7. Kapitel
Kreutzer klettet. Wie ein Schatten folgt er mir auf Schritt und Tritt. Und er redet. Viel. Nein, eigentlich eher dauernd.
Schon jetzt wüsste er, dass die Hospitanz auf unserem Polizeirevier in Alsfeld bahnbrechend für die Weiterentwicklung seines Vogelsberger Agententhrillers sei.
«Da muss man dabei sein», schwadroniert er. «Man muss Polizeiluft schnuppern, das muss man einatmen, man muss eintauchen, riechen. Das kann man sich nicht am Schreibtisch alles herdenken. Das spüren dann die Leser. Das macht dann den Unterschied, verstehste?»
Inzwischen habe ich an meinem Schreibtisch Platz genommen. Kreutzer kurz danach auch. Direkt gegenüber, mit freiem Blick auf mich.
Schweigend lese ich den kriminaltechnischen Bericht zu Dr. Murnaus Auto. Der Schriftzug «Tötet Murnau» wurde mit einem spitzen Messer in die Fahrertür geritzt. Erst der Steinwurf, dann die Amokdrohung per Brief und jetzt dieser Mordaufruf, verbunden mit Sachbeschädigung. Das ist kein Dummer-Jungen-Streich mehr. Das alles ist mehr als unschön. Vor allem, wo soll das noch hinführen?
«Verstehste?», höre ich dann noch einmal den Kreutzer-Manfred sagen, der sich mit einem Schweigen als Antwort nicht begnügen mag.
«Ja», antworte ich lustlos.
«Ich hab auch noch ’ne gute Nachricht für dich», legt er nach.
«So? Welche denn?» Noch immer blättere ich ohne aufzublicken im Bericht. Dass er sich heute seine spaghettistischen Endresthaare zum Zöpfchen zusammengebunden hat, ist mir trotzdem leider nicht entgangen.
«Rat mal!»
Manfred Kreutzer, den wir alle Manni nennen sollen, aber nicht wollen, entledigt sich seiner speckigen Lederweste und legt sie über meinen Schreibtisch.
«Was?»
«Na, rat mal.»
«Ja was denn, was soll ich raten?»
Gerade kommt eine Mail von Markus Meirich rein. Er habe in einem längeren Gespräch Frau Dr. Murnau endlich überzeugen können, bis auf weiteres nicht mehr in die Schule zu gehen.
«Ei, du sollst raten, welche gute Nachricht ich fürdchab …»
«Ach, so äh … puh.»
Markus schreibt weiter, die Schulleitung überlege, eine Sonderpolizeieinheit aus Gießen anzufordern. Eine Abteilung, die vor einiger Zeit für Fälle von Amok und Ähnliches eingerichtet wurde.
«Ich nehm dich in die Danksagung mit rein.»
Das Lehrerkollegium soll morgen in einer Gesamtkonferenz informiert werden. Auch wir von der Polizei sollen dabei sein, lese ich weiter. Es soll diskutiert werden, wie mit der Bedrohung umzugehen sei und in welcher Form im Umfeld der Schule ermittelt werden kann und soll.
«Haste gehört?»
«Ja, was ist denn?»
«Ich nehm dich ins Schlusswort mit rein», sagt Kreutzer und zeigt bei dem Wort «dich», so lässig er kann, mit seinem Zeigefinger auf mich.
«Dann biste auch ’ne kleine Berühmtheit. Nicht schlecht, oder?»
Markus berichtet weiter, dass er versucht habe, über das Schulumfeld hinaus mehr über und von Ellen Murnau zu erfahren. Verschlossen sei sie gewesen. Immerhin habe er herausgefunden, dass sie geschieden sei und einen langjährigen Rosenkrieg gegen ihren Exmann hinter sich habe. Es sei um viel Geld und um das gemeinsame Einfamilienhaus in Nidda gegangen.
«Nicht schlecht, oder?» Kreutzer bleibt hartnäckig,
«Um was geht’s jetzt noch mal?», muss ich nachfragen.
«Ei, ums Schlusswort. Und du bist dabei. Ist das was?»
Er meint es tatsächlich ernst.
«Ja, echt super, danke … äh, du Manfred …»
«Für dich Manni!»
«Ja, also … Manni, du, geh doch mal rüber zu Teichner. Der wollte dir noch ’ne spannende Story aus der Praxis erzählen, die du eins zu eins für dein Buch übernehmen kannst.»
