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4. Kapitel

Du sollst verrecken, Murnau! Und mit dir die ganze Schule. Ich komme wieder.

Diese unschöne Briefbotschaft liegt vor unserer aller Augen auf dem mir so gut bekannten Schreibtisch der Frau Dr. Ellen Murnau. Sie selber hat diesmal hinter und nicht unter dem Möbelstück Platz genommen. Ihr Gesicht ist der Situation angemessen blass.

Neben mir sitzt tatsächlich unser neuer Praktikant, der bei dieser Besprechung genauso wenig zu suchen hat wie das T-Shirt meines Kollegen Teichner. Einfach beschämend, das alles.

«Haben Sie einen Blassen, wer oder was damit gemeint sein könnte?», fragt das schlimme T-Shirt die Schuldirektorin.

Frau Dr. Ellen Murnau rümpft die Nase. «Sie meinen mit Ihrer Formulierung, ob ich eine Ahnung hätte?»

«Yep!»

Ich schalte mich ein und erzähle von dem gestrigen Vorfall mit dem Steinewerfer. In Teichners Blick lese ich: «Warum hast du das nicht gemeldet?» Glücklicherweise hält er den Schnabel. Auch Manfred Kreutzer glotzt mich dämlich an.

«Ich habe ihn kurz gesehen, allerdings nur von hinten», fahre ich fort. «Zudem war sein Gesicht vermummt. Zierlich, klein. Ich vermute, ein Junge im Alter zwischen elf und dreizehn.»

Manfred Kreutzer, der einen Schreibblock auf seinem Schoß liegen hat, schreibt alles akribisch mit.

«Ein Mädel könnte es nicht gewesen sein?»

«Ich glaube nicht», antworte ich. Und vor allem keines, das noch ein paar Jahre auf die Weide müsste, denke ich in Richtung Teichner. «Aber sicher bin ich nicht.»

Kreutzer beginnt neben mir mit dem rechten Bein zu wackeln, was mich in Verbindung mit dem dauerhaften Schreibstiftkritzelgeräusch kolossal irritiert.

«Wir müssen nun also den Steinwurf gestern als klare Attacke auf Sie, Frau Murnau, betrachten», sage ich. «Die Drohung dieses Briefes ist namentlich an Sie gerichtet. Ich denke, wir sollten das ernst nehmen.»

Alle nicken ernst, auch Frau Dr. Ellen Murnau.

«Gibt es irgendjemanden in der Schule, mit dem oder der Sie zurzeit richtig Ärger haben?»

Ellen Murnau stößt einen kurzen Seufzer aus. «Sie wissen doch selbst, wie beliebt wir Lehrer und Lehrerinnen sind …»

«Niemand, der Sie in letzter Zeit beschimpft hat oder Ähnliches?»

«Nein. Außer Ihrer Tochter niemand», rutscht es ihr heraus. Ich lache. Als Einziger in der Runde.

«Entschuldigen Sie bitte», murmelt die Schulleiterin etwas peinlich berührt hinterher. «Ich bin einfach etwas angespannt.»

Es klopft an der Tür, und eine Frau kommt herein. Frau Dr. Ellen Murnau stellt sie als Frau Stefanie Assmann vor, die für den Vogelsbergkreis als Schulpsychologin arbeite.

«Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich hatte etwas Probleme mit meinem Auto», sagt sie und setzt sich auf den freien Platz neben Teichner.

«Frau Assmann habe ich hinzugebeten, da der Brief ja auch eine Drohung an die Schule, also auch an die Schüler enthält», erklärt Ellen Murnau.

«Außerdem hat sie viel mit einzelnen Schülern zu tun gehabt, die, na ja, sagen wir mal, zu so etwas fähig sein könnten. Vielleicht kann sie uns bei der Einschätzung helfen, wie ernst so eine Drohung zu nehmen ist. Ich schätze ihre Arbeit als Psychologin sehr.»

Stefanie Assmann, die Mitte dreißig sein dürfte und kurzes gescheiteltes braunes Haar trägt, lächelt kurz und lässt sich von mir über den jungen Steinewerfer informieren.

«Ich denke», sagt sie danach, «der Täter will dir, Ellen, hauptsächlich Angst machen. Darum geht es ihm in erster Linie. Ich vermute, der Steinwurf sollte dich auch nicht treffen, sondern dir in erster Linie einen Schrecken einjagen …»

«Hätte er aber fast», unterbricht Teichner sie in unangemessen patzigem Ton. Teichner hat so seine Probleme mit dem Berufsstand der Psychologen, und mit studierten Frauen ohnehin.

Die Schulpsychologin zieht gelassen eine Braue hoch, blickt zu Teichner, als würde sie ihn fragen, ob sie nun weiterreden dürfe, und fährt fort.

