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6. Kapitel

Spätestens als Günni aus Ober-Hörgern in viel zu enger Hose vehement die Hüfte bewegte und von argentinischer Erotik sprach, wusste ich, dass die Teilnahme am Tango-Kurs der Volkshochschule Nidda ein Fehler gewesen war.

«Lass uns doch mal was zusammen machen», hatte Franziska vor einiger Zeit gesagt. «Nur wir, so als Paar … ein gemeinsames Hobby haben.»

Erst zuckte ich bei dieser Formulierung zusammen, dann aber fand ich die Idee gut. Im Grundsatz jedenfalls. Doch dass Günni aus Ober-Hörgern das gemeinsame Hobby sein soll, finde ich nun doch schwierig.

Mit sechs weiteren Paaren stehen wir etwas verlegen im kleinen Saal des Bürgerhauses herum und folgen den schwülstigen Ausführungen des kompakt gebauten Tango-Lehrers, der mit seinem Versuch, durch Nach-vorne-Gelen der Haare die Glatze zu kaschieren, wie alle Männer vor ihm kläglich scheitern musste.

Günni hat sich die flotte Astrid geschnappt und zerrt sie nun zu Demonstrationszwecken mit riesigen Schritten und laszivem Blick wild durch den Raum. «Damm, ram dam, damm», macht er dazu. Astrid trägt Gymnastikhose, was die Sache nicht besser macht. Nachdem Tango-Günni die erschöpfte Astrid wieder bei ihrem verlegen im Rhythmus mitwippenden Lebenspartner abgestellt hat, macht er uns klar, dass Tango nicht nur ein Tanz ist. «Leeeebensgefühl ist das, ihr könnt das atmen, spüren, fühlen.»

Scheiße, auch das noch.

Ich sehe Franziska aus den Augenwinkeln zu mir rübergrinsen und versuche neutral auszusehen, was mir vermutlich nicht gelingt. Während Günni aus Ober-Hörgern über das Lebensgefühl des Argentiniers an sich referiert, höre ich nur halb zu und denke an das grandiose 4:1 der Nationalmannschaft im Viertelfinale der letzten Weltmeisterschaft gegen eben genau dieses Land. Der Konter von Mesut Özil und Thomas Müller hatte für mich deutlich mehr Erotik als Günnis Hüftschwung oder die Gymnastikhose von Astrid.

«Männer», schmettert der wilde Günni plötzlich, sodass ich kurz zusammenzucke, «ihr tanzt nicht bloß mit eurer Partnerin, neeeeiiiin, sie ist eure Göttin … ihr tragt sie und lasst sie schweben. Feiert sie!»

Geht es nicht auch ein klein wenig darunter?

Kurz danach übe ich mit Franziska wieder die ersten Grundschritte und blicke konzentriert bis verbissen auf den Boden.

«Sei doch nicht so verspannt», höre ich meine eigentlich zu feiernde Göttin meckern, die so gar nicht schweben will.

Vielleicht hat es mal eine Zeit gegeben, in der wir tatsächlich einen gemeinsamen Hüftschwung hinbekommen hätten. In diesem Moment jedenfalls will uns das nicht gelingen.

Plötzlich kommt Günni mit im Takt wippender Hüfte auf mich zugeschwänzelt.

Er wird doch nicht, denke ich. Doch er wird. Er legt seine Hände fest auf meine beiden etwas starren Hüften.

«Ooooond, ram damm damm», höre ich dann und rieche gleichzeitig sein süßliches Rasierwasser. Günni zieht mich vor, zur Seite und zurück.

Und das viermal hintereinander.

«Looocker, ganz loocker», befiehlt er. Alles andere würde ich nun hinbekommen, nur locker sein, das ganz bestimmt nicht.

«Versuch die Musik mal einzuatmen … Raamm, damm, dam, dam.»

Nachdem ich dann auch noch um die eigene Achse gedreht werde, blicke ich für einen kurzen Moment zu Franziska. Ich sehe wie, sie die Lippen aufeinanderpresst und sich ihre Augen mit Tränen füllen.

Dann kann sie nicht mehr. Es platzt so heftig aus ihr heraus, dass Günni schlagartig innehalten muss und ich mich aus seiner Raamm-damm-damm-Umklammerung befreien kann. Franziska erleidet eine Lachattacke allererster Güte. Der Anfall ist so heftig, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann und auf die Knie fällt. Ihr ganzer Körper vibriert. Für einen kurzen Moment ist mir der Auftritt peinlich. Denn alle anderen Paare blicken stumm auf meine quietschende Ehefrau. Dann aber brechen auch in mir alle Dämme, und ich kann nicht mehr an mich halten. Ich schnappe mir Franziska, lege sie mit dem Bauch auf meine Schulter, mit dem Ergebnis, dass sie noch lauter quietscht. Dann mache ich drei große Schritte und füge im Hinausgehen ein «Ramm damm damm» hinzu.