Kreutzer springt begeistert auf, hält sich aber gleich darauf schmerzverzerrt die rechte Hüfte und wechselt humpelnd seinen «Arbeitsplatz». Ich atme tief durch und sehe zufrieden, wie Teichner bei seinen Internetsurfereien gestört wird.
Am Abend stehe ich auf unserer Terrasse und vergesse wieder einmal, das Rauchen aufzugeben. Franziska ist beim «Atmen». Mal wieder ein neuer Kurs. Immer freitags. Inzwischen der vierte, seit sie zurück ist.
«Atmen … tun wir das nicht alle, auch ohne Kurs?», fragte ich sie vorgestern, in einem Tonfall vermutlich irgendwo zwischen naiv und hämisch.
Sie verdrehte nur die Augen und ging weg.
Ich atme nun auch. Allerdings Gift in meine Lungen. Ganz ohne Kurs.
Die andere Hälfte unseres Bad Salzhausener Doppelhauses grillt. Der Rest der Wohngegend auch. Vermutlich grillen alle heute. Ganz Deutschland. Das Wetter befiehlt es. Ich grille nicht. Schon gar nicht, wenn alle anderen es gerade tun.
Auch setzt mich schönes Wetter immer so sehr unter den Zugzwang, draußen sein zu müssen, dass ich mich aus Protest dagegen lieber drinnen aufhalte. So drücke ich schnell die Zigarette in einem Blumenkübel aus; die Anschaffung eines Aschenbechers lohnt sich ja nicht mehr. Schließlich höre ich ja permanent damit auf.
Ich gehe hinein und lege mich aufs Sofa. Berlusconi scheuche ich vom selbigen, da er dort nicht zu liegen hat, auch wenn er es doch immer tut. Ich schalte den Fernseher ein und lasse mir von Ranga Yogeshwar im altklugen Tonfall etwas erklären, was mich nicht interessiert. Ja, ich weiß, Physik kann so spannend sein, soll es aber für mich in diesem Leben nicht mehr werden. Und schon gar nicht mit Hilfe von Ranga Yogeshwar.
«Guten Abend, Herr Bröhmann!» Ich schrecke hoch. Da steht urplötzlich Adrian Albrecht im Wohnzimmer.
«Nabend», murmele ich zurück. Ich richte mich vom Sofa auf, blicke kurz zu ihm, dann aber wieder auf den Fernseher. Adrian setzt sich ungefragt neben mich.
«Ach, der Yogeshwar, der Quoteninder. Nicht schlecht, oder? Wie der immer komplizierte Dinge so einfach erklären kann, dass das auch noch der dümmste Hauptschüler oder Bauarbeiter rafft.»
Dann lacht er dreimal kurz lautlos auf und überprüft mit der linken Hand die Muskulatur seines rechten Bizeps.
«Wo ist Melina?», frage ich ihn.
«Im Bad», antwortet er. Dann zeigt er albern auf seine Uhr, grinst zu mir herüber und sagt: «Frauen halt, ne?»
Oh Gott! Was weißt du Hosenscheißer denn schon von Frauen?
Dann erscheint Melina in der Tür. Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt. Schwarze Schuhe. Wie Adrian. Auch der betont dicke schwarze Lidstrich unter ihren Augen ist neu.
«Wir sind dann weg, ne!», blafft sie mir zu, ohne mich anzusehen.
«Wie weg? Jetzt noch?»
«Hohh, Mann, ich bin kein Baby mehr.»
«Um halb elf bist du wieder da!»
Adrian erhebt sich, reicht mir die Hand, sagt: «Keine Sekunde später bringe ich sie wieder unversehrt hierher zurück.» Dann geht dieses achtzehnjährige Riesenbaby zu meiner Tochter, umfasst ihre Hüfte und nimmt sie wieder ein weiteres Stück von mir weg.
Dem Freund meiner Tochter, den, wie ich hörte, alle nur AA nennen, also nicht AA, wie man zum Stuhlgang von Babys sagt, sondern englisch gesprochen Ey Ey, muss man immerhin eines zugute halten: Er ist Eintracht-Frankfurt-Fan. Und Melina ist nun auch «Fan», obwohl sie sich, bevor sie ihn kennenlernte, einen Dreck um Fußball scherte. Nun will sie sogar am Samstag mit ihm zum Zweitligakracher gegen Erzgebirge Aue ins Stadion gehen. Das Ticket habe ich ihr gerne bezahlt.