nach. Dagmar, die Bedienung, ganz besonders … Schade, wieder mussten sie einen Abend ohne Fred rumbringen. Alle wussten, dann wird es nur halb so lustig. Alle standen drauf, wenn er Storys von früher erzählte. Und wenn es besonders lustig wurde, dann drängten ihn alle, seine Witze auszupacken. Da lagen dann immer alle am Boden, schmissen sich weg und pissten sich vor Lachen in die Hosen.
Kurti, einer von Freds besten alten Kumpels, sagte: «Schade, jetzt wird’s nur halb so lustig. Er hätte bestimmt heute ein paar alte Storys erzählt und einige seiner Witze ausgepackt.»
«Ja, schade», murmelten alle. Aber so ist er nun mal, der Fred. Wenn er gebraucht wurde, war er da.
Nun also brauchte ihn mal wieder die Polizei.
Als er in der Schule ankam, also da, wo ihn Kommissar Müller hergebeten hatte, sah er die ganze Sauerei vor sich. Fred war hart im Nehmen, doch dieser Anblick machte ihm wie immer auch nichts aus.
Eine bedrohliche Stille lastete über der ganzen Schule. Man merkte, dass etwas ganz Schreckliches passiert war. Die irre Sommerhitze war schuld daran, dass überall ein süßer, metallischer und ekelhafter Geruch zu riechen war. Fred wusste, was das bedeutete. Ein junger Polizist übergab sich, murmelte dabei «Oh, mein Gott, wer macht so etwas?» und hob dann für Fred das Absperrband hoch, damit Fred hineingehen konnte. «Alter Vogelsberger», murmelte er, in der Betonung von «Alter Schwede». Diese Redewendung hatte er eingeführt. Inzwischen haben das alle übernommen. Zum Teil sogar in der Wetterau. «Alter Vogelsberger», wiederholte er noch einmal. Vor seinem geistigen Auge blitzen Bilder von furchtbaren Gewalttaten auf, er hat alles schon gesehen. Mit ein paar Schritten ist er im Gebäude drin. Und sah zunächst auf die durch einen Steinwurf zerschmetterte Fensterscheibe, denn er wusste: Auf jedes Detail kommt es an. Die ganze Polizei am Tatort ist erleichtert, dass Fred da ist. Das spürt er. Sie nicken und hängen an seinen Lippen.
Die zerbrochene Scheibe war leider nicht alles, was zerstört wurde. Denn im Klassenraum liegen verteilt ein Kopf, zwei Beine, ein Arm,drei Ohren und acht Finger.
Der Forensiker kam auf ihn zu, ein Wurstbrot in der Hand, als würde ihm der grauenhafte Leichengeruch nichts ausmachen. Er zündete sich eine Zigarette an und nuschelte mit vollem Mund: «Eine herrliche Leiche. So etwas Schönes sieht man nur alle paar Jahre.» Dann erklärte er Fred in allen Details, wie und warum die Körpereinzelteile in den nächsten Tagen verwesen werden.
«Wieso glaubt ihr, dass es wieder die Russenmafia ist?», fragte Fred.
«Wer sonst?», antworteten alle Polizisten. Fred hatte nichts anderes erwartet. Die Bullen dachten immer in ihren eingefahrenen Bahnen, und wenn sie doch einmal irgendwelchen mächtigen Politikern zu nahe kamen, wurden sie gleich von ganz oben zurückgepfiffen oder kaltgestellt.
Schnell zückte er wieder sein mobiles Handy. Er rief Lucy an. Während er die Freitöne hörte, dachte er an die letzte Nacht und sah ihre scharfen Tätowierungen wieder vor sich, während sie auf ihm stöhnend ihre Haare um sich rumschmeißend ritt, dabei laut «Oh mein Gott» schrie und ihre große Brüste auf und ab wippten. Er lächelte genießerisch in sich hinein. Auf Lucy konnte er sich verlassen. Sie war eine Außenseiterin. Niemand mochte sie. Nur Fred. Er erkannte ihr Potenzial. In jeder Hinsicht!! Viele dachten, sie sei kriminell und brutal. Fred wusste es besser. Sie war immer und immer höher begabt. Sie fegte total gekonnt durchs Internet, und sogar Fred, der sich selbst super auskannte, konnte von ihr lernen, wie man Datenbanken knackt und Gelder von Konten krimineller Wirtschaftsbosse ins Ausland überweist und pädophile Politiker überführt und bei Facebook eine Fred-Leutzer-Fan-Seite einrichtet. «Lucy, hör zu, es ist äußerst dringend, geh doch mal bitte ins Internet und recherchier mal.»
«Klar, mach ich, Fred», antwortete sie. Und Fred wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte.
Nur fünf Minuten später meldete sie sich wieder.
«Und?», fragte Fred.
«Die Recherche hat sich gelohnt», sagte Lucy. «Der Fall ist komplizierter als angenommen. Da hängen noch viel mehr drin. Es sind unglaubliche Verstrickungen …»
«Dacht ich’s mir doch», antwortete Fred. «Und, wer hängt noch mit drin?»
«Die Politiker da oben», antwortete Lucy. «Und Wirtschaftsbosse.»
«Dacht ich’s mir doch.» Fred nickte nachdenklich, wie immer wenn er nachdenklich war. «Und welche?»
«Fast alle. Die genauen Namen kriegst du noch alle auf einem Datenstick», sagte Lucy. «Korrupte Schweine, die immer alles in die eigene Tasche stecken, tagsüber den Saubermann spielen, und abends quälen sie minderjährige russische Frauen in ihren Sexkellern.»
«Die Drecksäcke, na warte», fluchte Fred.
Entschlossen griff Fred nach seiner Lederjacke und machte sich zurück auf den Weg zu seinem Bock, wie er ihn nannte.
Henrich Müller, der immer lieber auf Nummer sicher ging, rief ihm nach. «Keine Alleingänge, Fred, ja?»
Dabei wusste er, ist Fred einmal in Fahrt, kann ihn niemand mehr aufhalten.
Zu Hause, angekommen in seiner «Ranch», wie er sein Einfamilienhaus nannte, schmiss er erst mal einen Schweinebauchlappen auf den Schwenkgrill, zog sich seinen Cowboyhut auf den Kopf, eine Originalstück von Old Surehand, das er bei den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen erwarb, zündete sich eine filterlose Marlboro an und legte die Füße hoch und hörte «Ich möcht so gern Dave Dudley hörn», seinen Lieblingssong. Er dachte lange nach und plante die nächsten Schritte.