Irgendwie habe ich dann den Übergang verpasst. Heiter lachend lästerte ich auf dem Heimweg noch über Günni, über Gymnastikhosen und das Ramm damm damm und bemerkte nicht, wie Franziskas Lachen fließend in Weinen überging.

Nun sitzen wir zu Hause in der Küche, und alles ist wieder traurig.

«Was ist denn?», frage ich zaghaft.

«Ich bin einfach traurig», antwortet sie.

«Warum denn?»

«Weil’s so ist.»

Immer und immer wieder kippt alles. Warum kann es nicht einfach mal einfach sein? Schon seit der Schulzeit kennen wir uns, da kann man doch mal erwarten, dass es mal wenigstens ein bisschen von selber läuft.

Als würde Franziska meine Gedanken erraten, sagt sie: «Du kannst nicht immer so tun, als wäre nichts passiert, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben. Glaubst du, ich merke nicht, wie du vor mir wegläufst? Wie du Angst hast vor meinen Veränderungen?»

«Ich habe keine Angst davor», entgegne ich. «Ich will halt nur nichts falsch machen.»

«Genau das isses, nichts falsch machen. Das will ich auch nicht. Und so gehen wir uns dann lieber aus dem Weg. Ich weiß doch auch nicht, was ich machen soll.»

«Spiel wieder Klavier!», rutscht es aus mir heraus. Flehender als gewünscht.

«Ach», macht sie und wischt die letzte Bemerkung mit einer unwirschen Handbewegung weg.

«Oder nimm doch wenigstens wieder Klavierschüler», lege ich nach. «Du hast doch jetzt die Zeit, seit du von der Schule weg bist. Vielleicht bekommst du dann auch wieder Lust zum Spielen.»

Seit Franziska vor fünfzehn Jahren ihr Klavierstudium schmiss und auf Lehramt umsattelte, hat sie kaum noch einen Ton gespielt. Sie müsse damit komplett abschließen, sagte sie immer, für sie ginge nur hopp oder topp. Also sechs Stunden üben oder eben gar nicht mehr. Sie könne es nicht ertragen, sich selber am Klavier herumstümpern zu hören. Ich habe das nie verstehen können. Bis heute nicht.

«Wir haben doch den Flügel hier stehen», sage ich. «Bitte! Und nebenbei bemerkt, täte es unserem Konto auch ganz gut …»

«Ach, daher weht der Wind», unterbricht sie mich. «Ich dachte wirklich kurz, es ginge dir um mich.»

«Natürlich geht es um dich», entgegne ich. «Aber es ist doch verdammt noch mal auch eine Realität, dass uns dein Lehrerinnengehalt fehlt. Wir müssen schließlich dieses scheiß Haus hier abbezahlen.»

Während ich das sage, schlage ich mit der Faust auf den Küchentisch und erschrecke dann vor meiner eigenen Heftigkeit.

«Na, dann fang doch selber mal an und kündige dein blödes Pay-TV-Abo», schreit sie zurück.

Ich spüre, wie mein Hand schmerzt und alles andere auch. Franziska legt die Hände vor sich auf den Tisch.

«Henning, wir müssen uns neu erfinden. Das haben wir uns doch damals auf der Berghütte geschworen.»

Diesmal mache ich «Ach» und winke verärgert ab. Geschwätz!

«Stattdessen», fährt Franziska fort, «habe ich ständig das Gefühl, dass ich dankbar sein muss, dass du zu mir hältst und ich hier wieder einziehen durfte.»

Sie steht auf und verlässt die Küche.

Eine Weile noch sitze ich stumm alleine am Tisch. Ihr letzter Satz hallt nach. Vielleicht hat sie sogar ein bisschen recht.

Wenig später stehen wir stumm vor unseren beiden Badezimmerspiegeln und putzen uns die Zähne. So wie immer. So wie seit 17 Jahren. Ich gehe zu ihr rüber und nehme sie in den Arm. Wir küssen uns, und ich schmecke ein wenig Zahnpasta. Dann drücke ich meinen Rücken gerade, öffne die Arme, greife mit der rechten Hand an ihren Rücken, mit der linken ihre Schulter, blicke wie ein argentinischer Latin Lover, packe sie fest und mache Ramm Tam Tam.

Später schlafen wir nach Monaten das erste Mal wieder miteinander. Wir spüren beide, dass es sich hätte anders anfühlen können.

Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder
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