10. Kapitel
Sind Sie sicher, dass es eine Hämorrhoide ist?»
Die Dame, der diese Frage gestellt wurde, macht nicht den Eindruck, als ob sie darauf gerne öffentlich antworten möchte.
«Das sollten Sie genau wissen, wenn Sie diese Salbe benutzen möchten. Ich kann Ihnen aber auch Zäpfchen vom gleichen Hersteller anbieten. Die wirken dann schon im Enddarm, sozusagen gleich an der Wurzel.»
Diesmal schüttelt die Dame schüchtern den Kopf.
«Viele denken, man hätte Hämorrhoiden, dabei ist es auch oft etwas anderes. Zum Beispiel eine Analthrombose.»
Ich gebe alles, so zu tun, als würde ich nicht zuhören. Doch es ist unmöglich. Zu eng stehen wir hintereinander in der Reihe.
«Wo genau ist es denn? Sollten Sie den Knubbel bereits am Aftereingang spüren, ist es vermutlich eine Analthrombose. Dann müssen Sie sich eher mit kühlenden Medikamenten helfen. Auf gar keinen Fall ein warmes Bad nehmen. Am besten lassen Sie das von einem Proktologen abklären. Es könnte ja auch eine Analfissur sein. Ich empfehle da immer das Rektalcenter bei Gießen. Kennen Sie das?»
Ich tue so, als würde ich meine Mobilbox abhören, und frage mich, ob ich mich in einer Schottener Apotheke befinde oder nicht vielleicht doch eher in einem Charlotte-Roche-Roman.
«Und wenn die Beschwerden in einer Woche nicht besser werden, gehen Sie auf jeden Fall zum Arzt …»
Die Kundin vor mir flüstert leise etwas über den Tresen.
«Ach, da waren Sie schon», schmettert die Frau Apothekerin durch den Raum. «Na, dann ist ja gut, dann wissen Sie ja Bescheid. Wiedersehen und Gute Besserung, Frau Schlesig.»
Frau Schlesig packt ihre kleine Tüte, dreht sich um, blickt scheu zu mir und zuckt zusammen.
«Hey, Manu», sage ich überrascht. «Lange nicht mehr gesehen. Kommste auch zum Abitreffen?»
«Weiß noch nicht», antwortet sie kurz und huscht an mir vorbei hinaus ins Freie.
Na, dann haben wir doch dann ein schönes Gesprächsthema, denke ich mir. Oft weiß man ja nicht, was man bei Klassentreffen so reden soll.
«Bitte sehr?», sagt die Dame mit dem weißen Kittel, der starken Schminke und der albernen grünen Brille nun zu mir. Ich lege das Rezept für Franziskas Beruhigungsmedikament auf den Tisch.
«Aha», macht sie nun. Sie holt tief Luft und sagt: «Sie wissen schon, dass …»
«Nein», unterbreche ich sie. «Ich weiß gar nichts und ich möchte von Ihnen auch gar nichts weiter wissen. Ich möchte von Ihnen nur, dass Sie nun zu Ihrem Schrank dahinten gehen und mir einfach dieses Medikament geben. Wenn ich oder meine Frau, oder Mutter oder Vater oder weiß der Geier wer, eine medizinische Frage haben, dann gehen wir zum Arzt oder der Ärztin unseres Vertrauens und stellen diese dort und nicht hier in Ihrem Medikamentenladen. Ich gebe Ihnen nur den Auftrag, mir dieses Medikament auszuhändigen und sonst zu gar nichts. Sollte das bei Ihnen Minderwertigkeitskomplexe hervorrufen, dann hätten Sie sich früher überlegen sollen, statt Pharmazie Medizin zu studieren. Danke!»
Frau Apothekerin starrt mich mit offenem Mund an.
«Unverschämtheit», zischt sie.
«Vielen Dank, Ihnen auch noch einen schönen Tag», sage ich und verlasse zufrieden die Apotheke.
Schotten, das Herz des Vogelsbergs, so wird es genannt. Die Metropole schlechthin mit fulminanten 12000 Einwohnern, die in der Kerngemeinde oder in Stadtteilen mit den schönen Namen Betzenrod, Breungeshain, Burkhards, Busenborn, Eichelsachsen, Einartshausen, Eschenrod, Götzen, Kaulstoß, Michelbach, Rainrod, Rudingshain, Sichenhausen und Wingershausen aus Überzeugung leben oder einfach nicht von dort weggekommen sind. Ich, der ich in Rudingshain aufgewachsen bin, das so winzig ist, dass selbst Google Maps es manchmal übersieht, bin so etwas wie ein Verräter, da ich nach Bad Salzhausen zog, einem Stadtteil Niddas, das wiederum offiziell zum Wetteraukreis zählt.