«Seine Vorgehensweise hat etwas Unbeholfenes. Ich glaube nicht, dass er eine große Aktion gegen die Schule plant. Doch er wird weitermachen, Nadelstiche setzen, vor allem gegen dich, Ellen.»

Frau Dr. Murnau nickt.

«Das ist aber nur eine erste grobe Einschätzung. Also weder eine Wahrheit noch eine Weisheit.»

Ein schöner Satz. Den höre und sage ich viel zu selten.

Stefanie Assmann schaut in die Runde und bleibt mit ihrem Blick bei unserem Hospitations-Manni hängen.

«Kenne ich Sie nicht?», fragt sie. Kreutzer blickt auf und unterbricht seine Notizen. Auch sein Bein gibt endlich Ruhe.

«Das mag durchaus möglich sein», brummt er und grinst dabei blöd.

«Ja natürlich», ruft Stefanie Assmann entrüstet in die Runde. «Der ist doch von der Zeitung. Was hat denn hier bitte jemand von der Zeitung zu suchen?»

Sie blickt zu Frau Dr. Ellen Murnau, die diesen Blick ungefiltert an mich weitergibt. Ich schlucke und spüre den mir so vertrauten Stress-Schweiß auf der Stirn und unter den Achseln hervortreten.

«Ich verstehe nicht», bringe ich hervor.

«War», sagt dann Manfred Kreutzer.

«Wie, war?», frage ich.

«War bei der Zeitung. Seit zwei Jahren bin ich im Unruhsstnd.»

«Bitte wo?», hake ich nach. Das letzte Wort war für niemanden zu verstehen.

«Im Unruhestand», antwortet er, diesmal deutlicher.

«Aber das kann doch nicht angehen, Herr Bröhmann», ruft Ellen Murnau voller Empörung und erhebt sich von ihrem Schreibtischstuhl. «Wenn in den nächsten Tagen irgendetwas von diesem Gespräch hier in der Zeitung steht und dadurch eine Panik bei Eltern und Schülern ausgelöst wird, dann mach ich Sie dafür verantwortlich, das können Sie mir glauben!»

«Ruhig Blut und tief durschtmen», kommt es bassig aus Kreutzer herausgemurmelt.

«Durschtmen» interpretiere ich für mich mal als «Durchatmen».

«Dem wird nicht so sein», fährt Kreutzer fort, während er sich breitbeinig zurücklehnt und seine verschränkten Arme auf dem Bierbauch ablegt. «Der Polizeipräsident a.D. Bröhmann vertraut mir nicht ohne Grund. Selbstverständlich wird von mir nichts nach außen getragen. Alles streng vertraulich. Dasdochernsach.»

Wieder versteht keiner dieses letzte Wort. Es fragt aber auch niemand nach, und wenig später wird das Meeting von Frau Dr. Ellen Murnau verärgert abgebrochen.


Warum muss mir bitte der Herr Vater so ein Kuckucksei hier ins Nest legen? Als wäre mein Job nicht schwer genug, als wären die Fußstapfen des alten Präsidenten nicht schon groß genug, muss er immer wieder rein-, dazwischen- und danebenfunken. Immer dann, wenn ich denke, dass ich meinen Frieden mit diesem Beruf finde, setzt es ein neues Störfeuer. Und dass ich beim Verlassen der Schule noch sehen muss, wie an der Treppe zum Musikpavillon ein ein Meter neunzig großer Blödmann die Zunge in den Hals meiner Tochter steckt und dabei ihre linke Pobacke in der Hand hält, lässt meine Laune auf den Nullpunkt sinken.

Zügigen Schritts gehe ich vor Teichner und Kreutzer her in Richtung des Schulparkplatzes.

Da kommt plötzlich der Hausmeister Uwe Niespich aufgeregt herangerauscht.

«Gut, dass Sie noch da sind», hechelt er. «Komme Se mal mit.»

«Was ist denn los?», frage ich.

«Weggesperrt gehör’n die Drecksäcke. Alles zusamme, rin in ’nen Sack und ordentlich druffgehaue.»

Empört weist er zum Parkplatz. Die vier Autoreifen des uns am nächsten stehenden sportlichen Kleinwagens sind zerstochen.

«Tötet Murnau» ist zudem in den schwarzen Lack der Fahrertür eingekratzt worden.

«Das ist der Wagen der Frau Direktorin. Ich wüsst, was ich mit dene anstelle dät, dät isch die in die Finger krieje!» Hausmeister Niespich ist so erregt, dass er mir ein Tröpfchen Speichel auf die Wange spuckt.

Teichner, der inzwischen zusammen mit Manfred Kreutzer ebenfalls den Ort des Geschehens erreicht hat, pfeift lautlos in den Wind und sagt: «Hoi hoi hoi, na herzlichen Glühstrumpf.»

Ich atme tief durch. Scheiße, das nimmt nun langsam Formen an, die mir so gar nicht gefallen.

Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder
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