11. Kapitel
Krankenhaus ist wie Flugzeug. Ist man erst mal drin, legt man, ohne zu zögern, sein Schicksal in die Hände von fremden Menschen. Man gibt jegliche Kontrolle ab. Stümpert der Arzt, stirbt man oder verliert man ein Bein oder beides, stümpert der Pilot, geht es ähnlich unschön aus. Ich mag das nicht. Ich kenne sie ja noch nicht einmal. Den Piloten bekomme ich noch nicht einmal zu Gesicht, ich weiß nicht, ob er Alkoholiker ist oder seine Frau ihn letzte Nacht verlassen hat. Mit dem Arzt fahre ich vor einem etwaigen Eingriff auch nicht drei Wochen in den Urlaub, um Vertrauen in seine Fertigkeiten aufzubauen. Vermutlich habe ich einfach zu viel Misstrauen Autoritäten gegenüber. Wenn ich mit dem Flugzeug fliege, schaue ich während der gesamten Flugdauer in die Gesichter der Stewardessen und versuche bei jedem kleinen Luftloch ihre Mienen zu deuten. Wenn meine Ärztin mir den Blutdruck misst, entgeht mir nicht die kleinste Gesichtszuckung. In ihrem Gesicht lese ich dann Dinge wie: «Oh, noch schlimmer, als ich befürchtet habe! Am besten sage ich ihm das jetzt gar nicht, lohnt sich ja ohnehin nicht mehr.»
Als ich zwölf war, lag ich einmal mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus. Ich habe mich vermutlich nie in meinem Leben so allein gefühlt wie in dieser einen Woche. Meine Eltern besuchten mich zwar jeden Tag, blieben auch immer mehrere Stunden, doch jedes Mal, wenn sie ein kurzes «So» ausstießen und nach ihren Jacken griffen, um den Aufbruch vorzubereiten, konnte ich trotz größter Anstrengung die Tränen nicht zurückhalten. Mir war es peinlich, ich war doch schon zwölf, tapfer, keine Heulsuse mehr, und eine Blinddarmoperation war doch nichts Schlimmes. Jedenfalls sagten das alle. Doch für mich war es sehr schlimm, und dafür schämte ich mich noch mehr. Ich fühlte mich in diesem riesigen, sterilen, erbarmungslos weißen Apparat so verloren, dass mir die Angst vor dem Alleinsein den Magen umdrehte. Ich teilte ein Zimmer mit Herrn Bugspecht, der den ganzen Tag Volkslieder aus einem Transistorradio hörte und mir von Besuchen bei Prostituierten erzählte, was mich genauso verstörte wie die Frage der Krankenschwester vor meiner OP, ob bei mir eine Rasur im Schambereich schon vonnöten sei.
Als ich heute Vormittag die Gießener Augenklinik betrat und mir gleich dieser spezielle Geruch in die Nase stieg, hatte ich große Probleme, diese alten Bilder und Gefühle abzuschütteln. Auch jetzt, wo ich das Gespräch mit Frau Dr. Ellen Murnau hinter mir habe und mich auf dem Weg zur Vogelsbergschule befinde, lastet eine gewisse Beklemmung auf mir.
Ellen Murnau wird noch eine zweite Augenoperation über sich ergehen lassen müssen, wenn die Sehkraft am linken Auge gerettet werden soll.
Ich war erleichtert, dass wir uns nicht in ihrem Krankenzimmer unter Aufgabe jeglicher Intimsphäre unterhalten mussten, sondern einen kleinen Raum zur Verfügung gestellt bekamen, in dem wir würdevoll miteinander sprechen könnten.
Mir saß eine tapfere traurige Frau gegenüber, die wie immer Haltung bewahrte, gefasst wirkte und alle meine Fragen beantwortete. Ich fühlte mich schuldig, dass ich vor zwei Wochen zu langsam reagiert und es nicht fertiggebracht hatte, den vermummten Burschen nach seinem Steinwurf dingfest zu machen. Ich fühlte mich zudem schuldig, dass ich diesen Vorfall unterschätzt hatte. Ich entschuldigte mich. Daraufhin öffnete sie sich während unseres Gesprächs mehr, als ich es vorher hätte erwarten können.
Frau Dr. Ellen Murnau berichtete mir in großer Offenheit vom Ende ihrer Ehe. Ihr Mann habe sie mit einer 23-jährigen Studentin betrogen, die zu allem Überfluss schwanger wurde. Ellen Murnau reichte daraufhin sofort die Scheidung ein und lehnte kompromisslos jedes Versöhnungsangebot ab. Sie habe eben klare Prinzipien, sagte sie mir. Und sie rächte sich. Ihr Exmann betrieb mit einem Kollegen ein immer erfolgreicher werdendes Architekturbüro in Büdingen. Da das Ehepaar Murnau nicht davon ausgegangen war, dass es jemals zu einer Trennung kommen könnte, und erst recht zu einer schmutzigen, verzichteten sie auf einen Ehevertrag. So gehörten Ellen Murnau 50 Prozent der Firmenanteile ihres Mannes, also 25 Prozent des gesamten Firmenwertes. Getrieben von verletzten Gefühlen und der zugefügten Demütigung klagte sie die Auszahlung ihres kompletten Anteils ein, der mit schlappen 650000 Euro bemessen wurde. Und da sich zusätzlich zu diesem gehörigen Eigenkapitalverlust gerade die Krise der Bauwirtschaft weiter verschärfte, musste das Architekturbüro zunächst immer mehr Mitarbeiter entlassen und dann schlussendlich im vergangenen Jahr Konkurs anmelden. Seitdem würde er sie nur noch hassen, sagte sie nüchtern, mit einem riesigen Pflaster auf dem Auge.