Schotten darf von dem einen oder anderen nicht zuletzt wegen des mittelalterlichen Stadtkerns und diverser enger Gässchen als malerisch gepriesen werden. Zudem liegt die Stadt am Fuße des Mount Everests des Vogelsbergs, des Hoherodskopfs, der touristischen Topadresse schlechthin. Ob man allerdings in Schotten, wie die stadteigene Homepage tönt, «ganz schnell bei einem Stadtrundgang, Einkaufsbummel oder im Park mit netten Leuten ins Gespräch kommt», lasse ich mal dahingestellt. Der Fremde sollte eher den durchaus skeptischen Blicken der Einheimischen standhalten oder sie ignorieren können. Auch sollte man es aushalten können, wenn in Gaststätten vor Ort die Gespräche mit einem Schlag verstummen, wenn man es wagt, eine solche ohne Vorankündigung zu betreten. In Rudingshain ist es bis heute eine Attraktion, wenn ein Auto ohne Vogelsberger, Wetterauer oder Gießener Kennzeichen durch den Ort rauscht.
Für mich ist Schotten Heimat. Was auch immer das sein mag. Ich habe Spaß an den alten Männern, die den ganzen Vormittag stumm mit einer Flasche Bier an Stehtischen vor Einkaufsmarktbäckereien stehen und die Wachsfiguren von Madame Tussaud imitieren. Ich liebe den rauen Wind der Gegend und den latenten Geruch von Kuhmist in der Luft.
Ich mag den oberhessischen Dialekt, den ich aufgrund meiner hochdeutschen Eltern nie gelernt habe und bis heute nicht immer verstehe. Man sagt, der Norddeutsche sei eher unterkühlt und ruhig, der Ruhrpöttler laut und lebensfroh und der Bayer bodenständig und gemütlich. Der Oberhesse ist einfach oberhessisch, nicht mehr und nicht weniger. Und von dem Wenigen allerdings hat er richtig viel. Wie sagte der Gärtner meiner Eltern immer? «Wer iewes eabbes eass, eass ean Owerhess» – Wer ein bisschen etwas ist, ist ein Oberhesse. So soll es sein.
Ich setze mich an diesem bedeckten schwülen Maimorgen in das sogenannte «Vulkan-Café» des «Zuckerbäckers» Haas, bestelle mir neben einem Cappuccino einen «Kirsch mit Streusel» zum Frühstück und warte auf Stefanie Assmann. Vielleicht kann sie mir mehr über Ellen Murnau erzählen, bevor ich diese in einer Stunde in der Gießener Augenklinik besuche.
Die Schulpsychologin wirkt gehetzt, als sie das Café betritt. Ihre Oberlippe ist mit einem Hauch Schweiß benetzt und die Haare sind ein wenig vom Fahrradwind zerzaust. Ich begrüße sie freundlich per Handschlag, und wir kommen sehr schnell zur Sache. Sachlich, professionell und gefasst wirkt sie, als ich ihr ausführlich von den jüngsten Ereignissen berichte.
Kurz bevor ich Fragen zu Dr. Ellen Murnau stellen möchte, klingelt mein Handy. Es ist Teichner.
Er habe wichtige Neuigkeiten. Ich verlasse den Tisch, um mehr Ruhe zu haben, nicke Stefanie Assmann entschuldigend zu und stelle mich vor die Bäckerei. Schweigend lausche ich Teichner und schaue dabei auf adipöse Zwölfjährige, die sich Zigaretten anzünden.
«O.k., alles klar», sage ich zu ihm, nachdem er mich ausführlich informiert hat. «Danke und tschüs.»
«Tschüssinger!»
Als ich zurück ins Café komme, sehe ich nun Stefanie telefonieren und Notizen machen. Wenig später beendet auch sie ihr Gespräch, blickt zu mir auf und sagt: «Mann, Eltern können solche Arschlöcher sein, das glaubt man kaum.»
Ich stimme ihr zu und erzähle von Teichners Anruf, wohl wissend, dass ich eigentlich nichts über laufende Ermittlungen erzählen darf. Ich tue es aber trotzdem.
«Bei uns im Revier hat sich eine Zeugin gemeldet», berichte ich, «die einen vermummten Jugendlichen mit Gewehr gesehen haben will.»
Stefanie Assmann setzt die Kaffeetasse ab und verschüttet dabei einige Tropfen auf ihren hellen Rock. Sonst bin ich es ja immer, der etwas verschüttet, umstößt oder irgendwo dagegenrennt.
«Es scheint also wieder unser Steinewerfer zu sein», füge ich hinzu. «Es ist schwierig, das Gewaltpotenzial einzuschätzen. Ein Dummer-Jungen-Streich ist das ja nicht mehr. Ein Schuss aus einer Softairwaffe kann aber auch nicht als Mordanschlag gewertet werden. Und dass er ein Auge getroffen hat, war vermutlich Zufall und nicht beabsichtigt.»
Stefanie nickt. «Er nimmt aber das Risiko in Kauf, Ellen zu verletzen. Der Steinwurf letzte Woche hätte auch schon schlimmer ausgehen können.»
«Was würdest du denn tun?», frage ich sie. «Würdest du die Schule schließen? Siehst du eine Gefahr, dass es Anschläge auf Schüler geben könnte?»
«Frag mich was Leichteres», antwortet sie und versinkt in Gedanken.
Beide schweigen wir eine Weile und der Kaffee-Vollautomat, der mit spürbarer Verspätung inzwischen auch im Vogelsberg Einzug gehalten hat, summt eine nachdenkliche Melodie dazu.
Nicht erst heute ist mir bewusst geworden, dass ich mich in der Gesellschaft von Stefanie Assmann sehr wohlfühle. Ich empfinde so etwas wie Vertrauen, was dem Umstand geschuldet sein mag, dass sie Psychologin ist. Natürlich ist sie auch nicht unbedingt unattraktiv, denke ich, während ich den Ehering an ihrer rechten Hand betrachte, und «nicht unattraktiv» ist ziemlich untertrieben.
Zurück zum eigentlichen Thema.
«Tja, es sieht wohl so aus, als ob wir nun auch einmal intensiv unter den Schülern ermitteln müssten», sage ich.
Stefanie Assmann nickt.
«Weißt du wirklich von keinem Vorfall, bei dem Ellen Murnau früher mal in irgendeiner Weise bedroht wurde?», frage ich sie.
Diesmal schüttelt sie den Kopf. «Ich sage dir jetzt was, was du aber offiziell nicht von mir erfahren hast, o.k.?»
«O.k.», antworte ich.
«Es gibt einen Lehrer im Kollegium, mit dem sie irrsinnige Schwierigkeiten hat. So etwas hat sie mir immer wieder mal angedeutet. Es ist ihr Kollege Dohmknecht. Den Vornamen weiß ich nicht.»
Ich tippe den Namen in das «Notizen»-App meines Smartphones. Das mache ich jetzt immer so, und ich finde es inzwischen auch nicht mehr albern. Einen Notizblock braucht man dann nicht mehr. Ich habe mich sogar schon dabei ertappt, dass ich während ausgedehnter Berlusconi-Spaziergänge erinnerungswürdige Gedanken, Vorhaben und Ideen auf mein Diktiergerät-App geplaudert habe. Ich höre sie zwar später niemals mehr ab, fühle mich dabei aber so was von einem Mann dieser Zeit, dass mir nahezu schwindelig wird.
Stefanie Assmann wartet geduldig, bis ich den Namen «Dohmknecht» nach viermaligem Vertippen endlich korrekt eingegeben habe.
«Der Dohmknecht ist Oberstufenleiter und so etwas wie ihr Stellvertreter», fährt sie fort. «Er legt ihr ständig Steine in den Weg und sperrt sich gegen jegliche Formen von Veränderungen, die Ellen Murnau angeht. Aber es ist dann noch viel schlimmer geworden, er hat ihr Affären mit Kollegen angedichtet und die Schüler gegen sie aufgehetzt.»
Ein albernes «Oha» rutscht mir heraus. «Und warum?»
«Er ist wohl nie damit zurechtgekommen, dass damals Ellen Schulleiterin wurde und nicht er.»
«Was hatte er sonst gegen sie?»
Stefanie Assmann zuckt mit den Schultern.
«Das konnte sie sich auch nicht wirklich erklären. Das muss so ein Typ sein, der sich nichts von Frauen sagen lassen will. Soll es ja geben.»
«Und du denkst, er könnte was damit zu tun haben?», hake ich nach.
«Noch mal», Stefanie Assmann fixiert mich nun mit ernstem Blick, «offiziell denke ich hier gar nichts. Aber inoffiziell traue ich dem schon zu, dass er Jugendliche anstiften könnte, so etwas zu tun. Laut Ellen hat er inzwischen auch im Lehrerkollegium Jünger um sich geschart.»
Stefanie nippt zum dritten Mal an ihrer leeren Tasse, dann winkt sie der Bedienung und bestellt noch einen Kaffee.
«Ich danke dir für diesen Tipp und das Vertrauen», sage ich und meine es auch so.
Ein älteres Ehepaar erhebt sich vom Nachbartisch und steuert zielstrebig auf uns zu. «Guten Tach, Frau Pfarrer», sagt die Dame zu Stefanie, «wisse Sie, ob Mittwoch wieder Singstund ist? Net, dass mir widder umsonst herkomme …» Mit vorwurfsvoller Miene fixiert sie Stefanie.