Auf meine Frage, ob sie ihrem Mann zutraue, hinter den Anschlägen zu stecken, antwortete sie, dass sie seit einiger Zeit allen alles zutrauen würde. Sie habe sich auch nicht zugetraut, diese Scheidung so durchzuziehen, und sich selber überrascht.
Während ich nun also über diese vergangene Stunde mit Frau Murnau sinniere und dabei die kurvenreiche schmale Landstraße zwischen Laubach und Schotten entlangfahre, erspähe ich im Rückspiegel das dümmliche aufgedunsene Gesicht eines Vogelsberger Mitbürgers. Viel zu nah klebt er an meiner Stoßstange. Ich bin mir sicher: sein verzweifelt auf sportlich getrimmter Opel ist mindestens so tief gelegt wie sein Verstand, und die Reifen sind so breit wie seine rote Visage. Ich verlangsame mein Tempo auf aufreizende 60. Nun fuchtelt er mit den Händen herum und betätigt die Lichthupe. In dem Moment, in dem er seinen Motor laut aufheulen lässt und in einer kaum einsehbaren Kurve zum Überholvorgang ansetzt, beschleunige ich und winke ihn mit einer Polizeikelle, die ich aus genau diesen Gründen immer unter dem Sitz bereitliegen habe, in die nächste Bucht. Zufriedenheit durchpulst mich, während ich alle seine persönlichen Daten aufnehme und ihm eine saftige Geldstrafe mit Flensburger Pünktchen verspreche. Manchmal ist es schön, ein Cop zu sein. Henning Bröhmann, der knallharte Rächer der Landstraße. Deutlich besser gelaunt steige ich wieder ein und denke darüber nach, was mir Ellen Murnau über ihren Kollegen Bernhard Dohmknecht berichtet hat.
Hey Mara,
sorry, dass ich schon wieder maile, obwohl du ja noch gar nicht geantwortet hast, Süße. Bin jezz deine Stalkerin … ;-
Aber, ich muss es tun … Bin noch so geflasht!
Einfach krass – die Murnau liegt im Krankenhaus … auf die hat irgendein Typ mit einer Softair geschossen, und sie ins Auge getroffen. Du weißt, wie ich Mrs 1000% hasse, aber das tut mir total leid und macht mich voll traurig. Das hat sie nicht verdient. Ich finds echt heftig. Es soll ein Junge gewesen sein, in unserem Alter. Wie krank ist der denn??? Es wurde einer gesehen, mit grauem Kapuzenpulli, vermummt!
Deswegen war heut mein Dad in der Schule. Peinlich!!!!! Der war sogar bei uns in der Klasse. Oh Gott!!!! Hat rumgelabert, dass wenn wir irgendwas drüber wissen, wer was gegen die hat oder jemand etwas beobachtet hat und so, dass man sich bei ihm melden soll. Hat den Obercoolen raushängen lassen und den Mr Oberwichtig gemacht. Und alle ham dann auf mich geguckt. Erdboden geh auf – und Auf-Wiedersehen hätt ich mir gewünscht.
Nebenbei: Hab ich dir eigentlich erzählt, dass die Murnau was mit dem Günzing haben soll … das hat uns mal der Munker gesteckt. Hammer, oder? Genau, der Schnaps-Munker. Und wohl nicht nur mit dem … krass!!! Aber egal jetzt, hoffentlich wird sie bald gesund und wird nicht blind oder so.
Für Adrian isses auch blöd mit der Murnau. Der muss sich jetzt in Deutsch nen anderen Prüfer fürs Mündliche suchen. Manchmal nervt er mit seinem Abi. Redet immer davon, dass er besser als 1,5 machen will und so. Dann frag ich mich oft, wie er das schaffen soll, so toll sind seine Noten auch nicht. Bei mir heult er dann immer rum, wenn ich ne schlechte Arbeit geschrieben habe. Ich finds zwar voll süß, wenn er mir helfen will, aber manchmal hab ich das Gefühl, dass er sich schämt, wenn ich vielleicht sitzenbleibe. Er sich für mich, weisste? Aber ich will nicht lästern, denn sonst ist er einfach immer noch der Oberhammer!!!
Ich bin sooo stolz, dass ich seine Freundin bin!!!
Nun aber bist du dran. Schreib mir, Baby!!! Freu mich total drauf …
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