Ihr Mann, der scheu hinter ihr stehen geblieben ist, bestätigt die Worte seiner Frau mit eifrigem Nicken.
«Das kann ich Ihnen leider nicht sagen», entgegnet Stefanie Assmann souverän mit warmer dunkler Stimme. «Da rufen Sie am besten im Gemeindebüro an.»
Die ältere Dame, die eine viel zu enge und grelle Bluse trägt, sagt noch einmal in klagendem Oberhessisch «Net, dass mir widder umsonst komme …» und verlässt mit ihrem Mann im Schlepptau das Café des Zuckerbäckers.
«Frau Pfarrer?», frage ich sofort.
«Na, ich bin keine Pfarrerin», antwortet sie. «Das ist nur angeheiratet.»
«Ach …» Kurz denke ich nach. «Ach, du bist die Frau vom Pfarrer Assmann?»
«Ja, stell dir vor», entgegnet Stefanie leicht genervt. «Ich dachte, das wüsstest du.»
«Nö, woher denn?»
Gregor Assmann dürfte seit ungefähr zehn Jahren Pfarrer in Schotten sein. Persönlich kenne ich ihn nicht, doch ich habe schon einiges über ihn gelesen oder gehört. Gregor Assmann hat sich durch sein starkes, politisch eher links gerichtetes Engagement in Schotten nicht nur Freunde gemacht. Er war Initiator vieler Bürgeraktionen, hat sich zum Beispiel stark gegen Atomkraft eingesetzt und viel für die Integration ausländischer Mitbürger getan.
«Der Pfarrer Assmann …», sinniere ich.
Stefanie verdreht die Augen.
«Als ich damals zum ersten Mal hörte, dass der neue Pfarrer in Schotten Assmann heißt, habe ich mich kaputtgelacht …»
Stefanie rührt unbeteiligt in ihrer Tasse.
«Meine Oma hatte nämlich früher immer gesagt: ‹Das kannste machen wie der Pfarrer Assmann.› Ich hab dann gefragt: ‹Hmm, wieso, wie macht der das denn?› Dann sie: ‹Na, wie der Pfarrer Nolte … und der, der machte es so, wie er’s wollte› …»
Ich grinse blöd vor mich und füge noch hinzu: «Ist doch lustig. Kennste den nicht, den Spruch mit dem Pfarrer Assmann?»
Stefanie gähnt. «Nö», antwortet sie.
«Echt? Noch nie gehört?»
«Och, ich weiß nicht», sagt Stefanie und verzieht dabei keine Miene, «höchstens ungefähr zweitausendmal in den letzten zehn Jahren.»
Wir quatschen weiter, und das Gespräch geht zu Privatem über. Sie erzählt von ihrem Sohn Lasse, der in Melinas Parallelklasse geht und inzwischen wohl auch mit den Unwegsamkeiten der Pubertät zu kämpfen habe. Sie erzählt ein wenig von ihrem Job, bei dem sie permanent das Gefühl habe, bei allem Einsatz nie genug tun zu können. Da sie für alle Schulen im Vogelsbergkreis zuständig sei, seien ihre Möglichkeiten schon rein zeitlich begrenzt. Das nerve sie. Ich erzähle ein wenig von Laurin, der in diesem Sommer nun endlich eingeschult werden soll, nachdem es im letzten Jahr nicht geklappt hatte. Wir hatten ihn schon in seinem Kindergarten, der integrativen und elternverwalteten Kindergruppe «Schlumpfloch», abgemeldet und hatten fest vor, ihn zur Schule zu gehen zu lassen. Doch dann bekam Laurin es mit der Angst zu tun. Er regredierte plötzlich zu einem Dreijährigen, weinte häufig, pinkelte wieder ins Bett und klagte über Bauchschmerzen. Also entschieden Franziska und ich, ihm noch ein Jahr Zeit zu geben. Ob es die richtige Entscheidung für ihn war, wissen wir nicht.
Stefanie Assmann hört mir aufmerksam zu, geht mir aber nicht in die Falle, sich auf ein getarntes Beratungsgespräch einzulassen.
«Sorry, dass ich dir das alles erzähle. Du kannst so ’nen Mist bestimmt nicht mehr hören.»
Sie lächelt milde, und ich gucke mich ein wenig an ihren charmanten Lachfältchen fest.
«Ach weißt du, ich bin es gewohnt, dass mir ständig alle Leute von ihren Problemen mit den Kindern erzählen.»
Ihr leicht arroganter Unterton stört mich, ebenso das in mir aufsteigende Gefühl einer gewissen Unterlegenheit. So blicken wir beide recht bald auf unsere Uhren und stellen fest, dass der nächste Termin auf uns wartet.